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Steve

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Steve rubbelte die Haare trocken. Er war zufrieden, weil das Wasser bis zum Schluss warm blieb. Er hasste es, die Seifenreste kalt abspülen zu müssen, was oft genug vorkam. Die Dusche nach dem Morgenlauf in der 0,5G-Schwerkraftzone war das Ritual, mit dem er den Tag startete. Er lief abseits der erlaubten Strecken, um niemanden zu begegnen. Konversation vor dem zweiten Kaffee grenzte an Okkultismus.

Die Umrisse im vom Dampf beschlagenen Spiegel zeichneten seinen schlanken, hochaufgeschossenen, kräftigen Körper ab. Steve entsprach dem Idealbild des Kolonisten: gute Ausbildung, gesund und er machte sich keine unnötigen Gedanken darüber, was er heute zur Weiterentwicklung der Kolonie beitragen konnte. Für laufende Verbesserungen war Helen, seine Freundin, zuständig. Ihre politische Energie reichte für sie beide.

"Was trödelst du rum?", rief Tino gereizt.

Tino war der aktuelle Zeit-Partner von Eve, seiner Mutter. Der Kerl war in Ordnung, solange er nicht in den hör-mal-junger-Mann-Modus verfiel.

"Was ist?"

"Da schwirrt eine Zustelldrohne vor der Tür."

"Wo ist das Problem?"

"Einschreiben! Für dich."

'Vermutlich Helen', ahnte Steve und verdrehte die Augen.

"Ich komme."

Helen entwickelte sich zu einer Belastung. Dass sie eine Drohne mit einer persönlichen Nachricht schickte, war hinterhältig und zeugte von verwerflichen Charakterzügen, die ihm in diesem Ausmaß bisher nicht bewusst gewesen waren. Er strich mit den Fingern die feuchten Haare in Form, schlüpfte in die Hose, steckte das Telespeak ein und zog ein rotes T-Shirt über den Kopf. Er spürte das Tasten des Telespeaks in seinem Gehirnimplantat und akzeptierte die Verbindung.

"Wurde auch Zeit", maulte Tino, "das Ding da draußen nervt."

"Eine Zustelldrohne macht dich nervös?", lachte Steve.

Tinos Stärke waren Verschwörungstheorien. In dieser Disziplin war er Großmeister und vermutete hinter jeder öffentlichen Dienstleistung einen Komplott der Väter. Vielleicht war das ein Muss für freischaffende Journalisten. Steve tippte jedoch darauf, dass in Tinos Kindheit einiges schiefgelaufen war oder dass falsche Ernährung und Bewegungsarmut schuld daran waren. Vielleicht war auch Saturn ungünstig gestanden, als Tino das Licht der Kolonie erblickte. Tino selber bezeichnete sich als Freigeist, der den Mumm aufbrachte, die Missstände unter den Kuppeln anzusprechen und die Inkompetenz der Regierung an den Pranger zu stellen. Immer, wenn einer seiner Artikel zurückwiesen wurde, tappte er in die selbst gebaute Verschwörungsfalle und behauptete, dass die Ablehnung von oben gesteuert war.

'Die da oben mögen es nicht, wenn einer die richtigen Fragen stellt, Junge.', rechtfertigte er sein Versagen. Steve vermutete, dass Tinos Tiraden nur Ablenkungsmanöver waren, weil er im Job versagte. Er würde sich einen Gefallen machen, einen anderen, einfachen Job zu suchen. Eine monotone Arbeit, die beruhigte und sein Karma in Ordnung brachte. Zum Beispiel die Mondoberfläche entstauben.

Es gab keine Regel der Väter gegen die er nicht opponierte. Erst vor zwei Tagen wetterte er gegen die Implantationspflicht.

"Die kontrollieren uns und wenn es ihnen nicht passt, knipsen sie dich mit dem Implantat ferngesteuert aus."

"Dann wundert es mich", spottete Steve, "dass sie deine Gehirnwindungen noch nicht gekocht haben. Du behauptest doch, dass du der Stachel in ihrem Fleisch bist, der sie daran erinnert, sich zu mäßigen. Aber", fuhr er mit einem Lächeln fort, "du könntest doch Recht haben, denn manchmal habe ich wirklich das Gefühl, von Hirntoten umgeben zu sein."

"Du nimmst das auf die zu leichte Schulter, junger Mann."

"Ich weiß nicht, warum du dich aufregst. Denn selbst wenn sie uns über die Implantate beobachten: es hilft offensichtlich dabei, den Laden hier in Schwung zu halten und zu verhindern, dass sich das Desaster von damals wiederholt."

Alle Videos, die jeder Kolonist seit seiner frühesten Kindheit an kannte, bewiesen, wieviel Glück die Kolonie hatte, nicht im Sog der Großen Säuberung untergegangen zu sein. Statt zu Jammern sollte Tino dankbar sein.

Wenn jemand in diesem Haus zu Klagen Anlass hatte, dann er, dachte Steve. Es war hart, die beiden vermutlich einzigen Vertreter der Kolonie zu kennen, die in der Arbeit der Väter etwas anderes als den Willen, der Kolonie selbstlos zu dienen, sahen. Vielleicht hatte Saturn nicht bei Tino, sondern bei ihm ungünstig gestanden.

"Ihr jungen Leute seid so was von naiv. Glaubst du wirklich, dass Drohnen nur Pakete zustellen? Die haben Zusatzaufgaben. Ich sag's dir. Geheime Aufträge. Diese Dinger sind auf unsere Schwachstellen konditioniert und füttern die Datenbanken der ÜKo. Das kannst du mir glauben."

"Vorgestern waren es noch die Implantate."

"Die auch. Implantate und Drohnen ergänzen sich."

Steve winkte ab und stopfte das Shirt in den Hosenbund. Tino war höchstens zehn Jahre älter und hätte leicht sein seltsam geratener, älterer Bruder sein können, den man besser zu Hause ließ, wenn man mit Freunden feierte. Doch seine Mutter hatte eine Vorliebe für jüngere Männer mit Ödipuskomplex und Hang zu geregelten Essenszeiten. Tino passte perfekt in ihr Beuteschema.

Wenn er richtig lag, erreichte Tino bald sein Verfalldatum. Vielleicht ahnte Tino was ihm blühte und war deshalb besonders unausstehlich. Steve blickte zur Drohne hoch. Ein rotes Signal verlangte nach einem Augenscan.

Es hieß, Augenscans machen blind. Er kannte zwar niemanden, dem das widerfahren war, doch das Gerücht geisterte seit Jahren im Telespeak herum. Genau die Art von verrückter Theorie, die von Tino stammen könnte. Allerdings, dachte Steve, musste was dran sein, wenn es im Telespeak war.

"Mach schon, Memme", murmelte Steve und trat mit aufgerissenen Augen vor. Ein bläuliches Licht waberte über seine Augen. Das Signal an der Frontseite der Drohne wechselte zu grün. Sie schwebte heran und fuhr die Schublade aus. Steve sah einen Briefumschlag und atmete erleichtert auf. Der musste vom Professor sein. Helen würde nie einen Brief auf Papier schreiben.

Helen: sie war lustig und anstrengend zugleich. Sie wollte in die Politik. Politik sei, dozierte sie, der kunstvolle Drahtseilakt zwischen Dienen und Lenken. Politik sei die Matrix, die der Formlosigkeit des freien Willens Halt und Perspektiven schaffe.

Eigentlich passten sie nicht zueinander. Steve langweilte sich, wenn sie über Politik redete. Die gewählten Politiker der Kolonie besaßen ohnehin nur beratende Funktion. Es waren die Väter, die den Kurs bestimmten und die ÜKo, die ihn durchsetzte. Väter amteten auf Lebenszeit und mussten ihre Amtsführung nicht danach ausrichten, wieder gewählt zu werden. Nur so, das lernte jeder in der Schule, waren auch unbequeme Maßnahmen, die den Erhalt der Kolonie sicherten, durchführbar.

Die Regierung sorgte für die Ausbildung, garantierte jedem einen Job und stellte nur ein paar einfache Regeln auf. Wenn man sich nicht, wie Tino, mit dem Regime anlegte, wurde man in Ruhe gelassen. 'Jeder für jeden – alle für die Kolonie' war der Grundsatz, wie die Kolonie funktionierte. Genau gleich wie bei den Musketieren vor langer Zeit.

Nur Soziopaten schimpften gegen Regulierungen. Typen wie Tino und Becker, die nicht müde wurden, bedeutungslose Details aufzubauschen und wilde 'Fakten' darum herum zu basteln. Wären sie wenigstens Alkoholiker, wäre ihr Verhalten therapierbar gewesen. Mit ihren Verschwörungstheorien machten sich die beiden ihr Leben selber schwer.

Steve hingeben genoss das Leben in vollen Zügen und redete sich ein, zu Hause nur nicht auszuziehen, weil er Eve nicht enttäuschen wollte. Helen wollte ihn da herausreißen, sprach von Verantwortungsgefühl und pochte auf einen Zeitvertrag. Das klang nach Entwurzelung. Zeitverträge waren Handschellen.

"Wieder durchgefallen?", frotzelte Tino.

Steve winkte ab. Er klaubte den Umschlag aus der Schublade und bestätigte den Empfang. Die Drohne stieg höher und sauste weg. Steve blickte ihr nach. Gegen die fleckig-gelblich schimmernde Kuppel, welche die Kolonie vor der lebensgefährlichen Umwelt des Mondes schützte, bildeten ihre Umrisse einen scharfen Kontrast.

"Und?"

"Was und?"

"Durchgefallen?"

Steve seufzte. Er hatte Tino schon tausendmal erklärt, dass er sein Bauingenieurdiplom in der Tasche hatte und jetzt in Professor Beckers Institut arbeitete.

"Wahrscheinlich nicht", antwortete er gedankenverloren und drehte den Umschlag unschlüssig in den Händen. Papier! Reine Ressourcenverschwendung! Typisch Professor, der nicht nur geistig in der Welt vor der Großen Säuberung zu Hause war, sondern sich auch so verhielt.

"Was will er jetzt schon wieder", murmelte Steve und drückte einen Kaffee. Er legte den Umschlag neben sich auf den Tisch und schlürfte aus der dampfenden Tasse.

"Willst du nicht wissen, was drinsteht?"

Tino setzte sich Steve gegenüber und knabberte einen Keks. Steve beobachtete angeekelt, wie Krümel an der feuchten Oberlippe kleben blieben. Anblicke, die anwiderten, erscheinen immer wie durch ein Mikroskop vergrößert und liefen in Zeitlupe ab.

"Warum wurde das nicht übers Telespeak geschickt? So wichtig kann es doch nicht sein, wenn es für dich ist."

Tino grinste breit. Steve hoffte, dass seine Mutter einen Tinoersatz heimschleppte, der einen richtigen Job hatte und nicht am Frühstückstisch rumnervte.

"Ist von meinem Professor. Der schickt nie was über Telespeak."

"Der weiß warum!", nickte Tino wissend. Ein Krümel löste sich, klackte auf den Tisch und fiel zu Boden.

"Dein Professor ist clever. Der weiß genau, dass uns die Väter an der Nase herumführen und die fetten Brocken für sich abzweigen."

"Blödsinn."

"Meinst du? Junge, mach die Augen auf! Seit Jahren ist alles gleich, seit Generationen wurde keine neue Kuppel gebaut. Nicht mal Nummer 10 haben sie repariert."

"Der Meteor der damals in Zehn reinkrachte, hat alles zerstört. Da gibt's nichts mehr zu reparieren."

"Du glaubst das Märchen mit dem Meteor? Werd endlich erwachsen. Die ÜKo hat die Kuppel platt gemacht, um den Technikeraufstand nieder zu schlagen."

"Ja, ja. Technikeraufstand. Es war ein Meteor, der vor 50 Jahren einschlug. Hast du die Videos nie gesehen?"

Tino seufzte. Keiner wollte die Wahrheit erkennen. Er wusste aus vertrauenswürdigen Quellen, dass damals eine Revolte der Techniker rücksichtslos niedergeschlagen wurde. Seit damals war die Kolonie nicht mehr in der Lage, alle Systeme sauber zu warten.

Sandgestrahlte Kolonisten wie Steve waren blind für solche Tatsachen. Sie verschlossen ihre Augen und glaubten wie Kleinkinder, dass da nichts ist, wo man nichts sieht. Für diese Ameisen legte das Regime die Duftspur, an der entlang sie blind durchs Leben stolperten. Wenn sich die Väter räusperten, warfen sich die Ameisen ehrfürchtig in den Mondstaub nieder.

"Wo war ich?"

Steve zuckte desinteressiert mit den Schultern.

"Ich hab's wieder: der Laden stagniert. Ich glaube, die Väter verheimlichen uns, wie schlecht es wirklich um die Kolonie steht. Darum haben sie damals auch die künstliche Schwerkraft in den Kuppeln abgestellt."

"Was für ein Quatsch! Die sind nicht abgestellt, sondern reduziert. Außerdem weiß jeder, dass es für den Körper gesünder ist, nur der Mond- und nicht der Erdschwere ausgesetzt zu sein. Das sieht man alleine schon daran, dass wir grösser sind als Erdlinge jemals waren."

"Falsches Väter-Palaver. Wenn es so gesund wäre, wie die da oben behaupten, warum gibt es trotzdem noch 0,5 und 1G-Zonen? He? Doch irgendwann werden sie über ihre eigenen Lügen stolpern. Du wirst es noch erleben. Dein Professor voll den Durchblick."

Steve winkte ab. Becker war ein weltfremder Phantast, der nicht müde wurde, die Altzeit zu verehren. Eine Vergangenheit, die Milliarden Menschen das Leben kostete und nicht mehr von Belang war.

Was nutzte es zu wissen, dass vor dem Großen Rumms ein gewisser Jesus mit einem gewissen Obama die Magna Charta geschrieben hatte, Tut-Ench-Amun daraufhin mit den Tempelrittern Napoleon besiegte, weil sich dieser anschickte, die Francophonie flächendeckend einzuführen. Das lag alles weit zurück und die Kolonisten taten gut daran, den Verrücktheiten der Altzeit keine Beachtung zu schenken. Die Kolonie entging dem Konflikt, der vor zweihundertfünfzig Jahren die Erde überzog, den größten Teil der Menschheit dahinraffte und die technischen Errungenschaften zerstörte. Zurück blieben Ruinen, verpestete Luft und Elend. Und ein paar Millionen Menschen, die sich heute noch bei jeder Gelegenheit die Köpfe einschlugen. Wenigstens war das mittlerweile solides Handwerk und wurde nicht mehr ferngesteuert.

Es war vorbei und diejenigen, welche das ganze Chaos in Gang setzten, waren genauso zu Staub zerfallen wie ihre Opfer. Die große Säuberung war nur noch eine flüchtige Erinnerung und Becker das bärtige Relikt davon, das irgendwie überdauert hatte.

"Wilde Theorien", seufzte Steve und drehte den Umschlag in seinen Fingern.

"Falsch. Nur weil du die Augen schließt, ist nicht alles in Ordnung. Ich sag's dir!", lachte Tino humorlos auf, "Ihr jungen Leute, du und deine Saufkollegen, merkt nicht einmal, dass ihr nur denkt und redet, was die Väter euch erlauben zu denken und zu reden. Aber echt jetzt!"

Tino schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

"Wer anders denkt, der bekommt sein Fett weg. Leute wie ich, die zu sagen wagen, was krumm läuft."

"Die Kolonie funktioniert nur, wenn alle mitziehen. Du lässt dir einen kranken Zahn ja auch ziehen, bevor er dich völlig lahmlegt."

"Du hast keine Ahnung", widersprach Tino heftig.

"Deine Artikel werden nicht veröffentlicht, weil sie Unsinn sind und die Leute beunruhigen, obwohl es keinen Grund dafür gibt."

"Quatsch. Die da oben haben nur Angst, dass ihre Schäfchen anfangen nachzudenken. Wer denkt, stellt Fragen. Das fürchten die Väter."

Steve wandte sich ab. Tino hatte keine Ahnung, wusste nicht Bescheid über den Professor. Wusste nicht, dass er einer seltsamen Sekte, die sich die Katholiken nannte, angehörte und daran glaubte, dass ihr Religionsstifter, der Jesus mit der Magna Charta, die Fähigkeit gehabt haben soll, Wasser in Wein zu verwandeln und anschließend darüber zu gehen. Märchen! Bei der Schwerkraft auf der Erde war es unmöglich, über Wasser oder Wein zu gehen.

Es war einfach so, dass Becker nie etwas über Telespeak tat. Steve vermutete, dass der Professor gar nicht wusste, wie Telespeak funktionierte.

Er riss den Umschlag auf. Papier roch widerlich! Der hohle Abgesang von getöteten Pflanzen. Er zog einen gefalteten Zettel aus dem Umschlag.

"Und?"

Steve grinste und hielt Tino den Zettel hin. Er griff gierig danach. Papier hatte er weiß Gott wie lange schon nicht mehr gefühlt. Er blickte erwartungsvoll auf die Notiz. Seine Mundwinkel rutschten nach unten.

"Er erwartet dich in der Uni. Ist das alles?"

Er reichte den Zettel enttäuscht zurück.

"Ja."

"Und dafür treibt er einen solchen Aufwand? Der Kerl ist verrückt!"

"Eben hast du ihn noch als cleveren, vorausschauenden Skeptiker, der sich nicht alles auf die Nase binden lässt, bezeichnet. Die Wahrheit ist, dass Becker unter Verfolgungswahn leidet. Er hat dauernd das Gefühl, dass er einer großen Sache auf Spur ist, die ihn zum Ziel für Spionage und Abhöraktionen mache."

"Genau meine Rede. Sag ich doch…"

"Er ist ein Spinner! Wenn es um verrückte Verschwörungstheorien geht, stellt er dich problemlos in den Schatten."

Steve tippte auf den Zettel.

"Und Becker schreibt noch, dass ich vorsichtig sein und mich vergewissern soll, dass ich nicht beschattet werde."

"Wer sollte das tun? Dafür gibt's doch die Implantate"

"Eben!"

"Vielleicht hast du Recht", meinte Tino schulterzuckend und schnappte den nächsten Keks.

Die Endzeitpropheten

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