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Prähistorik

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Steve starrte grübelnd auf die Innenseite des Kabinenfensters der Metro. Er registrierte die vorbeiflitzenden Lichter der Notausgänge des Tunnels kaum. Sein Blick klebte an seinem Spiegelbild, das gedankenverloren zurück glotzte. Er setzte sich auf und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Spiegelung im Fenster. Auf der anderen Seite, um eine Sitzreihe verschoben, saß ein Mann, der mit seinem Telespeak herumfummelte. Er kannte denn Kerl nicht. Steve fuhr die Strecke mehrmals pro Woche und kannte jeden, der diese Strecke fuhr. Der Mann blicke kurz auf. Steve zuckte zusammen, als er seinen stechenden, prüfenden Blick sah.

Das Gespräch mit Tino und die Warnung Beckers fielen ihm ein. Der Gedanke, dass ihn ein Häscher der ÜKo verfolgte, erregte ihn. Es war ein Abenteuer, wie es Jerry Cotton, sein favorisierter Buchheld, jeden Tag erlebte. Es fühlte sich auf eine sonderbare Art belebend an, beängstigend und spannend zugleich.

'Ich hatte zulange mit Becker und Tino Kontakt', verscheuchte er den Gedanken.

Doch beunruhigende Gedanken finden immer ein Hintertürchen, durch das sie ins Bewusstsein zurückdrängen. Mit beunruhigenden Gedanken war es wie mit Nasenpopel an den Fingern: egal was man anstellte, er klebte einfach woanders. Oder wie mit vielen der verruchten Gerüchte, die in der Kolonie hinter vorgehaltener Hand kursierten. Manchmal im Spaß geäußert, manchmal mit stirngerunzeltem Ernst zur Sprache gebracht. Gerüchte, wie das von der Metro, das Becker so nebenbei während eines Arbeitsmeetings erwähnt hatte.

"Sie wissen doch, dass die Metrotunnels in großen Kreisen mehrfach um die Kuppeln führen."

"Ich verstehe nicht…"

Eben hatte Becker noch vom galoppierenden Zerfall der Kolonie gesprochen. Jetzt brabbelte er unvermittelt über die Metro.

"Die Metro fährt zusätzliche Bögen und Kreise. Damit versuchen die Väter die Kolonie grösser erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich ist."

"Professor. Was hätten sie davon?"

Becker trat nahe an ihn heran und stach ihm seinen Zeigefinger mehrmals in die Brust. Eine Marotte, die Steve besonders hasste.

"Ich glaube, Leute verschwinden", Becker hustete, "ich habe das Gefühl, dass in der Kolonie weniger Bewohner leben, als überall behauptet wird."

"Liegt das nicht eher an der Einkind-Empfehlung der Väter? Eine Frau – ein Kind?"

"Die ist aufgehoben. Schon eine ganze Weile", konterte Becker, "das kann nicht der Grund sein, warum immer weniger Leute in der Kolonie leben."

"Trotzdem, wenn ich es mir überlege, Herr Professor, dann sind alle meine Kumpels Einzelkinder."

"Aha! Und was schließen sie daraus?"

"Dass es für die Frauen bequemer ist?"

Becker schnaubte unwillig.

"Falsch! Die Väter steuern es, damit in der Kolonie weniger Mäuler gestopft werden müssen."

"Und warum sollten die Väter so etwas tun?"

"Um uns zu täuschen. Um Fragen auszuweichen und nicht zugeben zu müssen, wie übel es um die Kolonie tatsächlich steht. Dass wir nicht mehr in der Lage sind, so viele Mäuler zu stopfen wie vor hundert Jahren."

Steve grinste seinen Vorgesetzten frech an.

"Tatsache ist, dass die Kolonie immer mehr von der Erde abhängig ist. Aber man spielt das herunter, verharmlost es, behauptet, dass es nur Ergänzungen der eigenen Produktion sind. Glauben sie mir, man täuscht uns, um nicht mit den Tatsachen herausrücken zu müssen. Zum Beispiel die, dass wir die Nahrungsmittelversorgung nicht mehr auf die Reihe kriegen. Man täuscht uns, damit wir nicht merken, dass wir wie ein Fötus am Nabel der Erde hängen."

Becker überraschte ihn immer wieder mit phantasievollen Märchen und konnte Gegenargumente problemlos ignorieren. Er ließ keine Gelegenheit aus alles, was schief lief, den Vätern anzukreiden.

Steve wunderte sich, dass Becker überhaupt unterrichten durfte. Was er manchmal von sich gab untergrub die Regeln der Kolonie und stellte Gesetze in Frage. Üblicherweise verstand die ÜKo in solchen Fällen keinen Spaß. Kaum eine Woche, wo im Telespeak nicht verkündet wurde, dass ein Querschläger verhaftet und zur Umerziehung eingewiesen wurde.

Steve vermutete, dass die Väter und die ÜKo genug echte Probleme zu bewältigen hatten, um den über zwei Millionen Kolonisten und den heldenhaften Beamten, die auf der Erde ihren schweren Dienst taten, das Überleben zu sichern. Becker wurde wohl zu Recht als lächerlicher, harmloser Narr eingestuft.

"Wenn sie mich fragen, wird die Kolonie bald aufgegeben, aber wenn es soweit ist, mein Freund, dann gehen die Probleme erst richtig los."

"Dazu wird es nie kommen, Herr Professor."

Becker überging den Einwand: "Schon heute könnte die Flotte nicht alle Kolonisten evakuieren – die meisten würden hier oben krepieren. Würde mich nicht wundern, wenn die Väter das mit einkalkulieren und sämtliche unangenehmen Elemente zurücklassen."

Meistens gelang es Steve, Beckers Worte nicht ernst zu nehmen. Im Gegenteil: Beckers Geschichten waren auf eine gruselige Art ansteckend. Gerade richtig, um einer drögen Party Schwung einzuhauchen. Die Kunst dabei war, den angsteinflößenden Teil ins Groteske zu ziehen. Aber Becker und Tino, die meinten es ernst.

Sicher, es war nicht alles perfekt. Stromausfälle, dicke Luft ab und an oder Lücken im Nahrungsangebot – damit konnte man leben. Nur die älteren Leute, zum Beispiel seine Mutter, behaupteten, dass früher alles besser gewesen sei. Vermutlich spielte den Leuten das nachlassende Gedächtnis einen Streich, denn für alle Pannen gab es logische Erklärungen: Meteoritenschwärme oder Photonenstürme, welche die Transportflotte zu Umwegen zwangen. Reparatur- und Wartungsarbeiten an der Infrastruktur. Steve sah keinen Grund, an den offiziellen Informationen zu zweifeln.

Er zuckte zusammen, als sich der Mann erhob und zum Ausgang strebte. Er nickte ihm knapp zu und blickte anschließend stur auf die Schwenktür. Lichter an den Wänden des Tunnels signalisierten, dass die nächste Station nah war. Industrie.

Wie ein Ingenieur der Wartungskolonne sah der Mann nicht aus. Steve kannte den mürrisch-angewiderten Gesichtsausdruck der Leute, die sonst hier ausstiegen. So krampfhaft unbeteiligt wie der da vor dem Ausgang stand, musste er ein Agent sein. Aber höchstens B-Liga, ein Neuling ohne Praxis. Ein Kandidat in der Schnupperstunde.

Steve wusste von Jerry Cotton, wie ausgefuchst echte Agenten agierten. Der Hilfsschnüffler da am Ausgang hatte keine Ahnung! Die ÜKo hatte sich verrechnet: ihr Spitzel war bereits aufgeflogen, bevor er den ersten Buchstaben in den Bericht schreiben konnte.

Steve lehnte sich selbstgefällig zurück. Egal was der Agent noch auf Lager hatte, er war gewappnet.

Die Bahn stoppte und der Mann stieg ohne weiteren Blick aus und eilte zum Förderband, welches ihn aus dem Blickfeld beförderte.

Einen Augenblick lang schwankte Steve zwischen Bedauern über das entgangene Abenteuer und Erleichterung.

"Gut, dass meine Zeit bei Becker in drei Monaten um ist", seufzte Steve halblaut.

Becker!

Wahrscheinlich würde er nur auf einem Stuhl sitzen und Becker dabei zusehen müssen, wie er wilde, faktenfreie Theorien auf die Projektionsfläche kritzelte. Im Unterricht hielt sich Becker an den staatlich geprüften Lehrinhalt und vermittelte gewissenhaft und langweilig die Fakten zur Geschichte der Erde von vor der Großen Säuberung.

Die Vorlesungen waren erträglich, aber die Workshops bogen Steves Belastungsgrenze bis kurz vor den Splitterbruch durch. In den Workshops kochte Beckers Spleen hoch und er dozierte unermüdlich über Endzeitpropheten, ihre Werke und davon, dass sie die Große Säuberung vorausgesagt hatten. Die Workshops waren Steve ein Greuel und sicherlich mit ein Grund für seinen Alkoholkonsum, den Eve sorgenvoll kritisierte.

Die letzte Station vor der Uni flitzte vorbei. Er verstand sein Spiegelbild, das ihn mürrisch entgegenblickte. Steve erinnerte sich an die Zeit, als er die Assistenzstelle antrat. Anfangs versuchte er, den brachial ungelenken Thesen seines Professors zu folgen. Schließlich bekam er Geld für seinen Job.

In ihrem Kern waren diese Thesen weniger wissenschaftliche Arbeit als an den Haaren herbeigezerrte Ketten von realitätsentblößten Behauptungen. Beckers Monologe starteten mit wackligen Fakten, die auf einem bröckeligen Fundament basierten, anschließend ungestüm in nicht vorhandene Korrelationen gepresst und schließlich fantasievoll interpretiert wurden. Es hatte Vieles mit Tinos Verschwörungstheorien gemein.

Oft stoppte der Professor mitten in der Arbeit, trat einige Schritte zurück, studierte die wilde Skizze an der Wand und murmelte von 'gesellschaftszersetzenden Erkenntnissen oder 'wenn dass die Väter wüssten…' und löschte die Darstellung, ohne sie vorher abgespeichert zu haben. Meist zückte er dann ein kleines Büchlein, das er stets in der Jackeninnentasche bei sich trug, machte einige Notizen, bemerkte Steve und schickte ihn nach Hause.

Normalerweise gelangte Becker zu keinen Schlussfolgerungen, lief nervös auf und ab und fluchte über die Väter, die wichtiges Informationsmaterial über die Geschichte der Altzeit zurückhielten.

Manchmal stand er mit leichter Panik im Blick vor seinen Aufzeichnungen und verstand nicht, was er sah. In diesen Augenblicken fühlte sich Steve eins mit seinem Arbeitgeber.

Mit der Zeit überwand Steve seine Skrupel und konzentrierte sich auf den Unterhaltungswert von Beckers Beschuldigungsorgien. Er ergötzte sich an den mannigfaltigen Ausdrücken mit denen Becker die Väter, ihr Regime und die Schergen der ÜKo beschimpfte.

Steve ahnte, dass Becker ein ungemein erfolgreicher Abenteuerroman-Autor gewesen wäre, wenn er vor der Großen Säuberung gelebt hätte.

Das war vielleicht die Gemeinsamkeit, die ihn mit Becker verband: beide drifteten gerne in fantastische Welten ab.

Trotz des Unsinns, den Becker oft von sich gab, fühlte Steve die Kraft, die in diesem zu klein geratenen Mann steckte. Ein einziges Mal wagte Steve einen kleinen Aufstand.

"Herr Professor, ich verstehe die Komplexität ihrer Aufzeichnungen nur ansatzweise. Ich befürchte, ich kann keinen Beitrag beisteuern, der ihnen von Nutzen wäre."

Becker brach seinen laufenden Monolog abrupt ab, nuckelte hastig an seiner Pfeife und hob seinen Finger: "Ich brauche einen Sparringspartner. Einfach jemand, der zuhört. Aber nicht so ein Automat, sondern jemand, der, theoretisch wenigstens, in der Lage ist, Widerrede zu geben. So erkenne ich eher Fehler und Irrwege, die ich gedanklich eingeschlagen haben könnte und kann korrigieren."

Am Ende gelangte Steve zur Einsicht, dass er genau genommen zu wenig Geld dafür erhielt, um den Ausführungen des Professors vorbildlich zu folgen. Steves Rolle war eine, die jeder gemeine Psychorobo im Standby erledigte: so tun, als ob man zuhörte und nichts dabei denken.

In der Folge reduzierte Steve seine Rolle radikal auf bloßes Dasitzen und gelegentlichem Nicken, wenn Becker rhetorische Fragen in die Luft blies oder zufällig ins seine Richtung blickte.

Becker brauchte keinen Sparringspartner, sondern Publikum.

Der Zug tauchte aus dem Tunnel auf. Eine kurze Strecke nur, wo die Bahn einen Krater durchquerte und der Blick zum Himmel frei war. Manchmal sah man die Erde, die wie auf schwarzen Samt gebettet im All schwebte.

Der Anblick der Erde war der einzige Bezugspunkt zu seinem Nachdiplomstudium. Steve wunderte sich, dass dieser Studiengang überhaupt durchgeführt wurde. Der wissenschaftliche Nutzen des Institutes für Prähistorik konnte sich durchaus mit dem Angebot des Institutes für vergleichende Irrelevanz messen.

Prähistorik war Steve egal. Es gab nur zwei Gründe, warum er dieses Studium startete. Der erste Grund war Ann, der er damals nachstellte. Als er erfuhr, dass sie zum Informationsabend bei Becker wollte, ging er auch hin und stellte ein paar kluge Fragen, um seine Angebetete auf sich aufmerksam zu machen. Er wollte ihr mit Scharfsinn imponieren. Diese Taktik hatte ihm Florian aufgeschwatzt.

Sie ignorierte ihn. Dafür wurde Becker auf ihn aufmerksam und redete nach der Informationsveranstaltung auf ihn ein. So verpasste Steve die Metro und die Möglichkeit Anns Interesse mit der anderen Taktik, unverschämt zur Schau gestellter Männlichkeit, zu gewinnen.

"Sie sind wie geschaffen für die Prähistorik. Sie stellen die richtigen Fragen", erklärte der Professor begeistert. Sein Assistent grinste breit.

"Was soll ich mit Prähistorik? Ich schließe in einigen Wochen mein Bautechnik-Studium ab."

Becker lachte auf.

"Bautechnik? Da werden Sie auf absehbare Zeit keinen Job finden. Haben sie nicht bemerkt, dass in den Kuppeln nichts Neues gebaut wird? Ein paar Reparaturen da, ein paar Anbauten hier. Meistens nur höhere Türen, weil die Kolonisten immer grösser werden. Aber nichts, wozu man einen gut ausgebildeten Bautechniker braucht", er stutzte einen Augenblick und zog eine E-Pipe aus dem Jackett, "sie erlauben doch?"

Steve zuckte die Schultern und der Professor zog schmatzend an seiner Pfeife.

"Auf der Erde rauchen sie echten Tabak", meinte er nebenher.

"Sie waren auf der Erde?", fragte Steve beeindruckt.

"Ich? Nein. Aber ich reise da mal hin. Vielleicht einige Theorien nachprüfen. Studienreise – hab ich vertraglich zugesichert."

Steve sah über Beckers Schultern hinweg, wie der Assistent die Augen verdrehte.

"Wo waren wir?"

"Bautechnik", sagte der Assistent.

"Richtig, danke. Haben sie sich schon gefragt, warum keine neuen Bautechniker gebraucht werden? Die fehlende Bautätigkeit ist ein deutliches Zeichen, dass es um die Kolonie schlecht steht. In der Baubranche brauchen sie keine neuen Leute. Die wenigen, die da beschäftigt sind, sind obrigkeitskonforme, alte Hasen die wissen, wann man den Mund zu halten hat."

Steve war verwirrt: "Was hat das mit Prähistorik zu tun?"

"Ah", Becker zog seine E-Pipe aus dem Mund und tippte den Stiel, an dem ein Speichelfaden hing, auf Steves Brust.

"Richtige Frage, schon wieder! Ich behaupte, dass heute dasselbe abgeht, wie schon damals vor der Großen Säuberung."

"Ja?"

Becker blickte Steve in die Augen. Er erkannte, dass dieser Junge noch nicht reif war für kontextbezogene Gedankengänge. Doch er wollte ihn haben. Er vermutete, dass hinter diesem, vom Ausbildungssystem der Kolonie fehlgeleiteten Jungen, mehr steckte. Er räusperte sich, steckte die Pfeife wieder in den Mund und dozierte weiter.

"Selbst, wenn sie der Prähistorik als solches momentan nichts abgewinnen können, wäre das Studium aus einem anderen Grund hilfreich für sie. Die Prähistorik betrachtet auch Aspekte der alten Architektur. Ein Wissen das, kombiniert mit ihrem Wissen der lunaren Bautechnik, später von großem Nutzen sein kann. Das steigert ihre Chancen, tatsächlich eine befriedigende Aufgabe im Baubereich zu finden."

"Meinen Sie?"

"Das versichere ich Ihnen…"

Steve schrieb sich bei Becker ein, noch immer in der Hoffnung, Ann würde dasselbe tun. Sie tat es nicht, dafür war sie kurz darauf mit Florian zusammen. Steve war einer von nur dreien, die sich nach diesem Informationsabend bei Becker einschrieben. Und es stellte sich heraus, dass es im Bausektor tatsächlich keine Jobs gab.

Da Becker sich weigerte, seine Vorlesungen im Telespeak zu halten, mussten seine Studenten persönlich zur Uni traben. Der tägliche Gang zur Uni kam Steve recht, weil er sich so von Tino fernhalten konnte. Ein weiterer Vorteil dieser Vorlesungen war das üppige Platzangebot im Hörsaal. Von den zwanzig Plätzen waren meistens kaum mehr als sechs oder sieben belegt. Schließlich erkannte er erstaunt, dass die Prähistorik was für sich hatte, wenn man nicht alles für bare Münze nahm und einfach Spaß an Geschichten hatte. Es war fast wie in den alten Büchern, die Steve so mochte, nur dass der Held am Ende die Frau nicht kriegt.

Nach knapp einem Jahr ernannte ihn Becker zu seinem Assistenten.

Das Telespeak summte. Helen! Er ignorierte den Anruf. Schließlich hatte er wichtigeres zu tun und konnte seine Konzentration nicht wegen einer hysterischen Frau fallen lassen. Helen selber verlangte ja immer wieder von ihm, sich zu fokussieren. Heute fokussierte er sich auf die Arbeit.

Die Endzeitpropheten

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