Читать книгу Tödliche Dunkelheit - Heribert Weishaupt - Страница 9
3 Freitag, 05.07.2015 – 16:30 Uhr
ОглавлениеTobias war, wie Anna erwartet hatte, nicht begeistert, als sie ihn zur Weiterfahrt aufforderte. Lieber hätte er noch im Schatten der Parkbäume weitergeschlafen. Erst als Anna ihm den Vorschlag unterbreitete, hier ein Hotel zu suchen und in dem kleinen, französischen Ort zu übernachten, erwachten seine Lebensgeister und sein Widerstand. Er sprang auf.
„Auf keinen Fall. Denkst du ich bin ein Schwächling, ein alter Mann? Wir fahren weiter – so wie geplant.“
„Aber du warst doch gerade noch müde und wolltest nicht aufstehen …“
„Unsinn! Wir fahren“, unterbrach er sie barsch und unterband damit jeglichen weiteren Einwand.
Mit energischen Schritten ging er in Richtung Parkplatz, wo sie ihr Auto abgestellt hatten. Anna sagte nichts mehr und folgte ihm. Letztendlich war es auch ihr Wunsch, heute noch am Urlaubsziel anzukommen.
Das Navigationsgerät führte sie sicher aus der Stadt heraus und zur nahen Autobahn. Bereits in der Stadt schaltete er das Autoradio ein und suchte fieberhaft einen Sender mit aktuellen Hits. Die französischen Sender konnten jedoch seinen Musikgeschmack nicht befriedigen. Er legte daher eine ihrer CDs ein und drehte die Lautsprecher so richtig auf. Queen – Greatest Hits, die Musik, die beide mochten.
Die anfänglich schlechte Stimmung war bald verflogen und beide sangen die Texte aus voller Kehle mit.
Beim fünften oder sechsten Track des Albums schaltete sich der Verkehrsfunk des Radiosenders automatisch mit einer Durchsage ein und unterbrach die Musik. Auch der Gesang der beiden jungen Leute wurde damit unterbrochen. Mit ihren geringen Kenntnissen der französischen Sprache verstanden sie den Inhalt der Meldung nicht. Sie waren lediglich sauer, dass ihr Gesang so abrupt unterbrochen wurde.
Als nach der Durchsage die Musik wieder einsetzte, waren die Euphorie und die Lust mitzusingen mit einem Male dahin. Anna drehte das Radio leiser. Sie schloss die Augen. Sie hatte die Rast in dem kleinen Ort nicht wie Tobias zum Schlafen genutzt. Stattdessen hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben und sich Gedanken über sich, über Tobias und über ihr gemeinsames Zusammenleben gemacht – wie immer ohne direkte Konsequenzen.
Anna rutschte tief in den Beifahrersitz. Der Sicherheitsgurt spannte und war ihr unbequem. Da nur wenig Verkehr auf der Autobahn herrschte, löste sie, trotz Tobias‘ Einwand, den Gurt und duselte vor sich hin.
Es war fast wie früher, als sie noch ein junges Mädchen war und mit ihren Eltern in Urlaub fuhr. Meistens fuhren sie morgens sehr früh los, wenn es noch dunkel war. Bereits nach wenigen Kilometern auf der Autobahn schlief sie regelmäßig ein. Sie erwachte erst, wenn die Sonne hoch am Himmel stand und es im Wagen heiß und stickig war. Sie erinnerte sich, dass sie immer wieder ihre Eltern mit der Frage nervte: Wann sind wir da? Ihr Vater reagierte darauf sehr ungehalten. Ihre Mutter beschwichtigte dann immer und spielte mit ihr das Spiel: Ich sehe etwas, das du nicht siehst. Sie mochte dieses Spiel und sie mochte ihre Mutter, die ihr ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte. Wenn sie sich jetzt daran erinnerte, spürte sie wieder dieses Gefühl von Glück und Geborgenheit – wie damals. War ihr dieses Gefühl im Laufe des Erwachsenwerdens abhanden gekommen oder fühlte sie sich in ihrer Beziehung nicht richtig glücklich und geborgen? Wieder die alte Frage, dachte sie und verdrängte die Gedanken – zumindest fürs Erste, beschloss sie.
Hin und wieder überholte Tobias einen LKW. Von Berufsverkehr, wie er in Deutschland zu dieser Uhrzeit üblich ist, war hier nichts zu spüren. Daher war die Fahrt für Tobias stressfrei, wobei er die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h pedantisch einhielt. Jeden Überholvorgang konnte er ohne besondere Voraussicht einleiten. Die linke Fahrspur war so gut wie kaum befahren.
Tobias wollte gerade ansetzen, einen langsam fahrenden LKW zu überholen, als die Bremsleuchten des LKW unverhofft aufleuchteten. Zusätzlich schaltete der Fahrer die Warnblickanlage ein und drosselte erheblich sein Tempo.
„Verdammt, was soll das?“, zischte Tobias leise.
Er vermutete einen Stau, obschon er sich das bei dem geringen Verkehrsaufkommen nicht vorstellen konnte. Auch eine Baustelle war vorher durch Hinweisschilder nicht angekündigt.
Er lenkte seinen Wagen auf die linke Spur, um eine bessere Sicht nach vorne zu haben.
Anna, die wohl die etwas hektischen Bewegungen von Tobias und seine Unmutsäußerung im Unterbewusstsein wahrgenommen hatte, öffnete die Augen und stieß augenblicklich einen schrillen Schrei aus.
Tobias stieg voll in die Bremsen.
Er umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad, sodass die Knöchel weiß hervortraten.
Das Antiblockiersystem des PKWs setzte ein und bewirkte die maximale Bremskraft.
Der Wagen begann zu ruckeln.
„N-e-i-n !!“, schrie Tobias.
Tobias‘, als auch Annas Augen weiteten sich völlig unnatürlich.
Tobias riss das Steuer nach rechts, um sich wieder hinter den langsam weiterrollenden LKW zu setzen.
Doch es war zu spät.
Der Geisterfahrer erfasste seinen Wagen frontal.
Ein fürchterlicher Knall zerriss die Luft, als Blech auf Blech traf.
Wie von allein wurde der Wagen von Tobias um die eigene Achse geschleudert.
Gegenstände flogen von der Rückbank durch den Innenraum.
Gleichzeitig zerbarst die Windschutzscheibe in unzählige kleine Partikel und die Airbags lösten aus.
Die Wucht des Aufpralls hob den Wagen des Geisterfahrers an und setzte ihn wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt auf die Mittelleitplanke.
Der PKW von Tobias und Anna wurde mit der Motorhaube bis zur Fahrerkabine unter die Seite des LKWs geschleudert. Von der Wucht des seitlichen Aufpralls drehte sich der LKW und stand quer über der Fahrbahn.
Mit einem Mal schien der Spuk vorbei zu sein.
Hin und wieder hörte man ein Zischen, ein Quietschen und ein Klappern, wenn ein Blechteil zu Boden fiel.
Dann herrschte schlagartig Totenstille.
Nur aus dem Lautsprecher in Tobias‘ und Annas PKW drang makaber der Queen-Song „Who wants to live forever“.