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Mangel-Orientierung

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Mangel und Defizit fesseln unseren Blick und knebeln unsere Gedanken. Wie soll es mit der Kirche weitergehen, wenn sie 2030 nur noch halb so viele Mitglieder hat wie heute? Da reicht doch das Geld für die Mitarbeiterstellen hinten und vorne nicht! Na ja, schon jetzt haben wir viel zu wenig junge Leute, die Theologie studieren. Das funktioniert doch alles nicht mehr.

Kommt Ihnen das bekannt vor? Mir ja. Es ist der gleiche Einwand wie ihn jene Jünger damals hatten. »Es reicht doch nicht!« Solche Mangel-Orientierung findet sich heute in der Kirche genauso wie in Gesellschaft und Politik. Vor Augen gemalt wird ständig, was nicht geht und nicht möglich ist. Auch im persönlichen Leben packt uns solche Defizit-Orientierung. »Ich schaffe das nicht!« Meine Begabungen reichen nicht, ich habe zu wenig Geld und noch weniger Zeit. Ich bin nicht schön genug, nicht reich genug und habe nichts zu sagen. Mein Glaube reicht dazu nicht aus. Es geht nicht ...

»Gebt ihr ihnen zu essen!« Das empfinden wir oft als Überforderung. Immer dort, wo solche Herausforderungen an uns herangetragen werden, sind wir schnell auf unser Defizit und auf unseren Mangel fixiert. Und das hat Folgen ...

Angst macht sich breit

Mangel-Orientierung schürt unsere Angst. Die Angst, es nicht zu schaffen. Die Angst, dass unsere Kirche vermutlich noch vor dem Klima zusammenbricht. Die Angst, auch den kleinen Rest noch zu verlieren, jene Treuen, die heute »noch« da sind.

Der Soziologe Heinz Bude macht in seinem Buch »Gesellschaft der Angst« (2014) deutlich, wie weite Kreise der Gesellschaft in Europa von Angst dominiert werden. Populisten, Brexit, Terrorismus, Finanzkrise, Fremdenfeindlichkeit usw. – Angst bekommt viele Facetten. Es ist immer die Angst, etwas zu verlieren – am Ende vielleicht gar das Leben.

In einem mit dem Autoren Heinz Bude geführten Interview (www.zeitzeichen.net) beschreibt er Grundrichtungen der gegenwärtigen Ängste: Zum einen wird Gesellschaft bei uns seit Jahrzehnten als Leistung des Einzelnen beschrieben. Jeder Einzelne übernimmt in aller Freiheit Verantwortung für sein Leben. Wenn alle dies machen, wird das System stabil. »Wenn jeder das Seine dazu beiträgt, gelingt das Ganze!« »Auf mich kommt es an!« Aber so schön dies klingt, so überfordert bin ich als Gestalter der Gesellschaft. Die Rechnung, dass, wenn jeder für sich selbst sorgt, für jeden gesorgt ist, geht nicht auf. Ob reich oder arm, unsere Sicherheit, Frieden, Klimastabilität, sozialer Frieden und vieles mehr sind durch mein persönliches Engagement nicht zu gewährleisten. Diese Herausforderungen können nur gemeinsam, politisch und global angegangen werden. Folglich setzen wir auf Politik und Politiker – und werden maßlos enttäuscht. Auch unsere gewählten Staatslenker sind überfordert, allemal wenn es um globale Aufgaben geht. Bis hin zur neu aufkommenden Kriegsangst angesichts der Entwicklung im Nahen Osten wird Angst zum alle verbindenden Grundgefühl ... und Lösungen oder gar ein Ausweg sind nicht in Sicht.

Zurück zur Speisungsgeschichte. Auch die Jünger bekamen damals vermutlich Angst angesichts der Herausforderung Jesu. »Es ist zu wenig!« Wir können die Vielen nicht satt machen. Wir können den Willen unseres Herrn nicht erfüllen. Seine Erwartungen an uns sind viel zu groß. Wir sind überfordert. »Herr, was ist das unter so viele?«

Und was passiert bei Angst? Wie wirkt es sich aus, wenn wir auf den Mangel fixiert sind und auf das, was nicht geht? Wir haben diverse Beispiele vor Augen.

Das Kaninchen vor der Schlange

Nur nicht bewegen. Stillstand. Nicht auffallen. In mein privates Nest flüchten. Rückzug aus allen Ämtern. Reisen, Urlaub, Abenteuer. Ich bin dann mal weg.

Lähmung ist ein Ausdruck unserer Angst. Der Rückzug auf meine kleine Insel, ob sie nun Haus und Garten, Kirchengemeinde, Gesprächskreis, Familie, Hobbygruppe, Sportverein, Urlaubsinsel oder einfach nur Privatleben heißt, ist zweitrangig. Immer dort, wo wir passiv und bis hin zur Resignation verharren und nichts mehr gestalten und verändern, hat uns die Lähmung im Griff.

Ob solch Stillstand ein Grund ist, dass die Kirche für Jugendliche nicht attraktiv ist? Nicht überall, aber in manchen Gemeinden soll immer alles so bleiben, wie es schon immer war. Auch wenn gelegentlich ein paar »moderne« Lieder hinzukommen (z.B. »Danke« von 1963, also dreimal so alt wie heutige Jugendliche!) und ein »Laie« einmal eine Lesung übernimmt – das Sagen haben die Pfarrer, die alteingesessenen Kirchenvorsteher, Küsterin und Kantor. Ja, es gibt Gemeinden, die sich nicht vom Fleck bewegen, so als hielte ihnen jemand eine Pistole an den Kopf. »Wenn du dich bewegst, bist du tot!« Deshalb verändere nichts, verharre in dem, was du denkst, singst, predigst und an sonstigen Äußerungen von dir gibst. Solange noch ein paar kommen, gibt es dich noch. Halleluja! Aber wenn du die letzten treuen Seelen mit überraschenden Bewegungen vergraulst, kannst du den Laden schließen ... Arme Gemeinde. Dabei geht der Schuss nach hinten los.

Im privaten Bereich und persönlichen Leben ist es ähnlich, wenn wir auf den Mangel schauen und Angst bekommen. Sie lähmt. Lieber nicht darüber reden, was mit unserer Ehe los ist. Bloß keinen Termin beim Eheberater! Da weiß man doch, dass es dann erst richtig schlimm wird. Wie beim Arzt. Da sollte man auch lieber nicht hingehen. Womöglich sagt der, man solle die Ernährung umstellen und Sport machen. Wie soll ich das schaffen bei meinem Terminkalender. Nein, ich muss da durch. Den Job wechseln, weil ich sonst bald im »Burnout« lande? Lieber nicht. Was ich habe, das habe ich. Wer weiß, was in einem neuen Job auf mich zukommt. Umziehen? Niemals! Da verlasse ich doch alle Sicherheiten ...

Wir alle kennen solche Lähmungs-Situationen. Wir wissen eigentlich, dass sie uns schaden, wissen jedoch nicht anders mit unserer Angst, etwas zu verlieren, umzugehen. Oder doch?

Der Hamster im Laufrad

»Aktionismus« ist das Gegenstück zur Lähmung. Nicht »Aktivität«. Die ist gesund, hilfreich und konstruktiv. Nein, »Aktionismus« beginnt, um der Angst zu entfliehen und sie zu verdrängen. Ich vergesse sie, indem ich bis zum Umfallen arbeite. Eine Regierung stürzt sich nach vielen Streitereien um Posten und frustrierenden Wahlergebnissen wieder ins Amt. Ein Gesetz nach dem anderen wird verabschiedet – Hauptsache wir zeigen, dass wir am Ball sind! Auch Klimagesetze müssen her, Verkehrskonzepte mit E-Roller und nach der Ehe nun der Motorradführerschein für alle. Ob all das wirklich Sinn macht? Keine Ahnung. Wir wissen zwar nicht, was wir wollen, aber das mit ganzer Kraft!

So läuft »Aktionismus«.

Im kirchlichen Bereich steckt oft die Angst dahinter, Mitglieder und gleichzeitig die Bedeutung als Volkskirche zu verlieren. Anfang der neunziger Jahre wurde plötzlich die Öffentlichkeitsarbeit in der Kirche entdeckt, eine Reaktion auf sprunghaft ansteigende Austrittszahlen. Etwas später hatten sogar Kirchenkreise eine bezahlte Stelle dafür. Aufwändige Untersuchungen zur Mitgliedschaft wurden durchgeführt. Die Zahlen waren ernüchternd. Erschreckend waren die Trends mit Blick auf die Bedeutung von Kirche. Sie spielt nur selten noch eine Rolle unter den Top Ten. In einem Vertrauensrating liegt die evangelische Kirche noch hinter dem der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten auf Platz 19 (Gemeinwohl-Atlas 2019). Da tröstet auch nicht, dass die katholische Kirche abgeschlagen auf Platz 102 liegt (immerhin noch einen Platz vor dem Deutschen Fußballbund DFB).

Folglich: Kirche hat schlechte Karten. Wir müssen etwas tun. Viele Gemeindeentwicklungsprogramme wurden aufgelegt. Diverse Kampagnen wie »Erwachsen Glauben« oder »Kirche2« mit »FreshX« liefen und laufen, letztere inspiriert aus England, wo die anglikanische Kirche mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hat wie unsere. Über 2.000 Veranstaltungen bietet allein der Evangelische Kirchentag in Dortmund. Wir veranstalten pausenlos. Sogar in 2019, obwohl das Jahr doch als »Jahr der Freiräume« ausgerufen hatte. Eigentlich wollte man sich zurückhalten, um in sich zu gehen, zu beten und herauszufinden, was wirklich dran ist ..., eigentlich.

Ich behaupte natürlich nicht, dass unsere Bemühungen allesamt einer aktionistischen Angst geschuldet sind, habe allerdings manchmal doch das Gefühl, wir werden primär vom Mangel- und Defizitempfinden angetrieben. Sogar »Mission« ist wieder salonfähig geworden, damit die Kirchen sich nicht völlig leeren ... oder geht es doch um Jesus und seine Mission?

»Aktionismus« ist eine Reaktion der Angst. Auch im privaten Bereich ist das so. Von einem Arzt zum andern, Fitness in allen Varianten und immer etwas Neues. Die Ernährung will beachtet sein. Fleisch ist tabu. Angesagt ist vegetarisch, vegan, flexitarisch, paleo, paleo-vegan, clean-eating, Rohkost, frutarisch oder frugan ... Ich muss es doch irgendwie packen und probiere alles durch. Alt werden geht schon gar nicht. So lange ich aktiv bin, hat die Angst mich nicht im Griff ...

Mag sein, dass ich es zu negativ darstelle. Die Gesundheitsdaten der Krankenkassen belegen allerdings solche Wahrnehmungen. Stress, Burnout, psychische Probleme, Übergewicht, Herz-Kreislaufprobleme ... wir sind eine zumindest teilweise kranke Gesellschaft.

Mit der Digitalisierung wird das auch nicht besser. Eher im Gegenteil. Ich habe ständig das Gefühl, mir fehlt noch etwas an technischer Ausrüstung, um heutzutage das Leben zu meistern. Ein Kriechrobo im Wohnzimmer zum Saugen und einer im Garten; Alexa, die weiß wo`s lang geht, die ich alles fragen kann, deren Stimme ich so gerne höre, wenn ich allein bin; eine digitale Schließanlage mit Videoüberwachung und Handy-App, damit ich jederzeit alles im Blick habe ... die Angst, dass immer etwas fehlt, können sie nicht nehmen. Je rasanter die Technik sich entwickelt, desto mehr befürchte ich, abgehängt zu werden. Also, bloß am Ball bleiben. Aktionismus .

Sogar unsere Freizeitgestaltung und Zeiten, in denen wir uns regenerieren wollen, unterliegen oft dem Druck der Angst. Ich will nichts verpassen. Ich muss von der Welt so viel sehen wie möglich, also reise ich so oft es geht. Jeden Tag mehrere Termine und jeden Abend etwas anderes. Überall dabei! Auf allen Hochzeiten tanzen. Sonst entgeht mir vielleicht etwas. Ich habe ja nur noch so wenig Zeit ...

Resignation

Ob Lähmung oder Aktionismus zum Ausdruck von Angst werden, bleibt sich vermutlich im Ergebnis gleich. Beides führt in der Regel zu Frustration und Resignation. Der Blick auf den Mangel und das Defizit und die daraus erwachsene Angst können zuletzt nichts anders hervorbringen. »Re-signare« bedeutet, ich ziehe die Unterschrift, die Signatur, zurück. Ich mache nicht mehr mit. Ich steige aus – aus dem gesellschaftlichen wie aus dem kirchlichen Engagement, aus den Versuchen meine Ehe zu retten oder meine Gesundheit, aus meinem Beitrag zum Klimaschutz, aus der Mission, aus dem Hauskreis ... so sieht Resignation aus. Der Mangel hat mich klein gekriegt.

Ablauf bei Mangelorientierung:

Wo immer wir uns von Mangel und Defizit leiten lassen, werden wir wie in einem mächtigen Strudel hinabgezogen.

 Angst bemächtigt sich unser.

 Wir reagieren mit Lähmung und Rückzug

 oder wir versinken in Aktionismus.

 Was bleibt ist Resignation.

✪Den Mangel, das Wenige, das Defizit vor Augen und sich daran orientieren – kommt auch Ihnen das bekannt vor? Geschieht das auch in Ihrer Gruppe und Gemeinde? Mit welchen Konsequenzen?

Dies wäre einen ehrlichen Austausch wert!

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