Читать книгу Die Toten von Rottweil - Herbert Noack - Страница 8
Kapitel 4
ОглавлениеZeller rief die junge Polizistin Eva zu sich. Sie schien in diesem Chaos den meisten Durchblick zu besitzen. Von ihr ließ er sich zum diensthabenden Wachmann führen. Nur eine Person als Nachtwache in einem millionenteuren Gebäude – das verwunderte den Kommissar. Reichte das im Zweifel aus?
Der Mann saß nicht allein in dem kleinen Besprechungszimmer. Ein Kollege passte auf, dass er nicht das Weite suchte. Mit einem Kopfnicken entließ der Hauptkommissar den Beamten aus dem Zimmer. Zeller stellte sich dem Wachmann vor, zeigte seinen Dienstausweis und fragte nach dessen Namen.
»Eduard Seidel«, kam die knappe Antwort. »Und das seit über 30 Jahren«, fügte der Mann patzig hinzu.
»Sind Sie schon lange hier angestellt? Oder andersherum, gehören Sie zu den Angestellten der ersten Stunde seit der Turmeröffnung?«, fragte der Hauptkommissar in einem vertraulichen Ton.
»Nein, ich kam später dazu. Jetzt werden es an die sechs Monate sein.« Seidel riss plötzlich den Mund auf und gähnte herzhaft.
»Wieso arbeiten Sie hier und nicht woanders?«, fragte Zeller weiter.
»Ach, Herr Kommissar. Was soll die ganze Fragerei? Kommen Sie auf den Punkt. Oder muss ich Ihnen um diese Uhrzeit meinen gesamten Lebenslauf erzählen? Ich bin müde.«
»Es dauert nicht lange, Herr Seidel. Dennoch muss ich Sie das fragen. Wenn Sie mir helfen, sind wir schneller fertig. Wieso also hier?«
»Es ist praktisch. Ich wohne in Rottweil. Vorher musste ich 50 Kilometer weit zur Arbeit fahren, jetzt nur noch fünf. Fast zwei Stunden weniger Fahrerei am Tag. Ist doch prima, nahe bei seinem Job zu wohnen, auch wenn ich hier weniger Geld verdiene. Aber man kann nicht alles haben im Leben«, erklärte Seidel und nieste. Umständlich kramte er ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich dröhnend.
Zeller wartete so lange ab und fragte nun in einem schärferen Ton: »Was war los heute Morgen? Gab es etwas Ungewöhnliches während Ihrer Schicht? Etwas, das anders war als sonst?«
»Nicht, dass ich wüsste. Nur das, was da oben auf der Saalebene geschehen ist. Ich hab die abscheuliche Sauerei entdeckt und sofort die Elke, also Frau Schatz, angerufen. Gleich danach hab ich den Notruf der Polizei gewählt. Aber ich habe weder etwas gehört noch gesehen. Obwohl ich immer an meinem Platz war. Keine Ahnung, wie das passieren konnte«, antwortete Seidel und fügte hinzu: »Wie lange muss ich denn noch hier warten? Ich habe doch schon alles einem Ihrer Kollegen erzählt und bin einfach müde. Verstehen Sie mich?« Er war bedient. Sein ohnehin gerötetes Gesicht verdunkelte sich mit jedem gesprochenen Wort. Mit erhobener Stimme fuhr er fort: »Es war wie immer, wenn abends eine dieser zahlreichen Veranstaltungen stattfindet. Davon gibt es Jahr für Jahr mehr im Turm und wir sollen das alles stemmen. Viele Leute, viel Arbeit, viel Geschwafel, bis spät in die Nacht. So ein Halbdackel wollte, dass ich ein Taxi für ihn rufe. Als ob ich dafür zuständig wäre. Ich bin hier der Sicherheitsmann und nicht der Butler! Ein anderer Dummschwätzer fragte mich nach dem Turm in Dubai aus, diesem Buri kaliffa, oder wie das Ding heißt.«
»Burj Khalifa, meinen Sie«, verbesserte ihn Zeller.
»Meinetwegen. Der fragte doch allen Ernstes, ob der schon einen Aufzug von TK Elevator hat. Als ob ich das wüsste. Bin ich denn der liebe Gott? Ich hatte alle Hände voll zu tun. Gegen 22 oder 22.30 Uhr war die Veranstaltung vorbei. Ehe alle Gäste das Haus verlassen hatten, war es 23.30 Uhr. Danach räumten die Mädels das Geschirr und die Getränke weg. Erst nach 24 Uhr war alles ruhig.«
»Was haben Sie dann gemacht?«
»Eine geraucht.«
Zeller zog die Augenbrauen hoch. Hatte er nicht gerade behauptet, nie seinen Platz verlassen zu haben? Die Frage, wo er denn seine Zigarette geraucht habe, verkniff er sich. Stattdessen wollte er von ihm wissen: »Sind Sie immer allein? Die ganze Nacht?«
»Eigentlich nicht. Wir sind unterbesetzt. Viele sind krank, andere auf Fortbildung. Die sparen, wo sie können.«
»Und dann? Was passierte heute Morgen, als die beiden Reinigungsfrauen ankamen? Alles wie gehabt?«, hakte der Kommissar nach.
Seidel stieß mit einem lauten Zischen die Luft durch die zusammengepressten Lippen aus. Mit zunehmender Dauer des Gesprächs rutschte der Sicherheitsmann immer unruhiger auf seinem Stuhl hin und her. Wenn er in Richtung des Hauptkommissars ausatmete, ließ sein Mundgeruch Zeller den Atem stocken.
»Alles war wie immer. Nichts Besonderes. Die Mädels kamen um 6 Uhr, trugen sich in die Liste ein und nahmen sich aus dem Abstellraum, was sie brauchten. Es war alles wie an jedem Samstag.«
»Nein, das stimmt nicht! Es war nicht wie immer. Die Mädels, wie Sie sie nennen, wurden getötet. Und Sie hätten das verhindern müssen. Dafür hat man Sie angestellt. Wo waren Sie heute Morgen, als Ihre Chefin kam?«
»Wo soll ich schon gewesen sein! Hier am Tresen natürlich.«
»War die Eingangstür verschlossen?«
»Logisch. Ich hatte Ihnen gesagt, es war wie immer. Außerdem, was soll diese Befragung? Ist ja wie beim Verhör hier.«
»Sie sind Zeuge, Herr Seidel. Zeugen werden immer am Tatort befragt. Das ist Routine. Bitte nur noch eine Antwort auf meine letzte Frage.«
Der Wachmann stand auf und baute sich mit den Händen in den Hosentaschen breitbeinig vor Zeller auf. »Ich höre?«
»Wieso sagen Sie, dass die Tür verschlossen war? Frau Schatz behauptet das Gegenteil. Und wo kamen Sie her, als sie die Halle betrat? Sie waren nicht an Ihrem Platz!«
»Die Schatz, die spinnt doch. Wahrscheinlich hat sie noch nicht richtig ihre Äuglein aufbekommen, so verschlafen wie sie in der Früh hier manchmal erscheint. Natürlich war die Tür verschlossen. Ich selbst habe sie extra kontrolliert. Das mache ich jeden Tag so. Dabei habe ich draußen etwas gesehen. Da stand nämlich ein Auto auf dem Vorplatz. Wohlgemerkt nicht auf dem öffentlichen Parkplatz, sondern auf dem Platz gegenüber dem Mitarbeitereingang. Ich dachte schon, da wird aber lange gearbeitet. Darüber hatte ich mich gewundert. Alle Gäste und Mitarbeiter waren schließlich schon seit Stunden zu Hause.«
»Was für ein Auto? Fabrikat? Farbe? Haben Sie sich das Nummernschild gemerkt?«
»Dieses Auto kam mir bekannt vor. Ein Daimler. Rot. So einen, wie ihn der Schuhmacher fährt. Eine alte Kiste jedenfalls.«
»Wen meinen Sie mit Schuhmacher? Den Richter am Landgericht?«, fragte Zeller alarmiert.
»Na klar meine ich den Richter Unbarmherzig, der hat doch gestern hier referiert. Da drüben hängt noch ein Plakat. Hat man Ihnen das nicht erzählt? Es kam zu einem noch nie dagewesenen Vorkommnis.«
Zeller schaute in die Richtung, in die Seidel zeigte, und las: ›Demokratie und harte Strafen – ist das ein Widerspruch?‹ Er wunderte sich selbst darüber, dass es ihm nicht eher aufgefallen war. »Was für einen Vorfall?«
»Gegen 21.30 Uhr wurde ich gerufen. Da gab es im Konferenzsaal eine lautstarke Diskussion zwischen Schuhmacher und einem Mann. Der wollte sich nicht beruhigen und beschimpfte Schuhmacher als Richter ohne Mitleid, als rabiaten Schreckensherrscher, als Tyrannen in Robe. Da musste ich einschreiten und ihn rauswerfen.«
»Ich denke, Sie haben Ihren Platz nie verlassen?«, merkte Zeller an.
»Sorry, das hatte ich vergessen. Es war das einzige Mal. Ehrlich!«
Zeller machte sich eine Notiz in sein kleines Heft. Das war erstaunlich. Unvermutet ein erster Verdächtiger. Ob er die Personendaten wüsste, fragte Zeller den Wachmann. Seidel verneinte. Wieso auch, der Mann habe den Turm auf seine Bitte hin sofort verlassen.
»Wo ist das Auto des Richters jetzt?«
»Keine Ahnung. Als ich vor ein paar Minuten danach schaute, war es nicht mehr da. Er muss es abgeholt haben. Davor jedenfalls stand es die ganze Nacht da.«
»Das ist unmöglich. Schuhmacher ist seit heute Morgen nicht mehr unter den Lebenden. Befand sich nur dieses eine Auto heute Morgen hier?«
»Nein, drei«, antwortete der Wachmann.
»Drei?«, fragte Zeller verwundert.
»Na, das Auto von dem Richter und der Porsche vom Rechtsanwalt Hirsch«, antwortete Seidel mit Unschuldsmiene.
»Rechtsanwalt Hirsch?«
»Der war auch bei der Veranstaltung und ist danach wahrscheinlich zu Fuß nach Hause gelaufen. Doch auch sein Flitzer ist mittlerweile weg.«
»Und der dritte Wagen?«
»Das war mein Auto«, antwortete der Wachmann mit unverschämtem Grinsen.
Zeller grinste zurück und belehrte den Witzbold. Er könne jetzt gehen, vorerst seien sie fertig. Er solle seine Adresse bei den uniformierten Kollegen hinterlassen und sich verfügbar halten. Zeller störte Seidels freche Art. So obercool aufzutreten angesichts einer wenige Stunden zurückliegenden grausamen Bluttat, warf kein gutes Licht auf ihn. Wenn er annahm, damit durchzukommen, hatte er sich gewaltig geirrt. Da war noch recht viel unbeantwortet geblieben, was dringend geklärt werden musste. Doch die nächste Befragung würde nicht hier im Turm stattfinden. Dafür war das Polizeirevier besser geeignet.