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Donnerstag, 29. April
ОглавлениеBis Pfingstsamstag habe ich noch gut drei Wochen. Da mein Standardprogramm weiterläuft, will ich aber nicht allzu spät mit den Pfingst-Recherchen beginnen. Noch bevor ich am Morgen in die Redaktion fahre, rufe ich deshalb den Gemeindepastor an und melde mich danach auch im Tagungshaus. Ich will auch die jungen Leute dort zu Pfingsten befragen. Immerhin leben sie in einer christlichen Lebensgemeinschaft zusammen, da werden sie ja wohl etwas zum angeblichen »Geburtstag der Kirche« zu sagen haben.
Der Pastor hat erst in der nächsten Woche Zeit, sagt er. Das Team im Tagungshaus lädt mich bereits zum Abend ein. Nach getaner Arbeit und nach der Abendandacht soll ich sie auf ihrer Etage besuchen. Sie alle haben viel zu tun, da sie einen regionalen Kirchentag vorbereiten, der am kommenden Wochenende in Himmelstal veranstaltet wird. Schade. Ich hatte gehofft, heute Vormittag hier mit Recherchen zu verbringen und erst am Nachmittag in die Kreisstadt zu fahren. Nun also umgekehrt, erst in die Redaktion, dann die Pfingst-Recherche.
*
»Kein Problem! Deine Brandserie nehmen wir mit rein!« Mein Chef genehmigt 75 Zeilen und zwei Fotos. Das ist nun wahrlich nicht viel, aber immerhin ein Anfang.
»Wenn es wirklich eine Serie ist«, ergänzt Florian mit dem süffisanten Lächeln eines auflagefixierten Chefredakteurs, »hat sie ja noch Potential nach oben. Vielleicht brennt ja auch mal ein Wohnhaus oder ein Stall mit Tieren.«
Alles kann ich ihm natürlich nicht durchgehen lassen. Mein Chef war vor diesem Posten Redakteur bei der BILD in Hamburg. Die dort erworbenen Sitten und Denkweisen gehen leider manchmal mit ihm durch.
»Chef, du meinst das ja hoffentlich nicht ernst! Schon jetzt haben viele Leute in Himmelstal, besonders Bauern und Gartenbesitzer, große Angst. Und du weißt ja, wenn so etwas erst einmal grassiert, verdächtigt am Ende jeder jeden. In einem so kleinen Dorf wie Himmelstal kann das die Dorfgemeinschaft ganz schön beschädigen.«
Er lacht. »Jens, dann kommst am Ende auch du noch in Verdacht! Immerhin begann die Brandserie kurz nachdem du zugezogen warst, wenn ich dich richtig verstanden habe.«
Es haut mich fast um.
Dabei hat er recht, so etwas könnte man denken. Umso wichtiger ist es, dass ich Ennos Einladung folge und bei der Feuerwache mitmache, oder Bürgerwehr, oder wie auch immer sie das dann nennen werden.
Florian lehnt sich in seinen gepolsterten Bürosessel zurück. Seine massige Gestalt entspannt sich, seine bisher etwas schief herunterhängende graue Krawatte glättet sich ein wenig. Er könnte sie mal bügeln. Allerdings verbringt er die meiste Zeit entweder in der Redaktion oder bei Geschäftsempfängen, bevorzugt bei jenen, die ein Büffet enthalten. Vor einigen Jahren hat seine Frau ihn verlassen. Seitdem stellen sich bei ihm langsam mehr und mehr die mir aus vielen Jahren Singledaseins wohl bekannten Symptome von Junggesellen ein. Knitterige Kleidung ist davon noch eines der harmlosesten.
»Wenn aus der Brandserie auch eine Zeitungsserie wird, Jens, gebe ich einen Whisky aus.«
Mir schwant Schlimmes. Wenn Florian jemandem seinen im Schreibtisch versteckten Dimple einschenkt, ist ein Absturz vorprogrammiert. Ich sage lieber nichts mehr.
»Noch etwas Jens. Du schreibst am besten auch den Artikel vom regionalen Kirchentag. Eigentlich sollte ja Steini den machen, weil du als Neu-Himmelstaler befangen sein könntest. Aber dein geschätzter Kollege hat sich wieder mal krankgemeldet. Angeblich hat er sich im Dienst auf dem Sportplatz eine Erkältung zugezogen.«
»Aber dürfen denn überhaupt wieder Zuschauer auf die Sportplätze, ich meine wegen Corona?«
»Ja, wenn auch nur begrenzt.« Er schmunzelt und hebt nichtwissend die Hände. »Aber selbst in der harten Zeit damals gab es auf den Dörfern vereinzelt Zuschauer. Du weißt ja: Wo kein Kläger, da kein Richter.«
Ja, ich weiß. Manche Dorf-Vereine haben während des Lockdowns vor einem Jahr zwar nicht mit Spielen, aber mit dem Training weitergemacht. In den Sommermonaten der ungeregelten Lockerungen war es dann häufig drunter und drüber gegangen, nicht nur in den Bars, Kneipen, Fußgängerzonen und auf Familienfesten, auch im Sport. Als dann im Herbst letzten Jahres die zweite Welle kam, wurden strenge Gesetze erlassen und auch viel mehr kontrolliert. Jetzt sind wir, nach über einem Jahr mit dem weltweit gefürchteten Virus in einer neuen Phase angekommen: Es wird wärmer, die Infektionszahlen gehen runter und, das Wichtigste, einige Impfstoffe sind in Massenproduktion. Politiker und Virologen sind sich jedoch einig: Wir müssen mit der Pandemie leben und werden das Virus vermutlich nicht gänzlich ausmerzen können.
»Ach Chef, lass das mal auch für Steini gelten: Im Zweifelsfall für den Angeklagten! Ich mach’s jedenfalls mit dem Kirchentag am Wochenende.«
Ich sage ihm nicht, dass es mir sogar gut gefällt. So kann ich zuhause bleiben und weitere Leute wegen Pfingsten befragen. Die Gäste des Christentreffens kommen aus verschiedenen Orten. Ich werde also auch überregionale Akzente zum Pfingstverständnis und Brauchtum setzen können, ohne selbst zu reisen.
»Also, Florian, kein Problem, ich lebe ja nun gewissermaßen auf dem Kirchentag!«
Florian sieht jetzt besorgt aus und runzelt seine stattlichen Stirnfalten.
»Und das nennst du ›kein Problem‹? Ich hoffe doch, du lässt dir nicht den Kopf verdrehen von den Jesusfreaks dort. Wenn ja, wäre es möglicherweise um meinen Starreporter geschehen.«
»Wie meinst du das? Willst du mich rausschmeißen, wenn ich wie du es ausdrückst ›meinen Jesus‹ zu sehr liebe?«
Er lacht.
»Natürlich nicht! Du bist zu wertvoll für unser Blatt und ja auch schon seit Ewigkeiten hier. Die Abfindung wäre mir zu teuer! Nein, da lege ich mich nicht mit der Gewerkschaft und deinen Freunden hier an. Aber ich will, dass meine Leute echte Journalisten sind – und das meint zumindest neutral in der Sache!«
»Und da gibst du mir einen Artikel ausgerechnet über Pfingsten?«
Jetzt schaut er mich fragend an. Ich habe ihn ertappt. Natürlich weiß er genau, was Pfingsten bedeutet. Ein bisschen muss ja wohl von seinem Theologie-Semester hängengeblieben sein. Ich stochere noch ein bisschen weiter:
»Na, Pfingsten ist alles andere als neutral! Du weißt ja, was da passiert ist?«
Florian kratzt sich am Kinn und pult dann an seinen breiten Fingernägeln herum.
»Na klar weiß ich das. Da haben die Jünger Feuer unter den Hintern gekriegt und danach sind sie losgerannt in alle Welt und haben herumposaunt, dass Jesus lebt und sie den Heiligen Geist bekommen haben.«
Ich sehe mich bestätigt, dass er nur allzu genau weiß, worauf sich Pfingsten bezieht, auch wenn er es etwas merkwürdig ausdrückt.
»Du meinst, die ersten Christen waren Feuer und Flamme für ihren Glauben.«
»Genau. Das war auch so etwas wie eine Brandstiftung. Danach war nichts mehr wie vorher. Die verängstigten und deprimierten Schüler des Rabbi Jesus sind losgezogen und haben missioniert.«
Florian macht ein Gesicht als ekle ihn der Gedanke daran. Er kennt sich mit religiösen und biblischen Dingen jedenfalls viel besser aus, als er zugibt. Wer weiß, vielleicht hatte er in seiner Jugend selbst so etwas wie ein pfingstliches Glaubens-Erlebnis. Möglicherweise hat er längst registriert, dass sein Starreporter tatsächlich mit ›seinem Jesus‹ infiziert war und auch heimliche Tests mancher Redaktions-Kollegen auf dieses Virus bereits positiv ausgefallen sind.
Ich habe zwar nie offen darüber gesprochen, aber schon bei der Sache mit der Auferstehung und auch später bei dem Ringen um die Bedeutung von Weihnachten, sind mir manche Leuchter auf- und angegangen. Es hat sozusagen gefunkt, nicht nur zwischen Maren und mir, auch zwischen mir und dem christlichen Glauben. Brandstiftung, das trifft es schon. Ob das etwas mit dem Heiligen Geist zu tun hat, um den es Pfingsten geht? Mein Chef Florian jedenfalls scheint das zu befürchten. Seltsam, dass diese Feuerserie und das Pfingstthema so unmittelbar zusammenfallen. An Zufälle mag ich nicht mehr glauben, seit ich so seltsame Geschichten erlebt habe.
»Chef, lassen wir das. Du hast deinen und ich meinen Glauben. Was uns ganz sicher verbindet, ist diese Redaktion. Und da mache ich mich jetzt an die Arbeit!«
Ich stehe auf. Er bleibt sitzen.
»So ist es gut!« strahlt er. »Nicht ewig diskutieren, arbeiten!«
Mein geliebter Chef will immer gerne das letzte Wort behalten. Also kritzelt er jetzt etwas mit einem weißen Werbekuli unserer Zeitung auf seiner Kladde herum und straft mich mit Missachtung. Ich bin vorerst zum Arbeiten entlassen. Gut so.
In der Redaktion teile ich mir den Schreibtisch samt Computer mit einem freien Mitarbeiter. Da dieser Halb-Kollege selten kommt, habe ich früher viel von hier aus gearbeitet. Jetzt, da »home-office« wegen der Pandemie ohnehin salonfähig geworden ist, ziehe ich mein Arbeitszimmer in Himmelstal vor und versuche, mir die Fahrerei zu ersparen. Die Vor-Ort-Recherchen im gesamten Landkreis und darüber hinaus muten meinem Oldie-Golf ohnehin schon zu viele Kilometer zu.
Die Sache mit den »Brandstiftern« lässt mir keine Ruhe. Ich google »Pfingsten«. Eine lange Liste interessanter Seiten wird angeboten, gleich oben die Fragen: Was wird Pfingsten gefeiert? Was bedeutet das Pfingstfest? Rechts daneben geht es zu Wikipedia. Wenn ich das alles durchgelesen habe, weiß ich vermutlich Bescheid! Jetzt jedoch erschlägt es mich geradezu. Ich klicke mich durch bis zur Bibelstelle, auf die sich im Grunde alles bezieht: Apostelgeschichte Kapitel 2, Vers 1 bis 41. Der Text erscheint nicht, sondern nur eine Beschreibung. Ärgerlich. Ich will an die Quelle! Erst als ich die Bibelstelle separat bei Google eingebe, kommt der Text auf einem »Bibel-Server«. Erstaunlich, was es alles gibt!
Ich lese den Bericht über das Pfingstfest. Hm. Alles sehr seltsam. Alle waren beieinander. Plötzlich brauste es wie von einem Sturm. Dann erschienen Zungen, »wie von Feuer« steht dort. Die setzten sich auf sie. Seltsam. Maren hat vermutlich recht, es sind Metaphern und sie stehen für etwas, was man nicht beschreiben kann.
Noch seltsamer wird es danach. Die Jünger beginnen in verschiedenen Sprachen zu predigen, so wie es der Geist ihnen eingibt. Wie das? Dieses Erlebnis hätte ich gerne im Englischunterricht gehabt. Dann hätte ich Russisch und Französisch gleich dazugenommen. Diese Leute wurden von allen verstanden? Das steht dort. Jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache. Dann war es also nicht nur ein Sprachwunder, sondern vor allem ein Hörwunder. Sollte Pfingsten primär dies bedeuten: Menschen verstehen einander? Dann wäre alles insgesamt eine Metapher für eine der größten Sehnsüchte der Menschheit: Man versteht einander. Endlich! Der »Heilige Geist« wäre dann vor allem der Geist der Einheit, der Gemeinschaft und des Verstehens. Interessant.
»Jens, träumst du?«
Elske steht neben meinem Tisch. Es riecht ein wenig frischer, so als bringe sie aus Ostfriesland einen Hauch Nordseeluft mit in die Redaktion. Unsinn. Vermutlich hat sie nur ihr lockig blondes Haar oder ihre helle Bluse und das kesse Jäckchen darüber mit irgendetwas eingesprüht.
»Nein, nein. Ich meditiere gewissermaßen über einen Text. Sieh selbst.«
Ich drehe den Bildschirm so, dass sie es lesen kann. Wie vermutet kennt sie den Bericht. Ich weiß von ihr, dass sie als Jugendliche in einer sehr engagierten christlichen Gruppe mitgemacht hat. »Entschiedene Christen« nennen die sich, also aus Sicht eines kirchenfernen Streuners wie mir gewissermaßen Hardcore-Christentum.
»Na Jens, das ist ja wohl das Mindeste: Du machst einen Artikel über Pfingsten, folglich liest du natürlich den Bibeltext dazu. Und nun?«
»Nun überlege ich, wie das gemeint ist. Sind das alles Metaphern oder ist es ein nüchterner Tatsachenbericht?«
»Oh, mein lieber Kollege, was macht denn da den Unterschied?« Elskes Lachen wird immer breiter.
Ich bin wieder einmal überfordert. Soll einer die Frauen verstehen! Da müsste es auch Pfingsten werden, der Heilige Geist müsste über uns kommen wie ein Sturmwind und uns gegenseitiges Verstehen zwischen Mann und Frau schenken. Das wäre echt ein Wunder! Flammen und Brausen bräuchten wir dann vermutlich nicht mehr.
Elske merkt, dass mich ihre Frage verwundert.
»Na, ich meine, eine Metapher ist doch der Ausdruck für etwas, das wirklich geschieht. Sie ist ja nicht nur ein Bildwort für etwas, das gar nicht stattfindet. Folglich stehen auch die Flammen, das Brausen und das Hörwunder für etwas sehr Reales.«
»Und was ist das, deiner Meinung nach?«
»Na, für das reale Wirken Gottes. Die erste Gemeinde wird gegründet. Leute kommen zum christlichen Glauben, lies nur weiter im Text! Über dreitausend Leute bekehren sich zu Jesus, lassen sich taufen und treffen sich regelmäßig in den Häusern und in der Gemeinde. Das ist nun wahrlich alles andere als ›nur‹ eine Metapher. Da passiert richtig was!«
Meine Kollegin ist von dem, was sie mir da erzählt, begeistert. Ihre blauen Augen strahlen, ihre schmalen Hände betonen die Worte mit dezenten aber klaren Gesten, ja, ihr gesamter schlanker Körper strahlt aus, was sie sagt: Der Geist von Pfingsten ist faszinierend und real zugleich.
»Du meinst also, Pfingsten ist so etwas wie ›Gott in Aktion‹? Also nicht nur einfach der Geburtstag der Kirche?«
»Na ja, das auch. Aber das ist ja nur ein Phänomen unter vielen. Gott wirkt. Predigten werden verstanden und gehen zu Herzen, die Leute treffen sich zum Gebet und zum Lesen in den alten Schriften, viele verkaufen, was sie haben und geben es den Armen, ganz normale Leute werden zu Missionaren, einer von ihnen namens Stephanus lässt sogar sein Leben für seinen Glauben, Heiden kommen zum Glauben ...«
Ich grinse innerlich und muss ein witziges Wortspiel loswerden, das ich irgendwann im Tagungshaus aufgeschnappt habe. »Also auch ›Lüneburger Heiden‹?«
Meine hübsche Kollegin lacht lauthals los. »Ja klar, auch Lüneburger Heiden – aber eben viel später. Damals hocktet ihr hier noch auf Bäumen und die wenigen Menschen in diesem Endlosdschungel verehrten Wotan und ich weiß nicht welche Germanengötter sonst noch.«
»Bis der Heilige Geist auch hierher kam ...«
»Genau. Bis hier die ersten Missionare auftauchten und Heidebauern, Schafhirten und Wegelagerer Christen wurden. Wusstest Du, dass in der Heide einige der ältesten Klöster Deutschlands stehen und bis heute erhalten sind?«
»Du meinst das Kloster Ebstorf mit seiner berühmten Weltkarte aus dem Mittelalter?«
»Genau, zum Beispiel. Ich glaube, es wurde schon im 12. Jahrhundert gegründet. Und damals gab es tatsächlich so etwas wie einen geistlichen, also einen durch den Heiligen Geist inszenierten Aufbruch. Man könnte also sagen, da erlebte diese Region so etwas wie Pfingsten.«
»Hört sich gut an, diese Inszenierung.«
Elske strahlt.
Ich spüre ihren Missionseifer fast körperlich. Sie wird mich gleich vermutlich erneut einem Test unterziehen, diesmal auf das Virus »christlicher Glaube«.
»Jens Jahnke! Das war keine ›Inszenierung‹ wie im Theater. Das war damals so real wie das Leben.«
Nun kommt es. Die hübsche entschiedene Christin schaut mich herausfordernd an und will es wissen.
»Und nun sag mal, wie sieht es denn inzwischen bei dir persönlich aus? Kann es sein, dass dich die Begegnung mit den Christen in Himmelstal, besonders mit deiner Freundin Maren, dem Glauben nähergebracht hat? Oder gehörst auch du immer noch zu den ›Lüneburger Heiden‹?«
Das ist direkt gefragt. Ich mag Elske ja sehr und wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, vermutlich sogar mehr als das ... aber nun wird mein Mund trocken. Ja, ich würde schon sagen, dass sich bei mir etwas Entscheidendes verändert hat. Vor zwei oder drei Jahren waren mir Religion, Kirche und so etwas völlig egal. Es hat mich einfach nicht tangiert. Der Glaube spielte absolut keine Rolle in meinem Leben, er war mir so fern wie, wie ... na ja, wie das Sammeln leerer Zigarettenschachteln oder wie die zwei Monde vom Mars.
Dann jedoch hatte sich dies geändert. Ich weiß gar nicht genau, wann und wie die Änderung begonnen hatte. Wenn es der Heilige Geist war, der sie bewirkt hat, dann ist er bei mir strategisch jedenfalls völlig anders vorgegangen als damals zu Pfingsten in Jerusalem. Da war kein Brausen, kein großes Wunder, kein spektakuläres Feuerwerk. Nein, da gab es eher alltägliche Erlebnisse und vor allem Begegnungen und Gespräche: Magda, eine junge Zweiflerin im Team vom Tagungshaus hat mich beeindruckt. Sie hat trotz vieler kritischer Fragen und Zweifel die Andachten für Gäste mitgestaltet. Ein Besuch bei meinem ehemaligen Pfadfinderführer hat mich noch lange beschäftigt. Der inzwischen über achtzig Jahre alte Mann hat felsenfest behauptet, unser Leben habe trotz des Sterbens eine Perspektive. Mein gewissermaßen Ziehsohn, der Ex-Nazi Lennart, war in der Lage, sich um 180 Grad zu drehen. Heute verprügelt er keine Ausländer mehr, sondern ist Sanitäter, rettet sie und arbeitet mit ihnen zusammen. Je länger ich überlege, desto mehr Menschen fallen mir ein, die etwas in mir haben wachsen lassen. Ja, das ist es! Wachsen. Es ist Frühling.
Elske schaut mich immer noch erwartungsvoll an, sie drängelt jedoch nicht. Es sind nur Sekunden, die meine Gedanken brauchen, um Worte zu formen. Aber der Moment zwischen Elskes Frage und meiner Antwort fühlt sich definitiv an wie ein Geist-Moment, da ich plötzlich Worte für das finde, was mit mir geschehen ist.
»Ach Elske, ich sage es mal so, vielleicht etwas kitschig: Bei mir ist es Frühling. Der Winter des Unglaubens ist vorbei. Jetzt wächst langsam etwas Neues. Die braune Erde wird grün. Ob es dann im Sommer zur Frucht eines festen Glaubens kommt – keine Ahnung!«
Sie legt ihre schlanke Hand auf meinen Oberarm und drückt leicht zu.
»Jens, schöner kann man es gar nicht sagen! Selbst nach über zwanzig Jahren Christsein ist auch mein Glaube eher ein Frühlings-, als ein Sommerglaube! Von ›fest‹ kann nicht die Rede sein.«
Der »Test« war also positiv. Mein Glaube und ihr Glaube unterscheiden sich nicht – sagt sie. Ich empfinde es anders. Sie scheint in ihrem Glauben verwurzelt zu sein wie eine deutsche Eiche im Boden, während ich noch gar nicht genau weiß, ob mein Miniglaube überhaupt richtig anwächst ...
Mein Handy vibriert und rutscht dabei langsam über die Tischplatte.
»Sorry Elske, da muss ich rangehen. Es ist eine Nummer mit meiner Vorwahl.«
Sie nickt. »Danke Jens, dass wir darüber reden konnten. Wir können das ja mal fortsetzen.«
Dann schwebt sie davon. Ob Elske so etwas wie ein blonder Engel für mich ist? Oder ein Geistwesen Gottes aus einer anderen Welt? Keine Ahnung. Am Telefon ist jedenfalls ein Mensch, Ortsbrandmeister Enno Diekmann.
»Jens, gut, dass ich dich erreiche. Bei dir Zuhause hat niemand abgenommen, da dachte ich, ich rufe mal auf deinem Handy an.«
»Ist okay. Ich vermute, du willst noch etwas zum Brand berichten?«
»Ja, auch. Viel gibt es aber nicht. Die Polizei hat einen verschmorten Benzinkanister gefunden. Also war es Brandstiftung. Aber deswegen rufe ich nicht an.«
Mein Gedächtnis notiert »Kanister« und »Brandstiftung«.
»Ich rufe wegen unserer Brandwehr an. Bist du dabei?«
Ich sage zu. Er freut sich und bittet mich, heute Nacht um zwölf am Feuerwehrhaus zu sein. »Geisterstunde« denke ich.
»Das ist dann die zweite Schicht«, meint er. »Ihr seid zu dritt. Gerd leitet eure Gruppe. Kerstin kommt noch mit. Ich habe mit Jan und Jonas die erste Schicht übernommen, da ich morgen früh raus muss. Im Moment denken wir an eine Streife von zwei Stunden. Okay?«
»Ich bin dabei, Enno. Als Journalist genieße ich die Freiheit, am Morgen auch mal länger zu schlafen!«
»Du Glücklicher!«
Stimmt, er hat recht!
*
Als ich nach Hause komme, ist Maren noch nicht zurück. Sie arbeitet im Lüneburger Krankenhaus und macht viele Überstunden. Zwar sind inzwischen weniger Corona-Patienten in Behandlung, die Schreckenszeit der zweiten Welle dieser alles dominierenden Pandemie wirkt jedoch noch deutlich nach. Inzwischen kommen jene Fälle, die wegen der Pandemie auf später verschoben wurden.
Ich schmiere mir eine Stulle, koche mir einen Tee und schaue Nachrichten. Corona, Impfstoffe, Amerika, China, Iran, Klima. Die Themen haben sich seit vielen Monaten kaum verändert.
Punkt acht Uhr klingle ich an der Haustür zum Tagungshaus. Der alte Weinstock an der roten Klinkerwand neben der Treppe treibt wieder aus. Eben noch wie tot, will auch er wie alles andere in der Natur offenbar mit aller Macht beweisen, dass sich das Leben durchsetzt. Die auf der Balustrade in Kästen gepflanzten Geranien und andere bereits blühende Blumen erscheinen dagegen ein wenig künstlich. Sie wurden im Gewächshaus vorgezüchtet. Sie sind Produkte menschlicher Ungeduld und sollen eine Jahreszeit suggerieren, die gerade erst beginnt. Wir Menschen warten eben ungern.
Tanja öffnet die Tür.
»Ah, Jens. Wir sind noch nicht alle oben.« In Richtung Küche ruft die etwas stämmige junge Frau: »Leute, Jens ist hier, beeilt euch mit dem Abwasch!«
Ich höre das Klappern von Töpfen und Wasserrauschen.
»Nur noch eben die Küche fluten!« höre ich als Antwort. »Dann kommen wir sofort.«
Tanja interpretiert meinen Gesichtsausdruck richtig.
»Tom und Caro müssen die Küche noch wischen, weil sie es vor der Andacht nicht mehr geschafft haben«, erklärt sie mir, »dazu nehmen sie zuerst einmal einen Schlauch und spritzen die Fliesen ab! Unsere Großküche ist extra so konstruiert!«
Wir gehen die Treppe hinauf, zuerst in den ersten Stock, wo das Team in Doppelzimmern wohnt, dann noch eine Treppe höher. Hier liegen die Aufenthaltsräume der Wohngemeinschaft: Ein Wohnzimmer, ein Fernsehraum, eine Teeküche und ein kleiner Andachtsraum. Kurz nach meinem Einzug in Himmelstal hatte mich die sogenannte »Hausgemeinde« schon einmal eingeladen und mir im Zusammenhang damit ihre Etage gezeigt. Sie wollten von einem Journalisten etwas zum Thema Öffentlichkeitsarbeit hören – und mich vermutlich auch kennenlernen, da sie sich erhofften, dass ich ihr Gästehaus öfter mal in die Zeitung bringe.
Damals habe ich das aktuelle Team bereits erlebt. Tanja, die mich nun auf einen abgewetzten Ledersessel im Wohnzimmer dirigiert, kommt hier aus dem Landkreis. Sie will eine Lehre als Köchin machen und sammelt nun als Praktikantin in der Küche erst einmal Erfahrungen. Caro, eine quirlige Blondine mit Pferdeschwanz, großen Ohrringen und einem kleinen, dezenten Tattoo am Hals, hat in Oldenburg Abi gemacht. Sie will Sozialarbeiterin oder Diakonin werden, hat dies jedoch noch nicht entschieden. Anders liegt es bei Anna. Wenn ich mich recht erinnere, möchte sie Medizin studieren. Anna ist auffallend groß, trägt ihre brünetten glatten Haare wie sie fallen und ist sehr still und zurückhaltend. Tom würde einen guten Dressman abgeben: Sportliche Figur, leicht gekräuselte braune Locken, Dreitagebart und strahlend blaue Augen. Vermutlich hat er hier mancher Konfirmandin den Kopf verdreht. Jonas wirkt ohne seine rotschwarze Uniformjacke der Feuerwehr in seinem grünen Sweatshirt und einer silbernen Halskette mit Anhänger etwas blass, fast ein bisschen feminin. Er ist wie die anderen knapp zwanzig, hat dunkelbraunes Haar und ebensolche Augen. Besonders seine dunklen Augen wirken anziehend und vertrauenerweckend.
»Friedrich kann leider nichts beitragen. Er hat seinen freien Tag und ist nach Hause gefahren.« Tanja schaut nach dieser Info zu Jonas, der wie ich in einem der Sessel sitzt. »Und Jonas muss nachher noch mal weg, zur Feuerwehr.« Sie grinst vielsagend. »Einsatz mit Kerstin!«
»Blödsinn! Kerstin ist diesmal nicht dabei!« Jonas wirkt genervt und die Bemerkung seiner Kollegin in meiner Gegenwart ist ihm sichtlich unangenehm. Offenbar sind die Teammitglieder eingeweiht und wissen, dass Jonas auf nächtliche Streife geht. Ich vermute, im Dorf wird sich die Brandwache ebenfalls herumsprechen und der Täter wäre bald gewarnt, sofern er überhaupt in Himmelstal wohnt.
Nach knapp zehn Minuten lümmeln sich Tom und Caro sichtlich erschöpft auf das Sofa und die Truppe ist also bis auf Friedrich vollständig. In der Mitte steht ein flacher Couchtisch, drum herum eine Ledergarnitur mit zwei Zweiersofas und zwei Sesseln.
»Theo kommt jedenfalls nicht. Er muss noch zu viel für den Kirchentag organisieren, sagt er.« Tanja meint Theo Beyer, den Leiter des Hauses. »Aber wir anderen sollten trotzdem anfangen!«
»Ein Bier, Herr Reporter?«
Tom hat schon ein Pils geöffnet und hält mir nun eine weitere Flasche hin. Da sage ich nicht Nein. Die Mädels trinken Wasser oder Apfelsaft.
»Du willst also etwas über Pfingsten schreiben und fragst uns, was dieses Fest für uns bedeutet?«
Auf das »du« hatten wir uns bereits bei unserer ersten Begegnung geeinigt. So ist es. Unser Gespräch beginnt sofort, ohne allgemeines Geplänkel. Das liebe ich an diesen jungen Leuten!
»Ehrlich gesagt, kann ich mit Pfingsten nichts anfangen!« Tom macht den Anfang. »Wir haben damals bei uns im Dorf am 1. Mai einen Maibaum aufgestellt und den zu Pfingsten zum zweiten Mal kräftig begossen!«
»So wie vor zwei Wochen, als Jonas Geburtstag hatte?«
Sie wissen, was gemeint ist und lachen. Wenn ich es richtig sehe, errötet Jonas ein bisschen. Ich vermute, es hatte ein kleines oder auch großes Besäufnis gegeben. Diese jungen Leute hier leben also keineswegs irgendwie fromm abgehoben, sondern gewissermaßen ganz normal im Vergleich zu ihren Altersgenossen.
»Nee, Tanja«, belehrt Tom seine Kollegin. »Was ihr hier ›Besäufnis‹ nennt, heißt bei uns zu Hause ›Vorglühen‹.«
Ich erinnere mich. Tom kommt aus der Rotenburger Gegend. Da kennt man sich aus, legendär.
»Also Pfingsten warst du regelmäßig duun?«
Tom nickt.
»Und du warst auch nie bei uns hier auf dem Pfingstcamp?« Caro schaut ihren Kollegen fast mitleidig an.
Tom nickt wieder. »Doch, klar. Das kennt jeder hier in der Region. Leider gibt es das ja schon seit Jahren nicht mehr.«
Ich frage nach, was mit »Pfingstcamp« gemeint ist. Die Erzählungen wechseln zwischen Bericht, Anekdote und Legende. Bereits Ende der Siebziger Jahren lief unterhalb der Sportplätze Himmeltals ein großes Zeltlager. Angefangen hatte man mit hundert, später waren es sechshundert und einmal sogar achthundert Jugendliche, die gemeinsam Pfingsten feierten. Zwei weitere Camps entstanden als Ableger in anderen Regionen Norddeutschlands und so wurden jeweils zu Pfingsten bis zu tausendfünfhundert junge Leute erreicht.
»Da ging echt die Post ab!« schwärmt nun Caro. »Natürlich gab es keinen Alkohol, aber wir waren trotzdem so was wie high. Lieder, Superbands, na und die Liebe, und heiße Gebetszeiten, tolle Predigten, Sport, Talentshows, Geländespiel, Lagerkirmes ...«
Tom unterbricht sie. »Ja, mit Geisterbahn und so was ... !«
Sie lachen beide und klären Tanja, Anna, Jonas und mich, die wir nicht dabei waren, auf.
»Genau, ich erinnere mich. Einmal haben wir im Camp das Thema ›Pfingsten‹ behandelt. Da hat dann eine Gruppe beim Lagerkirmes tatsächlich eine echte ›Geisterbahn‹ angeboten.«
Caro bringt uns mit dieser Vorstellung zum Lachen.
»Und du, Tom, warst du dann die Frau ohne Kopf?!«
»Nee, Tanja, ich habe im Camp-Café ›Geistreich‹ mitgearbeitet. Da gab es diverse Cocktails in Heiliger-Geist-Qualität.«
Mir gefällt, dass die Verantwortlichen in diesem Camp die christlichen Inhalte ganz offensichtlich nicht verbissen ernst, sondern auch mit Humor vermittelt haben.
Jonas gibt zum Besten, dass sie zu Pfingsten immer im Kinderlager auf der Insel waren. Ich stelle mir vor, dass Jonas mit seinen braunen Locken und den treuen Hundeaugen ein ausgesprochen hübsches Kind war und damals vermutlich viele Freunde hatte.
»Da gab es dann ein tolles Nacht-Geländespiel. Wir nannten es ›Geisterjagd‹. Bewaffnet mit Taschenlampen sind wir zwischen den Dünen herumgerannt und haben mit alten Bettlaken als Geister verkleidete Mitarbeiter gejagt. Das war richtig spannend, können wir hier mit den Konfis auch mal machen!«
»Na, Jonas, das war was für dich! Wenn Action, Spannung und Nervenkitzel angesagt sind, dann fehlt natürlich Jonas nicht!«
Caro sagt es liebevoll. Alle nicken. Vielleicht ist Jonas auch deshalb bei der Feuerwehr. Er liebt Action. Ich kenne das von meinem Ziehsohn Lennart. Auch der ist nicht zu den Sanitätern gegangen, weil er eine ruhige Kugel ohne Aufregung schieben wollte, sondern weil er möchte, dass in seinem Leben was los ist. Wer weiß, vielleicht bin auch ich ein bisschen Reporter geworden, weil ich dieses Kribbeln liebe, eine Story zu verfolgen.
»Und du, Anna, was habt ihr Pfingsten gemacht?«
Die stille Anna hat eine sanfte, feste Stimme als sie antwortet und macht einen selbstbewussten Eindruck.
»Wir waren immer verreist, meist auf Korsika«, und zu Jonas gewandt, »ich war also auch auf einer Insel!«
»Na super, aber ihr hattet dort vermutlich schön Sonne pur!«
»Nicht immer, aber meistens. Der Mai ist auf den Inseln im Mittelmeer schon ganz schön. Alles blüht und grünt.«
»Beneidenswert. Im Camp schien auch oft die Sonne, es hat aber auch geregnet und manchmal war es noch saukalt.«
»Einmal gab es einen echt krassen Sturm,« ergänzt Tom. Caro nickt. »Genau. Da sind mindestens zehn Zelte samt Gestänge über das Gelände gerauscht. Sie sahen aus wie abgestürzte Ballons. Alles stand unter Wasser und wir saßen ängstlich im großen Rundzelt.«
»Ich weiß noch«, meint Tom, »alle hatten Schiss. Die freiwillige Feuerwehr aus Himmelstal war gekommen und wollte uns evakuieren, in Scheunen und so.«
«Ja, und einer von denen stand in Uniform im Zelt unter dem Rauchverbotsschild und qualmte eine Zigarette.« Caro zieht ein entsetztes Gesicht, als sie sich diese Situation in Erinnerung ruft. »Jonas, was sind das da eigentlich für Brandschützer bei euch?«
»Na ja, wir sind eben keine Profis. Da kann so was schon mal passieren.« Jonas nimmt seine Kameraden in Schutz. »Aber ich glaube, heutzutage wäre das undenkbar. Sicherheit geht vor, immer!«
»Damals jedenfalls hat uns vor allem der Brandmeister verrückt gemacht. Er hat dem Campleiter das Mikro aus der Hand genommen und eine Ansage gemacht, nach der zwei Mädels von den Sanis behandelt werden mussten.«
»Wieso das denn?«
»Na, er sagte, im Landkreis sei Katastrophenalarm ausgerufen, hunderte Keller seien überschwemmt, viele vom Sturm geknickte Bäume versperren die Straßen und der Strom sei vielerorts ausgefallen. Er hat einen echten Katastrophenfilm in unser Kopfkino gebracht.«
»Ist ja furchtbar. Na, da kann ich gewisse Ängste verstehen.« Tanja zeigt Mitgefühl. »Für dich allerdings wäre so etwas wahrscheinlich erst die richtige Herausforderung!«
Sie wendet sich an Jonas. Der zuckt mit den Achseln.
»Weiß nicht. Sturm und Regen können genauso schlimm sein wie Feuer. Vielleicht hätte auch ich Angst gekriegt.«
»Nee, du wärst ganz vorne mitmarschiert, als wir im Tross in strömendem Regen Richtung Ort evakuiert wurden. Vorweg fuhr eine Feuerwehr mit Blaulicht, hinterher marschierten die uniformierten Kameraden. Es war tatsächlich eine Szenerie wie in einem Katastrophenfilm!«
Schade, dass ich damals noch nicht für diese Region geschrieben habe. Dieses legendäre Pfingstcamp hätte ich auch gerne mal besucht. Ich erinnere mich dunkel, darüber etwas in unserer Zeitung gelesen zu haben. Was diese jungen Erwachsenen hier erzählen klingt allerdings wesentlich abenteuerlicher als ein Zeitungsbericht es je sein kann.
»Aber Tom, es gab ja auch noch andere Pfingsterlebnisse im Camp, viel wichtigere!«
Tom nickt. »Stimmt, da war nicht nur Action.«
»Ich zum Beispiel habe dort Zugang zum christlichen Glauben gefunden. Nach der Abendmahlsandacht habe ich mich persönlich segnen lassen. Das war echt stark. Ich habe vor Freude geheult.«
Während Caro das erzählt, werden ihre Augen etwas feucht. Tom nickt anerkennend.
»Ja, wie viele andere. Manchmal war mir das mit den Meetings und Segnungen etwas zu emotional. Aber ich muss trotzdem zugeben, es hatte schon was ...!«
»... also so was wie Pfingsten, nicht nur mit Geisterbahn und Feuerflammen, sondern mit einem eher stillen Heiligen Geist, meinst du?«
Mir scheint, wenn Anna sich einmischt, wird sie umso mehr gehört. Vielleicht ist gar die Stillste in der Runde die heimliche Anführerin. Das Gespräch jedenfalls wird jetzt ernster. Sie diskutieren über Pfingsten als Fest des Heiligen Geistes. Manche der Beiträge ähneln denen von Maren und Elske. Auch für diese jungen Christen scheint der »Heilige Geist« nicht primär etwas Abgedrehtes, Spektakuläres oder gar Elitäres zu sein, sondern ehr ein normales »Zubehör« christlichen Glaubens. Ohne Heiligen Geist keinen Glauben, könnte man sagen. Tränen, Emotionen und religiöses Erleben sind für meine Gesprächspartner und -partnerinnen zwar schöne Zugaben, den Geist Gottes beschreiben sie aber auch ganz nüchtern.
»Das ist eben Gottes Wirken!«, meint Tom.
»Oder Jesus, der Auferstandene handelt!« ergänzt Caro. »Die Kraft Gottes, könnte man sagen oder eben auch seine spürbare Gegenwart.«
Diesmal scheint das Team mit Blick auf seine Glaubensgeschichte etwas homogener zusammengesetzt zu sein als damals vor zwei Jahren. Da hatte eine Magda noch ihre Zweifel an all dem – und das hat die anderen umso mehr dazu gebracht, ihren Glauben zu reflektieren. Hier sitzen nun Leute, die aus gutem Grund in einer christlichen Dienst- und Lebensgemeinschaft ihr FSJ machen. Den abwesenden Friedrich habe ich als etwas störrischer in Erinnerung und Jonas hält sich jetzt zurück und übernimmt Annas Schweige-Rolle. Kurz vor zehn verabschiedet er sich und meint:
»Leute, ich muss zur Feuerwehr.« Er schaut mich an. »Jens, du weißt ja, warum. Bis dann also.«
Er steht auf und ist verschwunden.
*
Zwei Stunden später bin ich dran.
Der Espresso, den ich mir gegönnt habe, peppt mich wieder auf. Als ich kurz vor Mitternacht zur Feuerwehrhalle gehe, ist es stockdunkel. Die Straßenlaternen in der Siedlung sind verloschen. Es ist bedeckt. Sterne und Mond sind nicht zu sehen. In nur wenigen Fenstern brennt noch Licht. Fast immer, wenn ich einer Garage, einem Carport oder Hauseingang nahekomme, geht automatisch eine Beleuchtung an. Die Leute haben Angst vor Einbrechern. Es gab besonders während der dunklen Monate diverse Einbrüche.
Neben der Feuerwehr liegt der Friedhof. Wachholder, Büsche und Grabkreuze wirken ein wenig gespenstisch. Ein lautloser Vogel saust über meinen Kopf hinweg. Oder sind es Fledermäuse? Schnell zücke ich meine starke Taschenlampe, bin jedoch zu langsam.
»Ah, nun sind wir also komplett.«
Gerd Meyer begrüßt mich. Er ist ein kräftiger, dabei jedoch recht kleiner Mann mit fast kahlem Schädel. Kerstin steht bereits neben ihm an der Tür zur Gerätehalle. Die junge Frau trägt ihre dunkelblonden Haare kurz, eine Brille mit dunklem Rand und wie ihr Kollege Feuerwehrkleidung.
Ich merke an, dass sie damit ziemlich auffallen und den Brandstifter vermutlich sofort verjagen.
»Stimmt. Jens, wir sind vermutlich schon betriebsblind.« Beide ersetzen ihre rotweißen, mit reflektierenden Streifen versehenden Jacken durch einen dunkelblauen Anorak. Ich selbst trage meine Parka. Die Scheinwerfer der beiden sind um vieles stärker als meine Funzel.
Darauf angesprochen meint Gerd: »Stimmt, die sind super. Wir haben zwei davon nach der Grenzöffnung von unseren Freunden drüben bekommen.«
»Dann wurde damit vielleicht schon damals manche Flucht verhindert.« Unser Landkreis lag früher direkt an der Grenze zur DDR. »Hoffen wir nur, es kommt nicht zu Schusswechseln!«
»Wir haben keine Waffen dabei. Sollten wir?«
Ich vermute, dass Gerd meine Art von Humor nicht sofort versteht. Besser, ich vermeide Ironie oder Sarkasmus.
Wir gehen los. Wieder gleiten zwei der großen Nachtvögel über unsere Köpfe hinweg.
»Das sind junge Waldkäuze«, informiert mich Kerstin. »Sie nisten im alten Trafoturm. Wir haben dort auf eigene Rechnung einen Nistplatz errichtet. Im Februar haben dort oben Waldkäuze gebrütet. Wenn sie dann im Juni raus sind, kommen hoffentlich wieder die Schleiereulen. Letztes Jahr hatten wir vier Junge.«
Ich bin beeindruckt. Eine Freiwillige Feuerwehr mit vielen Aktivitäten und Interessen schützt nicht nur den Ort, in dem ich lebe, sondern auch bedrohte Vogelarten.
»Was machen wir, wenn wir den Brandstifter auf frischer Tat erwischen?« frage ich.
»Na, dann nehmen wir ihn fest!«
Kerstin scheint ähnlich gestrickt zu sein wie Jonas: Action um jeden Preis. Gerd jedoch sieht das anders.
»Nee, Kerstin. Wir werden uns der Situation anpassen. Wir beobachten ihn, folgen ihm und alarmieren die Polizei und unsere Kollegen. Mehr nicht. Und bitte denk dran: Ich habe hier das Sagen.«
Das nächtliche Himmelstal wirkt anders als der Ort bei Tageslicht oder am frühen Abend. Als dichte Wolken aufziehen, ist es derart dunkel, dass man nicht einmal den Boden sieht, auf den man tritt. Besonders unter den großen Eichen an der Kirche kommt es einem vor, als gehe man durch eine dunkle Höhle. Manchmal knacken kleine Äste oder alte Eicheln unter den Füßen. Wind rauscht oben in den noch fast kahlen Kronen der jahrhundertealten Bäume. Die Kirche wirkt nun wie eine Trutzburg im Mittelalter. Dies war sie früher ja auch tatsächlich. Ein oder zweimal bellt ein Hund. Hinter einem brusthohen Zaun auf dem Hof eines Bauernhofes, läuft ein schwarzes Tier herum. Ich vermute, es ist ein gut ausgebildeter Wachhund. Er verhält sich still. Wenn ein Einbrecher oder unser Brandstifter auf das Gelände eindringt, wird sich das ändern. Hinein kommt er vielleicht, nicht jedoch unbeschadet hinaus. Unsere Postboten kennen das.
Die Bewegungsmelder an den Gebäuden der Neubausiedlung in der Nähe des letzten Brandortes funktionieren einwandfrei. Immer wieder flammen Lampen und zweimal sogar Scheinwerfer auf. Hierher wird sich ein Brandstifter vermutlich nicht trauen, ist die Gefahr entdeckt zu werden doch viel zu groß.
Die für uns vorgesehenen zwei Stunden vergehen schnell. Wir waren zwar nicht davon ausgegangen, dass uns schon am ersten Abend jemand ins Netz geht, sind aber dennoch etwas enttäuscht. Kerstin will am liebsten weitermachen und auch die nächste Streife bis vier oder fünf Uhr mitgehen. Ihre drei Kollegen, auf die wir am Feuerwehrhaus treffen, bestehen jedoch darauf, dass sie nach Hause geht.
»Kerstin, du musst morgen früh zur Arbeit. Wir machen das schon, nutze du noch ein paar Stunden Schlaf.«
»Leute, ich bin dreiundzwanzig! Wie viel Schlaf ich brauche, weiß ich selbst am allerbesten.«
Das Team nach uns lässt sich jedoch nicht umstimmen: »Geplant ist geplant. Wenn Enno es so einteilt, ist es so!«
Bei der Feuerwehr in Himmelstal gelten offenbar klare Regeln. Eine Entscheidung »von oben« wird fraglos respektiert. Vermutlich ist ein solches »Top-Down« für eine Feuerwehr genauso angebracht wie für Polizei und Militär. Es geht um Gefahrenabwendung und -bekämpfung. Da kann nicht jedes Mal und über jede Angelegenheit lange diskutiert werden ...