Читать книгу Heidesilber - Herbert Weyand - Страница 13
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Der Mazda tuckerte zuverlässig wie ein Traktormotor auf dem Weg nach Süden. Paul saß entspannt hinter dem Steuer und Griet kuschelte auf der Beifahrerseite gegen die Tür.
Vorgestern besuchten sie noch einmal Arget, auf seinen besonderen Wunsch hin, der sie auf eine neue Spur in Frankreich brachte. Als sie sich dem Hügel näherten, stand er vor der Kate und winkte sie herein.
»Nach Stunden mit eurer Scheibe muss ich gestehen, dass ich nicht viel weiter bin als zuvor. Mir gelang es, die Zeichen zu ordnen, was sie bedeuten, liegt jedoch in den Sternen.«
»Schade«, bemerkte Paul. »Ich hatte große Hoffnungen in dich gesetzt.«
»Es gibt noch mehrere Möglichkeiten.« Argets schmunzelte. Es sah fürchterlich aus, besaß jedoch einen gewissen Charme. »In meinen Fundus fand ich diese Originaldokumente.« Er schob einen vergilbten Packen Pergamentpapiere zu ihnen rüber. »Dazu gibt es diese Kopien. Die Originale halte ich hier bei mir. Ihr solltet sie jedoch sehen.«
Ehrfürchtig langte Griet nach den Bogen. Sie fühlte dickes Papier, fast wie eine Lederhaut. Die Ränder bogen sich und fransten aus. Lange betrachtete sie die darauf vorhandenen Zeichen. Paul nahm ihr den Bogen mit spitzen Fingern aus der Hand.
»Ich hielt noch nie ein Papyrus in den Händen. Es ist doch eines?«
»Ja sicherlich«, entgegnete Griet.
»Wie wurde das hergestellt. Unvorstellbar, dass die Ägypter schon in der Antike Schriftrollen herstellten. Hier gab es Papier erst im 14. Jahrhundert.«
»Das Mark der Pflanzenstängel wurde in drei bis fünf Zentimeter breite Streifen geschnitten und eingeweicht. Diese wurden knapp überlappend zusammengelegt, darüber in entgegengesetzter Richtung weitere Fasern geschichtet, also kreuzweise, und zu einem Bogen gepresst oder geklopft«, erwiderte Griet kurz und unkonzentriert.
»Wahnsinn«, brachte Paul heraus. Griet nahm ihm das Dokument wieder aus der Hand.
»Mein Gott. Diese Dokumente müssen ja uralt sein. Ich habe schon einiges gesehen, so etwas noch nicht. Sind das die gleichen Zeichen, wie auf der Scheibe?«, fragte sie erwartungsvoll.
»Ich vermute, sie wurden vor der christlichen Zeitrechnung gefertigt. Ja, wenn auch nicht ganz gleich, doch sehr, sehr ähnlich. Ich erkenne ein System darin. Wie vermutet sind sie verschlüsselt. Aber auch den Code haben wir geknackt. Nur, es gibt keine sinnvolle Übersetzung. Vielleicht unterliegen sie einer weiteren Verschlüsselung. Im Zweiten Weltkrieg bedienten sich die Krieg führenden Nationen der keltischen Verschlüsselungsmethoden.«
»Lass mal sehen.« Paul langte hinüber. Die Kopie hätte für ihn genauso gut chinesisch sein können. Hieroglyphen, Runen oder was sonst noch für Krakel verwischten vor seinen Augen. Rote und blaue Linien umkreisten die Symbole. Ordnungshinweise setzten sie in eine bestimmte Folge.
»Das ist Kyras Werk. Ihr gelingt so etwas aus dem Effeff und sie benötigt keine dicken Bücher. Seid euch sicher, dass die Anordnung so ist«, sagte er zu Paul und tippte mit den unförmigen Fingern auf das Papier. »Und jetzt wird es spannend. Es geht um einen Druiden, der ungefähr 300 vor Christus, plus, minus fünfzig Jahre lebte. Sein Name ist Kendric. Es muss etwas Fürchterliches passiert sein. Sehr viele Angaben gibt es nicht. Er machte sich auf den Weg nach Rom. Die Reiseroute vollzogen wir bis zu einem Punkt in Südfrankreich nach.«
»Du hast doch gesagt, dass du zu den Zeichen nichts sagen kannst. Und jetzt das.« Griet beugte sich nach vorn, als wolle sie ihn hypnotisieren.
»Du hast nicht zugehört.« Arget legte ihr die Hand auf die Schulter. Wie ein Stromschlag durchzuckte es sie. Die Ahnung, die sie bisher hatte, schien nicht zu trügen. Ihre Haut kribbelte und Gänsehaut zog von den Fußspitzen bis zum Kopf. Hier geschah etwas, das sie nicht fassen konnte. »Ich hatte von der Scheibe gesprochen«, fuhr Arget fort. »Diese Dokumente und auch noch andere haben wir schon etwas länger. Kyra und ich interessieren uns für Geschichte und sammeln alles, was uns unter die Finger kommt. Wir haben viele Stunden über solchen Papieren gebrütet. Aber noch einmal zu Kendric. Er ist von hier, genau von diesem Ort, an dem wir uns jetzt befinden, nach Frankreich, über das Zentralmassiv, entlang der Rhône zum Mittelmeer gezogen. Von dort, wahrscheinlich nach Marseille und mit einem Schiff nach Rom. Die Reise dauerte viele Jahre. Im Süden Frankreichs legte er einen längeren Aufenthalt ein. Auf diesem Weg könnten möglicherweise Hinweise, zu finden sein.«
»Du sagtest doch, du kannst die Zeichen nicht entziffern? Woher diese Informationen?« Paul beäugte ihn misstrauisch an.
»Es ist richtig. Ich habe noch andere Quellen. Nachdem ich den Namen des Druiden, also Kendric, wusste, flossen die Informationen zusammen. Hier ist so weit alles, was ich in der kurzen Zeit ermitteln konnte«, er hielt Griet einen weiteren Packen Papier hin.
»Was sollen wir tun? Was empfiehlst du uns?«, fragte Griet.
»Schaut euch erst die Quellen an. Dann müsst ihr selbst entscheiden, was ihr wollt. Ich persönlich würde versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen. Euer Leben wurde bedroht und ich glaube nicht, dass es vorbei ist.«
»Da magst du recht haben.« Paul strich die Haare aus dem Gesicht, hinter dem es arbeitete. »Griet und ich haben uns schon die Köpfe zermartert, was wohl der Anlass für die blödsinnigen Angriffe ist. Ja, ja. Die Scheibe. Schon richtig. Aber, das ist doch nur Silber. So viel gibt es auch nicht dafür.«
»Hast du nichts gespürt, als du die Scheibe in die Hände nahmst?«
Paul schüttelte den Kopf.
»Aber du Griet?«, fragte Arget.
»Ja. Energie strömte auf mich über. Ich kann es nicht anders sagen. Ein Kribbeln in den Fingern und Gänsehaut. Nicht unangenehm, aber unheimlich.«
»Bei mir nicht. Für mich ist das ein Gegenstand wie jeder andere. Na ja. Nicht ganz. Er ist halt alt. Täuschst du dich nicht?«
»Nein, nein. Da ist etwas«, antwortete Griet nachdrücklich.
Sie dankten Arget und brüteten in Pauls Arbeitszimmer weiter über den ihnen überlassenen Papieren.
*
»Du willst also immer noch an die Ardèche?«, fragte Paul Griet über das Brummen des Motors hinweg.
»Ja, das haben wir doch gemeinsam ausgemacht«, Griet lümmelte in ihrer Ecke. Sie trug bequeme Klamotten. Eine weite Sporthose und ein weites Shirt. Sie hantierte mit einer Kaffeekanne.
»Das Felsentor in diesem Bericht. Kann das nicht ein anderes sein?« Paul der Skeptiker hakte schon den ganzen Morgen nach. Manchmal ging er ihr auf die Nerven.
»Möglicherweise gibt es ein anderes. Ich kenne jedoch nur Pont d´ Arc. Und das kommt dem keltischen Gemüt schon sehr nahe. Ein von der Natur geschaffener heiliger Ort mit Symbolik. Ich stelle es mir vor.« Sie malte mit den Händen einen Kreis. »Ein Tor in die Anderwelt. Außerdem fühle ich, dass es das Richtige ist.«
»Wenn du es so siehst. Dieser Kendric? Weshalb erzähltest du dem Kauz nicht, dass dir die Person vertraut ist.«
»Aus einem Gefühl heraus. Ich weiß nicht.« Sie zuckte mit den Schultern.
»Und wann erzählst du die Geschichte weiter?«
»Der junge Druide war aus einem persönlichen Grund auf dem Weg nach Rom. So richtig schlau werde ich noch nicht daraus. Nachdem, was Arget uns gab, suchte er einen römischen Zenturio, den er für irgendetwas bestrafen wollte. Und dann ist da noch die Sache mit der Scheibe. Sie spielt sicher auch eine Rolle. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass die Zehn Gebote oder irgendetwas aus der Bibel hier hineinspielen. Aber, im Großraum Heerlen und Aachen, etwa um dreihundert Jahre vor Christus oder noch früher – bei uns hat sich nichts Biblisches ereignet - mehr als unwahrscheinlich.«
»Jetzt fängst du an zu spinnen. Zehn Gebote, Bibel.«
»Nur so ein Gedanke.«
»Mir brummt der Kopf. Jahrelang arbeite ich mit meinen technischen Einrichtungen, die ich physikalisch belege und jetzt stürmt dieser philosophische und anthropologische Quatsch auf mich ein.« Paul schielte fast entschuldigend zu ihr hinüber.
»Und? Gefällt es dir nicht?«, sie grinste unverschämt.
»Doch schon. Auch, wenn ich im Moment nur böhmische Dörfer sehe.«
»Dieser Druide muss längere Zeit im Zentralmassiv verbracht haben. Dort sehen wir uns um.«
»Haben wir keine genaueren Anhaltspunkte?«
»Leider nicht viele. Eben nur dieses Felsentor und einen Fluss, der sich tief in die Felsen eingeschnitten hat.«
Sie fuhren die AutoRoute du Soleil bis Montélimar und von dort über Aubenas nach Vallon Pont d´Arc. Griet begeisterte sich an der Landschaft der Provence und drehte den Kopf schneller als während eines Ballwechsels beim Tennis. Paul verbrachte vor Jahren einige Tage in dieser Gegend. In einem anderen Leben, wie ihm schien. Er erinnerte sich an eine kleine Pension. Am frühen Nachmittag fuhren sie darauf zu. Ende Juli gab es kein freies Zimmer. Nach einigen Stunden bekamen sie im Nachbarort Chandolas ein Doppelzimmer zu einem sündhaften Preis.
Sie machten sich sofort auf den Weg zum Felsentor, das die Ardèche überspannte.
Der vom Wasser durchbrochene Felsen und bot ein gigantisches Schauspiel. Ratlos standen sie davor. Sie besaßen keine Vorstellung davon, wie es weitergehen sollte. Am Fluss lag ein Campingplatz, direkt an der Biegung, ungefähr hundert Meter vom Tor entfernt. Träge zog das Wasser zur Rhône und umspülte einige kleine Inseln, die sich aus dem Wasser erhoben.
»Wir sind richtig.« Griet schaute sinnend in das fließende Nass. Sie hob ihren Kopf in Luft und blähte schnüffelnd ihre Nasenflügel, um die Spur aufzunehmen, die ihr, Sicherheit gab. »Wir müssen den Fluss ein Stück hinunter. Dort hinten zieht es mich hin.« Ihre Hand deutete auf die Felsen, die sich in ungefähr zwei Kilometer Entfernung rechts und links in den Himmel reckten.
»Da kommst du nirgendwo mehr raus. Ich bin hier schon einmal mit dem Paddelboot heruntergefahren. Zu beiden Seiten steile Wände. Und das mehr als zwanzig Kilometer.«
»Nenne es Intuition. Wir müssen den Fluss hinunter. Morgen früh mieten wir uns ein Boot und paddeln unserem Ziel entgegen.«
»Bist du nicht etwas zu euphorisch?«
»Lass mich doch.«
Den Abend verbrachten sie im Restaurant des Hotels und versuchten, die losen Fäden zu verbinden. Es gelang ihnen nicht. Schließlich landeten sie, leicht beschwipst, in ihrem Zimmer. Linkisch stand Paul herum und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
»Komm schon. Wir sind keine dreizehn mehr.« Griet gab ihm einen Schubs. »Ich gehe ins Bad und mache mich Bett fein.«
Sie ließ die Badtür offen und er hörte, wie sie sich auszog. Kurze Zeit später rauschte das Wasser der Dusche. Er spitzte die Ohren und bekam heiße Gedanken.
»Willst du mir nicht den Rücken waschen«, schreckte ihn ihre fröhliche Stimme aus dem Traum.
Aufgeregt stolperte er zum Bad. In einer flüssigen Bewegung riss er das Shirt herunter. Tatsächlich wie ein Dreizehnjähriger, schoss ihm durch den Kopf.
*
Griet lag, mit einem glücklichen satten Lächeln auf den Lippen, in seinem Arm. In der vergangenen Stunde erforschten sie ihre Körper und stellten fest, dass die nunmehr rote Narbe des Messerstichs der Belastung des Liebesspiels standhielt.
»Schön«, wisperte Griet leise. »Jetzt erzähle ich die Geschichte weiter. Doch sie wird anders, als die, die ich beim Beginn meiner Erzählung im Kopf hatte. Es sind so viele Fakten hinzugekommen.«
»Du glaubst die Geschichte tatsächlich«, stellte er verwundert fest, während sein Daumen sanft über die verheilende Narbe strich.
»Zweifelst du daran?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe eine ungefähre Ahnung, wie das damals abgelaufen ist.«
*
Fassungslos stand Kendric vor der Asche der Siedlung. Die Ahnung hatte ihn nicht betrogen. Vor ihm lag ein grauenhaftes Schlachtfeld. Die Natur nahm keine Notiz davon. Vögel jubilierten, die Freude in den Himmel und die Blätter sangen ihr ewig friedliches Lied. Dennoch, die Menschen, für die Kendric die Verantwortung trug, lagen niedergemetzelt in der Gegend. Er stolperte fassungslos und mit halb blinden Augen durch den Ort des Grauens. Ab und zu starrte ihn ein Rabe oder eine Krähe mit kalten Augen an, um dann träge und vollgefressen, davon zu schwingen.
Da lag Bronwyn, geschändet und mit durchtrennter Kehle. Ihre Arme wiesen anklagend in den Himmel. Das Gesicht zerstört und schrecklich verzerrt. Die nackten Beine und der Schoß boten sich ihm obszön dar. Mit einem Aufschrei stürzte er nieder, zog ihr die Kleidung über die Blöße und bettete den Kopf in seinen Schoß. Das Blut beachtete er nicht. Sanft wiegte er den Leichnam. Er erzählte unsinnige Geschichten und flüsterte die vielen Koseworte, die sie in ihrem kurzen gemeinsamen Leben miteinander geteilt hatten. Nach langer Zeit erwachte er aus der Erstarrung und schritt den Friedhof ab. Die furchtbare Metzelei rumorte in den Därmen und Galle stieg bitter hoch.
Weshalb taten Menschen anderen Menschen so etwas an?
Endlich fand er Cedric. Der gespaltene Kopf des Jungen sah grässlich aus. Die kleinen Gliedmaßen hingen mehrfach gebrochen in verzerrter Anordnung neben dem Körper. Ein unmenschlicher Schrei entfloh Kendrics Lippen. Sein Verstand machte sich auf den Weg in immerwährende Dunkelheit. Kendrics Seele zerbrach.
»Vater«, schreckte ihn Alaynas dünne Stimme aus der Finsternis. Schluchzend packte er die Tochter, die mit angsterfüllten weit aufgerissenen Augen vor ihm stand. Das Grauen stand in ihnen. Kendric umfasste sie fest mit beiden Armen.
»Was ist geschehen?« Die Worte kamen mühsam und krächzend über die Lippen.
»Römer. Es ging so schnell. Wir bekamen keine Chance.«
»Aber weshalb?«
»Sie suchten dich. Sie haben unsere Freunde, bevor sie, sie umbrachten, nach dir gefragt.«
»Ich habe nichts getan, womit ich so etwas herausforderte.«
»Sie suchten etwas und sprachen von großer ewiger Macht. Du sollst es haben. Sie meinten, deine Magie zerstöre das Reich der Römer. Eine große Belohnung ist auf dich ausgesetzt.«
»Wer war der Anführer?«
»Lucius, wenn ich es richtig verstanden habe. Ein großer dämonischer Mann. Er agierte unheimlich brutal und schlug Cedric immer wieder gegen den Baum. Aber er spürte keine Schmerzen. Ein Soldat verletzte ihn zuvor mit einem Schwert am Kopf.«
»Und du? Hast du dich versteckt?«
»Nein überhaupt nicht. Ich stand an der Hütte. Niemand beachtete mich. Eine Lähmung überfiel mich. Ich konnte den anderen nicht helfen.« Sie brach in Tränen aus.
Kendric strich ihr über den Kopf. »Es ist gut so. Jetzt habe ich wenigstens noch dich. Ich werde diesen Lucius verfolgen, bis an das Ende der Tage.« Er hob die Arme gen Himmel und die Augen glühten wie brennende Kohle. Er schien zu wachsen. Unbestimmbare Macht ging von ihm aus.
Die nächsten Tage verbrannten sie die Leichen, gemäß den vorgegebenen Riten und bestatten die Urnen. Viel gaben sie den Toten nicht mit auf ihrem Weg zur Anderwelt. Die Römer hatten alles geplündert.
Nach der Bestattung der Toten versank Kendric tief in seine Gedankenwelt. Er brütete über Rachegedanken und malte immer neue Bilder, wie er den Römer Lucius hinrichten würde. Alayna nahm er nicht mehr wahr. Seine Welt war nun eine andere. Er führte lange gedankliche Gespräche mit Bronwyn und Cedric.
Nach endloser Zeit erwachte er aus der Lethargie und sah Alayna an. Sie hatte ihm ein Lager gerichtet und sorgte dafür, dass er mit allem, was er zum Leben brauchte, versorgt wurde. Tiefe Scham erfüllte ihn. Was für ein Vater war er? Anstatt für seine Tochter zu sorgen, versank er in Mitleid und brütete dunkle Gedanken. Der Aufenthalt an diesem Unglücksort bekam ihm und Alayna nicht. Sie gaben die Siedlung auf.
Kendric zog mit Alayna zur alten Heimat und durchdachte drei Jahre den Racheplan. Aus dem stolzen Druiden wurde ein gebrochener, verwahrloster Mann, der nur dank seiner Tochter nicht verhungerte. In den wenigen klaren Augenblicken, die er hatte, übermannte ihn Scham und trieb ihn wieder in die Depression zurück.
Alayna hingegen bemühte sich, ihn aus dem dunklen Gefängnis zu befreien. Es dauerte bis zum Beginn des dritten Sommers nach der Ermordung ihrer Familie und Nachbarn. Er stand frisch gewaschen vor der baufälligen Hütte, die sie abseits des Dorfes bewohnten, weil die Menschen ihn fürchteten. Graue Fäden durchzogen das Haar und den Bart. Die blauen Augen musterten sie klar aus dem hohlwangigen Gesicht.
»Alayna. Ich gehe für lange Zeit von hier weg«, begann er das Gespräch. »Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast. In deinem Alter solltest du frei sein. Jetzt erst sehe ich, wie selbstsüchtig ich dir gegenüber handele. Du hast die Mutter und den Bruder verloren. Ich verstehe nicht, wie ich das vergaß. Du bleibst bei unseren Verwandten.« In ein oder zwei Jahren, konnte sie einem Mann zur Gefährtin gegeben werden.
»Ich gehe mit dir. Meinst du, ich wüsste nicht, was du zu tun beabsichtigst? Du willst Mutter und Cedrick sowie die Menschen unseres Dorfes rächen.« Ihre blitzenden Augen schossen wütende Pfeile. So wie jetzt sah sie aus, wie einst Bronwyn. Eine weit über ihr Alter hinaus, selbstsichere Person. »Ich besitze das gleiche Recht wie du.«
Er gab die Hoffnung auf, es ihr auszureden. Außerdem entschieden die Frauen frei, da hatte sie schon recht. Es bestand kein Unterschied zu den Männern.
»Gut. Wir brechen in zwei Tagen auf. Die Jahreszeit ist günstig. Die Natur erwacht und wir gehen der Wärme entgegen.«
Sie wanderten gemächlich, nur mit dem Nötigsten ausgestattet, früh morgens los. Ohne Bedauern nahmen sie Abschied. Ihre Wurzeln lagen woanders. Nach einem Mondumlauf lag der Ort der zerstörten Siedlung vor ihnen. Die Natur hatte das ihre getan und die Spuren der Anwesenheit von Menschen an diesem Ort getilgt. Selbst seine Hütte, die das Massaker verschonte, existierte nicht mehr.
»Die Natur hat sich wiedergeholt, was ihr gehörte. Es ist, als wenn wir nie hier gewesen wären«, sagte Kendric wehmütig zu Alayna.
»Alles wird wiedergeboren. Wir erneuern uns immer wieder«, antwortete sie ihm, wie sie es gelernt hatte, und wandte sich ab. Sie ertrug den Schmerz in seinen Augen nicht.
Er hielt sie am Arm zurück. »Hier ist jemand«, flüsterte er. Blitzschnell bewegten sie sich und veränderten ihre Haltung. Sie verschmolzen mit der Natur.
»Ich hörte doch Stimmen.« Die ungewöhnlich laute Stimme, in einer fremden Umgebung, zeugte von Germanen, vielleicht Kelten – auf keinen Fall Römer. Die Fremden kamen näher. Zwei große, blonde Männer und ein Dritter, ein gutes Stück kleiner und mit dunklem Haar, trampelten auf die Lichtung.
»Hier ist niemand«, sagte einer der Hünen.
»Verlasst euch nicht auf eure Augen, sondern auf eure Sinne«, mahnte die Stimme aus dem Gestrüpp.
Gleichzeitig gingen die drei in Abwehrstellung. Aus den Farben der Natur traten Kendric und Alayna, wie Schemen, hervor.
»Mutter Erde heißt euch willkommen«, gebrauchte Kendric die rituellen Worte der Stämme.
»Die Große Mutter dankt euch«, erwiderte Knut, der kleinere und wohl auch ältere der drei Männer. »Ich bin Knut und dies meine Brüder Konrad und Kunolf.«
Kendric stellte sich und seine Tochter vor. Mit einer einladenden Geste zeigte er auf den Sandstreifen vor dem Hügel.
»Nein. Kommt mit uns. Dort hinten«, Knut neigte das Haupt zum Wald, »haben wir einen Unterschlupf eingerichtet.«
Dankend beugte Kendric den Kopf und folgte den Germanen. Knut, schien der Anführer der drei Teutonen zu sein. Die gedrungene kräftige Gestalt und die sympathischen Gesichtszüge strahlten Selbstbewusstsein und Gelassenheit aus, wie sie der Druide bisher bei noch niemandem gesehen hatte. Lichte blaue Augen nahmen alles auf und klarer Verstand setzte die visuelle Sicht in Gedanken um. Die beiden Brüder bildeten einen Gegensatz und glichen sich, wie ein Haar dem anderen. Groß, noch ein wenig größer als er und von anderem Naturell. Sie nahmen die Welt, wie sie, sie vorfanden und vermieden weitere Gedanken, die über die Jagd und das Essen hinausgingen. Lebensfreude sprühte aus jeder Pore ihrer Körperhaltung. Sie nahmen Alayna sofort in die Mitte und plapperten mit ihr um die Wette.
»Woher kommt ihr?«, fragte Knut den schlanken Druiden, der ihn, wie seine Brüder, überragte. Im Alter kam er ihm am nächsten. Also Anfang dreißig.
Kendric zeigte nach hinten. »Von da. Aber ich wohnte früher schon einmal hier. Die Römer zerstörten die Siedlung und ermordeten meine Frau und meinen Sohn.«
»Es tut mir leid. Ja. Ich sah die Reste der Häuser und die Gräber. Doch, bei der Großen Mutter, ich weiß nicht, wann das gewesen sein soll. Ich rastete schon einmal mit meinen Brüdern hier. Hier standen lediglich Bäume. Und jetzt …?«
Kendric musterte ihn von der Seite. Er spürte eine Seelenverwandtschaft.
»Dann musst du Kind gewesen sein. Dreizehnmal nahm die Natur ihren Lauf, seit ich hier mit meinem Stamm die Siedlung gründete.«
In Knuts Gesicht arbeitete es. Widerstreitende Gefühle zeichneten sich ab. Er blieb stehen und blickte tief in Kendrics Augen. Er schien dem Druiden ins Herz zu sehen.
»Dann ist es tatsächlich geschehen.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Meine Brüder verstehen es nicht. Sie wollen es nicht wahrhaben. Um bei deinen Worten zu bleiben, sind für mich fünf Wachstumsperioden vergangen, seit ich zum ersten Mal an diesen Ort hier besuchte. Damals lebte Nervier bei uns. Ein Belge ... glaubte ich zumindest. Ja. Und dann geschah etwas.« Er wusste nicht, ob er fortfahren sollte.
Kendric schwieg. Er unterbrach den Erzählenden nicht.
»Du hast die Höhle entdeckt? Ich spüre es«, fuhr Knut fort. »Dort verschwand Nervier. Einfach vor meinen Augen. Und wir? Wir lebten nicht mehr in unserer Zeit. Früher oder später? Ich weiß es nicht. Meine Brüder, die zwei großen Kinder dort«, er wies auf Kunolf und Konrad, »wollen es nicht wahrhaben. Sie verstehen nicht, dass sich die Zeit und die Begriffe verändert haben.«
»Zwischen den Welten geschehen viele Dinge, die wir nicht verstehen. Als junger Mensch besuchte ich die Anderwelt und erfuhr meine Bestimmung. Dort spürte ich, dass es unvorstellbare Elemente gibt, die um uns herum wirken. Seitdem bin ich nicht mehr ich.« Kendric staunte, dass er einem fremden Menschen die geheimsten Gedanken anvertraute. Bestand hier eine Seelenverwandtschaft? Die Natur meinte es, trotz allen Missgeschicks, gut mit ihm. Diesem Menschen, den er bis vorhin nicht kannte, vertraut er, wie sonst niemand auf der Welt.
»Du bist doch einer dieser geheimnisvollen Männer? Ich habe schon einmal einen gesehen, der tief aus den Wäldern kam«, sagte Knut halb fragend.
»Ich bin Druide.«
»Was ist das? Ein Heiler?«
»Nein. Jetzt wo ich es dir erklären soll, tue ich mich schwer. Ich würde sagen, Sehender oder Wissender.«
»Und, was tust du?«
»Ich beobachte die Vergangenheit, das Wissen, das wir in vergangenen Generationen gesammelt haben. Ich bewahre es für die Seelen, die wiedergeboren werden. Und …? Ich versuche daraus die richtigen Schlüsse, für das Jetzt zu ziehen.«
»Bei Zeus. Das ist aber eine schwierige Arbeit.« Knut sah ihn mit den treuherzigen Augen an. »Und jetzt? Du bist doch nicht ohne Grund unterwegs?«
»Nein. Ich suche den Römer, der meine Familie und meinen Stamm umgebracht hat.«
»Und? Wenn du ihn findest?«
»Dann werde ich ihn ganz langsam töten.«
Sinnend sah ihn Knut an. »Nervier hatte auch Begegnungen mit den Römern. Die schlimme Zeit hätte ihn bald das Leben gekostet. Wir befanden uns lange Zeit auf der Flucht, um doch wieder an diesen Ort hier zu gelangen. Hier verlor er seine Frau und ich einen Freund. Jetzt du, deine Familie. Meine Brüder und ich sind in der Zeit zurückgegangen. Was ich damit sagen will: Dieser Platz hier hat eine besondere Bestimmung. Ich habe ein ungutes Gefühl.«
»Für mich ist hier meine Heimat. Ein heiliger Ort und eine friedliche Stimmung, wenn nicht gerade Römer hier eindringen.« Kendric richtete den Blick in unendliche Fernen. »Hier wurde ich ein mächtiger Mann. Doch Mutter Natur dämpfte meinen Hochmut. Ich sonnte mich darin, auserwählt zu sein, die Druiden unseres Volkes gegen die Eindringlinge zu vereinen. Ich wurde bestraft. Dennoch werde ich meine Strafe nicht klaglos hinnehmen. Für das, was die Römer meiner Familie und mir angetan haben, werden sie büßen.«
»Ich verstehe dich«, Knut sah ihn mitfühlend an. »Wir haben alle unser Schicksal und unsere Aufgabe zu erfüllen. Welche ich aufgetragen bekomme, weiß ich noch nicht. Ich habe Dinge gesehen, die mein Verstand nicht aufnehmen, und die ich nicht wiedergeben kann. Ich weiß ganz sicher, dass wir über viele Generationen, in die Zukunft hinein, leben werden. Nicht wir in Person, sondern über unsere Nachfahren.«
»Mein Freund«, Kendric lächelte, »das ist nichts Neues. Wir werden wiedergeboren, immer und immer wieder. Nach unserem Tod werden sich unsere Seelen erneuern.«
»Ich habe davon gehört«, erwiderte Knut. »In meiner Zeit, nur eine kurze Spanne von der jetzigen entfernt, ist dein Glaube Vergangenheit.«
*