Читать книгу Drei im Himmelbett - Hermann Bärthel - Страница 3
Claudia und Martin - zwei Menschenkinder; eine Totalprothese, vulgo „FF - Folle Fresse“ und eine geplatzte Gesäßnaht.
ОглавлениеEin herrlicher Sommer hatte all seine bunten Farben über das Land gestreut, allenthalben leuchteten Blumen in verschwenderischer Pracht, sogar in dem kleinen Gärtchen am sanften Ufer der Schlei unweit des kleinen Städtchens, in dem ein lockiges Geschöpf ein Liedchen trällernd Spaliertomaten zählte, immer drei und drei, wie es einst die Mutter gelehrt hatte, damals, ehe an jenem unglückseligen Tag vor vier Jahren der Schrebernachbar ein begehrliches Auge auf ihr Mütterchen geworfen, und Kirsten Troddel, noch immer ein Weib in der späten Blüte ihrer Jahre, mit ihm davongezogen war in die Ferne, weit hinter Buxtehude, und Claudia, ihre Einzige, allein gelassen hatte.
Da saß es nun, dieses Kind der Liebe aus Kirstens leidenschaftlicher Hingabe zu Trutz Graf von Altenburg während jener schicksalsschweren Anwendung vor zweiundzwanzig Jahren ...
Claudias Mama war zu der Zeit eine blutjunge Heilgymnastin in einem Kneippbad, als der Graf mit Bandscheibenvorfall und ohne Dorothee, seine Gemahlin, in ihr Leben lahmte, sich aber schon nach drei Fangopackungen und zweieinhalb Massagen in wilder Begierde über alles, auch sein Stützkorsett, hinwegsetzte und damit Claudias Lebensweg begründete. Stand und Dünkel versiegelten danach seine gräflichen Lippen. Auch konnte Dorothee, wie er aus leidvoller Erfahrung wusste, treten wie ein Pferd, vorzugsweise ins Kreuz, und das machte sein Schweigen endgültig.
Ach ja, mein Mammilein, seufzte Claudia wehmutsvoll, da aber bimmelte es plötzlich ungestüm an der Gartenpforte!
Verwirrt erhob sie sich, doch schon von weitem sah sie Albert, den Jungpostboten mit einer büttenpapierenen postalischen Zustellung winken! Da flog sie hin zu ihm, ihr Goldhaar wehte im Winde, ihre Wangen glühten, und dann hielt sie ihn in ihren zitternden Händen, jenen Brief, den als Absender eine stolze Krone zierte: Trutz Graf von Altenburg
Und wieder kam sie ihr in den Sinn, jene traurige Kinderweise, die ihr Mütterlein oft leise zur Schlafenszeit an ihrem Bettchen gesungen hatte:
Ach, ziert auch heut die Krone nicht
dein golden Lockenhaar,
so wird doch einst und immerdar
dir leuchten hell der Liebe Licht!
Mein Grafenkind ...
Mütterlein spinnt ...
Weiter wusste sie nicht, und so brach sie bang das gräfliche Siegel und las erschüttert die Botschaft des alten Grafen, die von den Wirren seiner jähen Liebe zu Claudias jugendknospiger Mama berichtete; vom seit altersher unbeugsamen Stolz seiner Sippe, derer von Altenburg, die nicht nach Herz noch Treue fragte und schon gar nicht nach folgenschweren Fangopackungen; und von der Einsamkeit des Alters, die nun des Grafen Herz geöffnet hatte für die wahren Werte des Lebens! Nun hatte er sie endlich gefunden, nach verzagt durchwachten und erregt durchgooglelten Nächten, die ihm etliche unerfreuliche Kontakte mit anderen Damen bescherten, Claudia, seine Einzige, sein allerliebstes Wirbelstürmchen, wie er sie scherzhaft in Anspielung auf - aber das behielt er lieber für sich, auch wenn seine selige Dorothee längst das Zeitliche gesegnet hatte - genug: Noch war es nicht zu spät, um Vergebung zu bitten, in aller Form, und etwas wiedergutzumachen, soweit ein gräfliches Erbe es nur immer vermochte ...
Hier perlten Tränen über Claudias bleiche Wangen, und im nahen Fliederbusch zirpte eine Meise oder ein Rabe oder Ähnliches, und Albert, dieser Postkoloss von zwei Meter zwölf, klopfte ihr zärtlich auf die nun von heftigem Schluchzen zuckenden Schultern, so daß sie das Weinen vergaß; ihr blieb für längere Zeit die Luft weg.
„Albert,“ lächelte sie tapfer, „Albert, du Guter ...“ und Albert, in Verkennung der Ursache ihrer heißen Zähren, zog sie kraftvoll zu sich hoch, und so standen sie erstaunlich lange vereint, das heißt, Albert stand und Claudia hing, und noch immer zirpte was auch immer im besagten Fliederbusch.
Endlich setzte er sie behutsam auf den dafür nur mäßig geeigneten Gartenzaun, von dem sie aber sogleich unbeschadet hinabglitt, denn dergleichen problematische Platzierung war ihr durch Albert schon zweimal widerfahren.
Gütig verzeihend, aber auch fest sah sie ihm nun in die Augen und wollte zu einer Erklärung ansetzen. Da Claudia aber von Kind auf an eine leichte Schiefstellung der Äuglein zu eigen war, sah sie auch gleichzeitig an Albert vorbei, und was sich da ihren Blicken bot, ließ sie bis in die Purpurlippen erbleichen: Eine gräfliche Kutsche rollte heran, und als es vom Kutschbock „Brrr!“ schallte, hielten die schnaubenden Rösslein augenblicklich inne und scharrten fröhlich wiehernd mit den Hufen.
Herunter aber sprang Martin, des alten Grafen junger Gutsverwalter, und lief mit federnden Schritten, einen herrlich bunten Rosenstrauß schwenkend, auf sie zu. Galant küsste er Claudias schlankes Händchen, das heißt, eigentlich küsste er Alberts Pranke, weil dieser empört Claudias Hand an sich zog, lachte sie herzlich und offen an, wobei seine prachtvollen Zähne im sonnengebräunten Gesicht blitzten - Zahnfarbe 10, bemerkte Claudia erschauernd, weißer geht's nimmer - und verbeugte sich artig.
„Vom Grafen!“ erklärte er und überreichte ihr den üppigen Strauß. „Für Sie, gnädiges Fräulein - Sie sind doch Fräulein Claudia Troddel, Zahnarzthelferin von Beruf, nicht wahr?“
Claudia nickte errötend, in ihren großen blauen Augen spiegelte sich sanfte Freundlichkeit - und allerdings auch Albert, der all dies stumm betrachtete und heftig mit den Zähnen knirschte.
„Dein Beißschutz, Albilein, trägst du ihn nachts nicht mehr? Du knirschst schon wieder so grausig ...“ raunte Claudia ihm zu, doch Albert, der Hühne, blickte nur wild auf Martin hinab, schwang sich Ungutes knurrend auf sein Postrad, denn er hatte noch die halbe Tour vor sich, und strampelte mit einem bitteren „Moin!“ davon.
„Was er nur hat ...“ murmelte Claudia erschrocken, „So hat er noch nie geknirscht ...“. Doch dann besann sie sich und bat Martin hinein in ihr bescheidenes Gartenhäuschen.
Da standen sie sich nun gegenüber, die zwei Menschenkinder, und wusste doch keines, wie ihm geschah, hier in dem kleinen Stüblein, das eine große Firma so unbarmherzig möbliert hatte.
Innig schauten sie sich in die Augen, bis auf den Grund ihrer reinen Seelen, in denen wie eine tiefe Glocke die Botschaft einer nie zuvor geahnten Liebe erklang ...
Für einen Atemzug muss ich hier nun innehalten, weiß doch meine Hand vor Ergriffenheit kaum noch die Maus geschweige denn die Feder zu halten; aber was hilft es - das Rad des Lebens unserer beiden dreht sich weiter ...
Nach langem Schweigen endlich kehrten Martins Sinne aus süßem Traum zurück. Er räusperte sich mannhaft und sprach leicht verwirrt folgendes: „Ich … Sie ... ich will sagen, er, also der Graf ... Sie wissen ja, er hat Ihnen geschrieben, daß Sie ... Ich soll Sie ... Verzeihen Sie mir, daß ich mich vergaß, aber ... Der Graf bittet Sie für morgen Nachmittag um vier zum Tee, und ich soll Sie fragen, ob Sie ... Mein Gott, wie schön Sie sind ... Er hat mir nämlich dieses hier für Sie ...“
Und dabei zog Martin aus seiner Tasche ein schwarzledernes Etui, das er langsam und geheimnisvoll öffnete, und darinnen glitzerte eine von sanftem Rosèpaladon umbettete Achtundzwanziger, dem Laien eher bekannt als Totalprothese mit je vierzehn Zähnen oben und vierzehn Zähnen unten, auch vulgo „FF“ zubenannt - „Folle Fresse“.
Sanft stieg Röte in Claudias Pfirsichwangen - nun allerdings schon zum dritten Mal innerhalb von wenigen Minuten, was wir leider konzedieren müssen, denn im Leben verläuft selten etwas wie erwartet und in Claudias Backen schon gar nicht - sie deutete unbeschadet dessen stumm auf die gräflichen Beißer.
„Sind das ... des Grafen ...“ flüsterte sie dann stockend, und Martin nickte ernst.
„Ja,“ antwortete er, „schon vor sieben Wochen ist es passiert; der neue Koch ... die Schrotkugeln im Fasan ... und der Graf haute rein wie immer ... und plötzlich dieses grauenvolle Knacken - ich höre es immer noch ...“ Und dann berichtete er vom selbstlosen Opfer der treuen Dienerschaft, die dem Grafen im täglichen Wechsel ihre Prothesen ... untertänigst ... aber keine wollte recht passen ...
„Der Arme ...“ stöhnte Claudia mitfühlend, doch dann zeigte sie entsetzt auf die schimmernden Zahnreihen: „Gebrochen zwischen Viereins und Vierdrei - wissen Sie, was das bedeutet -?“
Verwirrt schüttelte Martin sein Haupt.
Claudia sah ihm tief in die Augen - sie hatte, wie bereits erwähnt, diesen festen Silberblick - und um ihren Mund legte sich ein bitterer Zug: „Ein Zahn fehlt!“ klagte sie tonlos.
Martin fasste sie erschauernd bei den Händen und zog sie an sich, während draußen ein Unwetter grollte und das Stüblein in fahles Licht tauchte. Forschend schaute er sie an und stieß mit vor Erregung heiserer Stimme hervor: „Claudia - um Gottes willen ... er hat ihn doch nicht etwa verschluckt, den Zahn ?“
Schwer lastete die bange Ungewissheit im Raum, doch dann gab sich Claudia einen Ruck.
„Ich werde kommen!“ erklärte die Zahnmedizinische Fachangestellte fest. „Mein Vater hat mich gerufen, und ich werde zur Stelle sein, mit Abdrucklöffel und Gummipott!“
Flammend vor Hingabe stand sie da, und in den langen, seidigen Wimpern schimmerte wie schon so oft eine Träne.
Wie ein Schwindel ergriff es Martin! „Süßes Mädel!“ stammelte er, denn er hatte sich nach all den Jahren im Dienste des Grafen dessen ein wenig altertümliche Ausdrucksweise angewöhnt, und eine heiße Woge der Zärtlichkeit durchwallte sein Herz. Ja, er wollte es beschützen, dieses holde Kind, fürder und fürder!
Glühenden Blickes und im Sturmgebraus seiner Sinne kniete Martin schon vor ihr nieder, als ein peitschender Knall die leicht stickige Luft zerriss: Die wenngleich elastisch vernähte Gesäßnaht seiner neuen doublestitched Jeans war geplatzt!
Brennend vor Scham glühte Martins Kopf, wobei der/die geneigte Leser/in beachten möge, daß flammende Hingabe, eine heiße Woge der Zärtlichkeit, ein glühender Blick, brennende Scham und ein glühender Kopf in so rascher Folge nur annähernd jene gleichsam überkochende Jugendhitze zu beschreiben vermögen.
Jedenfalls traf es sich gut, daß nunmehr durchs Fenster ein kühler Abendwind Martins Hinterteil umfächelte.
Aus Claudias Antlitz aber wich nun alles Blut, denn hinter Martin hing ein Spiegel. Mit letzter Kraft strich sie ihm lind übers Haar: „Gehen Sie nun, Martin - für heute habe ich genug gesehen ...“
Hilflos schaute er zu ihr auf, doch dann erhob er sich und stürzte ebenso eilig wie rückwärts zur Tür - zur Kutsche jedoch lief er wieder vorwärts, was ein mütterliches Lächeln auf Claudias Züge zauberte. Und während die Rösslein davonsprengten, sank sie selig in ihre kürzlich entklumpten Halbdaunen und träumte einem neuen Tag und der herrschaftlichen Einladung zum Tee entgegen.