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Kapitel 1

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Es hätte ein ganz normaler Tag werden können, wie es schon unzählige normale Tage in dieser ältesten Stadt Baden-Württembergs gegeben hatte und immer wieder geben würde, an denen nichts passierte. Rottweil war das Tor zum Schwarzwald und nicht Stuttgart. Kein Verkehr brummte um diese frühe Morgenstunde. Nur ein paar Busse schluckten mit weit geöffnetem Maul bereitwillig wenige Fahrgäste und ließen sie in ihrem Inneren verschwinden, um sie kurze Zeit später an irgendeiner nahen oder entfernten Haltestelle wieder auszuspucken.

Einige Elstern balgten sich auf dem gepflasterten Weg um die Reste einer Mahlzeit, die ein nächtlicher Passant achtlos weggeworfen hatte. Allerdings waren sie nicht allein bei ihrem Festmahl. Sie mussten es mit weiteren, eilig herbeigeflatterten Vögeln teilen, denn auch diese Horde von aufgeregten, hin und her wuselnden Spatzen wollte etwas zum Frühstück ergattern. Da kam diese üppige Mahlzeit gerade recht. Erst eine neugierig herbeigelaufene Katze bereitete dem Treiben ein Ende. Ihre bloße Anwesenheit reichte aus. Die Vögel flüchteten und flogen ohne einen Bissen im Schnabel ärgerlich zwitschernd davon.

Ein junger Angestellter des italienischen Cafés unterhalb des Schwarzen Tors stellte missmutig die gekippten Stühle aufrecht um die Tische. Seine gegelten Haare glänzten in der aufgehenden Sonne. Man sah ihm an, dass er seine Arbeit nicht besonders schätzte und sie widerwillig erledigte. Sein Gesicht hellte sich erst auf, als ein hübsches junges Mädchen in einem karierten Minirock an ihm vorbeilief. Interessiert unterbrach er seine Arbeit und pfiff ihr verhalten hinterher. Sie schien es nicht zu bemerken und eilte weiter in Richtung Königsstraße. Enttäuscht schaute er ihr nach. Dafür hatte sein Chef das Gepfeife gehört und rief ihm aus dem Inneren des Lokals ärgerlich etwas auf Italienisch zu. Es wirkte augenblicklich. Der junge Mann riss sich zusammen und erledigte im erhöhten Tempo seine Aufgabe.

Auch in den angrenzenden Buchladen kam Bewegung. Ein ungefähr 40-jähriger Mann schloss die Ladentür von innen auf, öffnete sie schwungvoll und trat entschlossen auf die Straße. Als Erstes schaute er zum Himmel hinauf. Der Tag würde schön werden, dachte er, lächelte vergnügt und rieb sich die Hände. Alles sah nach viel Laufkundschaft aus. Zwei seiner Angestellten schlenderten soeben auf den Laden zu – er winkte sie heran und zeigte auf die Verkaufstische und Bücherständer im Inneren des Geschäftes. »Guten Morgen, Vera und Sabine. Beeilt euch ein wenig! Alles muss sofort nach draußen. Ich kümmere mich um die neue Bestsellerliste des SWR am Schaufenster.«

Die beiden schienen es gewohnt, so empfangen zu werden. Rasch warfen sie ihre Taschen in die Ecke, packten einen Verkaufstisch und schleppten ihn nach draußen.

Die Besitzerin des gegenüberliegenden Buchladens sah interessiert auf die Aktivitäten ihres Mitbewerbers. Sie rief etwas in den Laden hinein und kurze Zeit später erschien ihr Ehemann in der Tür. Auch er schaute zuerst zum Himmel hinauf und schmunzelte. Es würde ein schöner Tag werden, meinte er zu seiner Frau, es würden viele Menschen unterwegs sein. Beide taten es ihrem Gegenüber nach und trugen den großen Büchertisch ins Freie. Außerdem rollerten sie noch zwei Postkartenständer dazu und positionierten sie an den Seiten des langen Tisches.

So erwachten langsam alle Geschäfte auf der Straße zum Schwarzen Tor. Als Letztes öffnete das »Schweizer Lädeli«. Das war keine Überraschung. Seine Kundschaft kam später.

Alles war wie immer. Friedlich, verschlafen und harmonisch. Fast schon langweilig. Nichts deutete darauf hin, dass etwas Außergewöhnliches passieren würde an diesem Tag. Etwas, mit dem niemand gerechnet hatte. Das das Leben in der Stadt in Atem halten würde. Obwohl es kaum etwas geben konnte, was Rottweil noch nicht erlebt oder gesehen hatte.

*

Man erkannte nicht gleich, was es war, das da auf dem gedrungen wirkenden und aus rotem Sandstein bestehenden Hofgerichtsstuhl nahe der Steinmauer im Schatten der mächtigen Bäume bewegungslos lag. Der Mann sah aus, als ob er betrunken wäre und seinen Rausch ausschlafen würde. Nicht so, als ob er dringend Hilfe benötigte. Er war sehr gut gekleidet, der maßgeschneiderte schwarze Anzug schien nicht billig gewesen zu sein. Den Kopf hatte er auf die Brust gesenkt. Der Hut war herabgefallen und lag im Schmutz vor ihm. Vielleicht war er ein wenig zu luftig angezogen, das Sakko zu dünn für die Temperaturen um diese frühe Uhrzeit.

Um den Hals trug er ein dunkles, mit einem dezenten Muster besticktes Seidentuch. Es war ein schönes, modisches Accessoire, passend zu seinem Anzug. Sicherlich hatte er es vorbeugend gegen eine Erkältung umgebunden, mochte der Passant denken, der gerade mit raschem Schritt an ihm vorbeieilte und den Mann dabei nur mit einem flüchtigen Seitenblick bedachte.

Glück für ihn, dass er nicht genauer hingesehen hatte. Wer weiß, wie sein weiterer Tag sonst verlaufen wäre? Wenn er durch Zufall erkannt hätte, wer der Mann war, der dort regungslos lag. Denn er war beileibe kein Unbekannter. Als oberster Richter hatte er schon Urteile mit weitreichender Bedeutung am Landgericht gefällt, welches schräg gegenüber stolz und eindrucksvoll, vielleicht sogar ein wenig einschüchternd stand wie ein uneinnehmbares Bollwerk des Rechtes gegen das Unrecht.

Aber der Mann schlief nicht und hatte auch keinen Rausch. Es sah nur auf den ersten Blick so aus. Er war tot.

Die Toten von Rottweil

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