Читать книгу Die Endzeitpropheten - Hermann Christen - Страница 5

Hirsch

Оглавление

Kommandant Hirsch blickte hoch, als die wachhabende Kadettin Blanc an den Rahmen der offenen Tür klopfte und saltutierte.

"Ja, Kadett?"

Die junge, sportliche Frau räusperte sich.

"Objekt 5288. Sir. Es ist aktiv."

Hirsch gefiel die Ernsthaftigkeit, wie sie ihren Auftrag wahrnahm. Sie verkörperte das gesunde Material, aus dem sich das Überwachungskommando ÜKo bediente. Sie hatte das Zeug für das Elitetraining und dafür, sich für höhere Aufgaben zu qualifizieren. Es zeichnete sie aus, dass sie auch geisttötende und langweilige Aufgaben, wie einen Praktikumseinsatz, mit ernstem Eifer erledigte. Und darüber hinaus konnte sich mit ihr jeder Mann auf jeder beliebigen Party sehen lassen.

"Objekt 5288?"

"Ein Uniprofessor. Becker. Unterrichtet Prä-Hi…"

"Prä-Historik. Katholik. Ich erinnere mich."

Blanc bewunderte ihren Kommandanten. Es hieß, dass er für den Rat der Väter im Gespräch sei.

Hirsch runzelte die Stirn. Die Meldung schreckte verdrängte Erinnerungen aus dem Tiefschlaf auf. Die Katholische Kirche…

"Käptn!"

"Sir!" Käptn Hirsch salutierte.

Major Grands Blick schweifte verärgert zwischen dem jungen Offizier und den Bildschirm.

"Was soll das?"

"Sir?"

"Pfeifen sie ihr Einsatzkommando zurück."

"Sie meinen die Aktion gegen die Katholiken?"

"Ja. Was sonst."

"Sir. Es liegen Informationen vor, dass die Anführer nicht zugelassene Dokumente in ihrer Gemeinde besprechen."

Grand winkte ab.

"Sie steigern sich da in etwas hinein. Die sind harmlos."

"Sir, ich muss widersprechen. Die Agenten, die sie überwachen, berichten von mehreren Vorfällen, in denen staatszersetzendes Gedankengut öffentlich beraten wurde."

"Öffentlich…", bellte der Kommandant gereizt, "die Versammlungen dieser Handvoll friedlicher Leute nennen sie öffentlich. Für sie sind wohl auch Familienfeste öffentliche Veranstaltungen, Käptn."

"Nein, Sir."

Grand stand auf, strich sich das Haar glatt und sprach ruhiger weiter: "Käptn Hirsch, diese Aktion könnte falsch verstanden werden."

"Wir tun unsere Pflicht, Sir."

"Was sind das für Beweise", brüllte der Major unvermittelt, "von Agenten der untersten Vertrauensstufe…"

"Sie stellten mir keine anderen zur Verfügung, Sir", unterbrach Hirsch seinen Vorgesetzten kalt, "und wie sie wissen, unterstehen die Katholiken nicht der Implantationspflicht, die nach dem Technikeraufstand eingeführt wurde."

Hirsch machte eine Pause und blickte Major Grand direkt in die Augen: "Ich frage mich, wieso?"

Grand blitzte ihn zornig an: "Was weiß ich. Aber was ich weiß ist, dass sie dabei sind, Mist zu bauen. Wo war ihr Verstand, als sie diese Agenten beauftragten? Der eine säuft, der andere steht in Verdacht, gegen Gesetze zu verstoßen. Ich bin enttäuscht, Käptn, dass sie diesen Berichten blind vertrauen."

"Sir, die Aktion ist notwendig. Erinnern sie sich an den Technikeraufstand. Da haben wir zu spät gehandelt."

"Das können sie doch nicht vergleichen. Die Techniker glaubten, dass sie mehr Rechte als der Durchschnittskolonist haben. Sie zettelten einen Aufstand an und besetzten Kuppel 10, um ihre Forderungen durchzudrücken. Wo ist da die Verbindung zu den Katholiken?"

"Ich halte die Katholiken für genauso gefährlich", insistierte Hirsch, "haben sie sich ihre Lehre schon angesehen, Sir?"

"Ja, sie singen und beten und versuchen gut zu sein."

Hirsch lachte schmerzlich auf: "Sir, in der Altzeit kaschierten alle Irrlehren ihre wahren Absichten wie schleimige Marktschreier die vorgeben, nicht am Geld, sondern am Glück ihrer Kunden interessiert zu sein: Wohlstand für alle, Frieden für alle, Gerechtigkeit etc. etc."

Er grinste gequält: "Wie wir heute wissen, ergab sich daraus eine äußerst explosive Konstellation."

"Sie sehen zu schwarz", winkte Grand harsch ab, "die Katholiken sind seit langer Zeit Teil unserer Gesellschaft und sind nie aufgefallen. Ihre, wie sagten sie, Irrlehre, ist im schlimmsten Fall lächerlich."

"Nein", widersprach Hirsch überzeugt, "Eingleisige Denkweisen machen aus Mitmenschen Feinde. Ideologien ernähren sich von Menschen. Sir, bei allem Respekt, sie unterschätzen die Brisanz."

Grand schluckte seinen Ärger hinunter. Er wusste, dass Hirsch einer der kommenden Leute war. Doch da war dieser Befehl von oben. Er wechselte die Taktik.

"Käptn, sie überreagieren."

"Sir, wie sie konnte ich in der höheren Offiziersschule die wahre Geschichte der Altzeit studieren."

"Mensch, Hirsch, das alles ist längst überwunden. Die Fehler von damals sind ausgemerzt."

"Nein, Sir, das sehe ich anders. Die Katholiken sind in der Altzeit stehen geblieben. Sie haben nichts dazu gelernt, Sir."

"Mag sein, aber sie stören nicht. Haben sie Kenntnis über einen Vorfall, in den die Katholiken verwickelt waren? Musste die ÜKo je eingreifen?"

"Sir, dass sie still halten macht sie zusätzlich verdächtig. Ihre Lehre steht in Konkurrenz zum Regime."

"Gerede. Nichts als Gerede."

"Sir, es geschieht nichts, nur weil man etwas sagt. Aber es geschieht etwas, wenn man es immer wiederholt."

Grand winkte gereizt ab: "Sie zitieren Cato? Was Besseres fällt ihnen dazu nicht ein?"

"Sir, aus den Berichten geht klar hervor, dass sie die Macht der Väter nur dulden. Sie huldigen ihrem Gott, von dem sie sich allerhand versprechen."

Grand scrollte durch die Akten und ging nicht auf Hirschs Vorwürfe ein.

"Sir, vor zehn Jahren bei den Technikern haben wir zu lange zugewartet. Ein Präventivschlag wird uns viel Ärger ersparen."

Grand erkannte, dass er den Käptn nicht überzeugen konnte.

"Ich befahl", brüllte er unvermittelt los, "dass diese Aktion gestoppt wird."

"Es ist falsch", beharrte Hirsch und fügte nach einer Sekunde zynisch: "Sir." an.

"Was erlauben sie sich! Sie provozieren aus einer Laune heraus einen Aufstand! Das Vorgehen der ÜKo beim Technikeraufstand war sehr hart und viele meinen immer noch, dass wir zu hart vorgegangen sind. Damals verloren wir viel Wissen."

"Sir, damals waren wir nicht zu hart, sondern zu spät. Hätten wir rechtzeitig reagiert und die die führenden Köpfe eliminiert, wäre es nicht so weit gekommen. Ohne Kopf beißt die Schlange nicht, Sir."

"Sie rufen ihre Leute zurück. Jetzt. Unverzüglich!"

"Sir!"

"Ich wiederhole mich nicht mehr."

Hirsch stellte die Aktion ein. Er vermutete, dass Grand nicht von sich aus handelte, sondern Befehle befolgte. Egal, wer oder was dahintersteckte, für ihn war es nur ein weiterer Grund, die Kirche als Feind einzustufen, den man nicht aus den Augen lassen durfte. Er vertiefte sich in ihre Lehre, studierte ihre Geschichte. Er kannte die längst verstorbenen Gestalten, die von ihr verehrt wurden.

Er traute den Betbrüdern nicht, die sich auf ihren Propheten Kevin, einem abgehalfterten Junkie, ein Kolonist, der rund hundert Jahre nach der Großen Säuberung auftauchte und die Gemeinden in der Kolonie und auf der Erde zusammenschweißte, beriefen. Kevin verkündete damals, dass jeder Einzelne für seinen Weg zu Gott verantwortlich sei. Das widersprach der bewährten Doktrin der Kolonie: das Glück der Gemeinschaft wird zum Glück des Einzelnen.

Er war überzeugt, dass der dogmatische Unsinn der Kirche nur ein Deckmantel war, um die wahren Absichten zu verschleiern. Die Worte der Botschaft, die von Güte und Nächstenliebe flöteten, waren nur der Schafspelz, den sich der Wolf überzieht, bevor er unter den Lämmern ein Blutbad anrichtet.

Die Katholiken waren der schleimige Auswurf, den die Große Säuberung ausgewürgt hatte. Sie waren die Fanatiker, welche zurückgekehrt waren und sich auf die Altzeit beriefen. Die Kirchenführer rührten damals kräftig in der giftigen Suppe aus konkurrierenden, inkompatiblen Weltanschauungen mit. Übles Gesindel, das nicht davor zurückschreckte, den Planeten ins Unglück zu stürzen.

Hirsch schwor, der Bande das Handwerk zu legen. In seinen höheren Funktionen setzte er sämtliche Mittel ein, die ihm zur Verfügung standen. Doch weder Razzien, noch Recherchen förderten Beweise zu Tage, die ein rigoroses Eingreifen gerechtfertigt hätte. Wie der regennasse Wurm wand sich die Kirche immer und immer wieder heraus. Es war wie Schattenboxen, ein Kampf gegen einen hinterhältigen Feind.

Die treibende Kraft der Kirche war der Papst, der auf der Erde residierte. Ein undurchsichtiger Kolonist, Sohn eines Prospektoren und einer Ärztin, auf der Erde geboren und aufgewachsen. Ein Mann, der sich die meiste Zeit seines Lebens unter dem Radar der ÜKo bewegte. Ein Mann, der auf Hirschs Befehl hin unter steter Beobachtung stand.

Hirsch wurde Kommandant der ÜKo. Neue Aufgaben nahmen ihn in Beschlag. Sein zähes Ringen gegen die Kirche musste in den Hintergrund treten.

Kadett Blanc räusperte sich.

"Was für Aktivitäten", hakte Hirsch scharf nach.

Blanc zuckte zusammen.

"Er sandte eine Drohne zu seinem Assistenten", sie blickte kurz auf ihr Tablet, "Steve Globe. Handschriftliche Mitteilung. Globe wird darin aufgefordert, unverzüglich in der Universität zu erscheinen und vorsichtig zu sein, Sir. Es scheint mir angezeigt, eine Akte Globe anzulegen. Zumal Tino Campos der Zeitpartner seiner Mutter ist. Campos wird in unseren Akten geführt, weil er in den 'freien Foren' durch reaktionäre Artikel mit haltlosem, staatsgefährdenden Inhalt auf sich aufmerksam macht."

Sie arbeitet gründlich und sauber, dachte Hirsch zufrieden.

"Nein. Sonst noch was?"

"Nur, dass wir keinen überwachungstechnischen Zugriff auf die Räume des Professors in der Universität haben. Keine Elektronik, die wir anzapfen könnten."

Blanc stockte: "Sir?"

Hirsch sah Blanc auffordernd an.

"Sir, warum werden die Räume von Objekt 5288 nicht elektronisch überwacht. Wie es scheint, werden alle Katholiken in ihren persönlichen Räumen nicht überwacht. Ich frage mich, weshalb?"

Hirsch zögerte einen Augenblick: "Kadett, diese Leute haben uralte Privilegien."

"Warum Sir?"

"Das wäre alles, Kadett."

Blanc verstand, salutierte und machte auf dem Absatz kehrt.

Hirsch kratzte sich am Kinn. Die Haut fühlte sich schlaff und weich an. Das Alter forderte seinen Tribut. Die Fitness, die er sich während seiner Aktivzeit in der Eliteeinheit auf der Erde antrainiert hatte, zerfiel in der schwachen Anziehungskraft des Mondes. Da half weder asketische Lebensweise noch regelmäßiges Training im Schwerkraftraum. Die Lende setzte Fett an und der Bauch verlangte nach einer größeren Uniform.

Es war nicht das Alter, das ihn beschäftigte, sondern die Trägheit, die es mit sich brachte. Er bedauerte, dass sein ermüdender Körper für harte Aktiveinsätze bald nicht mehr taugte. Eine Veränderung, die er als Herabstufung empfand. Er verabscheute die Degradierung vom aktiven Macher zum bleistiftdrehenden Verwalter, der feige aus dem Schutzbunker herausoperierte.

"Mens sano in corpore sano", dachte er verbittert.

Er rief die Unterlagen von Objekt 5288 auf den Schirm. Becker: Universitätsprofessor für Prä-Historik, Mitglied der katholischen Sekte. Becker war einer ihrer Hohen Priester, Kardinal. An der lunaren Uni hatte er Historik und Philosophie studiert. Hirsch wunderte sich über diese Studienrichtungen, denn die Lehrinhalte beider Fakultäten waren auf die Bedürfnisse der Väter zugeschnitten. Der Professor agierte isoliert und die wenigen Studenten, die seinen Kurs belegten, waren bisher nicht aufgefallen. Es schien an der Uni eher eine Art Gag zu sein, Beckers Kurse zu besuchen.

Er kannte ihn flüchtig. Er hatte ihn ein-, zweimal während seiner Recherchen getroffen. Er erinnerte sich an Becker als einen weltfremden, freundlichen Mann, der sich kaum um die ihm anvertraute Gemeinde kümmerte und lieber seinem Steckenpferd, der Altzeit und den Endzeitpropheten, nachjagte. Auf den ersten Blick war Becker höchstens als skurrile Figur einzuschätzen.

Doch jetzt war der Dämon der katholischen Kirche wieder aufgetaucht und Becker hatte ihn aufgescheucht.

Eine Fußnote des Berichtes erklärte, dass das Institut für Prähistorik seit 25 Jahren bestand. Becker war der erste und einzige Inhaber dieses Lehrstuhles. Hirsch stutzte, wirbelte die Dokumente mit hastigem Wischen auf dem Bildschirm herum. Es gab keinen Hinweis, wer der Initiator für die Gründung des Instituts war. Wahrscheinlich Schlampigkeit seiner Mitarbeiter, vielleicht aber auch nicht. Es schien ihm wichtig genug, eine persönliche Notiz anzulegen, die ihn an diese offene Frage erinnern sollte. Er las weiter.

Beckers Eltern lebten vor seiner Geburt auf der Erde in Basis V. Gemäß Akte litt seine Mutter unter der Schwerkraft und das Paar kehrte zur Kolonie zurück. Becker selber war nur einmal auf der Erde gewesen, um sein Amt zu übernehmen.

Er holte sich zusätzliche Informationen auf den Schirm. Becker war ein digital abstinenter Zombie. Die letzte private Kommunikation im Telespeak lag Jahre zurück. Selbst in den 'freien Foren' war er inaktiv. Die 'freien Foren' waren die geniale Erfindung eines seiner Vorgänger, in denen sich die Leute vor der Überwachung durch die ÜKo sicher fühlten und sorglos Verschwörungstheorien verbreiteten und die Väter beschimpften. Die 'freien Foren' waren eine Goldgrube für die ÜKo, aber im Fall Becker gaben sie nichts her.

Hirsch kratzte nachdenklich am faltigen Kinn und lehnte sich zurück. Becker war augenfällig selbst unter den Katholiken ein Außenseiter.

Die Katholiken! Er verstand die eigenartige Milde der Regierung dieser Sekte gegenüber nicht. Doch es lag nicht an ihm, die Entscheide der Väter in Frage zu stellen. Er war der Befehlshaber der ÜKo und seine Pflicht war es, für Stabilität in der Kolonie zu sorgen. Stabilität war die Basis von Allem.

Die Väter und die hohen Offiziere hatten das Wissen, wie man eine Wiederholung der Großen Säuberung verhinderte. Informationen, die kurz nach dem Morden in waghalsigen Einsätzen auf der Erde gerettet wurde. Er hätte seinen rechten Arm dafür gegeben, eines dieser Sonderkommandos befehligen zu dürfen.

Die Väter agierten geschickt und vorausschauend, hielten die Klasseunterschiede unter den Kolonisten klein. Sie ließen die Leute an die Demokratie glauben. Doch die Stellräder, an denen die gewählten Politiker hantierten, drehten im Leeren und störten den Gesamtplan nicht. Über dieses Konzept gestülpt griff die allumfassende Überwachung durch die ÜKo.

Was auch immer Becker während seiner Studien mitbekommen hatte, es war ein zurechtgebogener, weichgekochter Abklatsch der Wahrheit. Eine didaktisch ausgeklügelte Version der Geschichte die unterstrich, wie klug sich die Kolonie während und vor allem nach der Großen Säuberung verhalten hatte. Der Lehrgang verschwieg hingegen die zerstörerische Macht der konkurrierenden Gesinnungen, welche die Menschen der Altzeit in Atem hielten. Der Lehrgang verschwieg, dass diese Weltanschauungen die Schmierseife waren, auf der die Welt ausglitt und ins Elend schlitterte.

Am Ende war es egal, ob die Katholiken oder sonst eine verdrehte Gruppierung die Große Säuberung auslöste. Die Katholiken unterschieden sich von allen anderen nur dadurch, dass es sie wieder gab.

Hirsch wusste Bescheid. Mehr als ihm lieb war. Er erinnerte sich an seinen Mentor, Vater Krug, der während der höheren Offiziersschule aufzeigte, wie krank die Menschheit vor der Großen Säuberung war.

Den Leuten fehlte ein gemeinsames Ziel, eine Vision, die sie alle vereinigen konnte. Stattdessen prallten Ethiken, Religionen, politische und wirtschaftliche Strömungen aufeinander, rieben sich und erhitzten die Gemüter. Es war das goldene Zeitalter der Marktschreier, der Scharlatane und Lügner, der Egozentriker und Gierigen. Die Menschenmassen wurden mit Widersprüchen bombardiert und verwirrt. Es war egal, welcher Gruppierung man folgte, ob militante Naturschützer oder gutmenschliche Genderisten, ob völkische Populisten oder religiöse Fundamentalisten, ob Wirtschaftslobbyisten oder weltfremde Nudisten: alle reklamierten die Wahrheit für sich und knüppelten Andersdenkende nieder. Jahrzehnte lang lief es gut. Doch dann gingen den Neoliberalen die Opfer in den Drittweltländern aus und sie mussten gezwungenermaßen über sich selber herfallen. Mit vor Empörung zitterndem Zeigefinger anklagen funktioniert nur, solange sich die Opfer nicht wehren.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Idiot die erste Atombombe zündete, die das brodelnde Fass zum Überlaufen brachte.

Einmal entfacht, fraß sich das Feuer der Vernichtung durch die Länder, Regionen und schließlich durch die Kontinente. Zerstörung und Mord rafften die Menschen weg, Wahnsinn und Vernichtung liquidierten die technischen Errungenschaften. Es war Zufall, dass die Luna-Kolonie überlebte. Auf Luna wappnete man sich in höchster Eile gegen mögliche Schläge der Erde, atombomben-bestückte Raketen, Selbstmord-Shuttles. Boten des Wahnsinns, die das Feuer des Niederganges auch in die Kolonie tragen würden. Es war reines Glück, dass die Technik, die dieses ermöglicht hätte, bereits zu Beginn des Wahnsinns eliminiert wurde. Nach zwei Jahren flaute die Raserei ab. Was übrig blieb konnten die Väter in Schach halten – bis heute.

Die Väter beschlossen, den Dingen auf der Erde ihren Lauf zu lassen. Erst fünfzig Jahre nach der Großen Säuberung wurden fernab von den Siedlungen der Überlebenden Basen aufgebaut, um Rohstoffe zu fördern und Nahrung zu produzieren.

Die Väter hielten die Erdlinge auf Trag, provozierten Kleinkriege und Hungersnöte. Ein visionäres Meisterstück war die 'Aktion Unkraut', die Seuchen auf der Erde verbreitete. Erst als die Epidemien in die Kolonie zurückschlugen, wurde 'Aktion Unkraut' redimensioniert. Hirsch bewunderte die Tatkraft jener Vätergeneration und ihre Bereitschaft, zum Wohl der Kolonie unbequeme Entscheide kompromisslos umzusetzen. Es war die Blütezeit der Kolonie.

Hirsch war lange genug auf dem verdammten Planeten stationiert gewesen. Lange genug um zu wissen, warum man ihn fürchten musste. Lange genug, um ihn lieben zu lernen. Vor allem aber lange genug um zu erkennen, wie umsichtig die Väter agierten. Die Auswirkungen von zügellosem Freidenken waren bis heute an den Narben der Erde sichtbar.

Die Väter hatten das erkannt. Sie wussten, dass freie Gedanken und Ideen den Keim der Vernichtung in sich trugen und den Boden für die Saat der Unzufriedenen düngten. Und sie wussten, wie man dagegen vorging.

Die Kolonisten wurden von frühester Kindheit an auf Gesellschaftstauglichkeit getrimmt. Die ÜKo hielt aufmerksam Ausschau nach Krebszellen von bürgerlichem Unmut und entfernte diese rigoros. Der Körper der Gesellschaft musste tüchtig und gesund bleiben.

Telespeak, die Implantate und die räumlichen Grenzen der Kuppeln waren Erfolgsgaranten für die Staatsicherheit. Das konnte auf der Erde nicht funktionieren. Alleine die unfassbare Größe des Planeten verunmöglichte eine lückenlose Überwachung. Das Ausmaß der Erde war der Albtraum für jeden erfolgsorientierten Spitzel.

Doch das koloniale Erfolgsmodell zeigte Abnutzungserscheinungen. Hirsch beobachtete besorgt, dass die Kolonisten mehr und mehr zu antrieblosen Hohlköpfen verkamen. Es war erschreckend, wie desinteressiert Versorgungslücken oder Fehlfunktionen der Infrastruktur hingenommen wurden. Keiner fühlte sich verantwortlich und jeder wartete, bis 'irgendwer, irgendwann, irgendwie' es richten würde. Der Preis für den handzahmen Kolonisten war zu hoch. Kreativität und Neugier verkümmerten.

Die Kraft der Kolonie erlahmte. Das gelenkte Denken hatte hirnlose Maden hervorgebracht, die sich um sich selbst wanden und nach Futter schrien. Die Kolonie stagnierte und vermochte kaum noch, die überlebenswichtige Technik am Laufen zu halten. Die künstliche Schwerkraft unter den Kuppeln musste vor Generationen größtenteils abgeschaltet werden, weil die Energieproduktion nicht reichte. Viele der lunaren Gewächshäuser waren außer Betrieb und die lebenswichtige Transportflotte zerfiel zusehends. Zyniker behaupteten, dass die Transportschiffe zwischen dem Mond und der Erde so viele Einzelteile verloren hatten, dass mittlerweile ein fester Fussweg zwischen den Himmelskörpern bestand. Längst mussten viele Jobs in der Kolonie durch Menschen erledigt werden, weil Maschinen nicht mehr repariert werden konnten. Die Devise 'ein Mensch – ein Job' übertünchte das Problem, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sich das nicht mehr kaschieren ließ.

Die Tatsache, dass sich die Fähigkeiten der Kolonie und die Abhängigkeit von der Erde in entgegengesetzte Richtungen entwickelten, war besorgniserregend.

Selbst die Schutzkuppel zeigte Ermüdungserscheinungen. Die einst glasklare Transparenz war einer gelblichen Trübe gewichen. Sie glich einer Greisin mit Leberproblemen.

Für ihn war klar, dass diese Entwicklung bekämpft werden musste. Seine Chancen, selbst ein Vater zu werden, standen gut. Der Rat bestand zur Hälfte aus Veteranen, welche die Narben der Erde vor Ort gesehen hatten und die wussten, dass alle Mittel erlaubt waren, eine zweite Katastrophe um jeden Preis zu verhindern.

Doch auch der Rat der Väter war mittlerweile träge und selbstgefällig. Die Untätigkeit des Rates gefährdete die Kolonie.

Hirsch spürte den inneren Widerspruch seiner Gedanken, denn denkende Kolonisten würden früher oder später zu Eigeninitiativen tendieren. Wie damals die Techniker.

Er glaubte, das Heilmittel gegen den Zerfall zu kennen: Stolz! In den Kolonisten musste der Stolz geweckt werden. Worauf man stolz war, behütete und beschützte man.

Die Kolonie musste von innen heraus erneuert werden. Die Kolonie brauchte kreative Köpfe, um die Missstände zu eliminieren und um sich weiter zu entwickeln. Noch waren seine Pläne nebulös. Außer dem Programmnamen, 'Projekt Lazarus', waren seine Ideen noch nicht ausgereift.

Er schob die Gedanken bei Seite.

"Du bist noch nicht im Rat", murmelte er durch die Zähne, "du hast hier eine Aufgabe, die du gewissenhaft zu erledigen hast. Was kommt, kommt, wenn es Zeit dafür ist.

Hirsch aktivierte den Ruf für seine Mitarbeiter.

Die Endzeitpropheten

Подняться наверх