Читать книгу Heidesilber - Herbert Weyand - Страница 9
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»Mein Zuhause.« Griet umfasste mit einer Handbewegung das geschmackvoll eingerichtete Zimmer. Hier gab es kein überflüssiges Möbelstück.
Vor wenigen Minuten stand er staunend vor dem alten Haus in der Paviljoensgracht. Griet schien kein Kind, armer Eltern zu sein. In der Nähe musste auch das Spinozahaus liegen, in dem der Philosoph bis zu seinem Tod gelebt hatte. Die Fassade war typisch holländisch. Schmal gebaut, mit kleinen Fenstern. Am Giebel ragte ein Balken heraus. Hier wurden die Möbel, die nicht durch das schmale Treppenhaus passten, hochgezogen und durch die Fenster ins Haus verbracht.
»Dort ist das Bad«, sie wies nach links. »Und dort oben kannst du dich einrichten«, sie zeigte nach rechts auf die Treppe. »Meine Schlafkammer ist unten und hier nach hinten heraus die Küche. Solch ein Haus ist neu für dich?«, lächelte sie. »Ich sehe es. Alles, was bei dir auf einer Ebene ist, verteilt sich hier über das ganze Haus. Aber ich liebe es. Komm, ich mache uns schnell einen Kaffee.«
»Was hast du als Nächstes vor?«, fragte Paul, der in einem Sessel lümmelte.
»Ich weiß noch nicht so genau. Aber warte mal.« Sie ging zur Wand und schob einen gerahmten Kunstdruck zur Seite, hinter dem ein Tresor zum Vorschein kam. Sie drehte an den beiden Rädchen, öffnete die Tür und griff zwischen einen Stapel Papiere.
»Hier.« Sie hielt ihm einen, in ein Tuch, gewickelten Gegenstand hin. »Guck dir das mal an. Ich werde mich eben umziehen. Ich habe keine Lust mehr, in deinen Klamotten rumzulaufen.« Sie trug immer noch Jeans und Shirt von ihm. Die Hose hatte sie umgeschlagen, denn, trotz ihrer Größe, passten die Sachen nicht.
Schon mehr als eine Woche war vergangen, seit er sie in der Heide aufgegabelt hatte. Es kam ihm wie gestern vor. Die Stichverletzung verheilte sehr gut. Sie hatte keine Bewegungseinschränkungen mehr, wie er feststellte.
Paul entfernte das Tuch von dem Päckchen und hielt eine ungefähr fünfzehn Zentimeter im Durchmesser messende, matt glänzende, Scheibe in den Händen. Ein Meisterwerk von unschätzbarem Wert. Wenn er nicht vorher von Griet gehört hätte, dass der Gegenstand mindestens zweitausenddreihundert Jahre alt war, hätte er ihn für eine industrielle Fertigung der Gegenwart gehalten. Nicht ein Hammerschlag verunstaltete die Oberfläche. Makellos und deutlich reihten sich Zeichen aneinander. Ehrfürchtig drehte er die Scheibe in den Händen.
»Was sind das für Zeichen?«, rief er in Raum.
»Ich weiß es nicht.« Sie kam von unten hoch und kämmte das schulterlange Haar. »Wir haben schon darüber gesprochen. Die Wissenschaft geht davon aus, dass die Kelten keine Schrift besaßen. Bisher gibt es zumindest nichts, was darauf schließen ließe. Sie benutzten hauptsächlich die lateinische Sprache, aber auch Griechisch. Es scheint fast unwahrscheinlich, dass sie eine eigene Schreibweise besaßen. Das passte nicht in ihre Lebensphilosophie. Sie glaubten, später, in einer anderen Person, weiterzuleben. Die wichtigen Dinge wurden von Druiden bewahrt und mündlich in den Generationen weitergegeben. Hinzu kam die sogenannte Anderwelt. Wie wir heute vermuten, der physikalische Bereich, also die Welt mit all ihren Planeten und Sonnensystemen sowie weiteren Geheimnissen. Ich verliere mich wieder …, wenn ich einmal anfange, höre ich nicht mehr auf«, sie hob entschuldigend die Schultern und grinste leicht.
»Mach nur weiter.« Er drehte die Platte in den Händen. »Ich finde es sehr interessant. Wer bekommt schon die Möglichkeit, von einer solch reizenden Dozentin, eine Vorlesung zu erhalten.«
»Mach mir später keinen Vorwurf. Ich will einfach nicht glauben, dass die Kelten keine eigene Schrift besaßen. Das und nichts anderes möchte ich beweisen. Ich bin wie besessen davon.« Sie umfasste seine Hände, die, die Scheibe hielten. Die grauen Augen blitzten und hypnotisierten ihn. »Dieses Teil hier wird mich weiterbringen. Das spüre ich genau. Immer wenn ich es in die Hände nehme, habe ich das Gefühl, mich zu erinnern. Ja, und das ist blöd, ich denke, ich habe die Scheibe in einem anderen Leben selbst gemacht. Nein, nein! Ich bin nicht verrückt. Ich sage ja, dass ich es selbst nicht glaube. Jedoch ist ein Teil der Keltenphilosophie die Wiedergeburt.«
»Es ist auch schwierig, zu glauben, dass du eine wiedergeborene Keltin bist. Du siehst so frisch aus.« Paul lächelte verhalten.
»Was höre ich da? Du baggerst mich an?« Grübchen zogen in ihre Mundwinkel. »Das ist verlockend. Aber im Moment ist mir nicht danach.«
»Dann versuche ich es später noch einmal.« Er nahm die Abfuhr gelassen. In den wenigen Tagen hatten sie einen Weg gefunden, ungezwungen miteinander umzugehen. »Was geschieht denn jetzt mit den Sachen, die wir aus dem Grab geholt haben?«
Im Verlaufe der Woche, kurz nach dem Besuch des Kriminalpolizisten, schlichen sie zur Heide. Griet wollte bergen, was ging, bevor hier Kommandos anrückten und das Gebiet sperrten. Sie legten das Grab vorsichtig frei, vermaßen es und schossen Hunderte von Fotos. Unglaublich, was sie zutage brachten. Kunstvoll gefertigte Schmuckstücke, irdene Töpfe, ein Schwert und römische Münzen, die fünfundsiebzig bis siebzig vor Christus datierten. Natürlich stammte auch die Silberscheibe aus dem Grab. Sie hatte Griet vorher mitgehen lassen.
In der Regel wurden solchen Gräbern nicht so üppige Gegenstände beigegeben. Neben dem normalen keramischen Urnengefäß, ein Schmuckstück. Die Person, die hier beerdigt wurde, schien etwas Besonderes.
Die Grabungen strengten an. Wenn sie nicht immer wieder eine kleine Scherbe oder ein Schmuckstück gefunden hätten, wäre es die langweiligste Arbeit gewesen, die Paul je verrichtet hatte. Griet gab nur Anweisungen und schoss Fotos. Dazu fertigte sie die Notizen, die, die jeweilige Fundstelle millimetergenau belegten. Die Wunde behinderte sie sehr. Die Artefakte lagerten nun verpackt in Pauls Keller.
»Ich muss zur Uni. Dort werde ich mit meinem Team das weitere Vorgehen besprechen.«
»Und Huub?«
»Das ist ein Problem, da hast du recht.«
»Ich muss mal für kleine Jungs.« Er stand auf und ging zur Toilette. Gedankenlos nahm er die silberne Platte mit. Mitten im Geschäft drang gewaltiger Krach ins Bad. Die erste Reaktion, nach draußen zu stürzen, unterdrückte er. Vorsichtig lugte er durch die Tür in den Raum. Drei Männer. Einer hielt Griet an den Armen und redete auf sie ein. Holländisch, aber so schnell, dass er es nicht verstand. Sie antwortete ebenso temporeich und wirkte wütend, jedoch nicht ängstlich. Die Person, links von ihr, ohrfeigte sie.
»Raus mit der Sprache. Wo ist die Silberscheibe? Wir bekommen es sowie aus dir heraus.« Ein Deutscher. Er schlug wieder zu.
»Ich habe sie nicht. Huub hat sie. Er hat sie mir weggenommen.«
Der Schläger sah zu Huub hinüber. Der schüttelte den Kopf.
»Nee, ik heb hem niet. Zij is slim en wil ons tegen elkaar uitspelen (Nein, ich habe sie nicht. Sie ist clever und will uns gegeneinander ausspielen).« Er ging auf sie zu und trat gegen das Schienbein.
Griet fiel mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden und rutschte aus dem Griff, der sie hielt.
Paul nutzte den Augenblick und fegte aus dem Badezimmer. Er trat dem Deutschen mit voller Wucht gegen die Wirbelsäule, der daraufhin mit einem Aufschrei zu Boden ging. Mit der gleichen Bewegung schlug er Huub die Fäuste in den Nacken. Den Dritten hielt Griet im Schwitzkasten. Paul trat ihm seitlich gegen Kopf.
»Los komm, wir verschwinden.« Er packte sie am Arm.
»Hast du die Scheibe?«
»Nein. Sie ist im Bad.«
Griet stürmte ins Bad und dann weiter die Treppe hinunter. Paul trat dem Deutschen, der mit den Beinen strampelte, noch einmal vor den Kopf und verschwand ebenfalls.
»Wohin?«, fragte Griet, die hinter dem Steuer saß. Sie fuhr einfach los.
»Zu mir nach Hause. Ich denke nicht, dass sie uns dort vermuten. Sie wissen hoffentlich nicht, wer ich bin.«
»Ich habe nichts bemerkt. Sonst knarrt die Treppe, du hast es selbst gehört. Ich verstehe nicht, wie sie uns so überraschen konnten.«
Sie befuhren die Autobahn nach Rotterdam und über Antwerpen und Heerlen.
»Was sollte das jetzt?«, fragte Paul, nach einiger Zeit auf der Autobahn. »Tut dein Gesicht weh? Oder dein Schienbein? Die haben ja ordentlich zugelangt.«
»Es geht. Die Stichverletzung schmerzt schlimmer.«
»Soll ich fahren?«
»Nein. Es verschafft mir Ablenkung. Die wollten die Scheibe. Ich weiß nicht, warum sie mit solcher Gewalt agieren. Auf dem Schwarzmarkt bekommt man einiges dafür. Jedoch nicht so viel, als dass sich dieser Einsatz lohnte. Da steckt noch etwas anderes dahinter. Übrigens. Vielen Dank für deine Hilfe.«
»Habe ich gern getan. Es wurde Zeit, dass ich aus meinem Loch herauskam. Ich hatte ganz ordentlich Bammel. Aber es funktionierte. Ich wusste nicht, dass ich so viel drauf habe.« Er grinste stolz und rieb die Fäuste. »Was meinst du damit, dass da noch etwas anderes dahinter steckt?«
»Nur ein Gefühl. Ich muss darüber nachdenken. Da ist etwas, das ich nicht packen kann.«
»Ich spreche mit einem Bekannten, der bei uns im Dorf lebt. Ein seltsamer Kauz, jedoch in Geschichte ungemein beschlagen. Wenn er erzählt, habe ich den Eindruck, er sei selbst dabei gewesen.«
»Versuchen wir es. Vielleicht bringt es etwas. Wir wissen so wenig über die Kelten, da ist jeder Hinweis wichtig.«
Es dunkelte, als sie auf Pauls Hof fuhren. Im Haus hatte sich nichts verändert, das sah er sofort. Also wussten die Ganoven scheinbar nichts von ihm.
»Kann ich mein altes Zimmer wieder haben?« Griet lächelte. Ihm wurde flau in der Magengegend.
»Sicher«, brachte er heraus. Die sanfte Abfuhr in Den Haag hatte er nicht vergessen.
»Gut. Dann mache ich mich jetzt mal frisch.«
»Ich fahre nach Teveren zum Griechen und hole etwas zu essen.«
*
Sie saßen am Tisch und schauten sich abwartend an. Griet und Paul an der einen sowie auf der anderen Seite der Kauz und eine junge Frau, die Paul vom Sehen kannte. Sie lebte abseits des Hügels, der die Senke des Ortes abschloss. Sie oder ihre Eltern besaßen das mit Abstand größte Anwesen im Dorf. Das Alter der Frau lag um die Zwanzig. Sie trug lange blonde Haare und sah ihn mit den blauesten Augen, die ihm je unterkamen, an. Die gleichen ungewöhnlichen Augen, wie bei dem Alten. Von beiden ging Charisma aus, bei dem sich die Härchen auf den Unterarmen aufstellten.
Der Mann schien, bei näherer Betrachtung, in mittleren Jahren.
Griet musterte ihn von der Seite. Ungewöhnlich, er sieht aus wie ein Neandertaler, dachte sie. Vielleicht eine Genveränderung? »Ich bin Griet«, sagte sie in ihrer unkomplizierten Art, »Paul ist euch bekannt ... denke ich doch.« Sie sah ihn an.
»Wir begegneten uns hier und da.« Er nickte zu der jungen Frau hinüber. »Mit Arget unterhielt ich mich einige Male.«
»Ich bin Kyra. Du wohnst im Haus an der Heide«, stellte sie fest.
»Genau. Ich bin vor einigen Jahren wieder ins Dorf gezogen.«
»Paul, du wolltest mich zu einer wichtigen Angelegenheit sprechen«, unterbrach Arget, als wenn er keine Zeit habe. Er steuerte direkt aufs Ziel. »Nachdem, was du mir erzähltest, bat ich Kyra, dem Gespräch beizuwohnen. Ich muss ehrlich sagen, aus deinem Kauderwelsch bin ich nicht schlau geworden. Sie weiß viel mehr als ich. Wenn jemand euch helfen kann, dann sie.« Er sprach mit seltsamem Akzent, den Griet nicht lokalisieren konnte. Nein! Vielmehr schien es so, als müsse er mühsam Worte formen. Doch es geschah so schnell und automatisch, dass es kaum auffiel.
»Ihr habt einen Keltenschatz entdeckt? Na ja, zumindest …, das hat Arget verstanden. Ich möchte euch helfen.« Kyra lächelte und ihre Augen musterten sie zwingend. »Über meine Qualifikation reden wir später.«
»Genau. Griet hat ein Keltengrab gefunden.« Paul sah vorwurfsvoll zu Arget, der ohne Absprache dieses Mädchen hinzuzog. »Es ist jedoch anders, als es im Moment scheint. Sie ist Anthropologin an der Universität in Leiden, also Den Haag und …, indem sie einer falschen Person vertraute, zwischen die Fronten dubioser Gestalten geraten.«
»Das weiß Kyra. Ich habe ihr erzählt, was du mir sagtest. Vertraue ihr, wie mir.« Argets zerklüftetes Gesicht wandte sich ihm zu. Er runzelte die fliehende Stirn.
»Ich dachte, du hast nichts verstanden«, entgegnete Paul.
Fasziniert betrachtete Griet, mittlerweile ungeniert, den Kauz. Sie konnte sich nicht losreißen. Eine Ahnung überkam sie. In Argets Augen erschien ein spöttisches Funkeln. Er rückte seine Figur in Positur, legte die überlangen Arme auf den Tisch und betonte dadurch den Buckel, den er hatte. »Ich denke, das Wichtigste ist die silberne Scheibe … oder eben ein Teller? …, die ihr gefunden habt. Darf ich sie sehen?«
»Gern.« Griet reichte ihm die silberne Platte über den Tisch. »Ich hoffe, dass diese Zeichen die Existenz einer keltischen Schrift belegen.«
Arget und Kyra tauschten einen erstaunten Blick, als sie den Gegenstand sahen. Vorsichtig nahm Arget das Relikt und vertiefte den Blick auf die Oberfläche. Nach einer schier endlosen Zeit, so erschien es Griet, stand er auf und wanderte hin und her. Von diesem Augenblick an interessierte Griet der Keltenfund nicht mehr. Sie sah nur noch Arget ... und der war kein Mensch. Aber was? Etwas, dass sie kannte, jedoch nicht festmachen konnte. Die sehr langen Arme schlenkerten am Körper und der Gang sah unbeholfen und wiegend aus. Mit einer Hand federte er die Schaukelbewegungen des Körpers auf dem Boden ab. Ihre Gedanken glitten zum Gesicht. Was sie für eine fliehende Stirn hielt, gab es nicht. Anstatt der Nase befanden sich zwei Löcher in seinem Gesicht. Ein breitflächiges Antlitz ohne sichtbares Kinn. Das Gesicht war nicht geschaffen, um Gefühle zu zeigen. Aber sie sah die tiefe Nachdenklichkeit und den Ernst seiner Gedanken. Er trug Jeans und ein Shirt, das über den Oberkörper spannte.
Arget hielt inne und reichte das Artefakt wortlos an Kyra. Sie nahm die Scheibe und legte sie auf den Tisch. Sie sah sie nicht an, sondern beobachtete ihn.
»Was wisst ihr von den Kelten?«, fragte Kyra und runzelte nachdenklich die Stirn.
»Nicht so viel, wie wir es uns wünschten. Vieles liegt im Dunkeln, weil sie scheinbar keine eigene Schrift besaßen. Zumindest haben wir nichts in der Art gefunden. Wir sind auf die Berichte der Griechen und Römer angewiesen. Also aus zweiter Hand und dadurch subjektiv aus deren Betrachtungsweisen und Kultur.« Griet beugte sich vor und betrachtete Kyra aufmerksam. »Wir vermuten, dass sie, wie kein anderes Volk, die Naturwissenschaft – also nicht nur die Natur – mit ihrem Glauben verwoben.«
»Du vermutest. Nicht ich. Denk doch mal daran, welche Schwierigkeiten Kopernikus oder Galilei beim Beweis ihrer Thesen bekamen. Und mehr als fünfzehnhundert Jahre früher erfindest du ein Volk, das Naturwissenschaften kultiviert«, warf Paul bissig ein.
»Ja genau«, gab sie giftig zurück. »Wie konnten die Ägypter ihre Pyramiden bauen und die Griechen sowie die Chinesen schon um 500 vor Christus mathematische Formeln entwickeln? Ebenso unwahrscheinlich muss es für dich sein, dass alle gefundenen Externsteine der Kelten genau nach den Gestirnen ausgerichtet sind.«
»Ist ja gut«, erwiderte Paul zerknirscht und hob abwehrend die Hände. Er hatte sie noch nicht mal ins Bett bekommen und schon maßregelte sie ihn, wie einen Ehemann.
»Die Kelten dachten monistisch, sie sahen die Welt ihrer Zeit als einzelnes Ganzes. Die Anderwelt, die für sie existierte, musste eine – wie das Wort sagt – andere sein. Für uns: die außerhalb existierende Welt. Das Universum oder etwas, das wir noch nicht kennen. Für die Kelten war die Anderwelt ein Bestandteil ihrer Welt. Hier stellt sich die Frage, inwieweit und vor allen Dingen, mit welchen Mitteln der Kontakt in diese andere Ebene, sofern einer bestand, stattfand. Ja, ja Paul. Ich weiß, was du jetzt denkst. Mit Himmel und Hölle des christlichen Glaubens hat das nichts zu tun. Wie der Name schon sagt: Glaube, also nicht wissen. Die keltische Welt, vor allem die der Druiden, wandte Physik an. Belegbare Wissenschaft.«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Paul. Kyra und Arget hörten sichtlich aufmerksam zu.
»Ich wollte dir deutlich machen, dass Kelten durchaus in der Lage waren, den physikalischen Bestandteil der Anderwelt zu erkennen. Also die Sterne und sogar das Sonnensystem mit den damals bekannten Planeten. Jetzt aber zu dem, was mir persönlich wichtig ist. Die überwiegende Mehrzahl der Wissenschaftler, die sich mit meinem Fachgebiet beschäftigen, ist der Ansicht, dass die Geisteshaltung des Volkes, eine Entstehung einer eigenen Schrift verhinderte. Überlieferungen wurden von den Druiden gesammelt und weitergegeben. Wenn der Mensch verschied, starb er nicht. Er lebte später weiter. Damit will ich mich nicht abfinden. Es muss irgendetwas Schriftliches geben.«
»Die Kelten haben nie die Frage nach dem Übersinnlichem gestellt. Sie sahen ihr Leben als etwas Werdendes, also bestand kein Ansatz, die Vergangenheit schriftlich zu überliefern«, sagte Kyra.
»Das ist richtig. Aber weshalb sollten sie sich der griechischen oder lateinischen Schrift bedienen? Mir ist bekannt, dass die Sprache der Kelten eine fast magische Bedeutung hatte und als göttliche Kunst gesehen wurde. Nicht umsonst hatten sie mit Ogma einen eigenen Gott der Beredsamkeit. Und auch das keltische Alphabet der Iren, Ogham, stammt wahrscheinlich, der Bezeichnung nach, von dieser Gottheit.«
»Die Sprache besaß nicht nur eine magische Bedeutung. Sie war vielmehr, gesellschaftlicher Ausdruck. Bei den Kelten wurde lediglich das unmittelbar Gesprochene anerkannt. Es mussten Normen eingehalten werden. Ja, die Sprache wurde sogar codiert«, warf Kyra ein.
»Das ist mir bewusst«, Griet funkelte sie kampflustig an. »Es ist aber doch auch so, dass die Druiden von diesem Tabu ausgenommen wurden. Warum sollten sie fremde Alphabete benutzen? Für Händler gilt dies ebenso.«
»Gut. So könnte die Diskussion jetzt stundenlang weitergehen.« Arget unterbrach selbstbewusst das Gespräch. »Ich denke ebenso wie Griet. Es ist nicht zu glauben, dass ein Volk, mit einer solchen Philosophie, nicht in der Lage gewesen sein soll oder es gar bewusst unterdrückte, Schriftliches zu fixieren.«
»Ja denkst du denn, ich glaube das nicht«, fuhr Kyra Arget an. »Ich finde, Griet vertritt ihren Standpunkt gut.«
»Was sollte das Ganze dann? Ist das ein Test?« Paul folgte erstaunt dem Wortwechsel.
»Nein«, versicherte Kyra eilig. »Aber es ist seltsam, dass du dich an Arget wendest und ihm eine haarsträubende Geschichte von Grabräuberei und dubiosen Gaunern erzählst. Wärest du nicht auch misstrauisch? Wir kennen euch nicht.«
»Wir euch auch nicht. Aber ich verstehe eure Zurückhaltung«, meinte Griet. »Die Geschichte ist schon sehr abenteuerlich. Aber nun zu unserem Fund«, sie nickte zum Tisch, auf dem die silberne Scheibe lag. »Könnt ihr uns dazu etwas sagen? Ich hatte vorhin den Eindruck, als habt ihr euch darüber verständigt. Es ist nur so ein Gefühl.«
»Du beobachtest gut.« Arget grinste. Das Gesicht zog dabei eine fürchterliche Grimasse und sah dennoch liebenswert aus. »Wir stimmten uns wirklich ab. Ein Blick genügte. Nun zu eurer Scheibe. Ich deute die Symbole tatsächlich als Schriftzeichen. Jedoch wird es so gut wie unmöglich sein, sie zu entziffern. Falls diese Zeichen tatsächlich von den Kelten stammen, sind sie verschlüsselt, wie ihre Sprache.«
»Und? Was tun wir jetzt?« Paul stand die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben.
»Falls ihr uns vertraut, lasst uns das Ding hier und wir untersuchen es genauer.« Kyra sprach Griet an, die Paul einen Blick zuwarf, der zustimmend nickte.
»Gut. Bei euch ist der Fund im Moment besser aufgehoben. Wer weiß, was uns noch bevorsteht.«
Kyra und Arget begleiteten die beiden zur Tür. Griet blieb draußen stehen und zeigte auf die Bäume, in deren Mitte eine Quelle entsprang.
»So gewaltige Birken habe ich noch nie gesehen«, stellte sie fest.
»Die haben einige Jahrhunderte auf dem Buckel. Hier ist einer von vielen heiligen Orten der Vergangenheit unserer Gegend.«, bemerkte Kyra.
»Es ist schön hier. Dieses Haus hier ist doch bestimmt auch uralt?«
»Es wurde von einem meiner Vorfahren erbaut. So um 800 unserer Zeitrechnung.«
Das Haus, mehr eine Kate, verschmolz windschief mit dem Hügel, der die Mulde, in der das Dorf lag, abschloss. Es sah tatsächlich so alt aus, wie Kyra sagte.
»Du kannst deinen Stammbaum soweit zurückverfolgen?« Griet sah sie zweifelnd an.
»Noch weiter. Du würdest es nicht glauben.«
»Sollte ich ein anderes Thema wählen? Es erscheint mir interessant, was du sagst. Ein ellenlanger Stammbaum …«, sie ließ den Satz versanden und stockte. »Ich weiß nicht so genau mit euch beiden. Da ist immer noch etwas, was ich nicht begreife.«
»Mach dir keine Gedanken. Die Zeit wird es richten.« Kyra grinste spitzbübisch. »Jetzt muss ich euch leider verabschieden. Wir haben noch zu tun.«
*