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3. Mythische Wurzeln

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Ich will die mythischen Wurzeln nur streifen, da mein Hauptbetrachtungsgebiet ja in der Gegenwart liegen soll. Natürlich schöpfen moderne Mythen aus Sagen & Mythen – die aber wiederum aus Sagen & Mythen schöpfen die dann wiederum aus Sagen & Mythen schöpfen … Der Vorteil bei einer Betrachtung der Gegenwart ist, dass man sich nicht Gedanken über jeden einzelnen Einfluss machen muss, sondern die Dinge in situ betrachten kann. Der Nachteil ist eben, dass einem manche Anspielung, manches Zitat entgeht … womit man eben leben muss. Schon gar, weil die Betrachtung einer Beziehung im aktuellen Zusammenhang Wechselwirkungen mit der Gesellschaft aufweisen kann, die nachvollziehbar sind, während eine historische Ableitung gerne dazu führt, sich in unterschiedlichen Traditionslinien zu verirren, anstatt die tatsächlichen Auswirkungen zu betrachten.

Schon die griechischen Sagen kennen nicht nur die Sirenen, deren Zaubersang Seeleute anzog. Selbst Asterix und die Seinen wussten, dass man sich bei störendem Gesang nur Petersilie oder ähnliches in die Ohren stopfen muss.

Während die Sirenen aber noch klassischer Monster waren, war Orpheus ein Mensch, der mit Gesang und Lyra alle Wesen bezauberte.135 In Franco Serpas Aufsatz Orpheus, der erste Künstler heißt es wenig verständlich:

Orpheus, der mythische Vorfahr der Dichter, ist das Modell, in dem wir heute noch die Identität von Poesie und Musik und ihre ursprüngliche Energie finden können, die dem Menschen eine instinktive Einfühlung in die Natur gab und ihm die Geheimnisse des Todes offenbarte.136

Praktischerweise hatten die Griechen eine eigene Muse für den Gesang, Terpsichore mit Namen.137 Aber hier ist Gesang ein Mittel zur Magie, ein Zugang zum Mythos, aber nicht prägender Bestandteil. Es ist eben nur eine Muse für den Gesang zuständig. Der Kombination Instrument und Gesang wohnt ein Zauber inne, der jedoch nicht auf sie begrenzt ist. Zaubermächtig konnten auch andere Dinge sein, Prophezeiungen wurden nicht gesungen, Zauber eher durch magische Gegenstände oder durch magische Wesen als durch die Kraft des Gesanges gewoben.

Anders liegt der Fall in der nordischen Mythologie. Diese wird oft (unrichtig) als nordische Dichtung verstanden.138 Die Bezeichnungen Edda-Lieder und Lieder-Edda lassen jedoch nicht die Deutung zu, dass diese Epen gesungen worden sind. Weder die Snorra-Edda, jenes Handbuch der Skaldendichtung139, noch die Lieder-Edda waren Sammlungen von Gesangsstücken. Auch wenn in manchen Übersetzungen immer wieder in den Sagas zur Magie gesungen wird – die in der Literatur verwendeten Stichwörter wie Lieder oder Liedfragmente sowie der Gesamttitel Götter- und Heldenlieder140 lassen nicht darauf schließen, dass diese Stücke wirklich gesungen worden sind.

In Simeks Lexikon der germanischen Mythologie sucht man daher die Stichworte Gesang/Singen, Lied und Musik umsonst. Daher bleiben Simeks Hinweise wie der unter Zaubersprüchen unverständlich:

Zaubersprüche wurden aber nicht immer ausgesprochen oder gesungen.141

Was dann noch an Artikulationsmöglichkeiten für den Zauberspruch bleibt, dürfte sich zwischen jodeln und summen abspielen.

Wirklich gesungen wird in der Edda wenig. Eine der wenigen Ausnahmen ist der folgende Vers aus der Wöluspa:

Da saß auf dem Hügel / und schlug die Harfe

Der Riesin Hüter, / der heit’re Egdir.

Vor ihm sang / im Vogelwalde

Der hochrote Hahn, / geheißen Fialar.

Den Göttern gellend / sang Gullinkambi,

Er weckt die Helden / bei Heervater,

Unter der Erde / sang ein andrer,

Der schwarzrote Hahn, / in den Sälen Hels.142

Nicht gerade eine beeindruckende Quelle für den Zusammenhang zwischen Gesang und Mythos.

Herrmann ließ sich in Deutsche Mythologie immerhin zu einem ganzen Satz hinreißen:

Feierliche Lieder zum Preise der Götter erklangen beim Opferfeste.143

Dann folgen noch einige Worte über einen angelsächsischen Vers und der folgende Hinweis:

Aber keins von diesen alten ehrfürchtigen Liedern ist auf die Nachwelt gekommen, selbst ihren Inhalt können wir kaum vermuten.144

Ausgehend von dieser Einschätzung könnte man sagen, dass überhaupt keine Aussagen über Gesang und Mythos in der nordischen Mythologie möglich sind.

Auch Kieckhefer kann in Magie im Mittelalter zwar zu den Sagas schreiben, dass Zauberei mit Gesang zusammenhängt. Aber im Kontext wird klar, dass es hier um die Rezitation von Zaubersprüchen, also um sprechen oder rezitieren geht, nicht um Gesang.145

In den Merseburger Zaubersprüchen heißt es immerhin:

da besang ihn Sinthgunt, der Sunna ihre Schwester, da besang ihn Frija, der Folla ihre Schwester, da besang ihn Wodan, der das wohl konnte (…)146

Aber ob dieses besingen ein echter Zauber ist – diese Information gibt die Quelle nicht her.

Die Bibel enthält eine Menge Hinweise zum Thema Gesang.147 Glaubt man dem Nachschlagewerk Bibel von A bis Z, dann taucht das Stichwort Gesang nur zwei Mal in der Bibel auf, und das nur im Alten Testament. 19 Verweise finden sich zum Stichwort Lied, davon nur drei im Neuen Testament, kein Eintrag zu Musik, aber 25 Einträge zu singen (davon immerhin ein Eintrag im Neuen Testament). Auch wenn man daraus klar schließen wollte, dass das Alte Testament wesentlich Musik-freudiger ist als das Neue Testament – immerhin heißt es in Offenbarung 5,9 „und sie sangen ein neues Lied“ –, so ist die Quelle für die Motivation hinter neuen Gesangbüchern doch die ähnlich lautende Stelle im 98. Psalm: „Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder.“148

Scheinbar gibt es eine Abnahme in der Sangesfreudigkeit vom Alten Testament zum Neuen Testament – wobei weder ein singender Moses noch ein singender Jesus wirklich vorstellbar sind.

Aber es ist nicht die Bibel, welche die Grundlage für die Verwendung für Gesang im Gottesdienst schuf. Immerhin schuf Gott die Erde auch mit Sprache, nicht mit Gesang: „Und Gott sprach: Es werde Licht!“149

Die christliche Gemeinde hat Gesang schon früh benutzt, um ihn im Ritus einzubauen. Gesang war hier Mittel zum Zweck, sollte als Teil der Liturgie Heiligkeit schaffen und durch das gemeinsame Singen Gemeinschaft erzeugen. Die großen Kirchen wurden gebaut, um Gesang zu unterstützen. Rudolf Wendorff schreibt in Zeit und Kultur dazu:

Die langen Nachhallzeiten mittelalterliche Kirchen führen zu einer Klangverschmelzung, erzwingen eine Verlangsamung des Tempos von Rede und Gesang und verstärken damit den Eindruck feierlicher Würde.150

Gesang hat hier keine rein mythische, sondern eine liturgische Bedeutung. Um es ein wenig böse zu sagen: Man singt, weil es gut klingt.

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