Читать книгу Tödliche Dunkelheit - Heribert Weishaupt - Страница 11
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ОглавлениеNach dem fürchterlichen Unfall im Juli vor zwei Jahren auf der Autobahn in Frankreich musste Anna noch an der Unfallstelle von den Rettungssanitätern reanimiert werden. Ein Hubschrauber brachte sie ins nächste Unfallkrankenhaus, wo nochmals eine Reanimation erforderlich war. Sie hatte lebensgefährliche Verletzungen. Der stark alkoholisierte Geisterfahrer, mit dem sie frontal zusammengestoßen waren, wurde tödlich verletzt und verstarb noch an der Unfallstelle. Ihr Freund Tobias hatte Glück im Unglück. Er kam mit einigen Rippenbrüchen, einem Armbruch sowie mit starken Prellungen davon. Verhältnismäßig schnell war seine Gesundheit wiederhergestellt.
Bei Anna stellte man im Krankenhaus schwerste Schädelverletzungen und Gehirnblutungen fest. Es stand lange auf des Messers Schneide, ob sie überhaupt überleben würde und falls, wie würde dieses Überleben aussehen? Nach mehreren Operationen verbrachte sie lange Zeit auf der Intensivstation im künstlichen Koma.
Als sie erwachte, verlegte man sie in eine Spezialklinik für Augenheilkunde. Nach gründlichen Untersuchungen dann der Schock: Die Ärzte eröffneten ihr, dass eine Wiederherstellung ihres Augenlichtes nicht mehr möglich sei. Sie sei auf beiden Augen irreversibel erblindet. Bei dem Unfall waren mehrere Risse im Knochen bei den Sehnerven beider Augen aufgetreten. Bei der Heilung entstanden Verdickungen am Knochen, die die Sehnerven abdrückten.
Obschon beide Augen medizinisch gesund waren, würde sie für den Rest ihres Lebens blind sein. Rest ihres Lebens? Anna konnte und wollte die Aussage der Ärzte nicht verstehen. Sie war doch noch so jung und der größte Teil ihres Lebens sollte doch noch vor ihr liegen.
Eine niederschmetternde, hoffnungslose Prognose für sie.
Das Auge ist für viele Menschen das wichtigste Sinnesorgan. In der heute in einem riesigen Maße visuell ausgerichteten Welt, werden wahrscheinlich mehr als zwei Drittel der Informationen durch das Sehen aufgenommen. Mit der Tatsache, künftig auf viele Informationen verzichten zu müssen und die Menschen und ihre Umgebung für den Rest ihres Lebens nur noch durch Ertasten oder durch Geräusche wahrnehmen zu können, konnte sie sich nicht abfinden.
Täglich haderte sie mit ihrem Schicksal. Weinkrämpfe erschütterten sie und wechselten sich mit depressiver Niedergeschlagenheit ab. Immer wieder fragte sie sich, wie sie weiterleben soll – und ob sie überhaupt in diesem Zustand weiterleben kann.
Ihr Freund Tobias lebte nach wie vor bei ihr und wurde von ihr finanziell unterhalten. Er versorgte und unterstützte sie, soweit er konnte. Psychologisch war er allerdings nur bedingt in der Lage, ihr zu helfen.
Durch die Leistungen der Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers und ihrer privaten Unfallversicherung hatte sie keine finanziellen Probleme. Ihr Freund schaffte alles herbei, was auf irgendeine Weise für seine Freundin und für ihn eine Hilfe darstellte. Der Preis spielte dabei keine Rolle.
Eines Tages, als Tobias Anna wieder einmal fragte, wie es ihr ginge und ob er ihr helfen könne, rastete sie völlig aus.
„Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wie es um mich steht und wie ich mich fühle!“, schrie sie wütend.
„Wie sollst du auch? Du bist nicht blind – du kannst ja sehen“, fügte sie fast entschuldigend hinzu.
„Für dich ist Sehen normal, wie es für mich bis zu dem Unfall ebenfalls war. Erst jetzt, wo ich nicht mehr sehen kann, habe ich erkannt, wie schön unsere Welt ist und dass ich diese Schönheit nie mehr genießen kann. Ich bin in dieser verdammten Dunkelheit für ewig gefangen!“
Anna ließ sich in einen Sessel fallen. Noch nie hatte sie in solch einer Klarheit und Offenheit zu ihm gesprochen. Tobias stand, von ihr abgewandt, vor der Balkontür und starrte mit leerem Blick hinaus. Er konnte sie nicht trösten, er war zu keinem Wort fähig.
„Doch halt. Pass‘ einmal genau auf. Wir machen ein Experiment. Nimm dir bitte eine Augenbinde, einen Schal oder sonst etwas und verbinde dir damit die Augen, sodass du nicht das Geringste sehen kannst. Diese Binde lässt du heute den ganzen Nachmittag um deine Augen. Danach reden wir weiter“, schlug Anna ihrem Freund vor.
Tobias sah keine Möglichkeit, diesen Vorschlag abzulehnen, wollte er Annas Vertrauen nicht einbüßen. Im Verbandskasten fand er zwei Augenklappen, die er sich über die Augen zog. Er konnte jetzt nicht mehr die Spur eines Lichtes wahrnehmen und war praktisch Anna gleichwertig.
„Okay, ich bin soweit“, sagte er unsicher.
„Gut. Jetzt versuche, den heutigen Nachmittag ganz normal zu leben, so wie immer. Nur mit dem Unterschied, dass du nichts siehst. Heute Abend reden wir.“
„Ganz normal den Nachmittag verbringen, so wie immer? Wie stellst du dir das vor? Wie soll das mit uns beiden funktionieren?“
„Ich stelle mir das nicht vor. Ich weiß wie das ist. Und du wirst das heute Abend mit Sicherheit ebenfalls wissen.“
Anfangs war er noch guten Mutes, obschon er sich bereits bei den ersten Schritten sein Knie an der Tischkante des Wohnzimmertisches stieß.
Anna saß währenddessen im Sessel und forderte ihn immer wieder zu den verschiedensten Tätigkeiten auf. Im Laufe des Experimentes zog sich Tobias mehrere blaue Flecken zu. Das war für ihn jedoch nicht das Schlimmste. Die totale Finsternis, die Desorientiertheit und das Gefühl der Hilflosigkeit waren wesentlich schlimmer.
Es dauerte nicht lange und er hob eine Augenklappe an, da er die Finsternis und den Zustand der totalen Behinderung nicht mehr ertragen konnte.
Ja, es muss schrecklich sein, was Anna durchmacht, dachte er. Er konnte jetzt in etwa einschätzen, was sie fühlte und weswegen sie so deprimiert war und ihr Leben als eine Qual ansah.
Nach wenigen Stunden nahm er sich die Augenklappen endgültig ab. Danach sprach er mit Anna noch lange über seine Erfahrung mit der Blindheit und lobte Annas Kraft, wie sie mit dieser Behinderung umging.
Dieser Selbstversuch war ein einschneidendes Erlebnis für ihn. Er hatte erlebt, wie Anna sich fühlen musste und war schockiert. Ab diesem Tag half er ihr noch tatkräftiger als vorher. Anstatt ihr Mut und Zuversicht zu geben, konnte er ihr aber nur Mitleid entgegenbringen. Das war jedoch die Zuneigung, die Anna gar nicht ertragen konnte. Immer öfter führte das zu Streitigkeiten.
Er litt mit ihr und war genauso depressiv wie sie. Morgens nach dem Erwachen und abends vor dem Einschlafen fragte er sich immer wieder, wie es mit ihnen weitergehen sollte.
Im Nachhinein betrachtet war das Experiment weder eine Hilfe für Anna, noch für Tobias gewesen.
Monate später zog Anna eine Psychologin zu Rate. Sie benötigte jemanden, der ihre Stärken unterstützte und ihre Schwächen ausmerzte. Ihr behandelnder Arzt hatte immer wieder auf sie eingeredet, diesen Schritt zu gehen. Glücklicherweise fand sie eine Psychologin, die durch ihr einfühlsames Wesen Zugang zu ihrer Seele bekam. Im Laufe der Behandlung wurde aus ihrer Beziehung eine innige Freundschaft. Es dauerte trotzdem fast ein Jahr, bis Anna ihre Behinderung akzeptierte und einen Weg in eine positive Zukunft sah.
„Was soll‘s. Machen wir das Beste daraus“, sagte sie eines Tages zu Tobias.
Sie begann, systematisch ihre häusliche Umwelt strategisch zu erforschen. Tobias war total überrascht und schaute sie verständnislos an.
„Wie meinst du das?“, fragte er.
„Du wirst nicht mehr mein sehendes Auge sein und jeden Handgriff für mich machen. Ich werde selbst für mich sorgen. Ich muss versuchen, auf eigenen Füßen zu stehen.“
„Was soll das? Hat dir das diese Psychologin eingeredet?“, fragte er abfällig.
„Nein, das ist meine Entscheidung. Nur wenn mir das gelingt, ist mein Leben weiterhin lebenswert.“
Beide vereinbarten, dass kein Teil in der Wohnung verrückt oder entfernt werden durfte. Auch kleine Teile, wie eine Vase oder die Fernbedienung der Stereoanlage, sollten ihren festen Platz haben. Nur so war es möglich, dass Anna sich in der Wohnung orientieren konnte.
Täglich trainierte sie, wie sie im Alltagsleben ihre Selbstständigkeit zurückgewinnen konnte. Ebenso musste sie alle lebenspraktischen Fähigkeiten wie Kochen, Putzen, die Bedienung der Elektrogeräte und vieles mehr neu erlernen.
Das Erleben ganz neuer Sinneseindrücke und das Schärfen der verbliebenen Sinne, musste ebenfalls immer wieder trainiert werden. Eine hierfür ausgebildete Rehabilitationstrainerin half ihr an drei Tagen in der Woche dabei. Wenn ihr Freund zur Uni fuhr und sie allein war, legte sie zusätzliche Trainingseinheiten ein.
Tobias bemerkte natürlich den stetigen Fortschritt. Einerseits freute er sich darüber, anderseits machte er sich Gedanken – Gedanken über sich. Wurde er doch mehr und mehr entbehrlich. Er war sich nicht im Klaren, ob er das wollte.
Nach fast einem halben Jahr war sie in der Lage, sich alleine in der Wohnung zurechtzufinden und die täglichen Arbeiten und Bedürfnisse alleine zu bewältigen.
Anna lag bereits im Bett, als Tobias zu ihr unter die Decke schlüpfte. Sie wandte ihm den Rücken zu.
„Schläfst du schon?“, fragte er leise.
„Nein, ich denke nach“, antwortete Anna und drehte sich zu ihm um.
Normalerweise trug Anna tagsüber immer eine tiefschwarze Sonnenbrille und im Bett eine Augenbinde. Es wäre ihr peinlich, wenn Menschen und besonders ihr Freund ihre Augen sehen würden. Heute Abend war sie verstimmt und nach längerer Zeit beschäftigten sie wieder einmal depressive Gedanken. Dabei hatte sie vergessen, ihre Augenbinde umzubinden.
Zwei ausdruckslose, trübe Augen starrten Tobias an. Er erschrak. Gerade ihre ausdrucksvollen Augen, die die Farbe des hellblauen Himmels hatten, liebte Tobias so sehr an ihr. Nichts davon war geblieben. Er war entsetzt.
„Gute Nacht. Mach dir keine Gedanken. Versuche zu schlafen“, war alles, was er ihr mit erstickter Stimme sagen konnte.
Schnell drehte er ihr den Rücken zu und stellte sich nach kurzer Zeit schlafend. Tatsächlich konnte er lange nicht einschlafen. Er dachte über Anna, vor allem aber über sich selbst nach. Was war von seiner Liebe geblieben?
Als nächsten Schritt plante Anna, sich in der näheren Umgebung außerhalb ihrer Wohnung zu bewegen. Sie wohnte in einem der eng aneinandergereihten kleinen Reihenhäuser, der sogenannten Maikammersiedlung in Troisdorf. Die Häuser entstanden in den 1950er Jahren als Zwecksiedlung für die belgischen Soldaten. Nach dem Abzug der Streitkräfte wurden die Häuser seit 2002 nach und nach öffentlich zum Kauf angeboten. Annas Eltern kauften seinerzeit ein Haus, das sie nach einer aufwändigen Sanierung nur wenige Jahre bewohnten. Aus beruflichen Gründen zogen die Eltern nach Regensburg und Anna blieb allein in dem Haus wohnen.
Anna liebte das kleine Haus und sie schätzte die Nähe zur City und die nur wenige hundert Meter entfernte Wahner Heide.
Die ersten Schritte ging sie zusammen mit ihrer Rehabilitationstrainerin in Richtung Agger-Stadion, das direkt am Rand der Wahner Heide lag.
Sie prägte sich jede Besonderheit des Weges, jeden Bordstein, jeden Stein ein. Sie zählte die Schritte bis zum nächsten Bordstein, bis zur Straßenlaterne oder bis zum Straßenschild. Mit der Zeit bildete sich in ihrem Kopf ein imaginäres Bild der Umgebung, in dem sie sich immer besser zurecht fand.
Anfangs begleitete Tobias sie auf ihren Wegen. Je besser sie mit der Welt außerhalb des Hauses zurechtkam, je weniger musste sie Tobias‘ Hilfe annehmen. Ihm kam das gelegen. Die gleiche Energie aufzubringen, wie Anna sie aufbrachte, war ihm nicht möglich. Er hatte eine andere Wesensart. Er suchte immer den einfachen, den bequemen Weg. Die Blindheit seiner Freundin und die damit verbundenen Belastungen und unsicheren Zukunftsaussichten waren eine Bürde für ihn. Diese Last wollte er und konnte er nicht mehr ertragen.
Immer öfter traf er sich mit einer Kommilitonin. Ihr hatte er sich mit seinen Problemen anvertraut. Anfangs suchte er nur das Gespräch mit ihr. Mit der Zeit wurde mehr daraus und er genoss das unbeschwerte Zusammensein mit ihr.
Die Kluft zu Anna wurde immer größer und es war nur eine Frage der Zeit, bis er Anna den entstandenen Bruch nicht mehr verheimlichen konnte.
Anna hatte währenddessen ihren Weg zur unabhängigen Selbstständigkeit immer weiter intensiviert.
Unausweichlich kam dann der Tag, der Annas Pläne jäh beendete und ihre Psyche bis ins Mark traf – Tobias trennte sich von ihr.
„Ich kann nicht mehr. Das Leben mit dir macht mich kaputt“, eröffnete er ihr eines Tages während des Frühstücks.
Anna traf diese Aussage am frühen Morgen völlig unvorbereitet. Ein Schock war es dennoch nicht. Dafür kam die Aussage ihres Freundes nicht überraschend genug. Seit einiger Zeit hatte sie damit gerechnet, obschon sie die Möglichkeit immer weit von sich geschoben hatte. Bei gemeinsamen Autofahrten hatte sie im Wageninneren einen ihr unbekannten Duft wahrgenommen. Mit Fragen hatte sie ihren Freund nicht konfrontiert – sie hatte Angst vor der Wahrheit und vor der Antwort, die er ihr geben würde.
„Gib es doch zu. Du hast eine andere Frau. Ich kann sogar verstehen, dass du dein Leben nicht mit einer blinden Frau und deren Problemen verbringen willst“, antwortete Anna resignierend.
„Ja, aber versteh‘ doch …“, begann Tobias den Versuch einer Erklärung.
„Geh nur, ich komme auch ohne dich zurecht“, unterbrach ihn Anna, drehte sich um und verließ, so schnell es ihre Blindheit erlaubte, die Küche.
Schnell, viel zu schnell, so dass Anna keine Chance mehr hatte, ihn vielleicht doch noch zum Bleiben zu überreden, packte er seine wenigen Sachen und Kleidungsstücke sowie sein Fernsehgerät und verschwand noch am gleichen Morgen.
Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, hörte Anna, wie sich der bekannte Klang seines Wagens entfernte – für immer.
„Verflucht“, war das einzige Wort, das sie hervorbrachte.
Dann sank sie völlig erschöpft und deprimiert auf ihr Bett. Von stundenlangen Weinkrämpfen geschüttelt, überkam sie der Schlaf wie eine schützende Decke.
Wenn sie sich am nächsten Morgen im Spiegel hätte sehen können, hätte sie sich mit Sicherheit fürchterlich erschrocken. Blass, rot verquollene Augen – ein jammervoller Anblick. Aber zum Glück konnte sie sich nicht im Spiegel betrachten.
Sie blieb den ganzen Tag im Bett – und auch den nächsten. Tränen hatte sie keine mehr. Ihre Nahrung bestand hauptsächlich aus einigen Joghurts, womit sie ihren Körper nicht gerade verwöhnte und stärkte. Auch erfreute sich ihre Haut nicht über Wasser und Seife. Ihre Flüssigkeitsaufnahme bestand hauptsächlich aus Rotwein. Der Alkohol ließ sie willenlos vor sich hindämmern. Tag und Nacht waren für sie gleich. Einen tiefen und festen Schlaf fand sie nicht. Wenn sie dann einmal für kurze Zeit einschlief, plagten sie Albträume.
Anna versteckte sich vor sich selbst. Sie fühlte sich als ein Nichts in dieser Welt und von keinem geliebt.
Nachdem ihre Vorräte an Rotwein aufgebraucht waren, nahm ihr Verstand langsam wieder seine normale Tätigkeit auf.
Nach der schlaflosen Nacht zum dritten Tag beschloss sie, ihr Schicksal wieder in die Hand zu nehmen. Und das sofort.
Als Erstes öffnete sie alle Fenster. Sie genoss es, wie die verbrauchte, übel riechende Luft aus den Räumen entwich. Die frische Luft wehte ihr um die Nase und hauchte ihr neues Lebenselixier ein. Dann begann sie, ihre Wohnung abzutasten und alle leeren Flaschen, Becher und sonstigen Unrat aufzusammeln.
Im Küchenschrank fand sie einige Happen altes Brot, die sie mit Heißhunger verschlang. Dazu trank sie mehrere Tassen starken Kaffee.
Ihre sprechende Blindenuhr sagte ihr, dass es 8:30 Uhr war. Sie setzte sich ins Wohnzimmer und nahm ihr Telefon zur Hand. Ihre Eltern anrufen, die in Regensburg über fünfhundert Kilometer entfernt lebten, wollte sie nicht. Ihre Mutter oder sogar beide Elternteile würden sicherlich sofort kommen, wenn sie ihnen erzählen würde, dass Tobias sie verlassen hatte und sie jetzt allein war. Aber in ihrem jetzigen Zustand sollten sie ihre Tochter nicht sehen. Ihr Vater würde sicherlich ihr ganzes Leben und ihre Zukunft an sich reißen. Auf Jahre hinaus hätte sie keinen eigenen Willen mehr. Nein, das war keine Option. Sie wollte selbst ihr Leben neu ordnen. Dazu benötigte sie professionelle Hilfe.
Daher rief sie als Erstes ihre Freundin, die Psychologin, an, die sie am Nachmittag sofort aufsuchte. Gemeinsam überlegten sie, welche Schritte es als nächstes zu tun galt.
Die Psychologin wusste, wo sie bei Anna ansetzen musste. Durch viele, und zum Teil lange Gespräche in den folgenden Wochen, gelang es ihr, Annas depressiven Zustand in verhaltenen Optimismus zu ändern. Auch ihre Lebens- und Versagensängste ließen nach. Annas psychischer Zustand verbesserte sich immer mehr.
Jetzt war die Zeit gekommen, durch weitere professionelle Hilfe diesen Aufwärtstrend zu untermauern. Dazu benötigte sie Zeit – Zeit für sich selbst. Wenn sie andere über Zeitnot reden hörte, fühlte sie sich wie im falschen Film. Seit Tobias sie verlassen hatte, hatte sie mehr Zeit, als ihr lieb war. Sie war fest entschlossen, diese Zeit zu nutzen. Sie wollte nicht nur am Leben teilhaben, sie wollte ihr Leben gestalten und genießen. Trotz oder gerade wegen ihrer Behinderung.
Glücklicherweise hatte sie durch die Zahlungen der Versicherungen die hierzu notwendigen finanziellen Möglichkeiten. Über karitative Einrichtungen regelte sie die täglichen Arbeiten, wie Säubern der Wohnung, Besorgungen erledigen und Waschen der Wäsche.
Eine Blindenschule übernahm ihr Training, damit sie immer mehr lernte, sich außerhalb der Wohnung zu bewegen. Auch musste sie lernen, in Kontakt zu ihren Mitmenschen zu treten. Die Psychologin half ihr dabei, den Mut zu finden, allein den Schritt heraus aus ihrer heimischen Umgebung zu wagen und Menschen anzusprechen und gegebenenfalls um Hilfe zu bitten.
All die Geräusche, die früher selbstverständlich für sie gewesen waren, die sie gar nicht wahrgenommen hatte, stellten jetzt eine Bedrohung für sie dar. Der Autolärm, die vorbeihastenden Menschen, Schreie der Kinder oder die Hektik im Supermarkt machten ihr Angst.
Sie war noch nicht darauf eingestellt, dass jetzt die verbliebenen Sinne die Aufgaben des fehlenden Augenlichtes übernehmen mussten. Nur tägliches, hartes Training konnte helfen.
Diszipliniert führte sie dieses Training durch. Wenn sie allein war, ging sie manchmal zur Haustür. Bis dort fühlte sie sich sicher. Sie stellte sich dann neben die Tür und sog die Geräusche wie ein Schwamm in sich auf, sodass sie sich immer mehr daran gewöhnte. Der Radius, in dem sie sich bewegte, wuchs ständig.
Nach fast einem weiteren, anstrengenden und aufregenden Jahr konnte sie sich selbstständig und sicher außerhalb der Wohnung bewegen. Auch war sie durch die Betreuung ihrer Freundin, der Psychologin, inzwischen psychisch so stabil, dass sie allein für ihr Leben sorgen und inzwischen dieses auch immer öfter wieder genießen konnte.