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Kapitel 4
ОглавлениеParis, 23. August 1870
Ein Landauer rollte gemächlich in den Park des großbürgerlichen Hauses No. 17 in der Rue de Passy und stoppte direkt vor der Freitreppe. Durch das Pferdegetrappel und das Knirschen der Räder auf dem Kies aufmerksam geworden, trat eine schwarz gekleidete Frau an das Erkerfenster der ersten Etage. Was sie sah, ließ ihr Herz höher schlagen. Richard Fréchencourt entlohnte den Kutscher und winkte lächelnd seiner Mutter. Dann sah er der Kutsche hinterher, bis sie durch das schmiedeeiserne Parktor verschwunden war.
„Kommen Sie Philippe, gehen wir ins Haus.“ Als sie die erste Stufe der Treppe betraten, öffnete sich die Haustüre und ein Mann eilte die Treppe herunter, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Richard Fréchencourt hatte. Statur, Bewegungen und die Gesichtszüge glichen sich so sehr, dass man die beiden für eineiige Zwillinge hätte halten können.
„Richard, Philippe, wie ich mich freue euch zu sehen.“ Antoine Ouvrard umarmte zunächst seinen Bruder und begrüßte dann herzlich Philippe.
„Wie seid ihr denn aus Metz herausgekommen, Richard? Gestern sind drei deiner Männer hier eingetroffen, die berichteten, dass Metz vollkommen von den Deutschen eingeschlossen ist.“
„Das ist eine etwas längere Geschichte“, antwortete Richard Fréchencourt.
In der geräumigen Vorhalle eilte ihnen Giselle Fréchencourt entgegen. Als Tochter der höheren Gesellschaft hatte sie gelernt, keine Gefühle zu zeigen. Das gelang ihr nicht ganz, denn Richard erkannte an den geröteten Wangen und ihrem strahlenden Lächeln, wie sehr sich seine Mutter über sein Kommen freute. Er hauchte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange.
„Mutter, ich bin froh, wieder zu Hause zu sein“, sagte er. „Philippe und ich haben die abenteuerlichste Reise unseres Lebens hinter uns, nicht wahr Philippe“, fuhr er fort. Der Angesprochene, der sich im Hintergrund gehalten hatte, trat auf Giselle Fréchencourt zu, verbeugte sich und sagte:
„Madame Fréchencourt, da kann ich Ihrem Sohn nur beipflichten, abenteuerlich und außergewöhnlich, wie auch immer, jedenfalls bin ich auch sehr froh, wieder in Paris zu sein.“
„Mir fällt jetzt erst auf, dass ihr kein Gepäck bei euch habt“, staunte Ouvrard.
„Apropos Gepäck, Antoine. Hatten meine Männer eine Kiste bei sich?“
„Eine Kiste? Nein! Sie hatten nichts bei sich. Ich weiß das so genau, weil ich zufällig vor dem Haus stand, als sie durch das Tor kamen. Wegen ihrer Kleidung hatte ich sie zunächst für Bauern gehalten. Sie erklärten mir, dass sie Franctireurs seien und hier auf dich warten sollten und zeigten mir ein von dir verfasstes Schreiben. Mehr war aus ihnen nicht heraus zu bekommen. Ich habe sie im Gästeflügel einquartiert.“
„Gut Antoine, ich muss sofort eine Depesche an das Kriegsministerium senden. Kannst du mir bitte schnell etwas zum Schreiben und einen Briefumschlag besorgen, es ist wirklich sehr dringend. Ich erkläre euch das alles später.“
„Mach ich, bin schon unterwegs.“
„Ist Romain zufällig anwesend?“
„Oui, Monsieur Fréchencourt.“
„Bonjour Romain, tut mir leid, aber Sie müssen sofort anspannen und zum Kriegsministerium in die Rue Saint-Dominique fahren und dort eine Depesche abgeben.“
„Sehr wohl Monsieur.“ Romain eilte davon, um die Kutsche fahrbereit zu machen.
Fréchencourt und Philippe begrüßten nun die übrigen Dienstboten, die sich nach und nach in der Eingangshalle eingefunden hatten.
Ouvrard kam zurück und übergab seinem Bruder die gewünschten Schreibutensilien. Der ging zu einem kleinen Tisch, schrieb schnell ein paar Zeilen, steckte den Brief in das Kuvert, verschloss es und gab es dem Kutscher, der inzwischen die Pferde angespannt und auf weitere Anweisungen gewartet hatte.
„Beeilen Sie sich bitte Romain. Ich hoffe, die beiden Herren sind noch nicht nach Hause gegangen.“ Der Kutscher entfernte sich eiligen Schrittes. Kurz darauf hörte man wie der Zweispänner das Anwesen verließ.
„Darf ich jetzt endlich einmal wissen, was das für eine geheimnisvolle Kiste ist, die solch einen Wirbel verursacht?“ Ouvrard blickte herausfordernd seinen Bruder an.
„Das gehört auch zu der längeren Geschichte. Du und Mutter werdet noch heute Abend alles erfahren, jetzt müssen wir zuerst einmal etwas essen und trinken. Ich habe einen Mordshunger und Sie sicher auch Philippe, oder?“ Der Angesprochene nickte.
Die Dienstboten hatten mittlerweile die Eingangshalle wieder verlassen, um weiter ihren Beschäftigungen nachzugehen, nur die Köchin blieb.
„Denise wird euch etwas zum Essen bereiten“, sagte Madame Fréchencourt.
„Mutter, Philippe und ich erwarten heute Abend um acht Uhr zwei Herren aus dem Kriegsministerium zu einer wichtigen Besprechung. Ich möchte, dass du, Antoine und Denise daran teilnehmt. Dann erfahrt ihr auch, was in den letzten Tagen so alles geschehen ist. Denise, schaffen Sie es zu dieser Uhrzeit ein Abendessen für sechs Personen zu zaubern?“ Richard Fréchencourt schaute die Köchin mit einem charmanten Lächeln an.
„Hm, dann hätte ich etwas mehr als drei Stunden Zeit. Wenn Sie und Philippe sich jetzt mit Brot und Käse begnügen und mir zudem noch jemand zur Hand geht, könnte ich zur gewünschten Zeit ein Menü auf die Beine stellen. Ich weiß im Moment allerdings noch nicht, wie es aussehen wird, denn ich muss zuerst einmal nachsehen, was die Vorratskammer so alles hergibt. Gott sei Dank habe ich heute Morgen auf dem Mittwochsmarkt frisches Gemüse und Fleisch eingekauft.“ Richard Fréchencourt war sehr zufrieden.
Dank Denises Kochkünsten galt die Küche der Fréchencourts in der Pariser Gesellschaft als eine der besten. Die Dienstboten im Hause Fréchencourt tuschelten hinter vorgehaltener Hand, dass die attraktive Mittdreißigerin und Philippe ein Paar seien, handfeste Beweise dafür hatten sie allerdings nicht. Nur die Familie Fréchencourt wusste, dass die Gerüchte stimmten.
„Ich lasse das kleine Esszimmer herrichten und Marie soll Denise beim Kochen helfen.“ Madame Fréchencourt verließ die Vorhalle, um Marie entsprechende Anweisungen zu geben.
„Bis nachher Bruderherz, ich bin neugierig, was ihr so zu berichten habt“, verabschiedete sich Antoine Ouvrard und zog sich in sein Zimmer zurück. Richard Fréchencourt, Philippe und Denise begaben sich in die Küche.
„So nun begrüßt euch erst einmal richtig“, schlug Fréchencourt vor und schaute teilnahmslos aus dem Fenster.
Punkt acht Uhr abends fuhren die Gäste vor. Richard Fréchencourt hatte auf dem oberen Treppenabsatz auf seine Besucher gewartet und schritt langsam die Stufen hinunter, als Grau und Muller aus der Droschke stiegen.
„Pierre, Jean, lange nicht gesehen“, sagte er ironisch. „Ich hoffe, Sie haben Hunger mitgebracht.“
„Selbstverständlich, Richard“, antworteten die beiden gleichzeitig.
„Das ist sehr gut“, freute sich Richard Fréchencourt und bat seine Besucher ins Haus. Nachdem der Butler die Mäntel, Hüte und Spazierstöcke der Gäste entgegengenommen hatte, führte Fréchencourt seinen Besuch in den im englischen Stil nobel eingerichteten Salon. Dort wurden sie bereits von der Hausherrin, Antoine Ouvrard und Philippe erwartet.
„Darf ich vorstellen, Monsieur Grau und Monsieur Muller vom Kriegsministerium, meine Mutter und mein Bruder Antoine Ouvrard.“ Grau und Muller kondolierten zunächst Madame Fréchencourt zum Tod ihres Mannes und anschließend Ouvrard.
„Wir haben schon von Ihnen gehört, Monsieur Ouvrard.“
„Ich hoffe, nur Gutes“, antwortete dieser lächelnd.
„Den beiden Herren ist es zu verdanken, dass Philippe und ich heute in Paris sind. Ganz davon abgesehen, dass wir beide sehr froh sind, zuhause zu sein, ist der eigentliche Grund eine sehr ernste Angelegenheit. Ja, ich übertreibe nicht, wenn ich hinzufüge, dass die gesamte französische Nation betroffen ist“, sagte Richard Fréchencourt pathetisch.
„Sag uns doch endlich, was es mit der Kiste auf sich hat und mach nicht immer nur Andeutungen.“ Ouvrard blickte leicht verärgert zu seinem Bruder.
„Na gut, wenn du es nicht abwarten kannst“, gab Richard Fréchencourt klein bei.
„Der Inhalt der Kiste ist von nationaler Bedeutung. Denn darin waren unter anderem Konstuktionspläne für ein neues Geschütz, das Vater entworfen hat und unserem Militär einen erheblichen waffentechnischen Vorsprung vor den Deutschen gesichert hätte.“
„Wenn die Kiste nicht hier ist, wo ist sie dann?“ Ouvrard schaute fragend in die Runde.
„Sie ist wahrscheinlich in deutsche Hände gefallen“, antwortete Grau betreten.
„Das vermute ich auch. Als ich von Antoine erfuhr, dass meine Leute bei ihrer Ankunft keine Kiste bei sich hatten, musste ich unverzüglich Monsieur Grau und Monsieur Muller darüber informieren. Ich habe sie gebeten nach hier zu kommen, um zu beratschlagen, was nun zu tun ist und habe dies gleichzeitig mit einer Einladung zum Abendessen verbunden. Wir sollten jetzt das Essen nicht kalt werden lassen, deshalb schlage ich vor, uns zum Diner zu begeben. Ich bin einmal gespannt, was uns Denise zubereitet hat.“ Richard Fréchencourt öffnete eine Flügeltüre und bat seine Gäste einzutreten.
Das so genannte kleine Esszimmer war perfekt für das Diner hergerichtet. Den ovalen Tisch bedeckte ein schneeweißes Damasttischtuch. Darauf waren kostbares Porzellan, geschliffene Gläser und silbernes Besteck für sechs Personen geschmackvoll angeordnet. Kleine Blumenbouquets und zwei silberne dreiarmige Kerzenleuchter rundeten die Tischdekoration ab. Auf einem Büffet aus Nussbaumwurzel standen Karaffen mit erlesenen französischen Weinen. Die Kerzen der Tisch- und Wandleuchter tauchten den Raum in ein dezentes Licht.
Philippe reichte den Aperitif. Richard Fréchencourt erklärte den Anwesenden, warum anders als sonst üblich, an diesem Abend keine Bediensteten anwesend waren.
„Was hier gesprochen wird, muss unter uns bleiben. Wir haben Denise, unsere Köchin, gebeten, ausnahmsweise auch zu servieren.“ An Muller und Grau gewandt ergänzte er:
„Denise ist seit fast zwanzig Jahren bei uns und gehört zur Familie. Im Übrigen werden sie und Philippe in Kürze heiraten.“
Nachdem alle einen mehr oder weniger großen Schluck des Orangenweins zu sich genommen hatten, bat Richard Fréchencourt, Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich als Gastgeber ans obere Tischende, rechts von ihm hatten Grau, Muller und Philippe Platz genommen, ihnen gegenüber saßen Madame Fréchencourt und Ouvrard.
Kurz nachdem alle ihre Plätze eingenommen hatten, erschien Denise in der Verbindungstür zwischen Esszimmer und Küche und begrüßte die Anwesenden mit einem bezaubernden Lächeln.
„Kann ich jetzt servieren?“ Der Gastgeber nickte.
„Ja, bitte Denise, ich kann den Essensduft aus der Küche kaum noch ertragen!“ Denise war es tatsächlich gelungen, mit Hilfe von Marie in der kurzen Zeit ein Sechsgänge-Menü zu bereiten.
Zum Entrée gab es Crudités variés, das waren für jeden sechs kleine Schüsseln mit unterschiedlichen Gemüsesorten und Salbeisalzgebäck. Dann das Hors d’oeuvre. Es bestand aus gemischtem grünen Salat mit Roquefort und Walnüssen. Als dritten Gang servierte Denise eine Lauchcremesuppe mit Räucherlachs. Die Krönung des Abendessens war das Hauptgericht, bestehend aus Rinderfilet in Estragonsauce, Buttererbsen, zarten grünen Bohnen und Karottengratin. Als Dessert verzauberte ein Fondant au chocolat die Gaumen, und die obligatorische Käseplatte rundete das Diner ab.
„Liebe Denise, was Sie uns zubereitet haben, war wieder einmal ausgesprochen köstlich“, ließ sich Richard Fréchencourt zufrieden vernehmen und löste damit allgemeine Zustimmung aus, insbesondere bei Grau und Muller.
Denise, die um ihre außergewöhnlichen Kochkünste wusste, hatte, selbstbewusst wie sie war, eigentlich nichts anderes als Lob erwartet. Dennoch freute sie sich, dass es allen geschmeckt hatte.
Nachdem der Tisch, bis auf Wein und Käse, abgeräumt war, bat Madame Fréchencourt Denise, sich zu ihnen zu setzen, um sich die Geschehnisse der letzten Wochen und Tage schildern zu lassen.
Den Anfang machte Grau. Er begann seine Schilderung mit dem Eingang von Gerard Fréchencourts Brief im Kriegsministerium, von der daraus resultierenden Hektik und seiner und Mullers Odyssee von Paris nach Metz.
Danach übernahm Richard Fréchencourt das Wort. Er erzählte, wie er zusammen mit Philippe die Kiste aus dem Tresor genommen, deren Inhalt inspiziert und sie auf den Weg nach Paris gebracht hatte. Dann bat er Philippe weiter zu erzählen.
Philippe begann seine Erzählung mit der Ankunft Graus und Mullers in der Rue des Jardins und berichtete über ihre Erlebnisse im Fort Plappeville. Als er erstmals den Ballon erwähnte, schauten Madame Fréchencourt und Antoine Ouvrard ungläubig in die Runde. Philippe beendete seinen Bericht mit dem Start des Ballons im Fort Plappeville.
„Wer kann besser über eine Ballonfahrt berichten, als der Ballonführer selbst“, sagte er und übergab das Wort an Muller.
„Da ich annehme, dass außer uns vier keiner von Ihnen mit einem Ballon gefahren ist, und Ihnen daher einiges unbekannt sein dürfte, werde ich bei meiner Schilderung anfangs ein wenig ins Detail gehen und auch einige Besonderheiten nicht unerwähnt lassen, wobei es mir selbstverständlich fern liegt, Sie belehren zu wollen.“ Muller räusperte sich und begann mit seiner Schilderung:
„Leider ist ein Ballon nicht steuerbar, denn die Fahrtrichtung und die Geschwindigkeit bestimmt einzig und allein der Wind. Wir hatten Glück, denn dieser wehte aus nord-östlicher Richtung und damit von Metz aus in die ungefähre Richtung Paris. Im Schutze der Dunkelheit und der tiefhängenden Wolkendecke hatten wir schnell eine sichere Höhe von fast dreitausend Fuß erreicht, das sind ungefähr eintausend Höhenmeter, und damit die kritischste Phase unseres Flugs hinter uns gebracht. Gott sei Dank war unser Start von den Deutschen nicht bemerkt worden. Obwohl die Windgeschwindigkeit achtundzwanzig Knoten betrug, das sind ungefähr fünfzig Kilometer die Stunde, war es im Korb absolut windstill, denn ein Ballon fährt mit dem Wind, das heißt, er wird vom Wind geschoben und ist daher nicht schneller oder langsamer als die ihn umgebende Luft. Würde man zum Beispiel im Ballon während der Fahrt ein Zündholz anzünden, so würde die Flamme vollkommen ruhig niederbrennen.
Alors, seit dem Start beobachtete ich konzentriert den Höhenmesser, als mir irgendwann auffiel, dass sich die Nadel, die normalerweise immer ein wenig nach rechts und links ausschlägt, nicht mehr bewegte. Sie hing fest. Alles Schütteln des Höhenmessers und Klopfen auf seine Glasscheibe halfen nichts. Meine Beschäftigung mit dem Höhenmesser hätte unserer Reise fast ein jähes Ende bereitet.
‚Da unten sind Feuer!’, unterbrach Richard die Stille. Ich schreckte hoch und was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Es war das Flackern hunderter Wachfeuer. Plötzlich und unerwartet und von mir nicht bemerkt, befanden wir uns in einer Wolkenlücke. Und wie wir unschwer erkennen konnten, hatten wir außerdem auch noch erheblich an Höhe verloren. Unser Höhenmesser hatte uns in der kritischsten Phase unserer Fahrt einfach im Stich gelassen. Er zeigte nach wie vor eine Höhe von dreitausend Fuß an. Ausgerechnet über den deutschen Linien trafen mehrere unglückliche Umstände zusammen. Wir mussten uns für die Deutschen wie eine überdimensionale Zielscheibe gegen den Himmel abgehoben haben und das Schlimmste – wir waren in Schussweite.
Es dauerte auch nicht lange, da wurden wir von den deutschen Wachposten bemerkt. Sofort wurde das Feuer auf uns eröffnet. Die Kugeln verfehlten uns Gott sei Dank, einige nur um Haaresbreite, bis auf diese eine hier!" Muller lehnte sich zurück und kramte ein Schächtelchen aus seiner Jackentasche.
„Die hier steckte im Ballonkorb.“ Muller hielt ein Geschoss zwischen Daumen und Zeigefinger. „Mein Glücksbringer“, ergänzte er. Übertrieben sorgfältig steckte er die Kugel wieder ein. „Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Pierre hatte schon reagiert und Ballast abgeworfen, so dass wir wieder merklich an Höhe gewannen. Aber die Deutschen hatten noch nicht aufgegeben. Wir sahen, wie sich einige Soldaten auf ihre Pferde schwangen und versuchten uns zu verfolgen. Und plötzlich, wie von Gott gesandt, war sie wieder da, die undurchdringliche Wolkendecke. Wir waren wieder mittendrin und damit gerettet. Und paradoxerweise funktionierte der Höhenmesser wieder.“
„Ja, das war verdammt knapp. Glaubt mir, ich habe noch nie in meinem Leben so sehr dicke Wolken herbeigesehnt“, unterbrach Fréchencourt Mullers Schilderung. Muller grinste und erzählte weiter:
„Nach einer Stunde Fahrt konnten wir endgültig aufatmen, denn wir mussten nun schon weit hinter den deutschen Linien sein. Vom Feind drohte uns daher keine Gefahr mehr, aber wo befanden wir uns? Ich beschloss zunächst in unveränderter Höhe weiterzufahren, wenn möglich bis es dämmerte oder die Wolken aufrissen. Da ich eine Änderung der Windrichtung nicht feststellen konnte und der Ballon nach wie vor prall war, konnte ich die Höhe, von ein paar kleineren Korrekturen abgesehen, ohne Probleme halten.
Nach ungefähr einer weiteren Dreiviertelstunde wurde die Wolkendecke zunächst dünner, dann plötzlich fuhren wir unter einem sternenklaren Himmel über mondbeschienenes Land. Wir konnten nun unter uns Dörfer, einzelne Bauernhöfe, Felder, Wälder und Gewässer erkennen, doch noch wussten wir nicht, wo wir waren. Es war absurd. Alles war so friedlich, doch nur wenige Kilometer hinter uns war Kriegsgebiet.
Die Windgeschwindigkeit nahm nun mehr und mehr ab, und nach kurzer Zeit waren wir nur noch halb so schnell unterwegs, aber das störte uns nicht. Wir genossen nun unsere Fahrt. Ich ging auf zweitausend Fuß, ungefähr sechshundert Höhenmeter, herunter. Nach einiger Zeit meldete Richard, er könne voraus eine Stadt erkennen. Und tatsächlich, im Zwielicht der beginnenden Morgendämmerung war schwach eine große Häuseransammlung zu sehen, aus der sich eine Kirche mit zwei Türmen erhob. Ich schaute auf die Karte, konnte aber noch nicht sehr viel erkennen, da es noch nicht hell genug war. Als wir näher kamen, meinte Richard, der Kirche nach könne das nur Vitry-le-François sein. Hier sei er schon einmal gewesen. Er könne sich deshalb gut an die Kathedrale Notre-Dame erinnern, weil der Chor noch nicht fertig gestellt sei, und der Fluss da vorne müsse demnach die Marne sein.
Richards Vermutung stellte sich als richtig heraus, denn seine Beschreibung passte auf die nun unter uns liegende Stadt. Ein Blick auf die Karte – inzwischen war es hell genug – genügte um zu erkennen, dass wir nur knapp von der eingezeichneten Route abgewichen waren. Wir fuhren nicht nördlich an der Stadt vorbei, sondern etwas südlicher mitten darüber hinweg.
Obwohl es im Ballonkorb recht eng war und wir uns fast schon die Beine in den Bauch gestanden hatten, wollten wir Paris so nah wie möglich kommen. Mit Pferd und Wagen über Straßen zu rumpeln schien uns viel unbequemer und anstrengender als noch einige Zeit im Korb ausharren zu müssen.
Dann wurden wir entdeckt, und man winkte uns zu. Viele Menschen dort unten hatten offenbar vorher noch nie einen Ballon gesehen. Einige versuchten vergeblich, uns auf Pferden zu folgen, aber wir waren immer noch relativ schnell und mussten uns nicht an Wege und Straßen halten. Jedenfalls erschien die Zeit im Ballon nun sehr kurzweilig. So gegen acht Uhr bemerkte ich, dass der Wind seine Richtung leicht geändert hatte, und wir ein wenig nach Süden abdrifteten. Weil wir weder nach Orleans noch sonst wohin wollten, sondern nach Paris, beschloss ich nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau zu halten. Ich wollte, wenn möglich, in der Nähe eines Bauernhofes landen. Wir waren inzwischen auf eintausend Fuß heruntergegangen, da entdeckte ich hinter einer Bodenwelle einen Gutshof, umgeben von abgeernteten Feldern. Auf einem dieser Felder beschloss ich zu landen.
Unverhofft erfasste uns starker Seitenwind und drückte den Ballon nach unten. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, wir waren ja noch hoch genug, doch plötzlich entdeckte Philippe direkt oberhalb des Korbs einen ungefähr zehn Zentimeter langen Riss in der Ballonhülle. Da hatten uns offenbar die Deutschen doch erwischt. Möglicherweise ein Streifschuss, der den Stoff angekratzt hatte. Aus der beschädigten Stelle entstand wahrscheinlich zunächst ein kleiner Riss, der sich von uns zunächst unbemerkt nach und nach vergrößert hatte.
Seit dem Start begann ich erstmals nervös zu werden, denn wir verloren nun sehr schnell an Höhe. Ich wusste, dass wir es bis zu dem angestrebten Landeplatz nicht mehr schaffen würden. Wir fuhren direkt auf eine Gruppe Obstbäume zu, die wir ohne Leck in der Hülle spielend überquert hätten. So aber sah es nach einer Notlandung aus. Ich musste den Ballon vor den Bäumen nach unten bringen. Ich ließ nun so viel Gas ab, dass unsere Sinkkurve steiler wurde und der Boden sehr schnell näher kam. Meine Begleiter forderte ich auf, sich gut festzuhalten, da der Korb bei der Landung sehr hart aufsetzen und umkippen könnte und ermahnte sie, den Korb nicht eher zu verlassen, bevor ich es ihnen sagen würde.
Ich muss erwähnen, dass es leider schon vorgekommen ist, dass ein Ballon bei vorzeitigem Aussteigen von Passagieren, nun entsprechend leichter, kurz wieder aufgestiegen ist, oft mit bösen Folgen für die im Korb verbliebenen.
Bei unserem Landeanflug waren wir entdeckt worden, denn uns kamen im gestreckten Galopp zwei mit Gewehren bewaffnete Reiter entgegen, die, als wir noch ungefähr zweihundert Meter entfernt waren, absprangen und ihre Gewehre auf uns richteten.
Wir machten nun kaum mehr Fahrt und befanden uns nur noch zwanzig Fuß über dem Boden. Als wir uns auf Rufweite den Reitern genähert hatten, schrie Pierre ihnen entgegen, dass wir Franzosen wären und aus dem eingeschlossenen Metz kämen. Daraufhin senkten die beiden Männer ihre Waffen. Dann setzte der Korb hart auf, stieg wieder ein Stück in die Höhe und schlug dann erneut auf den Boden, schlitterte noch ein paar Meter übers Gras und kippte dann um. Der Ballon sackte nun schnell in sich zusammen und als das Gas fast vollständig aus der Hülle entwichen war, krabbelten wir aus dem Korb, leicht lädiert, aber glücklich. Wir waren froh, dass wir nicht zu Schaden gekommen waren und wir wieder festen Boden unter den Füßen hatten.
Wir hatten seit dem Start um zwei Uhr morgens in sechs Stunden fast zweihundert Kilometer zurückgelegt. Das war eine beachtliche Strecke.
Die beiden Reiter kamen vorsichtig und noch immer mit dem Gewehr im Anschlag auf uns zu. Pierre hielt ihnen seinen Armeeausweis entgegen. Das schien sie endlich zu überzeugen, denn sie sicherten und schulterten ihre Waffen. Ihre bis dahin drohenden Minen hatten sich erhellt, und sie stellten sich uns als Vater und Sohn Alexandre und Baptiste de Luc vor. Die beiden de Lucs entschuldigten sich für ihr Misstrauen, aber in diesen Kriegstagen sei nun einmal Vorsicht geboten, meinten sie.“ Muller unterbrach seine Schilderung, um an seinem Rotweinglas zu nippen, dann fuhr er mit seiner Erzählung fort:
„Während wir die Ballonhülle zusammenfalteten, erfuhren wir von Alexandre de Luc, dass wir nur vier Kilometer von Nogent-sur-Seine entfernt gelandet waren. Das Städtchen liegt an der Eisenbahnstrecke Troyes-Paris und hat eine Bahnstation.
Monsieur de Luc lud uns ein, auf seinem Gut zu übernachten. Am kommenden Morgen, also heute, würde er uns zum Bahnhof fahren, dann wären wir so gegen Mittag in Paris. Wir nahmen sein Angebot gerne an, denn so langsam kroch die Müdigkeit in uns hoch. Ich bat den Gutsherren, den Ballon und die Postsäcke sicher zu lagern. In Paris angekommen, würden wir sofort veranlassen, dass Ballon und Post abgeholt würden. Nachdem alles sicher untergebracht war, nutzten wir die Gelegenheit, uns bis zu Abendessen auszuruhen.
Während des Essens im Kreise der Familie de Luc, mussten wir über die Lage in und um Metz und über unsere Ballonfahrt berichten, wobei wir selbstverständlich nicht auf die wahren Hintergründe unserer Reise eingegangen sind.
Der Rest ist schnell erzählt. Ausgeruht bestiegen wir heute Morgen so gegen neun Uhr in Nogent-sur-Seine den Zug und erreichten um die Mittagszeit Paris. Am Gare d'Austerlitz trennten sich unsere Wege. Pierre und ich begaben uns sofort ins Ministerium, um dem Kriegsminister Bericht zu erstatten. Wir wollten aber zunächst Richards Nachricht abwarten, ob die Pläne in Paris angekommen waren oder nicht. Als die Depesche von Richard eintraf, hatte der Kriegsminister bereits das Ministerium verlassen. Ich denke mit Grauen an den morgigen Tag, denn wenn er erfährt, dass die Pläne verloren sind, wird er eine Krisenkonferenz nach der anderen einberufen.
Übrigens, Richard, haben Sie mit Ihren Männern gesprochen, wenn ja, was war geschehen?“
„Selbstverständlich habe ich sie rufen und mir berichten lassen“, antwortete Fréchencourt.
„Meine Leute sagten aus, nach ihrem Aufbruch im Fort Queuleu wäre zunächst alles nach Plan verlaufen. Sie seien gut vorangekommen und als sie nicht mehr damit gerechnet hätten, noch auf Deutsche zu treffen, wären kurz vor Pouilly plötzlich mindestens zehn feindliche und bis an die Zähne bewaffnete Soldaten in hellen Uniformen auf sie zugerannt, die sich an einem Waldrand versteckt gehalten hätten. Da sie selbst unbewaffnet gewesen wären, hätten sie gegen die Übermacht schwer bewaffneter Soldaten keine Chance gesehen und ihr Heil in der Flucht gesucht. Wie ich es ihnen geraten habe, hätten sie sich in dieser argen Bedrängnis schweren Herzens von der Kiste trennen müssen und sie in ein Gebüsch geworfen. Als sie merkten, dass sie nicht mehr verfolgt wurden, hätten sie sich eine Weile im Unterholz versteckt. Als die Luft rein gewesen sei, wären sie nochmals zu der Stelle zurückgekehrt, wo sie sich ihrer Last entledigt hätten, aber die Kiste sei fort gewesen.
Sie hätten dann schnell ihren Weg fortgesetzt. Ein Bauer, der auf dem Weg zum Markt nach Pompey gewesen sei, habe sie auf seinem Fuhrwerk mitgenommen. Ab Pompey wären sie mit dem Zug über Vitry-le-François und Châlons nach Paris gefahren und hätten sich schnurstracks nach hier begeben.“
„Halten Sie es für möglich, dass Ihre Männer die Kiste für sich behalten und sie irgendwo versteckt haben könnten“, fragte Grau vorsichtig.
„Das habe ich mich auch gefragt und sie auch darauf angesprochen“, antwortete Fréchencourt.
„Und wie war ihre Reaktion?“, fragte Muller.
„Sie waren entsetzt über meinen Verdacht und haben geschworen, nie auch nur im Entferntesten einen Gedanken daran verschwendet zu haben, die Kiste für sich zu behalten. Ich glaube ihnen das, sonst wären sie sicherlich nicht hierher gekommen. Ich meine, wir sollten es dabei bewenden lassen.“
„Non, Richard, Sie müssen verstehen, dass wir uns mit der Aussage nicht zufrieden geben können, wir werden sie morgen früh abholen lassen und in unserem Ministerium nochmals getrennt befragen. Ich versichere Ihnen, fair und ohne Druck auf sie auszuüben. Wir müssen ganz sicher sein, dass sich die Pläne in deutscher Hand befinden.“ Grau ließ keinen Zweifel aufkommen, dass Widerspruch zwecklos war.
„Gut Pierre, dann erlauben Sie mir bitte meinen Leuten zu sagen, dass sie morgen im Kriegsministerium ihre Aussage wiederholen müssen“, bat Fréchencourt.
„Das geht leider auch nicht Richard, denn wir möchten nicht, dass sie sich vorher absprechen.“
„Sie haben Recht Pierre. Was halten Sie denn davon, die Befragung ganz entspannt hier im Haus durchzuführen? Ich würde gerne dabei sein, damit bei meinen Männern nicht der falsche Eindruck eines Verhörs entsteht. Das bin ich ihnen schuldig, denn ich habe sie in diese Situation gebracht und sie haben ja schließlich auch einiges für mich riskiert. Ich selbst werde mich selbstverständlich im Hintergrund halten und nur eingreifen, wenn Ihr es wünscht.“ Grau blickte Muller an und als dieser kurz nickte, stimmte er Fréchencourts Vorschlag zu. Letzterer ergriff nun wieder das Wort:
„Ich habe die Zeit vor dem Diner damit verbracht, hier im Haus nach Kopien der Pläne zu suchen, obwohl ich weiß, dass mein Vater erst dann Kopien angefertigt hat, wenn er sicher war, nichts mehr ändern zu müssen. Ich wollte nichts unversucht lassen, aber ich habe wie erwartet nichts gefunden. Was ich allerdings entdeckt habe, sind Pläne für eine schwere Geschützlafette, auf die vermutlich die neue Kanone montiert werden sollte. Leider bringt uns das nicht einen Schritt weiter.“
„Hm, das fürchte ich auch“, Graus Stimme klang ein wenig deprimiert.
„Und wir können nichts tun“, ergänzte Muller.
„Das Schlimmste was passieren kann ist doch, dass die Deutschen die Kanone bauen. So lange dies nicht der Fall ist, bleibt doch der Status quo erhalten, oder?“, fragte Gisele Fréchencourt.
„Ja, das ist richtig, Madame Fréchencourt“, stimmte Muller zu.
„Wir wissen nicht, was die Deutschen mit der Kiste gemacht haben und ob sie die Pläne überhaupt gefunden haben, beziehungsweise jemals finden werden. Ich glaube, dass alle Mutmaßungen darüber, was geschehen sein könnte oder noch geschehen wird, reine Spekulationen sind. Man kann eigentlich nur abwarten und hoffen, dass es gut geht“, fuhr Giselle Fréchencourt fort.
„Sie haben vollkommen Recht, Madame Fréchencourt! Wir können in der Tat nur abwarten und unsere Agenten in Berlin und bei den deutschen Rüstungsfirmen, insbesondere bei Krupp, anweisen, ihr Hauptaugenmerk auf den Bau neuer Geschütze zu legen. Was sonst noch zu tun ist, werden wir morgen im Kriegsministerium beraten“, sagte Grau und schaute auf seine Taschenuhr. „Es ist spät geworden. Jean und ich müssen jetzt leider aufbrechen, denn wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns. Wann sollen wir morgen früh hier sein, Richard?“
„So um neun?“, schlug Fréchencourt vor.
„Das ist eine gute Zeit“, bestätigte Grau. Die Gäste bedankten sich für das vorzügliche Essen und verabschiedeten sich von ihren Gastgebern. Dann bestiegen sie die im Hof bereitstehende Kutsche.
„Bis morgen früh um neun“, rief Fréchencourt, wohl wissend, dass es keine neuen Erkenntnisse geben würde.