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2. Status Quo

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Die Phantastik ist mit ihren mythischen Bildern nach vielen Jahrzehnten als verlachte Randerscheinung der Literatur längst im Mainstream angekommen. Dies gilt nicht nur für die Literatur, sondern auch für den Film und die Musik. Ich brauche – völlig anders als noch vor zwanzig Jahren, als das Lesen von Fantasy ähnlich ruchbar war wie der Import von bunten Druckheften aus Dänemark – nur auf die Bestsellerlisten zu verweisen, wo nicht nur Harry Potter für die Phantastik punktet. Auch die Herr der Ringe-Verfilmung, Narnia, Beowulf und was da sonst noch in den letzten Jahren über uns hereingebrochen ist, hat bewiesen, dass mythische Bilder längst ihren Platz in der allgemeinen Kultur eingenommen haben.

Keine andere Literaturgattung kennt eine so enge Bindung zwischen Musik und Literatur wie die Phantastik. Nur der Krimi hat eine ähnliche Leserbindung entwickelt wie die Phantastik – analog mit Veröffentlichungen zum Thema, dem Erscheinen von eigenen Magazinen (Fanzines) und einem eigenen Fan-Publikum (Fandom genannt).

Doch spielt Sherlock Holmes zwar meisterhaft die Violine, aber ein singender Sherlock oder ein singender Arsene Lupin sind undenkbar. So gibt es zwar die Tanzenden Männchen bei Holmes, aber keine Hinweise auf Gesang. Der bekannte Detektiv Nero Wolfe beschäftigt sich nur mit Philosophie, seiner Bibliothek, Wein und Essen127; Sherlock Holmes128 nur mit Tabak und der Violine. Gesang findet nicht statt – und der Singende Detektiv ist daher auch eine eher humoristische Fernsehserie als eine echte Bereicherung des Genres.

Anders in der Fantasy. Wir wissen sofort, dass Prinz Eisenherz sein singendes Schwert führt, auch wenn dies Schwert überhaupt nicht singt. Da musste man schon bis Falsches Spiel mit Roger Rabbit (1988) warten, wo ein singendes Schwert mit dem Gesicht von Frank Sinatra vor sich hin fechtet. Aber praktisch kein Fantasy-Roman kommt ohne die Gesänge irgendwelcher obskurer Volksgruppen aus, die nur singend reisen oder ihre Rituale und Zauber gerne mit Gesang untermauern. Ein wenig fühle ich mich bei Elben immer an den 17. Asterix-Band Die Trabantenstadt gemahnt: Die Elben können nur arbeiten, wenn sie singen – die Elben sind vom Arbeiten befreit.

Sprache hat in der Fantasy-Literatur eine ganz eigene Bedeutung. In seiner Doktorarbeit zur Fantasy schreibt Helmut Pesch darüber:

Die Welt der Fantasy ist somit in einem ganz besonderen Sinne eine Welt, die aus Sprache aufgebaut ist; es verwundert darum auch nicht, dass die Sprache die Möglichkeit gibt, diese Welt zu verändern.129

Die Fantasy kennt einen Zusammenhang zwischen Sprache und wahrer Sprache, die wiederum auf die wahren Namen von Dingen hinweist.130 Wer den wahren Namen einer Sache kennt, der kann die Sache beherrschen. Zur Perfektion getrieben hat dies der Science Fiction-Schriftsteller Samuel R. Delany – in Babel 17 (1966) wird eine Sprache als Waffe eingesetzt. Wer etwas in dieser Sprache richtig beschreiben kann, der kann es auch kontrollieren.

Tolkiens Gandalf hat für jede Volksgruppe einen anderen Namen – und da man über ihn nicht mit einem Namen sprechen kann, bleiben seine Manipulationen auch unbesprochen, weil man offensichtlich nicht vom selben Namen (und damit eigentlich derselben Person) spricht. In Ursula LeGuins Erdsee-Trilogie131 geht es darum, dass der wahre Name Magie ist.

Die Phantastik bietet sich an als Spielwiese für den Einsatz von Magie im Gesang – und natürlich führt gerade die Medienpräsenz der Fantasy im Film dazu, dass hier von der Leinwand herab auch elbisch gesungen und auf Soundtrack-Alben in Harfen und mystischen Klängen geschwelgt wird.

Für die Musik gilt das im Wechselschluss auch, aber hier sind die Regale der Musikläden nicht nur voll mit Soundtracks, sondern auch mit allen möglichen heidnischen, mystisch/mythischen und zauberischen Titeln.

Dass der Mythos des Gesangs in der populären Kultur noch vorhanden ist und fröhliche Urstände feiert, ist spätestens seit dem 2. Weltkrieg kein Geheimnis mehr. Schon in den späten 40ern und frühen 50ern des 20. Jahrhunderts machte eine Amerikanerin auf sich aufmerksam, die angeblich Indio-Prinzessin, Priesterin und Sonnenjungfrau in einem war – 1952 schaffte sie es sogar auf das Titelbild des Spiegel: Yma Sumac.132 Sie sang populäre Lieder wie Wimoweh alias The Lion sleeps tonight:

In the jungle, the mighty jungle

The lion sleeps tonight

In the jungle the quiet jungle

The lion sleeps tonight

Sie sang aber auch Zauberweisen und Regenbeschwörungen a la Nina (Fire Arrow Dance) und Wanka (The Seven Winds). Obwohl diese Titel nicht für einfache Vermarktbarkeit sprachen, waren sie doch in einer unverständlichen Sprache gesungen, füllte sie große Hallen, tourte durch die UdSSR, durfte viele Jahre später auf einem Sammlung mit Liedern aus Disney-Filmen ein Stück beitragen (I wonder auf dem Sampler Stay awake) und war im Soundtrack zu The Big Lebowski zu hören (mit Ataypura).

Wem auch dieser Hinweis zu unauffällig erscheint, dem sei eine andere Quelle ans Herz gelegt, die weder als zu unbekannt noch als zu unpopulär gelten darf. In einer Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung der letzten Wochen war folgender Absatz zu lesen. Und wer hier nicht an singende Zwerge denkt, der ist wahrscheinlich deutlich weniger voreingenommen als ich:

»1,31 Meter groß, kurze Arme, sieben Finger – vier rechts, drei links –, großer, relativ wohlgeformter Kopf, braune Augen, ausgeprägte Lippen; Beruf: Sänger.« So beschreibt sich der 1959 geborene Konzertsänger Thomas Quasthoff selbst. Quasthoff dürfte das bekannteste Contergan-Kind Deutschlands sein.133

Wenn jetzt dieser Thomas Quasthoff Odins Meeresritt (von Aloys Schreiber, 1761-1841) in der Version von Carl Loewe (1796-1869) singt134 – ist das dann Zauberei, Fantasy, Mythos oder einfach nur Mainstream?

Drei Dekaden

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