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Das verschollene Evangelium

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Die Bahn tauchte in das Tunnel auf der gegenüberliegenden Seite des Kraters ein und wischte den Himmel und die Gedanken weg. Einige Minuten später stoppte der Zug im Uni-Terminal. Steve stieg aus und eilte die Treppe hoch. Er hielt den Batch ans Lesegerät. Lautlos schwenkte die Tür zur Uni auf.

'Das muss mein Tag sein', dachte er amüsiert, weil die Automatik auf Anhieb funktionierte.

Das quietschende Geräusch der aufsetzenden Sohlen während seines Schwebeganges hallten hohl von den Wänden zurück. Einige Leuchtröhren waren blind, andere flackerten als ob sie dagegen protestierten, am Wochenende arbeiten zu müssen.

Die kalte, seelenlose Umgebung jagte Steve Schauer über den Rücken. Nicht einmal der stets mürrische Facilitymanager, den vermutlich selbst die eigene Mutter verabscheute, war zu sehen. Er vergrößerte seine Sprünge und bog in den kleinen Seitentrakt, der Beckers Institut beherbergte. Es belegte zwei Räume am Ende des Ganges: ein kleiner Vorlesesaal und gleich daneben das 'Labor', Beckers Büro und Studierzimmer. Für Steve war es oft genug die Kammer des Schreckens, weil hier die Workshops stattfanden.

Steve klopfte kurz an der Tür des Büros, bevor er eintrat. Es roch nach abgestandener Luft und anderem, was Steve nicht unbedingt wissen wollte.

Becker saß in seinem Sessel und blätterte Unterlagen durch. Steve wunderte sich schon lange nicht mehr über den verschwenderischen Protz dieses Sessels. Das Ding glich einem Thron, wie ihn die alten Könige benutzt haben mussten. Der hochlehnige, hölzerne Rahmen war ein Relikt aus vergangener Zeit – und passte hervorragend zu Becker. Die Lehne und der Rahmen waren mit Schnitzereien verziert. Auf der Lehne prangte in der oberen Hälfte ein Kreuz, an welchem ein Mann hing, der sich eindeutig unwohl fühlte, darunter eine Art Teewärmer mit Bändern. Unter dem Teewärmer kreuzten sich zwei Schlüssel. Steve hatte keinen Schimmer, was die Symbole zu bedeuten hatten. Im Kopfteil prangte die Jahreszahl 2048, das Jahr der Großen Säuberung.

Becker blickte hoch begrüßte seinen Assistenten mit einem Kopfnicken.

"Ich dachte schon, die Nachricht habe sie nicht erreicht. Bei den Drohnen weiß man nie. Gut sind sie hier. Hatten sie Probleme?"

"Nein", sagte Steve. Becker brauchte nichts von dem Mann in der Metro zu wissen. Solange Becker keine Verschwörungen witterte, konnte das hier zeitlich glimpflich ausgehen.

"Kommen sie, ich muss ihnen etwas zeigen."

Der Professor legte sein Hauptdokument, wie er es nannte, auf den Stehtisch und strich es flach.

"Das wird sie begeistern."

Steve trat heran und blickte angewidert auf das Papier. Er kannte dieses wirre Durcheinander von eingekreisten Wörtern und Verbindungslinien zwischen diesen Ovalen. Becker hatte ihm einst erklärt, dass diese Methode 'vernetztes Denken' hieße und im Goldenen Zeitalter gang und gäbe war.

'… bis die Mächtigen dahinter kamen, dass vernetzt denkende Menschen gefährlich sind. Danach führten sie das Spezialistentum und die Technokratie ein...' geistere eine Bemerkung Beckers durch Steves Erinnerung.

"Und?"

"Geben sie mir noch eine Minute."

Becker trat einen Schritt zurück, zog die E-Pipe hervor und begann geräuschvoll daran zu saugen.

Steve blendete das abstoßende Geräusch aus und konzentrierte sich auf die Darstellung. Aufgefaltet hatte das Dokument etwa die Größe des Esstisches zu Hause. Das linke Drittel war mit eingekreisten Begriffen, Namen und Ereignissen und Linien zwischen den Ovalen übersät.

Die rechte Seite zeigte eine Matrix, in welcher die Beziehungen dargestellt und bewertet waren. Steve erwartete nichts Gutes, denn Becker konnte stundenlang über die Bedeutung der Beziehungen und deren unumstößliche Beweiskraft philosophieren.

Steve erinnerte das Gesamtwerk eher an seine eigenen, schrägen Visionen, wenn das Party-LSD wieder einmal von besonders schlechter Qualität war. Seiner Meinung nach war vernetztes Denken mit Kartenlegen oder Traumdeutung identisch. Beides waren seines Wissens Methoden, mit welchem in der Altzeit die Zukunft geplant wurde. Den Leuten damals fehlte die kühle, koloniale Nüchternheit, mit der heute entschieden wurde.

Becker trat vor und stellte sich neben ihn an den Tisch. Sein Gesicht leuchtete vor Erregung.

"Und?"

"Äh, nun ja – interessant, nicht?"

"Mehr als das, mehr als das!"

Becker setzte sich in Bewegung und umrundete den Tisch. Steve seufzte innerlich, denn das war das Denk- und Ideenentwicklungsritual das immer ablief, wenn sich der Professor an einer Sache festbiss und monologisch Beweise und Gegenbeweise für seine 'Erkenntnisse' anführte. Zu Steves Erstaunen blieb Becker nach zwei Runden stehen und deutete mit der Pfeife auf ihn.

"Sie wissen, was dieses Dokument darstellt."

"So in etwa", wich Steve aus.

"Hier sind die verwandtschaftlichen Relationen der Endzeitpropheten aufgeführt", lachte Becker verlegen auf, "natürlich die wissenschaftlichen, nicht die genetischen. Sie verstehen…"

Steve schielte Becker mit gerunzelter Stirn von der Seite her an. Der kleine Mann redete schnell und fahrig. Ganz anders als sonst, wenn er unbeirrbare Selbstüberzeugung ausstrahlte.

"… und wie ich schon lange vermutete, waren die Bezüge der Endzeitpropheten", Becker nuckelte angestrengt an der Pfeife und drehte die Nikotinzufuhr höher, "aller Endzeitpropheten, wie ich betonen möchte, zum verschollenen Evangelium nicht nur rhetorische Floskeln, sondern Realität."

Er blickte Steve herausfordernd an, doch bevor dieser eine nichtssagende Platitude von sich geben konnte, fuhr er fort: "Hier sehen sie den begründeten Verdacht, dass das verschollene Evangelium kein Mythos ist. Wie gesagt: alle großen Endzeitpropheten und ein schöner Teil der kleinen Prediger berufen sich auf die Weisheiten dieses Buches. Wenn sie genau hinsehen, wird das aus meiner Grafik ersichtlich."

"Der hier auch", fragte Steve desinteressiert und deutete auf ein Oval, welches rot eingekringelt war und einen grobschlächtig hingeworfenen Totenkopf unter einem Namen zeigte. Er beugte sich näher, um den Namen zu entziffern: "dieser Henry Wallich. Aber den haben sie, wenn ich mich richtig erinnere, noch nie erwähnt."

"Zu Recht", schnaubte Becker, "Wallich war ein Antiprophet. Ein reizbarer Charakter, der aus niederen, eigennützigen Beweggründen zum Lügen neigte und das verschollene Evangelium als 'unverantwortbaren Unfug' bezeichnete. Ein übles Geschöpf, das der neoliberalen Idee huldigte. Dumm wie Stroh. Der und seine Mitstreiter", Becker spuckte das letzte Wort verächtlich heraus, "waren sicherlich nicht die Vorlage, als die Evolution die Intelligenz erfand."

Becker hielt inne und strich sich über den Bart: "Aber das ist jetzt irrelevant. Wallich und seine buckligen Dämonen wurden durch die Große Säuberung, die sie entfachten, widerlegt und hinweggefegt."

Er schnaubte: "Um es kurz zu machen, Globe: ich habe den Beweis, dass das verschollene Evangelium existiert."

Er strahlte, doch rutschten seine Mundwinkel nach unten als er sah, dass sein Assistent seine Ekstase nicht teilte. Er nahm seine Runden geräuschvoll saugend wieder auf.

"Ist das nicht aufregend? Was würden sie an meiner Stelle jetzt unternehmen?"

"Äh, nachprüfen?"

Nachprüfen war die klassische Aktion, wenn man nicht weiterwusste. Nachprüfen verschafft die Zeit, um jemanden eine fixe Idee auszureden. Nachprüfen war die Hürde, über welche viele nicht springen mochten und Pläne aufgaben. Steve war sicher, dass der Professor nur ein paar Tage Zeit brauchte, um dem Unsinn, welchem er auf die Schliche gekommen zu sein glaubte, selbst den Todesstoß zu versetzen.

Er blickte sich um. Auf dem Feldbett im Büro, das Becker oft benutzte, lag eine zerknüllte Decke und Steve schätzte, dass Becker seit Tagen nicht aus diesem Raum herausgekommen war und außer ein paar Snacks aus dem Automaten draußen im Gang, nichts gegessen hatte. Das war auch eine logische Erklärung für das eigenwillige Odeur im Raum.

'Ein paar Tage Bedenkzeit und eine Dusche' ergänzte Steve im Gedanken.

"Sie treffen den Nagel auf den Kopf", lobte Becker, "nachprüfen. Wir müssen nachprüfen. Sie und ich, wir werden nachprüfen gehen. Vor Ort werden wir Klarheit finden."

Er kratzte mit dem Stiel der Pfeife an seinem Hinterkopf.

"Gut ist unterrichtsfreie Zeit", sprach Becker weiter, "so können wir ohne Probleme den Trip machen. Sie und ich. Wir werden das verschollene Evangelium finden."

Becker steckte die e-Pipe in die Brusttasche seiner Arbeitsjacke.

"Die Hinweise sah ich schon seit Jahren. Das haben sie in meiner Grafik ja auch gesehen", fuhr er fort, "aber ich muss gestehen, dass ich manchmal befürchtete, dass das Evangelium nicht nur verschollen, sondern verloren ist."

Wieder hielt er inne, klopfte die Jackentaschen ab, fand die Pfeife und steckte sie in den Mund zurück.

"Manchmal verzweifelte ich beinahe, weil es außer den überlieferten Zitaten der Endzeitpropheten keine Hinweise auf das verschollene Evangelium gab. Doch die Zweifel sind pulverisiert, weil ich den Beweis gefunden habe. Der größte der Endzeitpropheten hat sie mir sozusagen persönlich präsentiert."

"Aha…?"

Becker blitzte ihn an: "Mensch, Globe. Wo haben sie ihren Kopf. Al Gore. Sie erinnern sich, nicht?"

Steve erinnerte sich und nickte. Al Gore war unter den vielen Endzeitpropheten, die Becker verehrte, einer aus der zweiten Reihe. Steve erinnerte sich vage, dass Al Gore derjenige war, der auf ein wichtiges Amt verzichtet hatte, um den Menschen die Apokalypse vor Augen zu führen. Doch auch er blieb ungehört, obwohl er die Polkappen abschmelzen ließ. Das mit den Polkappen stufte Steve als Märchen ein, mit dem Becker Gore etwas aufpeppen wollte.

Doch jetzt hatte Al Gore offensichtlich in Beckers Endzeitprophetenranking Boden gut gemacht, Meadows von der Topposition verdrängt und von Däniken, den Becker in letzter Zeit auch öfter erwähnte, überrundet. Der von Däniken, der Außerirdische kontaktierte aber von ihnen nur die kalte Schulter gezeigt bekam. Wahrscheinlich, so mutmaßte Steve, wussten die Außerirdischen, dass von Däniken ein nikotinabhängiger Junkie war.

Steve meinte, dass ein Endzeitprophetenranking ohnehin wenig Sinn machte, da sie und ihre Lehren während der Säuberung atomisiert wurden. Übrig blieben nur historische Krümel, denen der beißende Geruch des Weltenfeuers anhaftete. Becker verschleuderte sein Leben damit, diese einzusammeln und in einen Zusammenhang zu stellen. Diese Anstrengung war so sinnlos, wie aus nur zwölf Teilen eines 3000 teiligen Puzzles das Gesamtbild rekonstruieren zu wollen.

"Al arbeitete mit den Anti-Wachstums-Propheten zusammen", schwärmte Becker begeistert, "ich bin aber erst vor Kurzem darauf gestoßen, dass die mächtige Volkswagen-Stiftung ebenfalls mit von der Partie war, als die Erkenntnisse im Buch 'vom Ende des Wachstums' formuliert wurden."

Becker blickte Steve mit fanatisch blitzenden Augen an: "Als ob jemand ein verstaubtes Wegschild sauber gewischt hat. Ich weiß, wo wir zu suchen haben!"

"Das verschollene Evangelium?"

"Globe! Haben sie während unserer Arbeit geschlafen?"

"Das Wachstums-Dings, davon haben sie was erwähnt, aber von diesem verschollenen Evangelium höre ich heute zum ersten Mal", warf Steve schnell ein, bevor Becker die gestellte Frage vertiefen konnte.

Becker winkte ab: "Das ist ein und dasselbe. Meine Glaubensgemeinschaft nennt es das verschollene Evangelium, weil wir nicht sicher sind – sicher waren, ob es nicht nur eine Parabel ist."

"Aha. Und jetzt haben sie den Beweis, dass es existiert?"

"Ja", rief Becker und eilte zur Projektionswand, "ich zeige es ihnen."

Er fummelte fahrig am Schaltpanel bis ein Bild aufleuchtete.

"Sehen sie, das ist Al Gore. Und sehen sie, was er da in der Hand hält?", er tippte mit dem Zeigefinger auf Als Hand, "das verschollene Evangelium!"

"Aha. Sie haben es also gefunden. Gut."

Becker ließ sich von der desinteressierten Haltung seines Assistenten nicht beeinflussen: "Die wahren Katholiken vermuten seit Generationen, dass es existiert. Doch alle Suchexpeditionen blieben erfolglos."

"Ah! Darum wohl 'verschollen'".

"Scharfsinnig", entgegnete Becker mit bösem Blick, "es geht so weit, dass jene, welche nicht tief im Glauben verankert sind oder eigene Ziele verfolgen, behaupten, dass es nur eine Legende sei. Mein lieber Globe, sie sind gerade Teil einer historischen Entdeckung."

Becker ließ Steve Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Nach einigen Augenblicken winkte er ungeduldig ab und fuhr fort: "Sehen sie, wo das Bild gemacht wurde? Das war während einer Konferenz in den Räumlichkeiten des Club of Rome. Die Wachstumspropheten, die WAREN der Club of Rome! Mit den Meadows als Anführer."

Becker tippte sich mit der flachen Hand auf die Stirn: "Aber diesen Zusammenhang habe ich erst vor einigen Tagen erkannt, obwohl ich das, wie ich schon vorher erwähnte, aus dem VD hätte herauslesen können."

'Du hättest Kaffeesatzlesen anwenden müssen', dachte Steve belustigt, 'um schneller zum Resultat zu kommen.'

Becker kratzte sich am Kinn: "Vielleicht muss ich die Gewichtung in der Matrix überarbeiten, damit das richtige Resultat herauskommt."

Steve wusste von früheren Workshops, dass 'Gewichtung überarbeiten' bedeutete, Fehlschlüsse so zu manipulieren, um sie mit zufällig erlangten Fakten in Übereinstimmung zu bringen.

"Und jetzt?"

Becker trat dicht vor Steve heran und blickte direkt in seine Augen: "Ich weiß, wo das Bild aufgenommen wurde. Ganz in der Nähe, wo einst auch meine Kirche ihren Hauptsitz hatte. Genau da müssen wir nachsehen."

"Gratuliere, Herr Professor. Und ich soll ihnen bei der Recherche behilflich sein, nehme ich an."

Becker nickte.

"Genau. Sie werden mich zur Erde begleiten."

"Zur Erde?", unterbrach Steve seinen Professor verblüfft, "was sollen wir auf der Erde?"

"Feldforschung! Nachprüfen! Wie sie schon selber richtig bemerkt hatten", Becker blickte seinen Assistenten an, wie man ein verwirrtes Kind betrachtet.

"Was soll ich da? Ihnen das Gepäck nachtragen?"

"Sie sind der unbeeinflusste Beobachter. Der Zeuge. Mein Sparringspartner."

"Zeuge? Wozu?"

Becker schlurfte unruhig und verärgert auf und ab, blieb plötzlich stehen und fixierte Steve mit kaltem Blick: "Warum denken sie nicht mit? Ich habe ihnen vor ein paar Augenblicken erklärt, dass unter meinen Glaubensbrüdern solche sind, die nicht an die Existenz dieses Buches glauben? Ja mehr noch: die basteln an einem Utopia, in welchem das verschollene Evangelium nur stört. Die werden den Fund anzweifeln. Diese Leute beharren darauf, dass das verschollene Evangelium nur ein Mysterium ist, das man bei Bedarf zitieren kann. Darum brauche ich einen neutralen Zeugen. Der Unabhängige, der den Fund bestätigen wird. Sie sind ideal, weil sie kein Katholik sind."

"Warum filmen sie nicht einfach, wenn sie das Buch finden."

Becker lachte verzweifelt auf: "Mein lieber Globe. Sie hören wirklich nicht zu. Die Zweifler würden die Echtheit des Filmes in Frage stellen."

"Vielleicht brauchen sie mich ja nicht. Wer sagt, dass wir das Buch finden werden?"

"Wir werden es finden", winkte Becker ungeduldig ab, "ihre Skepsis ist unangebracht.", er zögerte einen Augenblick: "Und dann ist da noch die ÜKo."

Steve zuckte zusammen.

"Bei der ÜKo sind wir Katholiken nicht gerne gesehen, weil wir nicht alles blind akzeptieren."

"Ja und?"

"Nun ja, wenn die ÜKo Wind davon bekommt, dass wir einer bedeutsamen Sache auf der Spur sind, könnte sie sich einmischen."

"Warum sollten sie das tun?"

Wieder lachte Becker humorlos auf: "Was wissen sie von uns, den Katholiken?"

Steve schluckte. Seine Motivation reichte nicht aus, sich näher mit dem seltsamen Verein von Becker auseinander zu setzen.

"Sie, äh, verehren die Propheten, nicht?", wich Steve aus.

"Ja, aber das ist nebensächlich. Wir haben gewisse Freiheiten, welche die ÜKo nicht schätzt. Das macht uns verdächtig. Die haben ein scharfes Auge auf uns, vor allem seit dieser Hirsch Kommandant ist. Darum sind wir sehr vorsichtig."

"Warum erzählen sie mir das? Ich könnte ja ein Spitzel der ÜKo sein oder was."

"Nein, sind sie nicht. Ich erzähle ihnen die Geschichte, damit sie erkennen, wie wichtig die Sache ist."

Steve nickte eingeschüchtert: "Das Ganze könnte man leicht mit Drohnen erledigen. Das ist ungefährlicher."

Becker winkte heftig ab.

"Drohnen! Sie sind verrückt, mein Guter. Anstatt mit Drohnen zu operieren, können wir das Geheimnis gleich der ÜKo erzählen. Das läuft auf dasselbe hinaus."

Steve schmeckte die Sache nicht. Es sich mit der ÜKo zu verscherzen war schlecht. Er wollte nicht wie Tino enden.

"Ich möchte nicht gegen die Gesetze verstoßen oder der Kolonie schaden."

"Müssen sie auch nicht. Müssen sie auch nicht", sagte Becker hektisch und legte seine Hand auf Steves Schulter, "es ist eine, sagen wir es so: es ist eine innerkirchliche Angelegenheit."

"Und darum darf die ÜKo nichts davon erfahren? Da ist doch etwas faul."

"Wir tun nichts, was der Kolonie schadet", beschwichtigte Becker, "aber die ÜKo vermutet hinter jeder Aktion von uns einen Aufstand gegen die Väter. Mein junger Freund, ich will nur nicht, dass die ÜKo den Terminplan durcheinanderbringt."

Steve hob zweifelnd die Augenbrauen und trat einen Schritt zur Seite. Beckers Hand fiel schlaff von seiner Schulter herab.

"Die Sache ist nur für meine Kirche von Bedeutung", fuhr Becker fort, "und hat mit der Kolonie und den Vätern nichts zu tun."

"Sie halten aber nicht viel von den Vätern. Das haben sie mir oft genug zu verstehen gegeben."

"Richtig. Aber nicht zuletzt bin ich Kolonist und so froh wie sie, hier zu sein. Ich würdige die Verdienste der Kolonie. Dass damals nicht das ganze technische Wissen verloren ging, ist ihr Verdienst."

Becker räusperte sich: "ich ärgere mich, weil die Väter den Fortschritt blockieren. Sie wissen doch, wie ungeduldig ich bin."

"Hm."

"Unser Erfolg wird nur für die Katholiken etwas ändern. Nichts sonst."

"Ich weiß nicht recht."

"Globe. Ich weiß, sie halten mich für sonderbar. Viele tun das. Ich weiß es. Mein Leben ist die Erforschung der Endzeitpropheten, das stempelt mich zum Außenseiter ab. Aber habe ich je einmal gesagt, dass man die Kolonie abschaffen sollte?"

"Nein. Sie wettern nur gegen die Väter."

"Väter! Väter! Die Väter sind auch nur Menschen und Menschen machen Fehler. Wie sie und ich. Kann schon sein, dass ich mit denen nicht einverstanden bin. Aber sonst…"

Becker ließ seine Worte wirken: "Ich versichere ihnen, dass es eine rein wissenschaftliche Expedition ist."

"Wenn sie es sagen?"

"Sie brauchen nicht so argwöhnisch zu sein. Alles was ich von ihnen will ist, Zeuge zu sein und niemanden außerhalb dieses Raumes verraten, wo wir suchen werden."

"Dass ich zur Erde reisen werde, lässt sich wohl kaum verheimlichen."

"Ja. Brauchen sie auch nicht. Im Gegenteil: erzählen sie ruhig jedem von ihrem bevorstehenden Trip zur Erde."

"Und wenn jemand wissen will, was wir da treiben?"

Becker lachte auf.

"Dann erzählen sie, dass sie ihren kauzigen Professor auf einer Studienreise begleiten."

"Trotzdem…"

Becker kniff angriffslustig die Augen zusammen, näherte sich langsam seinem Assistenten und tippte mit dem Pfeifenstiel auf dessen Brust.

"Eigentlich hatte ich gedacht, dass sie scharf auf dieses Abenteuer wären. Ein junger Mann wie sie. Und ich weiß, dass sie Bücher aus der Altzeit mögen. Ihre Heldengeschichten. Jetzt können sie selber auf den Pfaden ihrer Helden wandeln. Reizt sie das nicht?"

Becker reduzierte die Nikotindosis: "Drohnen fallen weg, wir müssen persönlich da hin! Wenn die ÜKo erst Lunte gerochen hat, dann wird sie aktiv. Und dann ist der ganze Zeitplan im Eimer. So, Globe, so funktionieren absolutistische Regime. Wie Fuller es vorausgesehen hat!"

"Fuller?"

"Tun sie nicht so unwissend. Fuller gehört zu den großen Endzeitpropheten. Zu den ganz Großen sogar."

Becker schritt aufgeregt auf und ab.

"Der große Richard Buckminster Fuller. Ein schlauer Kopf. Den müssten sie eigentlich kennen, der war Architekt wie sie."

Steve blickte nicht mehr durch. Der alte, aufgeregte Mann vor ihm sprach wirres Zeug: Al Gore – VW-Stiftung – Klobofrom – verschollenes Evangelium. Und jetzt auch noch Fuller, wer immer das war.

"Fuller hat lange vor der Großen Säuberung davor gewarnt, die Menschen zu Fachspezialisten zu erziehen. Er betrachtete das als eine Art moderner Sklaverei, weil der menschliche Geist dazu entwickelt sei, die Welt in ihrer Gesamtheit zu erfassen und zu ergründen. Spezialisierung sei mentale Dehydrierung, sagte er. Und da pflichte ich ihm vollumfänglich bei."

Becker stoppte und wedelte mit der Pfeife in der Luft herum.

"Wie Recht er doch hatte. Nur verblendete Idioten, die verlernt haben, Komplexes als Komplexes zu betrachten kommen auf die Idee, die Welt in Schwarz und Weiß zu malen. Man hörte nicht auf ihn."

"Ich glaube, sie übertreiben, was das mit den Vätern anbelangt. Wie der Zeitpartner meiner Mutter. Er behauptet, die Väter interessieren sich mehr für sich selber als für die Kolonie und verbieten deshalb alles, was ihnen nicht in den Kram passt."

"Kluger Mann!"

Steve lächelte überlegen: "Professor, wenn es so wäre, wie sie sagen, warum dürfen wir uns Filme ansehen oder Bücher lesen, die aus der Altzeit stammen?"

Becker lachte schrill auf: "Guter Mann, wir sehen und lesen genau das, was den Vätern ins Konzept passt. Ich weiß das, weil ich moderne Historik und lunare Philosophie studiert habe. Sämtliche Errungenschaften der Altzeit, die nicht ins Konzept passen, sind umgeschrieben oder entfernt. Und ich bin Experte für die Endzeitpropheten und kenne mich bestens aus. Ich versichere ihnen, dass die Kolonisten in diesen alten Filmen und Büchern nur den Teil sehen, der niemanden auf dumme Gedanken bringt."

"Das ist eine Behauptung."

"Ach so? Haben sie jemals die Originale gesehen, nicht nur die zensurierten Ausgaben, die sie im Telespeak hinunterladen können? Da ist eine ganze Menge weggeschnitten. Genauso in den Büchern: Filme und Bücher aus der Altzeit sind ein billiger Abklatsch der Originale und auf reine Action reduziert."

"Das macht es spannender", warf Steve ein.

"Das macht es unnütz", knurrte Becker verärgert. Einige Augenblicke herrschte gespannte Stille, ehe Becker fortfuhr.

"Nehmen wir doch die Filme. Alle Handlungen spielen in überfüllten, müllverseuchten Großstädten oder in Staubwüsten ohne Zivilisation. Wissen sie warum?"

Steve musste gestehen, dass an der Behauptung von Becker was dran war und schüttelte den Kopf.

"Weil die Väter und ihre Handlanger nicht wollen, dass jemand erkennt, wie begehrenswert die Erde in Wirklichkeit ist. Der Mensch gehört auf diesen Planeten und nicht in zerfallende Kuppeln auf dem Mond."

Becker wartete einen Augenblick ab.

"Aber das werden sie mit eigenen Augen sehen, wenn wir erst da sind."

Die Aussicht zur Erde fliegen zu können elektrisierte Steve. Keiner aus seinem Bekanntenkreis war je auf der Erde oder auch nur in der Nähe des Raumhafens gewesen. Außer Claude, der war in der Logistikhalle als Roboteraufseher beschäftigt, aber das zählte nicht.

Becker beobachtete seinen jungen Assistenten und realisierte zufrieden, dass er sich in ihm nicht getäuscht hatte. Globe war angefixt – aber noch unschlüssig.

"Ich habe das Notwendige bereits veranlasst. In den nächsten Tagen werden sie mir hier im Institut zur Hand gehen. Und…", er hielt sich den Zeigefinger verschwörerisch vor den Mund, "… ich betone es noch einmal: schweigen über unsere Pläne. Bleiben sie bei der Version, dass wir eine Studienreise machen. Was eigentlich auch wahr ist."

Steve nickte.

Die Endzeitpropheten

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