Читать книгу Tödliche Dunkelheit - Heribert Weishaupt - Страница 12
6
ОглавлениеDie Mütter mit ihren Kindern sind gegangen. Es ist still am See. Vor ihrem Unfall, als sie noch sehen konnte und die Welt noch in Ordnung war, spazierte Anna mit Tobias oft durch den Wald zum See. Jetzt empfindet sie den Wald und den See anders. Nicht, dass ihr Tobias fehlt, nein das ist es nicht. Die Geräusche des Waldes, des Sees und der Tiere verspürt sie jetzt viel intensiver. Sie verbindet die Geräusche der Natur und die Laute der Tiere mit Bildern, die sie früher gesehen und so sehr geliebt hat. Die Enten auf dem Wasser, das Schwanenpaar, das sanft über das Wasser gleitet, die unbewegliche Statue des Fischreihers auf der anderen Seite des Sees und der Sonneneinfall, der durch die hohen Bäume gebrochen wird.
Anna hört ein Piepsen in hohen Tönen. Wahrscheinlich eine Maus, denkt sie. Sie wundert sich, dass sie jetzt sogar diese Töne hören kann. Früher hätte sie diesen Tönen keine Beachtung geschenkt und hätte sie nicht einmal wahrgenommen. Seitdem sie blind ist, hat sich ihr Gehör anscheinend wesentlich verbessert. Sie freut sich über diesen Fortschritt.
Der tägliche Spaziergang, so wie heute, fast immer zur gleichen Zeit, ist eines ihrer vielen, eingeübten Rituale. Diesen Platz hier am Ufer des Sees liebt sie besonders.
Bestimmt hat jeder bereits einmal festgestellt, wenn man einen Menschen von hinten intensiv ansieht, dreht sich dieser mit einem Male um, als ob er den stechenden Blick in seinem Rücken gespürt hat.
Anna hat diese Erfahrung häufig gemacht. Oft drehen sich Passanten nach der hübschen, jungen Frau mit der dunklen Sonnenbrille um. Mitleid ist dann in vielen Gesichtern zu erkennen, wenn sie sehen, wie Anna sich den Weg mit dem Blindenstock ertastet. Sie ist sich dessen bewusst. Zu Beginn ihrer Blindheit spürte sie diese Blicke in ihrem Rücken. Im Laufe der Zeit verkümmerte die Sensibilität dafür und inzwischen ist ihr dieses Gefühl gänzlich verloren gegangen.
Daher spürt sie auch nicht die Blicke des jungen Mannes, dessen Gesicht zwischen den Zweigen eines Gebüschs heraus auf sie gerichtet ist. Der Mann beobachtet Anna intensiv und lautlos. An beinahe allen Tagen, wenn Anna diesen Platz zur Rast wählt, ist auch das Gesicht zwischen den Zweigen bereits dort. Der Mann scheint Anna zu erwarten. Wenn sie den Heimweg antritt, verlässt auch er sein Versteck und entfernt sich in die andere Richtung.
Anna bemerkt das nicht – wie soll sie auch.
Bisher hat er sie noch nie angesprochen oder sich zu erkennen gegeben. Bis heute.
„Guten Tag, darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragt eine junge, freundliche Männerstimme.
Anna, die gerade den Heimweg antreten will, erhebt sich und sagt: „Selbstverständlich können Sie sich hier setzen, für mich wird es Zeit zu gehen.“
„Ich möchte Sie nicht verjagen. Bleiben Sie doch noch. Schauen Sie, keine Wolke ist am Himmel und der Tag ist doch viel zu schön, um nach Hause zu gehen“, sagt der Fremde und setzte sich auf die Parkbank.
Anna, die nicht oft mit Menschen redet, nimmt diese Gelegenheit gerne wahr. Sie setzt sich wieder hin, in der Hoffnung auf einige, nette Minuten unverbindlicher Kommunikation.
In dem Moment scheint der Mann Annas Blindenstock zu bemerken und bedauert seinen vorherigen unbedachten Satz.
„Entschuldigen Sie bitte. Ich habe nicht bedacht, dass Sie blind sind.“
„Kein Problem“, erwidert Anna heiter.
„Sie haben ja recht. Die Sonne scheint noch so angenehm warm und es wäre schade, in der Wohnung zu sitzen“, sagt sie freudig zu dem unbekannten Fremden neben ihr.
„Sie kommen oft hierher“, sagt der Mann, mehr als Feststellung denn als Frage.
„Ich habe Sie bereits mehrmals hier gesehen. Ich komme aus der Stadt und spaziere hin und wieder hier am See vorbei und dann durch die Heide zurück“, fügt er als Erklärung hinzu.
„Das ist recht ungewöhnlich, dass ein junger Mann allein durch den Wald und durch die Heide spaziert“, entgegnet Anna.
„Das mag sein, aber dadurch komme ich an die frische Luft und kann von meiner Arbeit ein wenig entspannen. Wie kommen Sie darauf, dass ich jung bin?“
„Ihre Stimme klingt noch so jung“, sagt Anna und der Fremde scheint diese Erklärung zu akzeptieren, ohne ihr jedoch ausdrücklich zuzustimmen.
„Darf ich Sie fragen, was Sie beruflich machen?“
„Na klar. Das ist kein Geheimnis. Ich bin selbstständig und bin in der Computerbranche tätig. Hauptsächlich berate und unterstütze ich kleinere und mittlere Firmen bei Hard- und Softwareproblemen. Ich sage Ihnen, wenn Sie den ganzen Tag vor einem Bildschirm sitzen, freuen Sie sich über jede Minute in der freien Natur.“
„Das kann ich mir vorstellen. Dann wohnen Sie sicherlich direkt in der Stadt, von wo Sie es nicht weit bis hierhin haben?“
Anna ist neugierig geworden. Sie will mehr von dem unbekannten Fremden mit der freundlichen Stimme erfahren.
„Ja, … direkt in der Stadt habe ich eine schöne Wohnung. Nur der Wald und der See fehlen mir dort.“
Anna bemerkt das Zögern in der Antwort. Sie will nicht weiter fragen. Manchmal können zu viele Fragen unangenehm sein. Auch der Mann sagt nichts mehr.
Nach einer kurzen Pause nimmt der Mann das Gespräch wieder auf.
„Darf ich Sie auch etwas fragen?“
„Nur zu, wenn es nicht gerade zu intim ist.“
„Ich weiß nicht. Ich wollte Sie fragen, ob Sie von Geburt an blind sind oder ob sie später im Leben erblindet sind?“
Anna antwortet nicht sofort. Sie geht im Allgemeinen offen mit ihrer Behinderung um, aber heute mag sie nicht darüber sprechen. Daher antwortet sie nur kurz und etwas schroffer, als sie eigentlich will.
„Ein Unfall, ein Autounfall. Vor einigen Jahren.“
Der Mann versteht, dass Anna nicht darüber reden möchte und wechselt das Thema.
„Und noch eine Frage. Bestimmt nicht intim. Welche Musik mögen Sie?“
Anna ist erleichtert, dass er nicht nach ihrer kurzen Antwort aufsteht und geht, sondern weiter mit ihr reden will.
Es entwickelt sich ein angeregtes Gespräch über Popmusik und deren Interpreten. Anna und der junge Mann scheinen den gleichen Musikgeschmack zu haben.
Anna ist froh, nicht sofort nach Hause gegangen zu sein, denn die Unterhaltung mit dem Fremden tut ihr gut. Der Mann mit der freundlichen Stimme ist ihr auf Anhieb sympathisch.
Als sie einige Zeit später aufsteht und sich verabschiedet, meint der Fremde:
„Vielleicht sehen … Entschuldigung, treffen wir uns an einem der nächsten Tage ja wieder auf dieser Bank. Darf ich Ihnen behilflich sein und Sie nach Hause begleiten?“
„Nein, danke, ich gehe den Weg täglich und die Strecke ist mir vertraut. Vielleicht treffen wir uns ja tatsächlich irgendwann noch einmal hier. Ich würde mich freuen.“
Ruhigen Schrittes ertastet sich Anna mit dem Blindenstock den Weg zurück in Richtung ihrer Wohnung. Als sie vom Waldweg auf den asphaltierten Bürgersteig einbiegt, meint sie, Schritte im gleichen langsamen Tempo wie ihr eigenes hinter sich zu hören. Sie misst dem jedoch keine Bedeutung bei.
Sie ärgert sich ein wenig, dass sie den Mann nicht nach seinem Namen gefragt hat. Sollten sie sich noch einmal treffen, würde sie es schön finden, ihn mit Namen anreden zu können.
Aber was soll‘s, er hat auch nicht nach meinem Namen gefragt, denkt sie.