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Samstag, 1. Mai

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Die Redaktion einer Tageszeitung ist fast immer besetzt. Was nicht bedeutet, dass Journalisten immer arbeiten. Der »Tag der Arbeit« wird für uns allerdings seinem Namen gerecht. Demos, Gewerkschaftsversammlungen und politische Statements am 1. Mai wollen besucht und aufgezeichnet werden. Wenn dies alles auch in diesem Jahr wegen der Pandemie noch auf Sparflamme läuft – trotzdem findet einiges statt.

Abstand halten, Maskenpflicht und Hygienekonzepte müssen auch im Jahr nach dem ersten Ausbruch von Covid19 noch strikt eingehalten werden. »Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben«, wird von Politikern und Virologen gebetsmühlenartig wiederholt. Das Virus hat nicht nur vielen Menschen das Leben gekostet, unzählige in Angst und Panik versetzt, viele Existenzen zerstört und unsere Reise- und Kulturlust spürbar gedämpft, es hat die Gesellschaft auch weiter gespalten. Was sich bereits schon vorher im Rechtsruck mancher Bevölkerungsschichten und dem Erfolg von Pegida und dann der AfD niederschlug, haben die Pandemie und die deswegen getroffenen politischen Entscheidungen noch vertieft. Zum Glück sind die Menschen, die von wo auch immer nach Braun gewechselt sind, nicht wesentlich mehr geworden. Der Großteil unserer Bevölkerung hält weiter an den demokratisch-freiheitlichen Werten fest und steht hinter Verfassung und Regierung. Allemal seit nicht nur die Landesfürsten und die Bundesregierung die Entscheidungen über unser Pandemie-Verhalten treffen, sondern die Parlamente wieder entscheiden, stabilisiert sich die Lage. Trotzdem kriselt es an allen Enden.

Es brennt noch nicht, denke ich, aber beim nächsten Funken – wer weiß? Interessant, wie das Pfingstthema »Feuer« auf viele Ebenen anwendbar ist. Sogar auf die Pandemie. Viel schneller als damals der christliche Glaube, hat sich dieser tödliche Flächenbrand über die gesamte Welt ausgebreitet. Immer wieder flammen Glutnester auf, auch angefacht durch aggressive Mutationen des Virus. Überall versucht man zu löschen oder zumindest einzudämmen. Seit Anfang des Jahres wird wie wild geimpft. Bis die erhoffte »Herdenimmunität« erreicht ist, dauert es allerdings noch.

Einige behaupten zu wissen, wer die Brandstifter sind. Die Chinesen, die Pharmaindustrie, Bill Gates, das Establishment. Diese Typen werden mit ihren Verschwörungstheorien selbst zu »Brandstiftern«. Als ob man ein Feuer löscht, indem man die Schuldigen ausmacht!

Andere stellen das Virus als Chance dar. Digitalisierung und medizinische Innovation, Vernetzung staatlicher Organisationen und weltweite Solidarität sollen entwickelt und zur Brandbekämpfung eingesetzt werden. Klar, wenn ein altes Haus abgefackelt ist, kann man ein schönes neues bauen. Was nicht unbedingt besser ist ...

Ich bin auf dem Weg zurück von einer Demo in der Kreisstadt, als mir all diese Gedanken durch den Kopf gehen. Mein Golf surrt über die inzwischen wohlbekannte Kreisstraße. Jeden Tag wird das Grün jetzt üppiger, dunkler und satter. Die Buchen bilden ihr dichtes Blattwerk. Das Wintergetreide auf den Feldern steht kniehoch. Einige der schon im März mit der Blüte beginnenden Rapsfelder schimmern immer noch gelblich. Die Kartoffeln bilden auf einigen Feldern grüne Linien entlang der Furchen. In Blumenkübeln, Balkonkästen und Vorgärten blüht es. Allerdings: Zwischen all dem Grünen und Bunten liegen braune Flächen. Einige Äcker werden erst vorbereitet. Die Eichen wirken noch braun und leblos. Neben weiß blühenden Schlehen, gelben Forsythien und ersten Kirschblüten markieren winterlich kahle Büsche, dass wir in einer Übergangszeit leben und noch warten müssen, bis alles sommerlich bunt wird.

Der Graben zwischen bunt und braun ist tief, denke ich. Zum Glück haben wir hier bei uns keine amerikanischen Verhältnisse. Allerdings können wir nicht behaupten, dass alles im Griff sei. Auch wenn es hier keine Rassenunruhen gibt, keine Schlammschlachten bei Wahlen und keine bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Wählergruppen – auch durch Deutschland zieht sich ein tiefer Graben.

Die Demo der Gewerkschaft war zunächst friedlich verlaufen. Coronahilfen, Mindestlohn, Kündigungsschutz, wirtschaftliche Situation in der Pandemie – die Themen wurden sachlich und engagiert angegangen. Etwa zweihundert Leute, alle mit Mundschutz und Abstand, hatten sich auf dem Platz vor dem alten Rathaus versammelt. Nach Extremisten hatte es nicht ausgesehen.

Dann allerdings gab es in einer Ecke Tumulte und Menschenknäuel. Ich bin sofort hin, mit gezückter Kamera.

Lautstark schrien sich zwei Lager an. Etwa zehn Männer und einige Frauen streckten Fäuste gen Bühne und brüllten die bekannten Parolen. »Deutschland den Deutschen!« »Wir sind das Volk!« »Keine Impfpflicht!« Sie sahen nicht aus, wie man sich Rechtsextremisten vorstellt, die offenbar gerade erst gezückten Schilder verrieten jedoch ihre Gesinnung. Masken trugen sie keine. Ich erinnere mich an einen Spruch, den ich irgendwo gehört habe: »Früher waren Radikale, Randalierer, Gangster und Terroristen maskiert, heute ist es das Volk.«

Schnell waren die Randalierer von einer Überzahl maskierter Demonstranten umgeben. Die Gruppen brüllten sich an. Ich steckte jetzt mittendrin, konnte kaum noch fotografieren und von Abstand konnte natürlich nicht mehr die Rede sein. Einer der Typen schlug sogar nach mir und brüllte sein »Lügenpresse!« in meine Richtung. Klar, wer nicht meiner Meinung ist, der lügt!

Bis die Polizei kam, dauerte es etwa zehn Minuten. Dann jedoch war schnell Ruhe. Der Tross löste sich auf und die Abstände wurden wiederhergestellt. Wir sind hier eben doch in der Provinz und nicht in Hamburg oder Leipzig.

Jetzt, unterwegs nach Himmelstal, überlege ich, was ich in den Artikel über die Demo schreibe. Ich will diesen Chaoten auf keinen Fall mehr Platz geben, als sie tatsächlich eingenommen haben. Von zwei Stunden waren das vielleicht zehn Minuten. Also bloß nichts aufbauschen und den Rechten jene Publicity verschaffen, die sie provozieren wollten! Andererseits: Was mich am meisten erschreckte war nicht, dass diese Leute auftauchten, sondern dass es so »normale« Bürger waren. Sie sahen wie alle anderen bei der Demo aus. Keine Lederklamotten oder Glatzen, keine Hakenkreuze und SS-Symbole. Ein älterer Herr war dabei, der mein Vater, eine junge, modisch gekleidete Frau, die meine Tochter und ein Typ mit Kamera, der mein Kollege hätte sein können.

Erschreckend, wenn die braune Gesinnung sich wie ein Krebsgeschwür in die Mitte der Gesellschaft hineinfrisst. Am Rand, okay. Dort kann man es isolieren und vielleicht auch abschneiden – in der Mitte gelingt dies vermutlich nicht.

*

Am Nachmittag wird der Maibaum »gepflanzt«. Ich will das sehen und verlasse deshalb meinen Schreibtisch im Kellerbüro. Der Artikel von heute Morgen ist bereits beim Redakteur, der die Seite zusammenbaut.

Maren hat heute frei.

»Wenn du schon pausenlos arbeiten musst und wir keine Zeit zusammen verbringen können«, meint sie, »dann komme ich jetzt einfach mal mit! Immerhin ist es ja auch mein Dorf! Und am Abend gehen wir dann ins Konzert.«

Sie meint das vom »Regionalen Kirchentag« veranstaltete Konzert einer farbigen Sängerin samt Band. Ich bin einverstanden, zumal ich ja darüber berichten soll.

Wir ziehen uns Jacken und Schuhe an und sind fünf Minuten später am Dorfplatz. Schon von weitem hören wir Musik. Sie klingt jedenfalls nicht nach Soul oder Gospel.

Mehrere Bierzeltgarnituren wurden aufgestellt. Über die Hälfte davon sind besetzt. Nicht alle, aber die meisten tragen, wie es sich in der Menge gehört, eine Maske. Ein Bierwagen steht in einer Ecke des Platzes. Mehrere Männer lehnen an der Theke, ein Bier vom Fass in der Hand, die Masken unter dem Kinn. Links davon gibt es einen Bratwurststand. Auch dort stehen Leute. Unter einem Pavillon hat eine kleine Kapelle ihre Anlage aufgebaut. »Die Egerländer-Heidjer« steht auf dem Schlagzeug. Nicht schlecht, »Egerländer« passt zur Musik, »Heidjer« zur Landschaft! Als wir ankommen, machen sie gerade eine Pause. Zwischen den Sitzgelegenheiten, Theke und Kapelle stehen Paare und Familien. Kinder laufen herum. Maren entdeckt sofort unsere Nachbarn. Gerald Tönnjes und seine Frau winken uns zu.

»Hallo Maren, hey Jens! Kommt doch rüber!«

Die beiden stehen zusammen mit Corinna, ebenfalls eine Nachbarin, an einem runden Stehtisch neben der Band. Wir verstehen uns gut mit ihnen und ich freue mich, dass ich hier im Dorf bereits »angekommen bin«, wie man das ja nennt.

Als wir am Tisch stehen und ebenfalls an einem Bier schlürfen, beginnt die Musik erneut. Ich entdecke immer mehr bekannte Gesichter. Einigen proste ich von ferne zu. Enno und Gerd stehen an der Theke. Drei Jugendliche in Feuerwehruniform braten Würste und reichen sie ihrer hungrigen Kundschaft. Kerstin sitzt hinter dem Tisch. Ihr verbundener und geschienter Arm liegt auf der Tischplatte. Mit der anderen Hand kassiert sie das Geld für die Würste. Sie winkt mir grinsend zu.

»Jens, du kennst hier ja schon allerhand Leute!« meint Corinna und lächelt.

»Stimmt. Ich berichte ja immer wieder über unser schönes Dorf. Da bleibt das nicht aus. Jetzt entstehen gerade engere Beziehungen zur Feuerwehr.«

»Das heißt, du willst dort eintreten?«

»Nein, das nicht. Aber ich unterstütze sie in dieser Brandsache.«

»In der Brandsache? Was machst du denn da?«

Gerald ist hellwach und offenbar sehr interessiert. Maren wirft mir einen mahnenden Blick zu. Mist, da hätte ich doch fast die Sache mit der Brandwehr ausgeplappert. Schnell versuche ich, die Kurve zu kriegen.

»Na, ich berichte darüber. Was sonst macht ein Reporter?«

Puh, noch mal gut gegangen. Gerald nickt anerkennend.

»Ich hoffe, sie kriegen den Feuerteufel bald. Der macht ja das ganze Dorf verrückt.«

Nun weiß Corinna etwas einzutragen.

»Unten ›im Tal‹ ist heute Nacht eingebrochen worden. Habt ihr davon gehört?«

Gerald und seine Frau schütteln mit dem Kopf, Maren sieht mich an. Ich versuche mit einem absichtlich erstaunten Gesicht mein Unwissen zu unterstreichen.

»Eingebrochen? Woher weißt du das denn?«

»Na, vom Opfer. Ich habe heute Morgen Frau Schulz beim Bäcker getroffen. Die hat es erzählt. Spiekermann soll den Einbrecher verhaftet haben.«

Nun bin ich aber gespannt. Doch es geht weder ein Blick zu Kerstin, noch zu Enno oder mir. Es bleibt eine Geschichte, eine Einbruchsgeschichte wie viele andere. Die Beteiligten haben also dichtgehalten. Trotzdem, wenn in einem Dorf etwas passiert, wird es bekannt, bevor es in der Zeitung steht. Darauf muss ich mich prinzipiell einstellen. Buschtrommeln sind immer schneller als Druckerpressen, allemal wenn trotz Supermarkt und Online-Handel ein Tante-Emma-Laden mit Bäcker im Dorf überlebt hat ...

Nun setzt die Musik wieder ein. Einige beginnen zu Schunkeln, manche singen sogar mit, textsicher.

»Ist doch tolle Musik, oder?«

Gerald klopft im Takt auf den Tisch und schaut mich erwartungsvoll an. Ich sage lieber nichts dazu. Der Wind ist aufgefrischt und es fallen ein paar Tropfen. Dies jedoch scheint weder Eingeborenen noch Zugezogenen etwas auszumachen. Wenn so ein Mai- oder Pfingstbaum begossen wird, dann wird vermutlich alles drum herum zweitrangig.

Etwa zehn junge Männer kommen mit einer riesigen Birke anmarschiert. Bis auf die Krone sind die Äste entfernt worden. Der schlanke Stamm liegt auf den Schultern der Männer und wird jetzt abgelegt. Erst einmal einen trinken. Ein Feuerwehrkamerad geht mit einem runden Tablett herum, darauf ein Bataillon gefüllter Schnapsgläser. Fünf Minuten – und das Bataillon ist vernichtet. Die leeren Gläser wandern zurück aufs Tablett und zur Theke.

Die Männer, einige davon in Feuerwehruniform, die meisten in Jeans und Alltagskleidung, packen erneut an. Einer nimmt den Metalldeckel von einem Loch im Boden. Clever. Tradition bedeutet, man weiß wie man’s immer macht und hat vorgesorgt! Die Männer legen den etwa zehn Meter langen Stamm über das Loch, blockieren ihn mit einem Keil und richten ihn langsam auf. Immer höher und höher. Plötzlich rutscht der Fuß ins Loch und kurz darauf steht der Maibaum. Zeit, wieder ein Bataillon zu vernichten!

Nun wird der Baum mit Holzkeilen befestigt – und dann geht das Spektakel los, sich bejubeln zu lassen. Mehrere der jungen Männer klettern hinauf. Wenn sie es geschafft haben, prosten ihnen die anderen zu. Wenn es jemand nicht schafft, wird auch geprostet. Im Dorf hält man also unbedingt zusammen! Ob Sieg oder Niederlage, es wird begossen. Mit Musik. Die »Egerländer-Heidjer« geben ihr Bestes.

Nach etwa vier Bier macht mir die Musik nichts mehr aus. Zwar bin ich auch halbdienstlich hier, immerhin soll ich über Pfingstbräuche schreiben, aber da Maren neben mir steht, habe ich jedes Recht, mich privat zu fühlen. Also beginne auch ich mit den anderen zu schunkeln. Die »Egerländer« sind zwar nicht das Original, sie spielen aber doch Ernst Hutter rauf und runter. »Grüß mir mein Heimatland!«, »Alte Liebe«, »Am großen Brunnen« und, passend zum Baum, »Drei weiße Birken« heizen uns emotional ein, Bier und Schnaps besorgen den physischen Rest. Der Bandleader meint, die Songs kämen von der CD »Das Feuer brennt weiter!«. Na, das passt ja auch. Ich hoffe nur, heute Abend feiert der Brandstifter mit und ist dann so betrunken, dass er keinen Unfug mehr anrichten kann.

Ich schaue mir die Leute um mich herum an. Die meisten Feuerwehrleute stehen an der Theke und löschen eifrig ihren Brand. Gerd hat sich zu den jungen Männern gesetzt, die wieder ein Tablett kreisen lassen. Kerstin bleibt, wie es aussieht, nüchtern. Sie kassiert für die Bratwurst. Ich entdecke jetzt auch Jonas. Er sitzt neben Kerstin, ebenfalls in Uniform. Andere aus dem Team vom Tagungshaus sehe ich nicht. Vielleicht ist dieses Maibaumpflanzen doch eher etwas »Heidnisches«, geht mir durch den Kopf.

Ob jemand von den hier Anwesenden mit den Bränden zu tun hat? Jemand von der Feuerwehr? Oder die anderen? Ich schüttle mich, als Gerald mir zum wiederholten Mal ein Schnapsglas über den Tisch schiebt. Wenn es den anderen ähnlich ergeht wie mir, dann verdächtigt in Kürze jeder hier im Dorf jeden. Ich hoffe nur, damit ist bald Schluss.

Noch vier Schnaps weiter zieht Maren mich vom Tisch weg. »Jens, es ist genug! Auch wenn du ihn wie die anderen hier immer weiter begießt, dieser Maibaum wird nicht anwachsen! Außerdem wollen wir noch ins Konzert.«

Gerald und Enno, der inzwischen auch an unserem Tisch steht, widersprechen ihr und wollen mich nicht gehen lassen. Maren jedoch ist bei so etwas unerbittlich.

»Jens, du kannst ja noch bleiben. Ich jedenfalls gehe jetzt!«

Corinna und auch Geralds Frau erklären sich solidarisch. Auch sie wollen nicht bleiben, sondern jetzt sofort diese wunderbare dörfliche Gemeinschaft verlassen. Keine Ahnung, warum. Corinna ruft nach ihren Jungs, die mit ihren Fahrrädern und zwei anderen Jungen Wettrennen veranstalten. Nicht einmal zehn Sekunden bleiben Gerald und mir für die Entscheidung.

Wir zögern einen Moment zu lange. Maren hat sich ihre Handtasche geschnappt und geht. Corinna folgt ihr. Ihre Jungs radeln bereits los. Geralds Frau zögert noch. Vielleicht hat sie Angst um ihren Mann.

»Geh ruhig mit!« meint er großzügig. »Ich komme dann nach, noch vor der Tagesschau!«

Der Blick seiner Frau spricht Bände, doch sie sagt nichts, sondern geht hinter Maren und Corinna her.

Mit Feuer und Geist

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