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IV. Die ewigen Blutsbrüder
Оглавление„Lebt wohl“, sagte der Wanderer. Sein Umhang wehte um ihn herum, sein Speer drehte sich in die andere Richtung, die Tür fiel zu, und er war fort.
– Die Trauer Odins des Goten, Poul Anderson114 –
Odin: Der große Gute der nordischen Mythologie, die All-Vater-Figur, der Wissende um das Ende der Götter, der trotzdem seine Rolle bis zum Ende konsequent spielt. Doch ist Odin richtig beurteilt, wenn Herrmann über ihn schreibt:
Die alte Welt geht aus den Fugen, aber in unermüdlicher Fürsorge sie so lange wie möglich zu erhalten, auch unter den schwersten eigenen Opfern – das ist ihm [Odin] gelungen.115
Odin ist keine Lichtfigur, will es auch nicht sein. Man darf nicht vergessen, welche Ereignisse zum Krieg am Ende der Zeit führen. Die Schuld liegt bei den Göttern. Der erste Eidbruch war der Bruch des Eides der Götter gegenüber den Riesen. Dieser Betrug erzeugt das Ragnarök, sät er doch die Feindschaft, welche die Welt zerstören sollte.
Und auch Odins Handel, der zum Verlust von Hand, Schwert und Auge führt, ist am Ende der Welt töricht. Loki hingegen hilft den Göttern, kampfbereit zu bleiben. Als Thors Hammer verschwunden ist, ist es Loki, der ihn mit Thor zusammen wiederholt.116 Seine Warnung ist eindeutig:
Gleich werden Riesen
in Asgard hausen,
holst du dir nicht
deinen Hammer heim.117
Warum? Immerhin rettet er damit das Gerät, mit dem die Vernichtung der Welt erst möglich wird. Und was weiß er von der Bedrohung durch die Riesen, die durch die Angst vor Thors Hammer gebannt wird?
Scheinbar will er den Status Quo halten, so lange er kann. Und das macht nur (!) Sinn, wenn er vom Endkampf weiß. Eine eigenartige These. Aber es gibt Indizien dafür, dass Loki in das große Geheimnis eingeweiht ist.
Warum sind Loki und Odin Blutsbrüder? Woher stammt dieser Eid, auf was fußt er?
Loki:
„Weißt du noch, Odin,
wie in der Vorzeit einst
wir mischten das Blut miteinander?
Sagtest, du würdest
kein Bier je trinken,
außer es würde uns beiden gebracht.“118
Was war geschehen, dass diese beiden so aneinander bindet? Ich glaube, dass es das Wissen um das Schicksal war, in dem sie beide ihre Kinder und ihr eigenes Leben verlieren würden. Loki war die einzige Wahl für Odin, um das Geheimnis zu teilen. Wer sonst, wenn nicht der zynische Rätsel-Zauber-Trug-Gott? Und daher ist es Loki, der seine Rolle spielt – aber dafür sich herausnimmt, unter Odins Schutz der Witzbold zu sein, der Dinge tun darf, die kein anderer tun darf. Odin und Loki sind Blutsbrüder, weil sie gemeinsam um das Ende wissen.
Doch war das Geheimnis wirklich ein Geheimnis, das nur Odin kannte? Woher kennen die Götter beim Ragnarök dann das Geheimnis?
Die Asen treffen
am Idafeld sich, (…)
und denken zurück
an die großen Dinge,
an Göttervaters,
altes Geheimnis.119
Und auch die Seherin kennt das Schicksal der Welt:
Heimreite du, Odin,
freu dich des Ruhms!
So suche keiner mehr
Künftig mich heim,
bis Loki sich löst
aus seinen Banden
und Göttergeschick,
das gewaltige, eintritt.120
Was spricht Odin seinem (eigentlich schon toten) Sohn ins Ohr, bevor dieser auf den Holzstoß steigt?121
Das Geheimnis kann kein Geheimnis sein, wenn es so weit bekannt ist. Aber es ist auch nicht öffentlich bekannt, eher ein Geheimnis einer kleinen Gruppe, die gemeinsam schweigt, außer sie verplappert sich oder wird zum Reden gezwungen.
Odin kennt den Gang der Welt, aber er nutzt dieses Wissen meiner Ansicht nach, um das Ende der Welt so weit wie möglich zu verzögern. Verschlüsselt wirft auch Loki Odin vor, am Schicksal gedreht zu haben.122 Wofür hat Odin eigentlich sein Auge bezahlt? Das Schicksal der Welt kannte er schon, als er sich verstümmelte.
Immer wieder wird Loki von Odin geschützt – scheinbar als Ergebnis des alten Bundes, der Loki schützt, so lange dieser das Geheimnis wahrt. Doch Odin ist nicht der einzige, der Loki schützt. Loki wird bestraft, in dem eine Giftschlange ihm Gift ins Gesicht tropft. Seine Frau Sigyn123 hält eine Schale über sein Gesicht, um ihn vor dem Schmerz zu retten. Macht man das mit jemanden, der die Welt vernichten will?124
Meine These ist einfach: Loki weiß durch Odin (oder durch eigenes Erfahren?) vom Ende der Götter. Odin schützt Loki des gemeinsamen Geheimnisses willen. Die beiden schließen einen Bund, bis zum Ende der Welt zu schweigen, da sie ihre Umgebung nicht mit dem Wissen belasten wollen, das zu groß und zu schrecklich ist, um es selbst Göttern anzuvertrauen. Loki bleibt der Zyniker der Götter, der – von Odin geschützt – tun und lassen darf was er will, so lange er hilft, das gesehene Ende zu verwirklichen. So ist zu erklären, warum er Thor seinen Hammer besorgte und warum er seinen Teil im Kampf der Götter spielte.
Doch er wusste und erkannte, wer an dem Krieg wirklich schuld war. Die Asen trugen die Schuld der alten Blutlast und sie werden bestraft. Aber mit dem Fall der Asen endet auch das goldene Zeitalter Asgards, und so versucht Loki alles, um dieses Zeitalter zu verlängern – vergeblich, wie es scheint. Wenn die Zeichen kommen, dann steigt Loki an Deck und lenkt das Schiff zum letzten Kampf.
Und so erfüllt sich das Schicksal, das nicht hätte sein müssen, wenn die Götter ihre Eide gehalten hätten. Loki – der widerwillig zum Feind gemachte Possenreißer – zieht mit seinen Kindern gegen die Götter-Ordnung, um vernichtet zu werden. Das Steuerrad sicher zwischen den Händen fährt er aus, um Familie und eigenes Leben zu verlieren. Aber er stirbt im Wissen, das Ende der Welt mitgestaltet und – soweit möglich – verzögert zu haben.