Читать книгу Drei im Himmelbett - Hermann Bärthel - Страница 4
Claudia im Schlafwagen des Dr.med.dent. Hieronymus Caldeherz; Träume unter Gummibaum und Speibecken.
ОглавлениеDer nächste Morgen sah eine andere Claudia. Eine heiter summende junge Frau schaltete und waltete in ihrem kleinen Reich; endlich all der dräuenden Sorgen um ihre Zukunft ledig, knisterte sie unbeschwert ihr Müsli - was an sich schon erstaunlich ist, denn normalerweise knistern keine Personen ein Müsli oder anderes, sondern es knistert einfach so, vielleicht im Gebälk oder im Stroh - und schlürfte so ganz unbeobachtet und lauthals ihren Brombeertee. Ja, schließlich entgluckste ihr sogar ein kleines Bäuerchen, was sie mit einem übermütigen Kichern quittierte.
Nach all dem Knistern und Entglucksen aber schritt sie nun energisch ausholend zur Bushaltestelle und schaukelte alsbald ihrer alltäglichen Wirkungsstätte als ZFA entgegen, der zahnärztlichen Praxis des Dr.med.dent. Hieronymus Caldeherz.
Caldeherz, ein schon leicht kahlköpfiger und sich umso juveniler gerierender Mittfünfziger, hatte die Angewohnheit, unbeobachtet vom Patienten, Claudia bei der Verrichtung ihrer Obliegenheiten mit gelegentlichen leisen Schnalzlauten zu überraschen, wobei nicht immer klar war, ob dergleichen aus Bewunderung für die Eleganz ihrer Handgriffe oder als etwas ungeschicktes Anbaggern zu verstehen sei.
Jedenfalls schnalzte er an diesem Morgen sogleich bei ihrem Eintritt in rascher Folge, was Claudia zwar erstaunte aber nicht davon abhielt, wie immer heiter summend das blitzende Speibecken nebst Trinkbecher für die Patienten vorzubereiten. Plötzlich aber spürte sie, wie der heiße Atem ihres Chefs auf ihrem Hals lastete und er sie nach einem weiteren Schnalzer ungeschickt zu umarmen suchte.
Doch leichtfüßig und mit silberhellem Lachen entwich sie ihm und bat schon den ersten Patienten herein.
Dunkel glomm Caldeherz' Blick auf, aber dann hatte er sich gefasst und bohrte sich emsig dem vierten Mietshaus entgegen. Und nach drei unverhofften Goldinlays klang sein „Bitte absaugen...“ fast heiter; nur als Claudia wegen ihres leichten Silberblicks die Saugpumpe dem Patienten wieder einmal an den Kragen statt in den geöffneten Mund hängte, brummte er halblaut: “Dummerchen - doch nicht die Schuppen ...“
So verging der Vormittag, die letzte Patientin erholte sich unten im Döner-Imbiß, Claudia schaute noch einmal träumerisch über Einheit und Gummibaum und wandte sich mit einem fröhlichen „Tschühsserdokter!“ zur Tür, da ... da legte sich eine schwere Hand auf die Klinke, und Caldeherz murmelte mühsam beherrscht: „Claudia, bitte! Kommen Sie! Nur einmal! Alles will ich für Sie ... Bitte! Bittebittebitte!“
Und damit drängte er die heftig Widerstrebende ungestüm zu einer Tür, die sonst immer verschlossen war, und hinter der Claudia bisher eine Art Nickerchen-Kammer für ihren Chef vermutet hatte.
Jetzt aber schloss er mit der linken Hand auf, wobei er mit der rechten Claudia am Ärmel ihrer duftigen Sommerbluse hielt. Da sich der Ärmel dieserhalb recht unvorteilhaft und irreparabel verlängerte, trat sie dem Doktor wütend gegen sein Schienbein, und beide torkelten unterschiedlich lädiert in das Zimmer.
Zu Claudias Überraschung fand sich dort aber nichts, was auf entspannende Mittagsnickerchen schließen ließ, nicht mal ein spartanisches Ruhemöbel; stattdessen erstreckte sich entlang dreier Wände eine nach allen Regeln hanulliger Wissenschaft aufgebaute Modelleisenbahnanlage mit aus Bausätzen errichteten Bahnhöfen, Brücken, Unterführungen, Kehrschleifen, einem Ablaufberg, unzähligen Abstellgleisen, Häuschen - worunter Claudia entgeistert auch ihr bis ins letzte Detail nachgebildetes Gartenidyll gewahrte - und schließlich sogar noch einen Schattenbahnhof unter der Anlage, zu dem sich die Schienen in blinkenden Kreisen hinunterringelten.
Immer noch sein Schienbein reibend und so in unfreiwillig unterwürfiger Stellung verharrend keuchte nun Caldeherz: „Claudia! Teuerste! Alles habe ich aufgebaut für Sie, nur für Sie! Meine schönste Lok trägt Ihren lieben Namen - 'Claudia'! Im Speisewagen wird Brombeertee serviert, im Schlafwagen ...„ - hier hielt er erschrocken inne - „... im Schlafwagen ist alles zu Ihrer Bequemlichkeit ... ich selbst ruhe einstweilen im Gepäckwagen ... wenn ich nur in Ihrer Nähe sein darf! Bitte, bitte geben Sie freie Fahrt!“ Und wie um seinen Beteuerungen Nachdruck zu verleihen, hob er eine Signalkelle und pfiff gellend, wobei er eine rote Dienstmütze schwenkte.
Doch keine Lok setzte sich summend, rasselnd oder fauchend je nach Alter und Baureihe in Bewegung, denn die Gewerkschaft der Lokführer hatte zu einem neuerlichen Streik aufgerufen. Auch wurde im Speisewagen kein Brombeertee serviert, wie Claudia durch einen raschen Blick feststellen konnte.
Die Sache war also gründlich verfahren, obwohl alles stillstand, und Claudia sprach nun begütigend auf den Lok- und Lockenlosen ein, denn sie spürte wohl, wie ihm ein großer Traum zerrann. Bleich und mutlos nickte Caldeherz zu allem, was sie über ihre Einladung auf das gräfliche Schloss, den alten Vater und seine zerbrochene Zahnprothese berichtete, aber dann schien er seine Fassung zurückgewonnen zu haben, denn er unterbrach sie hastig und bot sogleich seine Hilfe an, denn jetzt sah er Claudia in einem ganz anderen Licht - eine reiche Adelsfamilie ... lauter Privatpatienten! Überschwänglich gratulierte er ihr und erbot sich sogar, sie in seinem eigenen Wagen zum Schloss ...
Aber sie stieg bereits die Stufen hinab und begegnete leider der letzten Patientin, die ihr, aus dem Döner‑Imbiss kommend, eine Füllung entgegenstreckte und mit weit offenem Mund auf die nunmehr leere Zahnruine wies. Claudia taumelte benommen zurück, denn der Döner war offenbar heftig gewürzt gewesen, und strauchelte ein wenig, wobei sie eine Hacke verlor. Der Weg zum Schloss wurde so zwar etwas beschwerlich, aber als vom Schlossturm vier Glockenschläge klangen, stand sie doch endlich vor der prächtigen Residenz.