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Kapitel 4

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Wittlich, Dienstag, 16. April 2013 früher Morgen

Tastend greift er um sich. Noch ist es dunkel um ihn herum und im ersten Moment des Wachwerdens weiß Joseph nicht, wo er sich befindet. Es ist kalt und seine Hand greift ins Leere. Die dünne Decke, die er aus Ludwigshafen mitgebracht hat, wärmt ihn nicht. Der frühe Morgen ist frisch, noch fehlen die wärmenden Strahlen der Sonne an diesem Dienstag im April. Fast wäre die Nachttischlampe zu Bruch gegangen, als seine Hand auf der Suche nach dem Lichtschalter herumirrt. Ein erster Blick auf seine Armbanduhr. Ernüchtert stellt er fest, 4 Uhr 53, noch mitten in der Nacht. Im spärlichen Licht der Funzel auf dem Sideboard beim Bett sieht er aus halb verschlafenen Augen, das die Balkontür sperrangelweit offen steht. Auch die Vorhänge sind nicht zugezogen, sondern noch genauso wie bei seiner Ankunft, als er alles aufgerissen hat, um frische Luft in sein Traumschloss einströmen zu lassen. Soll er schon aufstehen oder doch noch auf Schlaf hoffen? Aus schmerzlicher Erfahrung ist ihm bewusst, dass es meistens nicht die beste Idee war, sich im Bett herumzuwälzen, wenn er eigentlich nicht mehr müde ist. Wenn er trotzdem versucht noch etwas Schlaf zu finden, ist dies meistens schief gegangen. Die dunklen Schatten der Vergangenheit schlichen sich da nur allzu gern in sein Unterbewusstsein. Alpträume sind die unweigerliche Folge. Seine Psyche treibt ihren Schabernack mit ihm. Da kommt er nur wieder mit Mühe raus aus diesem Hamsterrad.

Also aufstehen. Die kleine Nachttischlampe verbreitet nur spärliches Licht im Raum. Mit prüfendem Rundumblick erfassen die Augen die Ausmaße seiner neuen Behausung. Hier will er nun ein neues Leben beginnen, oder zumindest den Versuch wagen, es zu tun. Nur jetzt gilt es planmäßig und strukturiert vorzugehen, den Tag einzuteilen. Die Kleider von gestern liegen unordentlich auf einen Stuhl hingeworfen vor ihm. Gestern waren die Schmerzen in seinem Beim unerträglich, da konnte er nicht auf Bügelfalten achten. Langsam wird ihm klar, zur Zeit schmerzfrei! Die Tabletten haben ganze Arbeit geleistet. Ein neues nahezu ungewohntes Gefühl. Nur nicht gleich übermütig werden und mit dem Training zum Mainzer Gutenberg-Marathon beginnen. Sachte mein Lieber, nicht alles auf einmal.

Den Alltag gestalten, das sieht er als seine vordringliche Aufgabe. Koffer auspacken, sich wohnlich einrichten und dann weitersehen. Alles in Ruhe. Eins ist aber schon bald klar, ein Großteil seines Gepäcks befindet sich noch in seinem Auto. Das wird eine Plackerei und ob sich wieder ein junger Mann findet, der ihm behilflich ist, bleibt abzuwarten. Zur Not geht er eben mehrmals die zwei Etagen runter und nimmt immer einen kleinen überschaubaren Teil seiner Habe mit rauf in seine Wohnung.

Langsam wird es hell, Joseph Wolf achtet nicht auf die schönen Farbspiele am Horizont des neuen Morgens. Er ist vollauf damit beschäftigt den einen großen Koffer auszupacken, den er mit Mühe auf das Bett gewuchtet hat. Frühstück wäre jetzt nicht schlecht. Mist, den löslichen Bohnenkaffee hat er in der großen braunen Tasche mit den übrigen Küchenutensilien. Schade. Also zieht er sich die Jacke über, nimmt seine Gehhilfe und macht sich auf den langen Weg nach unten zum Parkplatz.

Überrascht ist er als er vor die Eingangstür tritt. Hier herrscht reger Betrieb. Wo kommen nur die Menschen alle her, die zu ihren Autos oder zum Bus hasten? Gestern hatte er nicht den Eindruck, dass hier viele Leute leben. Ihm war`s egal. Den kleinen Rucksack hat er nicht mitgenommen, könnte er jetzt gut gebrauchen, da hätte er die Hände frei. Mit einem Seufzer der Verzweiflung wohl wegen seines eigenen Unvermögens in praktischen Dingen, wird ihm wieder einmal bewusst, was er noch alles lernen muss. Nun, der dumme Spruch wonach das was man nicht im Kopf hat, man halt eben in den Beinen haben muss, trifft bei ihm leider nur bedingt zu.

Es ist fast zehn Uhr als er seinen dritten Versorgungsgang erfolgreich hinter sich hat. Sein Bein scheint noch zu schlafen, das überrascht ihn nun doch, oder sind die neuen Medikamente derartige Hämmer, das er nichts mehr spürt. Ob die Nervenbahnen von der Hüfte abwärts blockiert sind? Nein, das ist blanker Unsinn, da könnte er ja nicht die Treppen runter und wieder hoch steigen.

Pause, jetzt gönnt er sich eine zweite Tasse Kaffee. Wunderbar dieser Duft, der ihm da in die Nase steigt und seine gute Stimmung an diesem ersten Tag seines Experiments noch steigert. So gefällt es ihm, das lässt sich gut an, kann so bis Weihnachten bleiben und dann besser werden. Im Radio läuft irgendeine Reportage über Namensforschung, er hört nur mit halbem Ohr zu.

Strukturierter Tagesablauf, hört sich einfach an, doch womit beginnen? Ein schwieriges Unterfangen, zumal in einer fremden Stadt, gehbehindert auf Grund einer Schussverletzung und dienstunfähig geschrieben. Alle Wege stehen dir, Joseph Wolf, Kriminaloberkommissar bei der Kripo in Ludwigshafen offen, nur fang endlich an, irgendetwas zu tun. In der letzten Zeit hat er sich angewöhnt schon mal Selbstgespräche zu führen. Es fällt ihm nicht auf, wenn er zu sich redet und Anweisungen erteilt. In der Klinik war dies eigentlich so wie ein lautes Vorlesen der Termine des Tages. Unbewusst ist diese Marotte hängen geblieben.

Bevor er zu einem ersten kleinen Rundgang in der näheren Umgebung seines Domizils aufbrechen will, nimmt er aus dem Hartschalenkoffer seine Schreibutensilien und legt diese auf den Tisch. In einer der vielen täglichen Ratgebersendungen im Fernsehen hat er einen Beitrag über die heilende Wirkung des Tagebuchschreibens gesehen. Das findet er gut, damit fängt er an.

Sein Platz nahe am Fenster wird von der Frühlingssonne erreicht, ideal für tiefgreifende Aufzeichnungen. Alles soll notiert werden, diesem Rat des Reporters will er folgen. Nicht einfach drauf los kritzeln ist sein Anspruch, sondern sich vorher klar darüber werden, welche Rubriken wichtig sind, welche nur schmückendes Beiwerk.

In Schönschrift auf dem Deckblatt steht schon sein Name. Joseph mit ph, so wie er eben heißt. Warum er nicht einfach ein Josef mit f ist, das hat er nie herausbekommen. Seine Vermutung geht aber in die Richtung, dass seine strenggläubigen Eltern irgendwie bei der Namensgebung das lateinische Josephus im Hinterkopf hatten. Aber egal, nicht mehr aufzuklären, da beide Eltern, Mutter und Vater, schon seit langem auf dem Friedhof liegen. Eine Entscheidung ist nötig. Der Titel ist das a und o, hier wird leicht geschludert, ein Hinweis auf den Inhalt, ja, so musste es sein.

Tagebuch, zu banal. Da muss mehr in der ersten Bezeichnung liegen, denkt er sich und fängt an mögliche Varianten auf einem separaten Blatt zu skizzieren.

Schmerz-Tagebuch,

aber da fehlt die genaue Uhrzeit, könnte für seine Ärzte wichtig sein. Also den Titel erweitern.

Schmerz-Stunden-Tagebuch,

klingt schon besser aber noch nicht so rund, wie er sich das vorstellt. Neuer Versuch, vielleicht

Schmerzerlebnis Tagebuch in Klammer nach Stunden.

Das geht gar nicht, klingt abstrus und ist zu hochgestochen. Mit dem Kugelschreiber markiert er einen dicken Trennungsstrich im Schmerzerlebnis aber auch damit ist Joseph nicht zufrieden. Dann schreibt er Tagebuch auf die erste Seite unter seinen Namen und das gestrige Datum.

Die ursprüngliche Idee mehrere Kladden zu führen, wird schnell verworfen, obwohl und da gibt es für ihn kein Vertun, er wird ehrlich zu sich sein, keine Beschönigungen. Kommt nicht in Frage. Entweder so wie er es für diesen Tag als wichtig erachtet, oder gleich das ganze sein lassen. Aber was, wenn jemand dann doch einmal das Tagebuch in die Hand bekommt, vielleicht wären dann gewisse Dinge auch peinlich. Aber solche Eintragungen waren für den gestrigen Tag ja nicht zu erwarten.

Also legt er los. Montag, 15. April 2013

Die Ereignisse des ersten Tages seiner Ankunft schreibt er nieder. Locker füllt Joseph die ersten zwei Seiten seines Tagebuches. Er hat nichts ausgelassen, die weite Fahrt, die Schmerzen im Bein und das Kennenlernen der beiden jungen Leute auf der Treppe. In blumigen Umschreibungen notiert er zu seinem Gesundheitszustand: Ich habe Schmerzen im linken Bein, so als ob mich ein Brauereigaul getreten hat. Über diese erste Notiz über seinen Gemütszustand wird er später öfter lachen, wenn er so in seinen Aufzeichnungen blättert und sich schon mal wundert, wie so alles gekommen ist.

An seinem ersten Nachmittag in Wittlich kommt nur ein kleiner Spaziergang in Frage. Bevor er sich aufmacht, ein kritischer Blick in den Spiegel. Auf sein äußeres Erscheinungsbild legt er großen Wert. Die Kleidung dezent aber ordentlich. Das ist ihm wichtig. Joseph, Bauch rein, häng nicht so rum wie ein alter Mann, so ermahnt er sich bevor er die Tür zu seinem ersten Abenteuer in der für ihn noch fremden Stadt sorgfältig abschließt und sich auf den Weg macht.

Die Formalitäten im Büro der Wohnungsbaugesellschaft sind schnell erledigt. Auf einem Stadtplan zeichnet die Angestellte, die er gestern bei seiner Ankunft kurz gesprochen hat, alle wichtigen Örtlichkeiten wie Bäcker, Metzger, Supermarkt und Getränkeshop ein, damit er sich orientieren kann. Mit ihrem Dialekt kann Joseph wenig anfangen, einiges kann er erahnen, manchmal nickt er zu den Worten der jungen Frau. Als diese merkt, dass der neue Mieter ihr nicht folgen kann, versucht sie es mit Hochdeutsch, was zwar nicht unbedingt besser bei ihren Betonungen klingt, aber wenigstens versteht Joseph Wolf was sie ihm sagen will. „Verlaufen kenne sie sich in Wittlich net, im Zweifel immer den Schildern Zentraler Busbahnhof nachgehen, das ist unser Zentrum, müssen sie wissen und dort frage sie am besten nach dem Rückweg.“ Joseph bedankt sich für die Auskünfte, denkt sich „lustiges Mädel, aber auf die Dauer doch zu anstrengend“ und stapft tapfer los.

Die im Stadtplan eingekringelten Anlaufstellen zur Versorgung seiner Bedürfnisse findet er ohne Schwierigkeiten. Was er zum Leben braucht, findet er an der nächsten Kreuzung. Alles vorhanden, er hat sogar die Auswahl zwischen zwei Bäckereien. Sein Entschluss den, wie er meint klassischen Handwerksbetrieb dem Backshop des Supermarktes vorzuziehen, erweist sich zu einem späteren Zeitpunkt als Flop. Gleicher Firmeninhaber, gleiche Backmischung, das Brot schmeckt nur dann, wenn es frisch gekauft ist. Am nächsten Tag ist nur noch ein fader an Papier erinnernder Geschmack vorhanden. Da kommt es ihm entgegen, dass er immer nur kleine Rationen einkauft.

Joseph Wolf fühlt sich in seiner neuen Umgebung wohl. Täglich geht er spazieren, zunächst darauf bedacht, sich nicht zu viel zuzumuten. Sein gewählter Rundweg führt um die Wohnanlage herum. Kommende Woche soll sich der Wirkungskreis erweitern. Das Hochsteigen der zwei Treppen bis zu seiner Wohnung macht ihm keine Schwierigkeiten. Es tut seinem Bein sogar gut. Die Schmerzen halten sich tagsüber in Grenzen. Nur für die Nacht braucht er Medikamente, sonst kann er nicht einschlafen. Besser auf Droge, als sich stundenlang rumwälzen, das ist seine Devise. Um sicher Ruhe finden zu können, erhöht Joseph eigenmächtig die Dosis und knipst zwei der bunten Kapseln aus der Plastikumhüllung.

Die Tage vergehen ohne besondere Höhepunkte, dessen ist er sich bewusst. Langsam soll es mehr werden, das liegt voll in seinem Zeitplan. Es gibt dann einen Moment, da fühlt sich der Ludwigshafener Kripomann im Krankenstand irgendwie beobachtet. Nur ein Gefühl, so genau lässt sich dieses Unbehagen nicht benennen. Berufskrankheit eben!

Sein Abendessen hat er schon hinter sich, sitzt so da und schaut zum Fenster raus. Die Bäume sind teilweise schon mit frischem Laub begrünt. Ein lauer Abend. Da kommt der Kriminalist wieder durch, er ist es durch seine jahrelange Tätigkeit bei der Kripo gewohnt auf Kleinigkeiten zu achten. Als verdeckter Ermittler war dies in jungen Jahren oft überlebenswichtig. Er bewegt nur die Augen um die gesamte Sichtbreite des Fensters abzusuchen. Nichts. Hat er sich getäuscht? Der Schatten eines Vogels, versucht es mit einer plausiblen Erklärung. Ein Rabe oder so was in der Art, wird es gewesen sein.

Eine Woche später ist das Rätsel gelöst. Joseph hat Gewissheit, eine allerdings recht schmerzhafte Gewissheit. An diesem Morgen ist er aufgeregt. Sein erster Termin in der ihm zugewiesenen psychologischen Facharztpraxis. In den letzten Tagen ist er bei seinen täglichen Rundgängen um die auf seinem Therapieplan angegebene Adresse herumgeschlichen. Besser schon vorab wissen wohin er heute Morgen muss, als überhastet auf den letzten Drücker ankommen. Die Entfernung zur Innenstadt hat er unterschätzt. Also bestellt er sich ein Taxi um zum verhassten Termin am Marktplatz chauffiert zu werden.

Seine Idee ist das sicherlich nicht gewesen, aber seine vorgesetzte Dienststelle hat da die Finger im Spiel. Alles arrangiert, Termine über Termine, da kann er sich nicht verwehren, ohne seinen Status als krankgeschriebener Beamter zu riskieren. Er fügt sich widerwillig, darf nicht negativ auffallen, sich alles offen lassen. Von aktiver Mitarbeit bei seiner Gesundung im seelischen Bereich ist aber in seinen Unterlagen nichts zu lesen. Ist eh ein Schmarrn, eine Modeerscheinung. Gut das ist schon eine happige Portion gewesen, die das Schicksal ihm da hingeklatscht hat, aber da muss er durch, nur er allein, wer soll ihm da schon helfen. Die Knochendocs in der Spezialklinik in Ludwigshafen haben gute Arbeit geleistet, alle Achtung. Was soll jetzt noch der Psychofuzzi in seiner Jugend herumschnüffeln.

Er ist es doch, der am besten weiß, was in ihm steckt, womit er sich herumschlägt, was das aber im Einzelnen für eine Bedeutung hat, das ist für ihn wurscht, ändert ja doch nichts. Das fehlt ihm noch zu seinem vollkommenen Glück! Da hat Joseph eine feste Meinung, das kennt er von Gesprächen mit Kollegen. Alles wird von unten nach oben gekehrt. Am Ende ist nichts wie vorher, geholfen hat`s aber auch nicht. Unglückliche Kindheit, Dominanz des Vaters, unterdrückte Libido zur Mutter, wichsen unter der Bettdecke und des ganze sonstige Scheiß halt. Alles Kacke, Schlagworte, nur bedingt auf ihn anwendbar. Einiges trifft zu, ist doch normal für einen pubertierenden Jungen, soll er darüber reden?

Je näher das Taxi seinem Zielort kommt, desto mulmiger fühlt sich der Oberkommissar Joseph Wolf. Eine eiserne Faust scheint ihn in das Polster auf dem Rücksitz zu pressen. Eine Klammer hält sein Herz umschlossen. Das Atmen fällt ihm auf einmal schwer. Lästig diese Beklemmung, tief Luftholen ist das einzige was hilft. Diese Ungewissheit macht ihm zu schaffen. Er weiß nicht was da auf ihn zukommt. Und wenn er auf dem Absatz kehrt macht, einfach nicht hingeht? Was dann? Fliegt er aus dem Polizeidienst wegen grober Pflichtverletzung? Hartz IV ist keine Lösung, also nimmt Joseph Wolf die Herausforderung an. Hilft ja nichts!

Hätte er doch den Lift genommen, nun kommt er schnaufend wie eine alte Dampfwalze oben an, ist außer Atem, gerade das hatte er doch vermeiden wollen. Unmittelbar nach dem er auf die Klingel gedrückt hat, ertönt auch schon der Summer. Die Nerven sind angespannt, misstrauisch tastet er sich vor. Es ist nicht so wie erwartet, nicht das kühle Flair, das allen Arztpraxen anhaftet, eher ein großzügig gestaltetes Entree, eher wie in einem Hotel. Neben der Lobby, fehlt nur der Hinweis auf die Bar. Er bleibt vorsichtig, lässt sich nicht täuschen.

Eine junge Dame begrüßt ihn freundlich, gibt ihm die Hand, scheint ihn schon erwartet zu haben. „Noch einen Augenblick, bitte nehmen sie hier schon einmal Platz. Das Behandlungszimmer ist nüchtern und sparsam eingerichtet. Sein Blick schweift durch den Raum. Dort die obligatorische Liege mit dem schwarzen Leder, wie befürchtet erhöht sich bei diesem Anblick seine Atemfrequenz deutlich. Joseph bleibt vor dem Schreibtisch stehen und wartet ab. Ein ungutes Gefühl kommt immer stärker bei ihm hoch. Weg kann er nicht, obwohl das für ihn im Augenblick als die beste Lösung erscheint. Zu spät.

„Bitte nehmen sie doch Platz“ die freundliche Arzthelferin ist wieder zurück, legt eine Akte auf den Tisch. Joseph ist überrascht, als sich die von ihm als Assistentin eingestufte junge Frau ihm gegenüber auf den Stuhl am Schreibtisch setzt. “ Ich habe mich ja noch nicht richtig vorgestellt. Doktor Burger, Fachärztin für Psychiatrie und Psychoanalyse, ich freue mich das sie gekommen sind.“ Joseph Wolf ist irritiert, das hat er nicht erwartet. Die junge Frau vor ihm ist seine behandelnde Ärztin, die ist doch höchstens 30, 35 maximal, sieht eher wie eine Studentin aus. Das kann ja heiter werden, eine Anfängerin und das bei seinem Krankenbild. Zum ersten Mal fühlt sich Joseph nicht ernst genommen. Eine schwere Bürde lastet auf seinen Schultern, die ihn niederdrückt, und dann das, eine wie er glaubt, direkt von der Universität ausgespukte Fachärztin. Kein Wunder, dass er sich in seinen Vorurteilen mehr als bestätigt fühlt.

Viel Zeit hat er nicht um seinen Gedanken nachzuhängen. Frau Burger bestimmt den Ablauf des Gespräches. Sie zeigt auf den mit einer feinen Kordel verschnürten Aktenordner. „ Herr Wolf, das ist ihre Krankengeschichte, die hier auf dem Tisch liegt. Und dann noch Teile der Ermittlungsakte über die Ereignisse, die zu ihrer Verletzung gefühlt haben. Aber darüber werden wir uns später unterhalten. Jetzt möchte ich mir zunächst ein Bild über sie machen, über ihre Person, Hobbys und so weiter. Die Akten sind noch nicht wichtig.

Von dieser Gesprächseröffnung seiner Therapeutin ist Joseph keineswegs beruhigt. Er wartet ab, will sich keine Blöße geben. Es könnte eine Falle sein. So macht er es auch bei den ersten Vernehmungen. Einmal gesagt, bleibt das Wort ausgesprochen, das kennt er von seinem Job. Um seine Nervosität zu verbergen, reibt er sich die Hand, kaschiert seinen Handrücken.

„Sind sie verletzt, Herr Wolf? Das sieht nach einer Katze aus, darf ich einmal sehen, wenn sich das entzündet, haben sie lange damit ihren Huddel, äh, ich meine, das braucht lange um auszuheilen.“

„Das ist nur ein Kratzer.“ Wolf legt seine verletzte Hand zaghaft auf den Tisch. Die Ärztin begutachtet die drei dicht beieinander verlaufenden Kratzspuren. „Das hab ich mir gedacht, ziemlich tief und schon leicht entzündet. Warten sie ich desinfiziere die Wunde, damit nicht noch Schlimmeres passiert.“

„Uh“ Joseph zieht hörbar die Luft ein und verzieht den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Schon vorbei“, die Ärztin redet mit ihm wie mit einem Kind. „Noch ein Pflaster und die Sache ist ok.“

Joseph fängt an zu erzählen, achtet nicht auf seine Vorbehalte. „Also die Katze gehört einer Nachbarin und ich wollte Diva streicheln. Da hab ich mich aber verrechnet.“ Von Frau Dr. Burger kommt die Anmerkung „was für ein schöner Name, Diva klingt nach einer Grande Dame.“

„Der Name täuscht, Diva sollte ein Mädchen sein, ist aber ein feister durchtriebener Kater.“ Joseph schmunzelt bei diesen Worten, wird lockerer als er weiter erzählt, wie er die Katze fangen wollte. „Das Biest streift jeden Morgen auf den Balkonen herum, dort wo ich vorübergehend wohne, sucht etwas zu fressen. Da habe ich etwas lauwarme Milch auf die Untertasse geschüttet und den Teller neben meinen Stuhl gestellt. Und dann kam Diva, streift herum, ich ganz unbeteiligt, die Hand lässig herunterhängend, bereit nach der Katze zu greifen. Dann ging aber alles schnell, ich hab das gar nicht alles mitgekriegt. Als ich zugreifen wollte, stellt sich das Vieh doch auf die Hinterbeine, wie ein kleiner Boxer und dann, eins zwei Schläge mit der Pfote, da hatte ich mein Fett weg. So schnell konnte ich gar nicht reagieren.“

Die Ärztin lacht, Joseph stimmt mit ein. „Gegen eine Katze haben sie keine Chance, so schnell ist der Mensch nicht. Und außerdem, das Tier spürt instinktiv, wenn Gefahr droht, da sind die Antennen auf Angriff und Flucht gestellt.“ Joseph hebt die lädierte Hand zum Zeichen, das er verstanden hat.

„Warten sie ab, Diva kommt von ganz alleine und lässt sich streicheln. Da muss so etwas wie vertrauen wachsen, ich habe selbst einen solchen Stubentiger, verschmust aber eigenwillig. Wenn sie Geduld haben, brauchen sie künftig kein weiteres Dilpengeld, ich meine Lehrgeld, zu zahlen.“ Dabei deutet die Ärztin auf die immer noch erhobene Hand des vor ihr sitzenden Oberkommissars im Krankenstand. Ihr Lächeln ist geheimnisvoll, so natürlich. Es tut gut, schafft Vertrauen für die weitere gemeinsame Arbeit.

Für Joseph verlief das erste Treffen mit seiner Therapeutin besser als befürchtet. Auf die Couch hat er sich nicht legen müssen, davor hat er einen Heidenbammel, einen richtigen Horror. Da so schutzlos liegen, ausgefragt werden und nicht mehr Herr der eigenen Gedanken zu sein, das macht dem ansonsten harten Kerl von der Ludwigshafener Kripo irgendwie gehörig Kopfzerbrechen. Für ihn ist wichtig, wieder richtig gesund zu werden. Sein malades Bein ist sein Schwachpunkt, wenn das nicht richtig zusammenwächst, dann ist es aus mit der weiteren Karriere beim Kommissariat in der Chemiestadt, da ist er sich mehr als sicher. Nur so einfach geht das nicht, nicht mit ihm, er lässt sich nicht so einfach in den vorgezogenen Ruhestand abschieben. Das hätten die doch gerne, an ihn denkt keiner der Bürokraten von der Personaldienststelle, die im warmen sitzen, keine Vorstellung von den Anforderungen da draußen, aber sich anmaßen zu entscheiden, ob der Oberkommissar Joseph Wolf nach über zwanzig Dienstjahren abgeschoben wird. Was er dann mit sich und seiner überzähligen Zeit anfangen soll, das ist nicht relevant. Ganz abgesehen davon, wie er finanziell über die Runden kommt, wenn er vorzeitig aus dem aktiven Dienst ausscheidet, dann wird die Pension nicht gerade üppig ausfallen. Ein wichtiger Punkt, daran hat er bisher noch nicht gedacht, Joseph beschließt umgehend an die Pensionskasse zu schreiben, um sich ein genaues Bild machen zu können. Wenn er nicht aufpasst ist er schneller Rentner als er denken kann. Aber das ist ihm noch zu früh, das will er nicht, jedenfalls jetzt noch nicht.

Der Tag ist schön. Die frühsommerlichen Temperaturen verleiten Joseph dazu seinen täglichen Pflichtspaziergang auszudehnen. Es ist ein ganz schönes Stück zu laufen vom Marktplatz bis zu seiner Wohnung aber er hat ja Zeit, heute keine andere Verpflichtung. Wobei sich seine Termine durchaus in einem überschaubaren Rahmen bewegen. Kein idealer Zustand. Wie soll er das ändern?

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