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4. Mythische Gegenwart

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Der griechische Mythos hat seine Bedeutung als lingua franca einer europäischen Geisteswelt verloren. Wenn sich im 19. Jahrhundert zwei Menschen auf Englisch oder Deutsch über Heidentum unterhalten wollten, so konnten sie auf einem gemeinsam bekannten griechischen Mythenhintergrund aufbauen, der eine Unterhaltung und einen Austausch möglich machte. Heute wird diese Rolle wahrscheinlich eher von den Religionen in Raumschiff Enterprise eingenommen – und man kann heute wahrscheinlich auf einer Party eher über Shakespeare auf Klingonisch reden als über die Argonauten. So ist es auch nicht verwunderlich, dass der griechische Mythos in der populären Kultur der Gegenwart nur eine Randposition einnimmt.

Das 20. Jahrhundert erweist sich in seinem Umgang mit dem Mythos als treues Kind der Romantik. Man braucht nicht die Nazis bemühen, um die Wiederkehr des nordischen Mythos in die allgemeine Wahrnehmung zu erklären. Klaus Bödl schreibt in Der Mythos der Edda:

Durch Richard Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen ist eine Fülle von Stoffen, Motiven und auch formalen Eigenheiten der altnordischen Literatur in das Bildungsgut vergleichsweise breiter bürgerlicher Schichten eingegangen.151

Ein offensichtliches Beispiel: Die Nähe zwischen nordischen Mythen und dem Herrn der Ringe, aber auch J.R.R. Tolkien und Wagner wird immer wieder bemüht. Tolkien kannte Wagner, lehnte aber Vergleiche zwischen Wagners Ring und dem Herrn der Ringe immer ab:

Both rings were round, and there the resemblance ceased.152

Trotzdem schöpft der Herr der Ringe aber offensichtlich aus den nordischen Mythen – bei der Wahl seiner Rassen, bei der Vergabe der Namen, bei der Verwendung von Menschenbild und Schablonen für mythische Personen. Gerade im Herr der Ringe erlangen die Benennungen eine Sprachmacht, die an den Kenning (eine poetische Umschreibung von einfachen Begriffen) der altnordischen Dichtung erinnert.153

Auch mit dem Gesang seiner phantastischen Welt hat sich Tolkien schon früh beschäftigt; so hatte Tolkien in Zusammenarbeit mit Donald Swann an einem Tolkien Lieder-Zyklus gearbeitet.154 Tolkiens goldene Hochzeit wurde 1966 unter anderem auch mit einer Aufführung von Donald Swanns Liederzyklus The Road Goes Ever On gefeiert – die Lieder wurden dabei von einem gewissen William Elvin gesungen. „A name of good omen!“, wie Tolkien zum Namen Elvin bemerkte.155

Alleine mit der Wirkung von Tolkiens Werk auf die Musik könnte man einen eigenen Vortrag füllen.156 Aber über diesen Umweg ist nordische Mystik im Mainstream angekommen – angefangen von der Musik zu den unterschiedlichen Verfilmungen, beginnend mit Ralph Bakshis Lord of the Rings von 1978, Bo Hannsons Umsetzung vom Herrn der Ringe (1972 auf Englisch erschienen, nachdem das Original 1970 auf Schwedisch erschien), bis hin zu Blind Guardian mit Nightfall in middle earth aus dem Jahre 1998. Sogar Leonard Nimoy – besser bekannt als Spock aus Raumschiff Enterprise – hat sich mit der Ballad of Bilbo Baggins hervorgetan (liegt mir auf einer CD namens Spaced out vor – noch Fragen?).

Wer heute durch die Regale der CD-Läden streift, wird bald feststellen, dass Tolkien nur einen geringen Anteil an der nordisch inspirierten Musik hält. Es gehört fast zum guten Ton, sich auf dem, was ich als Heavy Metal bezeichnen würde – nein, hier bitte keine Gattungsdiskussion über moderne Musik, die verliere ich nämlich – mit Hörnerhelmen, Äxten und am besten noch vor Langschiffen aufzustellen. Wie schön noch die Jahre, als man mit Jethro Tulls The Broadsword and the Beast noch punkten konnte, weil es auf dem Markt eine der wenig nordisch inspirierten Platten war. Ich höre immer noch die Trommeln im Ohr und dazu den Gesang:

I see a dark sail on the horizon

set under a black cloud that hides the sun.

Bring me my broadsword and a clear understanding.

Bring me my cross of gold as a talisman.

Get up to the rundhouse on the cliff-top standing.

Take women and children and bed them down.

Christliche Mythologie tut sich schwer, da die meisten Werke, die sich zu eng an die christlichen Vorgaben halten, bigott wirken, während andere Umsetzungen der christlichen Mythologie gerne in den Ruch geraten, selbst nicht mehr christlich zu sein. Eine Randposition nimmt die Narnia-Serie von C.S. Lewis ein.

Narnia soll christliche Mythen für Kinder verständlich machen. Und Lewis baute Musik in seine Schöpfung ein – und veröffentlichte in Poems auch eine zweiteilige Narnian Suite.157 Seine Welt Narnia wird sogar von Aslan, dem Christus jener Welt, „ins Dasein gesungen“.158

Christlicher Fantasyrock – wie die beiden Lewis-Vertonungen The Roar of Love von 2nd Chapter of Act (zu Narnia) (1991) und Edens Perelandra (um 1980) (zu Lewis’ Science Fiction-Trilogie) – verlässt selten die CD-Regale in christlichen Buchläden, wo er aber fröhliche Urstände feiert.

Einen Verweis auf Jesus Christ Superstar kann ich mir hier nicht ersparen: Dieser Film zeigt einen singenden Jesus, aber seine Aufnahme in christlichen Kreisen dürfte am ehesten mit zwiespältig bezeichnet werden.

Aber vielleicht geht es den Christen ja auch wie den Christen in John Christophers post-doomsday-Trilogie Der Fürst von Morgen, wo sie nur noch wegen ihres schönen Gesangs zu Weihnachten eine Randrolle in der Kultur spielen dürfen.

Die griechischen, nordischen und christlichen Mythen sind alte Mythen. Einen starken Einfluss auf die Fantasy & Musik der Gegenwart übt aber ein neuer Mythos aus. Um jenen neuen Mythos, der sich heute unter Namen wie Wicca, Hexerei, Esoterik oder Wassermannzeitalter versteckt, zu verstehen, muss man wissen, dass er eine Erfindung oder besser Kreation des 20. Jahrhunderts ist. Ausgehend von Werken wie Margarete Murrays Witch-Cult in Western Europe von 1921159, befeuert und multipliziert von Gerald B. Gardners Büchern wie High Magic’s Aid (1949)160 und dem danach beginnenden Wicca-Kult, startete die Esoterik ihren Siegeszug durch die westliche Zivilisation.

Das sogenannte Revival der Hexerei, eine Rückbesinnung auf uralte Kulte, auf Wurzeln in der eigenen Kultur, ist aber kein solches. Margot Adler schreibt in ihrer wundervollen Art darüber:

The Wiccan revival starts with a myth, one that Bonewits used to call – much to the anger of many Witches – »the myth of the Unitarian, Universalist, White Witchcult of Western Theosophical Britainy.«161

Aber Wicca ist für die weitere Beschäftigung mit Musik prägend, weil es als seine (oder ihre) Anhänger als Multiplikator eingesetzt hat, die ein bestimmtes Weltverständnis verbreiten. Man muss nur an Chers getürkte Indianervergangenheit denken (Cher heißt eigentlich Cherilyn Sarkissian und ist Armenierin) oder an John Lee Hookers The Healer.

Wicca meint hier den Glauben an eine Beseeltheit der gesamten Schöpfung, der Glaube an Magie als Energie zwischen den Dingen und der Wunsch zur Rekonstruktion einer oftmals matriarchalen Kultur, in der nicht nur alle Dinge besser waren, sondern auch jene riesige christliche Zerstörung nicht stattgefunden hat, die alle Hexen verbrannt, das alte Wissen vergraben und die Weisheit aus der Welt gebannt hat. Nicht umsonst fühle ich mich hier immer an Monty Python erinnert. Verwandelt müsste es dann heißen: „Was haben uns die Christen eigentlich gebracht?“ „Die Aquädukte.“ …

Wicca benutzt Gesang nicht immer und nicht ausschließlich, doch wird es gerne bei Beschwörungen/Anrufungen benutzt.162 Luisa Francia schreibt richtig in Zaubergarn:

Wer gehen kann, kann auch tanzen, heißt es, und wer sprechen kann, kann auch singen.163

„Mysterium ist Überraschung“ schreibt Starhawk in Mit Hexenmacht die Welt verändern.164 Und sie beschreibt sehr passend gleich die mystische Wirkung des Gesangs:

Dann beginnt jemand zu singen. Der Gesang ist wortlos. Ein tiefer Brummton mit offenen Vokalen, der anschwillt und wächst, als seien wir die kollektive Stimme irgendeines uralten Tiers, das brummt und singt, eine Stimme, die nichts von Waffen, Mauern, Knüppeln, Tränengas oder Stacheldrahtzäunen weiß, und dennoch Schutz bietet, eine Stimme jenseits jeder Bewachung, jenseits des Kalküls, doch nicht jenseits des Wissens, eine Stimme, die, wenn auch nicht von unserem Verstand, so doch von unseren Körpern erkannt wird und auch den Wächtern bekannt ist, deren Menschenkörper, wie unsere, Millionen von Jahren vor der Erfindung der Herrschaft Tierkörper waren.165

Für Starhawk ist ein Ritual ein „nach einem bestimmten Muster ablaufendes Handeln“166. Singen ist für sie ein wichtiger Teil eines Hexenrituals.167 Ihre Ritualvorschläge enthalten daher auch Vorschläge für das Singen, z.B. in eine Litanei namens Heiliger Brunnen und heilige Flamme eingepasster Sprechgesang168 oder für das Singen des eigenen Namens:

Leichte Spielart: Einer nach der anderen singen alle Personen in der Gruppe ihren Namen, so kreativ wie nur möglich. Die Gruppe singt sie dann zurück, als Bejahung des Eigenwertes jeder Person.

Herausfordernde Spielart: Die Herausforderung besteht darin, deinen Namen in einer Art und Weise zu singen, die der Gruppe deine Macht zeigt. Nachdem eine Person zum ersten Mal ihren Namen gesungen hat, reagiert die Gruppe mit Kritik und Ermutigung:

»Komm – ich weiß, dass du machtvoller sein kannst.«

»Los, lass es ’raus.«

»Das war schon gut – aber du kannst noch stärker sein.«

Die Person singt ihren Namen ein zweites und dann ein drittes Mal. Nach dem dritten Mal, wenn die Gruppe zufrieden ist, dass die Person ihre Macht wirklich gezeigt hat, singt sie den Namen zurück und klatscht und trommelt vielleicht noch dazu.169

Drei Dekaden

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