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Indische Bürokratie

„Einfach dann innerhalb von 48 Stunden in Indien ins Immigration Office gehen und diese Aufenthaltsgenehmigung abstempeln lassen.“ Ein hochgewachsener, höflicher Mann im Indischen Generalkonsulat München schob mit unbeteiligter Miene meinen Pass und ein paar Dokumente durch die schmale Durchreiche unter der kugelsicheren Glasscheibe. Im Nachhinein frage ich mich, ob der Schalterbeamte bösartig war, hinterlistig oder schadenfroh. Er muss doch gewusst haben, dass er mich mit „einfach in Indien abstempeln“ in einen Zweikampf ohne jede Gewinnaussicht mit Macht-verliebten Beamten schickt, deren Alltag nicht nur im gnädigen Entgegennehmen von Umschlägen mit pekuniärem Inhalt besteht, sondern vor allem im tagtäglichen Vergnügen, sich Schikanen aller Art für winselnde Antragsteller auszudenken. Vielleicht tue ich dem armen Konsulatsangestellten auch Unrecht. Er kam möglicherweise aus Delhi, wo andere Gesetze herrschen als im Süden Indiens. Das ist ja überall auf der Welt so, dass es im Süden eines Landes anders zugeht als im Norden. Woher kommt die Mafia? Eben.

„Danke.“ Ich nahm meine Dokumente entgegen und setzte mich auf einen der gepolsterten grauen Stühle, senkte den Blick, um vor den Wartenden mein Glück zu verbergen und mein seliges Lächeln dem Visaeintrag und meiner Aufenthaltsgenehmigung zu schenken. Ich war am Ziel aller Wünsche.

In aller Bescheidenheit muss ich sagen, dass mein Forschungsantrag zum Straßentheater in Südindien, dem terukkuttu (Tamil: teru = Straße; kuttu = Drama), einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde verdient. Niemals zuvor, das behaupte ich jetzt, ohne dass ich jemals andere Forschungsanträge hätte einsehen können, war in der Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein vergleichbarer Antrag eingereicht worden: geballte Ahnungslosigkeit auf dreißig Seiten. Noch heute grüble ich, wie mein Forschungsvorhaben positiv begutachtet werden konnte. Möglicherweise sagte man sich, zu dem Thema gibt es nur eine einzige Arbeit, und die ist von einem Amerikaner. Höchste Zeit, dass Deutschland bahnbrechende neue Erkenntnisse vorlegt. Tja, unter Blinden ist der Einäugige König

Ich hatte mir das alles ganz einfach vorgestellt: Fährst nach dem Ausschlafen, so am Vormittag, raus aufs Land, redest gemütlich mit dem einen oder anderen Alten darüber, was man sich in seinem Dorf so für Geschichten erzählt und wie sie szenisch umgesetzt werden, filmst ein wenig, nimmst alles auf Tonband auf, schreibst ein Buch darüber, und schon ist ein Kulturdenkmal der indischen Erzähltradition für immer der Vergessenheit entrissen. Meine Kinder, Johanna, zehn, Lena, sieben, nehme ich mit auf meine Ausflüge, sie würden mal was anderes kennen lernen als immer nur ihren eigenen Namen tanzen im Eurythmieunterricht der Münchener Rudolf-Steiner-Schule. Zurück in Deutschland werden sie dann einen Super-Aufsatz zum Thema „Mein schönstes Ferienerlebnis“ schreiben. Nur blöd, dass es in Waldorfschulen keine Noten gibt. Mit meinem Mann Manuel würde ich mich austauschen und das Leben in Indien in vollen Zügen genießen. Sein Antrag beim Deutschen Akademischen Austauschdienst als Meisterschüler an der Akademie der Bildenden Künste in München war ebenfalls genehmigt worden.

Im Gegensatz zu dem Sessel im Indischen Generalkonsulat in München war der Stuhl im Immigration Office in Pondicherry weder gepolstert noch grau. Ein paar der in einen Eisenrahmen gefassten Fäden des Plastikgeflechts, Naturmaterial zum Verwechseln ähnlich, versuchten den Sitzenden nicht auf den Boden stürzen zu lassen. In Indien sind eben nicht alle Stühle dafür gemacht, dass man bequem darauf sitzen kann. Nach einiger Zeit fühlte ich mich auf meinem Stuhl wie der Fakir auf seinem Nagelbrett. Obwohl der ja angeblich nichts spürt. Ich machte es mir bequem, nahm die Toilettenhaltung ein und stützte die Ellbogen auf die Knie. So drückte mir wenigstens nur noch der Eisenrahmen in die Oberschenkel. Meine Papiere hielt ich bereit wie Klopapier, um mal im Bild zu bleiben. Der kleine, stickige Raum war schon bei Büroöffnung um zehn Uhr morgens voll von Wartenden. Einer nach dem anderen verschwand durch eine dunkelbraun angestrichene Sperrholztür, auf der in frisch polierten Messingbuchstaben „S. Patil“ stand. In dem Raum saß offensichtlich jemand, der gehässig war. Das schloss ich daraus, dass einer nach dem anderen mit seiner Dokumentenmappe unter dem Arm freudestrahlend und mit federndem Schritt in den Raum ging, als wäre er auf eine Geburtstagsparty eingeladen, jedoch mit finsterer oder gar wütender Miene in den Warteraum zurückkam und eiligst dem Ausgang zustrebte. Frauen hatten Tränen in den Augen. Wer weiß, was die wollten, die Armen. Ich brauchte ja lediglich einen Stempel, weiter nichts. Nach drei Stunden war nur noch ein entmutigt dreinblickender Mann im Warteraum, der sich wacker auf seinem Stuhl hielt. Ich spazierte derweil zwischen den sogenannten Stühlen herum, betrachtete das Muster der verrosteten Gitter am Fenster und machte mir Gedanken darüber, wie schön das Leben im Allgemeinen sein kann und wie schön speziell das meine war und in den nächsten zwei Jahren sein würde. Jedenfalls anders als damals, als Manuel und ich mit unserem 9-PS-Auto, einem Citroën 2CV, dem „Döschöwo“, nach Indien gefahren waren und auch wieder zurück.

Endlich war ich dran.

„So, so“, sagte der überaus gepflegte, auffallend hellhäutige und nach Haarpomade duftende Herr S. Patil hinter seinem grün angestrichenen Eisenschreibtisch. Ein Blechbecher mit Tee stand in einer braunen Pfütze. Die Eselsohren der schmuddeligen Blätter, ordentlich auf die linke Seite des Schreibtisches geschoben und mit einer bunten Glaskugel beschwert, winkten lustig im Luftzug des Ventilators. Meine Aufenthaltsgenehmigung hatte ich Herrn Patil in vorauseilendem Gehorsam so auf den Schreibtisch gelegt, dass er nur noch seinen Stempel nehmen und diesen auf die erste Seite zu drücken brauchte.

„Sie sind also Ethnologin.“

„Ja“, antwortete ich sachlich mit einem angedeuteten Lächeln. Nur nicht gleich plump vertraulich werden, nicht dass er noch denkt, ich hätte was zu verbergen. Komisch, dieser Mann gab mir das Gefühl, irgendetwas ausgefressen zu haben. Während der Beamte bedächtig in meinen Papieren blätterte, erforschte ich sorgfältig mein Gewissen in der Rubrik „Visum“. Zwar wurde ich nicht fündig, das Gefühl, ich hätte große Schuld auf mich geladen, verließ mich dennoch nicht.

„Was wollen Sie denn hier erforschen?“

Ich legte eine zweiminütige Elevator Speech hin, ohne ein einziges Mal ins Stocken zu geraten, so überzeugt war ich von meiner Mission.

Seine Miene verfinsterte sich und der schwarze Oberlippenbart zog sich synchron mit seinen Mundwinkeln nach unten.

„Sie sind doch Indologin, und da gibt man sich nicht mit dem Quatsch ab, den irgendwelche ungebildeten Dörfler von sich geben. Da arbeitet man mit Pandits, mit Gelehrten, in den Bibliotheken und mit vedischen Texten auf Palmblättern.“

Mein Gegenüber outete sich als Brahmane, als Gelehrter der obersten Schicht im Kastensystem, während ich vorhatte, Dalit, die Unterdrückten in ihren Slums, und Shudra, die untersten in der Hierarchie innerhalb des Kastensystems, zu Wort kommen zu lassen und das, was sie sagten, ernst zu nehmen und zu dokumentieren.

Vorsichtig versuchte ich eine Richtigstellung meines Berufes.

„Ich bin keine Indologin, sondern Ethnologin, und als solche...“

„Papperlapapp!“, unterbrach er mich. „Sie arbeiten in Indien, also sind Sie Indologin.“

„Ja.“ Ich nickte zustimmend. Jetzt bloß keine Beckmesserei. Gut, dann bin ich eben Indologin. Von mir aus. Hauptsache Stempel.

Mr. Patil schob seinen Stuhl zurück, zog seinen Bauch ein und holte aus der Schublade ein Buch hervor.

„Das ist die Bhagavad Gita“, rief er hocherfreut, als hätte er einen Schatz zutage gefördert. Was in gewisser Weise ja auch so war. Seine Miene hellte sich auf, die Sonne schien ihm ins Gesicht und ließ die Schweißtropfen auf seiner Nase in Regenbogenfarben glänzen.

„Bhagavad Gita!“, rief er wieder. Argwöhnisch blickte er zu mir herab, dem weißen, kastenlosen Dummchen.

„Sagt Ihnen das was?“

„Ja.“ Antwortete ich demütig. „Das ist eine der wichtigsten Schriften des Hinduismus.“

„Und wissen Sie auch, was da drinsteht?“

Bevor ich untertänigst mit „Ja“ antworten konnte, tippte er schon auf der Stelle herum, die er mir zeigen wollte. Unter dem Sanskrit-Text stand die englische Übersetzung.

„Lesen Sie!“, befahl er in einem Ton, der gut zu seiner braunen Uniform passte. „Englisch! Ihr Sanskrit tue ich mir nicht an.“ Eine weise Entscheidung.

Artig wie eine eingeschüchterte Schülerin im Englischunterricht las ich, dass man seine Pflicht erfüllen solle und nicht nach den Früchten trachten darf. Ich blickte ihn erwartungsvoll an, um meine nächste Aufgabe klassenprimushaft zu seiner Zufriedenheit erfüllen zu können.

„Was wollen Sie denn mit ihren Erkenntnissen machen?“

„Ein Buch schreiben“, antwortete ich der Einfachheit halber.

„Sie trachten also nach Früchten.“

Meine wissenschaftliche Arbeit im Lichte der Bhagavad Gita kam mir plötzlich unanständig vor, und ich schämte mich. Bestürzt blickte ich zu Boden.

„Geben Sie mir Ihre Affiliation“, befahl er so laut, als müsste er ein ganzes Regiment zu Kampfhandlungen ermutigen.

Um eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, benötigt man unter anderem das Schreiben einer indischen wissenschaftlichen Institution. Mit der Fingerfertigkeit eines Klaviervirtuosen hatte ich blitzschnell das entsprechende Dokument aus den bestimmt fünfzig Seiten umfassenden Papieren hervorgezaubert.

Mit einem „Alles dabei“ legte ich nicht ohne Stolz das Schreiben vor den verbeamteten Philosophen.

„Das ist eine Kopie. Wo ist das Original?“

„Das ist in München. Aber schauen Sie, hier ist der Original-Stempel vom Konsulat. Die Kopie ist beglaubigt.“ Ich deutete auf die drei etwas verwischten Löwen und die Unterschrift, die wie die Peitsche eines Dompteurs unter den Pfoten der Tiere schwebte.

„Wessen Unterschrift ist das?“, wollte er als nächstes wissen.

„Na, die vom zuständigen Beamten, schätze ich mal. Und das hier, das ist die Unterschrift von Herrn Dr. Murugan, vom Leiter des PICA, des Pondicherry Institute of Cultural Anthropology.“ Beflissen beugte ich mich vor, um auf die Unterschrift tippen zu können.

Herr Patil schlürfte genüsslich seinen Tee. Er schien nachzudenken.

„Ich brauche eine Beglaubigung dieses Dokuments...“ Seine flache Hand klatschte auf die Affiliation. „...von einem deutschen“, er hob den rechten Zeigefinger, „von einem deutschen! Notar.“

Wie bitte? Ich soll die Affiliation bei einem deutschen Notar beglaubigen lassen? Obwohl das Indische Generalkonsulat in München dies bereits getan hatte?

„Lassen Sie die Affiliation vom Direktor des PICA unterschreiben, seine Unterschrift hier ist ja eine Kopie, und legen Sie das Ganze zusammen mit dem Original dem deutschen Notar vor. Er wird das Dokument bestätigen“, wiederholte Herr Patil. Er wollte sichergehen, dass ich auch alles verstanden hatte, nachdem von mir keinerlei Reaktion kam. Sehr wahrscheinlich stand mir der Mund offen.

„Wo ist Ihre Geburtsurkunde? Geben Sie her!“

Geburtsurkunde?

In keinem Informationsblatt zur Antragstellung einer Aufenthaltsgenehmigung stand etwas von Geburtsurkunde. Ich war sprachlos. Normalerweise bin ich nicht auf den Mund gefallen und hätte angefangen zu argumentieren. Aber ich hatte erkannt, dass Herr Patil seinen eigenen Gesetzen folgt, völlig unabhängig von allen Visabestimmungen dieser Welt.

„Gehen Sie und kommen Sie wieder.“ Sagte er unvermittelt in meine Verwirrung hinein.

„Ich gehe und komme wieder“, antwortete ich automatisch, packte meinen Kram zusammen und verschwand.

Wie alle anderen vor mir verließ ich den Raum in gebückter Haltung und mit sorgenvoll-wütendem Gesicht.

Jetzt brauchte ich erst mal ein anständiges Mittagessen. Mit einem „Ato“, einer Scooter-Riksha mit gelbem Aufbau für die Passagiere, ließ ich mich in eine Ess-Bude fahren, die mir der Fahrer empfohlen hatte. Sie lag gegenüber dem Arbeitsamt, wo gerade Sprechchöre ihre Forderungen nach mehr Rechten in Fabriken in die Gegend schrien. Der Ato-Fahrer kam mit rein und wurde für das Abliefern der Touristin mit einem Tee belohnt. In Pondicherry sind die Fahrer in der Regel nicht unverschämt, weil es da so viele Europäer gibt, die seit Jahren in der Stadt und Umgebung leben und sich mit den Preisen gut auskennen. Man einigt sich ohne große Diskussionen auf einen bestimmten Betrag, und los geht die Fahrt.

In dem kleinen Lokal mit seinen drei nicht ganz sauberen Tischen verdrückte ich ein Masala Dossai, das ist eine Art Pfannkuchen aus Kichererbsenmehl mit Kartoffelfüllung, vom Bananenblatt. Mein Hirn befand sich in Schockstarre, und ich war nicht in der Lage, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Daran änderten selbst drei Gläser Tee nichts. Alles, was ich wusste, war, dass ich nicht wusste, was zu tun war. Trotz Mittagshitze ging ich zu Fuß den kurzen Weg die Uferpromenade am Meer entlang zum Ashram-Gästehaus. Am selben Morgen hatte ich mich, frisch aus Deutschland angekommen, dort einquartiert. Mein Zimmer war spartanisch möbliert, die beiden Betten waren durch ein fest in die Wand einzementiertes Nachtkästchen getrennt. Dadurch wird konsequent verhindert, dass es bei einem Paar zum Letzten kommt. Sri Aurobindos Vision, dass Kinder durch reine Lichtenergie gezeugt werden, würde erst in naher Zukunft Wirklichkeit werden. Bis dahin musste man das Zusammenschieben von Betten verhindern.

Ich trat auf den Balkon und schaute kurz aufs Meer, das mich so grell blendete, dass ich für einen Moment nur silber-gleißende Sternchen sah. Das dunkle Grün des Rasens im Park vor dem Gästehaus gab mir die Sicht zurück, so dass ich die Mäuerchen, die Bänkchen, die künstlich aufgeschütteten Hügelchen, die weißen Figürchen, die Blümchen, die Brünnchen und Kanälchen mehr und mehr ausmachen konnte. Mir hat mal eine Ashramitin erzählt, dass man bei der Aufnahme in den Ashram von einem Komitee gefragt wird, wie man sich vorstellt, für die spirituelle Gemeinschaft tätig werden zu wollen. Man darf seine Interessen, Fähigkeiten und Neigungen darlegen und sagen, was man am liebsten tun würde, jetzt, wo einem alle Möglichkeiten offenstehen. Was einem auch immer vorschwebt in seiner großen Zukunftsvision für das neue Leben, genau das darf man dann nicht machen. So lernt man Demut und Gehorsam. Derjenige, der dazu verdonnert worden war, den Gästehaus-Park zu gestalten, wäre vielleicht lieber Bäcker geworden oder Schneider. Der Park jedenfalls ist Ausdruck der Demut eines zutiefst gekränkten Menschen, dem seine nicht ganz unterdrückte Rachsucht all die Geschmacklosigkeiten eingegeben hat, die den Betrachter ästhetische Qualen erleiden lassen. Ich stellte mir einen verzweifelt „Alles, nur nicht den Park gestalten!!!“ rufenden Aspiranten vor und wohlwollend blickende Ashramitinnen und Ashramiten, die maskenhaft lächelnd mit leiser und freundlicher Stimme säuseln: „Du bist der Richtige für den Park, Du musst noch viel Demut in dein Herz einkehren lassen, mein Bruder.“ Und der Demut-gelernt- Habende macht sich an die Arbeit. Tag und Nacht gibt er sich die allergrößte Mühe mit der Gestaltung des Parks, indem er einen Entwurf nach dem anderen ersinnt und schließlich sich für den erbärmlichsten entscheidet. Aus lauter frustriert-boshafter Demut.

Der Jetlag überkam mich, und ich legte mich auf eines der Betten. Der verklärt-alkoholselig dreinblickende Sri Aurobindo und die uralte Mira Alfassa, die Insider „die Mutter“ nennen, blickten über allem wachend auf mich herab. Diese Übergriffigkeit beendete ich, indem ich das Leintuch vom Nachbarbett über die fenstergroßen Fotorahmen der Portraits hängte. Die Mutter kam dabei zu Fall, blieb jedoch unverletzt. Ich legte das Bild mit dem Gesicht nach unten auf den Schreibtisch und wünschte mir inständig, der Himmel oder mein Schöpfer oder wer das alles hier lenkt, möge verhüten, dass ich je so alt werde wie die Mutter und dann auch so aussehen muss. Bevor ich einschlief, dachte ich an Manuel und die Kinder. Es war geplant, dass sie in einer Woche nachkommen. In der Zwischenzeit sollte ich, das Organisationsgenie, ein wohliges und heimeliges Nestchen für meine Familie bauen, alle bürokratischen Hindernisse aus dem Weg räumen und ansonsten dafür sorgen, dass Indien unser aller Traumland bleibt.

Die kurze Rast im Gästehaus brachte meine Lebensgeister wieder in Schwung, und ich wusste, was ich als nächstes tun musste: um vier Uhr zum PICA fahren und Dr. Murugan bitten, die beglaubigte Kopie der Affiliation zu unterschreiben, die er ja sowieso schon auf dem Original, das in München war, unterschrieben hatte. Eine Angelegenheit von einer, meinen Dank mitgerechnet, maximal zehn Sekunden. Ich rechnete mir beim Immigration Office doch noch eine Chance aus, wenn ich mit einem Dokument antanzte, auf dem jetzt also die Original(!)-Bestätigung des Generalkonsulats in München und obendrein die Original(!)-Unterschrift des PICA-Leiters standen. Vielleicht ließe Herr Patil ja morgen bei besserer Laune mit sich reden, so dass ich die Geburtsurkunde nachreichen und das Ganze von einem indischen Notar bestätigen lassen könnte. Kurz zog ich sogar in Erwägung, Mr. Patil einen gut gefüllten Umschlag zu überreichen. Die Wahrscheinlichkeit jedoch, dass ich mich dumm anstellen würde, war hoch. Schließlich war ich in diesen Dingen gänzlich unerfahren. Wenn die Sache schiefgehen sollte, käme ich ins Gefängnis, und dieses Risiko war mir dann doch zu groß. Und außerdem und vor allem: Korruption ist was Böses, und sowas darf man nicht machen. Blöderweise kann so eine Aufenthaltsgenehmigung ausschließlich vom Immigration Office des künftigen Wohnortes ausgestellt werden, sonst hätte ich in irgendeiner anderen Stadt mein Glück versuchen können. Allerdings gab es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Beamten dort anders drauf waren.

Punkt vier Uhr war ich im PICA. Ich hoffte, Dr. Konrad Maier zu treffen, dem ich die Affiliation zu verdanken hatte. Im Südasien-Institut in Heidelberg hatte man mir gesagt, dass in Pondicherry seit vielen Jahren ein deutscher Indologe arbeite. Ein echter, einer, der es mit Texten und nicht mit Menschen zu tun hat. Schriftlich hatte ich Kontakt zu Dr. Maier aufgenommen, und er hatte mir freundlicherweise die Affiliation besorgt.

Gleich im Eingangsbereich saß ein weißer, blasser junger Mann hinter Bergen von Büchern und tippte eifrig in eine vorsintflutliche Schreibmaschine.

„Guten Tag“, sagte ich auf Deutsch. „Herr Maier?“

Die schlacksige Gestalt erhob sich, kam mit einem Lächeln auf mich zu und begrüßte mich mit einem kräftigen und angenehmen Händedruck. Als allererstes bedankte ich mich von ganzem, wirklich von ganzem Herzen für die Affiliation, ohne die mein Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft nicht genehmigt worden wäre. Dann erzählte ich ihm in aller Ausführlichkeit von meiner Pleite mit dem verweigerten Stempel. Ich bräuchte dringend die Unterschrift von seinem Chef, Herrn Dr. Murugan. Ja, der sei da. Dr. Maier verschwand in einem Büro drei Treppenstufen höher. Irgendwie erinnerte mich das alles an das Immigration Office. Auch Messingbuchstaben an der Türe, diesmal „Dr. Murugan“. Ich solle kurz warten, der Chef hätte gleich Zeit für mich und würde das Dokument selbstverständlich unterschreiben, richtete mir Dr. Maier aus.

Gegen Abend waren Konrad und ich schon Freunde geworden. Wir erzählten einander aus unserem Leben, und was uns nach Indien getrieben hatte. Kurz vor Feierabend flog die Tür des Chefzimmers auf, und ein kleiner und stark pigmentierter Mann in Militäruniform schwirrte, so tuend, als hätte er mich nicht gesehen, an uns vorbei.

„Ist er das?“, fragte ich schnell Konrad. Der nickte.

Ich sprang auf und lief Dr. Murugan bis auf die Straße nach.

„Kommen Sie morgen wieder. Um zehn“, rief er, als würde er einen lästigen Straßenköter verscheuchen.

„In Indien musst du eines lernen“, tröstete mich Konrad und blickte mich mit seinen sanften, braunen Augen an: „Immer schön die Nerven bewahren. Gleichmut, verstehst du?“ Erst im Nachhinein kann ich einschätzen, welchen Aufwand an Zeit und Nerven es Konrad gekostet haben muss, mir eine Affiliation zu besorgen. Und das für eine Kollegin, die er gar nicht kannte.

Am folgenden Vormittag hatte ich viel Zeit, um erstens Konrad von der Arbeit abzuhalten und ihn zweitens nach einer Wohnung für eine vierköpfige Familie zu fragen. Ja, er wisse was. Er würde mich morgen um elf im Ashram- Gästehaus abholen, die Wohnung sei gleich in der Nähe.

Endlich! Kurz vor zwölf erschien ein Gehilfe. Ich machte mich mit meinen Papieren bereit. Der Chef lasse mir ausrichten, ich solle heute Nachmittag zu ihm nach Hause kommen, da habe er Zeit. Um vier Uhr.

Konrad gegenüber äußerte ich den Verdacht, dass sein Chef ein schikanöser Vollidiot sei. Konrad murmelte was von wissenschaftlicher und persönlicher Null und meinte lapidar, ich solle doch einfach die Hoffnung auf diese Unterschrift aufgeben. Überhaupt die Hoffnung, dass das mit der Aufenthaltsgenehmigung jemals was werden würde. Konrad war nicht erst seit zwei Tagen in Indien.

„Na, du bist ja gut. Und was dann? Soll ich wieder nach Hause fahren und sagen, ich war leider nicht in der Lage meine Aufenthaltsgenehmigung abstempeln zu lassen, und das ist der Grund, warum ich mein gesamtes Forschungsvorhaben, so leid es mir tut, aufgeben muss?“

Pünktlich fand ich mich bei der angegebenen Adresse ein. Eine freundliche junge Frau öffnete mir die Türe und bat mich, im Innenhof des Hauses Platz zu nehmen. Nach einer halben Stunde brachte man mir einen Tee.

Ob Dr. Murugan da sei?

„Yes, yes. Coming.“

Irgendwann nach geraumer Zeit schlurfte ein Mann im Lunghi, im Beinkleid, heran, fläzte sich auf einen bequemen Stuhl und gähnte so ausgiebig, dass ich in Ruhe seinen verfaulten Backenzahn unten rechts betrachten konnte. Mundgeruch wehte zu mir herüber, und ich ignorierte die leichte Übelkeit, die in mir aufstieg. Ich hatte Dr. Murugan ja nur kurz im Institut zu Gesicht bekommen, und so wollte ich kaum glauben, dass ich mich hier mit ihm persönlich ganz offensichtlich in einer dienstlichen Besprechung befand. Eine freundliche ältere Dame im einfachen dunkelblauen Sari mit feiner Goldborte reichte dem Herrn mit unterwürfigem Gesichtsausdruck Kaffee. Dr. Murugan musste nach dem ersten Schluck rülpsen, es roch nach angedautem, nicht-vegetarischem Reisgericht. Er begann zu erzählen, dass er gerade dabei sei, seinen Sohn zu verheiraten, dass dieser aber die Braut, die er, der Vater, ausgesucht habe, undankbarerweise nicht haben wolle und dass seine Tochter, die mich hereingelassen hatte, Business Administration studiere. Und wie es mir denn so in Indien gefalle. Mit einem „Gut“ brachte ich die Antwort rasch hinter mich und, endlich zu Wort gekommen, trug ich mein Anliegen vor. Ich reichte ihm meine Affiliation zum Unterschreiben und einen Kugelschreiber. Er nahm beides, erkannte seine Unterschrift und gab mir das Papier zurück.

„Waren Sie bei diesem brahmanischen Bhagavad-Gita-Herumfuchtler, bei Mr. Patil? Hat er gesagt, ich solle hier noch einmal unterschreiben, obwohl ich schon unterschrieben habe?“

„Also, ja, Mr. Patil meinte, das hier sei ja nur eine Kopie, und vielleicht könnten Sie...“

„Sagen Sie Herrn Patil, wenn er eine Unterschrift von mir will, dann soll er gefälligst selber kommen. Good bye.“

Unversehens war ich in einen allgegenwärtigen Konflikt zwischen Brahmanen und Nicht-Brahmanen geraten, der bei jeder Gelegenheit hochkocht. Dr. Murugan war kein Brahmane, Mr. Patil hingegen schon. Wer stand zwischen den Fronten? Ich, das Opfer.

Schnurstracks fuhr ich zu Konrad ins Institut und suchte bei ihm Trost. Er riet mir zu Gelassenheit. Ich war aber erst seit ein paar Stunden in Indien, und das Schicksal hatte mir nicht wie ihm das Glück zuteilwerden lassen, mir neun lange Jahre lang diese beneidenswerte Gemütsverfassung aneignen zu können.

Mir war klar, dass Konrad Recht hatte und ich diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Ich musste das Risiko eingehen, mich zwei Jahre lang ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung im Land aufzuhalten. Dieser Gedanke fühlte sich ausgesprochen ungemütlich an. Und was würde dann bei der Ausreise passieren? Gott sei Dank würde es mit Manuels Visum keine Probleme geben. Beim DAAD kümmert sich das Auswärtige Amt um alles.

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