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ОглавлениеVorwort
Faszinierend, bezaubernd, mitunter erschreckend und befremdlich ist das, was Hilde Link wirklichkeitstreu als Zeitzeugin aus einem Indien der späten achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erzählt. Wer mag, folgt ihr in die Werkstatt, nimmt teil an der Forschung vor Ort, erlebt die einzelnen Schritte, erkennt die Voraussetzungen, Hintergründe, Begleitumstände und Befindlichkeiten und kann so nachvollziehen, wie wissenschaftliche Ergebnisse zustande kommen. Es ist ein unmittelbares, eindrückliches Indien, von einer Sogkraft, der niemand entkommt. Wie für ethnographische Studien charakteristisch, werden uns hier dichte Begegnungen mit den Menschen der Gastgesellschaft beschrieben.
Und es ist ein Indien, das sich selbst darstellt im Drama, im Terukkuttu, im sakralen „Straßentheater“, und das den Menschen, jeden einzelnen, ins Geschehen auf der Bühne einbindet. Mitten hinein in das, was sich die ganze Nacht hindurch zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang abspielt. Zur Aufführung kommen die großen indischen Epen Mahabharata und Ramayana neben Themen aus weiteren heiligen Büchern, den Puranas. In Szene gesetzt wird das Libretto, das die Schauspieler nicht brauchen, weil sie die gesamte Handlung und Dramaturgie im Kopf und im Herzen tragen. So bleiben die Dramen offen für lokales Kolorit. Von Musik untermalt, tanzen sie, singen, sprechen in Reimen und in Prosa, halten sich streng an Vorgaben und passen gleichzeitig improvisierend die Darbietung an den Zweck der Aufführung, an die Rahmenbedingungen, an die Geschehnisse im Dorf und an das Publikum vor der Bühne an. Makrokosmos und Mikrokosmos, die Welt der Götter und Heroen und die des Dorfes treffen aufeinander, verbinden sich. Was die Menschen vernachlässigt, schlecht behandelt und zerstört haben, was sie haben verkommen lassen, das rückt das Drama wieder zurecht, und es versöhnt das Universum mit dem Dorf.
Der Brückenbauer zwischen dem Jenseits und dem Diesseits, zwischen Kosmos und Dorf, zwischen Göttern, Heroen und Menschen ist im Drama der Kattiyankaran. Dieser Herold, ja, wer ist er, was ist seine Funktion, womit können wir ihn vergleichen? Er, der Regie führt, die Schminke und Kostüme der Schauspieler im Auge behält und bei Bedarf korrigierend eingreift, die ebenerdige Bühne auf der Straße weiht, bevor es losgeht, sie erneut weiht, wenn sich etwas Entweihendes ereignet, etwa ein Hund darüber läuft, das Spiel eröffnet, die Einsätze gibt, die Handlung erzählt, kommentiert und erläutert, der das Publikum ermahnt und im Zaum hält, der die Handlung unterbricht, um anhand der Ereignisse auf der Bühne einen zu rücksichtslosen Dorfchef, einen Geizhals, einen Tagedieb, einen Frauenheld, einen eitlen Angeber, einen Tunichtgut, jemanden mit zu losem Mundwerk dem Gespött preiszugeben oder eine gute Tat zu preisen. Anhand der Dramen von Göttern und Helden unterwirft er das Dorfleben, das Zusammenleben in der Familie, unter Partnern, im Beruf und im Alltag der Kritik und Würdigung, als Mahner, als moralische Instanz, Spötter und Zyniker, als Narr und Schalk, Spaßvogel und Conférencier. Er sorgt dafür, dass das Auditorium über Gültigkeit und Wandel der Normen nachdenkt, stellt an Beispielen die Richtschnur angemessenen Handelns zur Disposition, trägt selbst die Argumente für und wider vor, bis die Bandbreite dessen, was schicklich ist, von allen verinnerlicht worden ist. Er gibt dem Dorfleben Orientierung – ganz analog zum Göttergeschehen auf der Bühne, das dafür sorgt, dass die Welt, die der Mensch in gefährliche Schieflage gebracht hat, wieder ins Lot gerückt wird.
Wir sehen, das Terukkuttu ist kein Theaterstück nach abendländischem Verständnis, kein Beitrag zur Unterhaltung aus der Sparte ‚Kunst und Kultur‘. Nein, es ist ein kultisches Drama, bei dem Schauspieler, Musiker und Publikum in das Weltgeschehen eingebunden sind. Bei dem der Schöpfungsprozess, die Stiftung der Handlungs- und Verhaltensregeln, das Grundgesetz des Zusammenlebens, fortgeschrieben und veranschaulicht werden, bei dem die kosmische Ordnung sich erneuert und die kleine Dorfwelt einbezieht.
Wer unter kulturell fremden Menschen forscht, sieht sich unversehens in einer Rolle, die in manchen Aspekten der des Kattiyankaran ähnelt: beim Vermitteln, beim Erzählen und Interpretieren. Grundsätzlich ist die forschende Person gleichermaßen Beobachtungs- und Messinstrument, Phonogramm und Resonanzkörper mit wechselnder Eichung und Stimmung. Ihre Gefühle, ihre Fähigkeit zur Empathie, ihre Aufgeschlossenheit und Geschicklichkeit zu fragen sowie ihr eigener Wissensstand, all das beeinflusst, was sie wahrnimmt, wie sie diskutiert und modifiziert, was ihre Rezeptoren ihr zu erfassen erlauben und wie sie ihre Einsichten überprüft, etwa indem sie ihre Impressionen und Daten mit Einheimischen bespricht und deren Kritik verarbeitet. Die Forscherin muss erst selbst verstehen, bevor sie ihre Ergebnisse interpretiert und in den Wissenschaftsdiskurs einbringt.
Die Persönlichkeit der Wissenschaftlerin, des Wissenschaftlers, schlägt sich auf allen Ebenen in den Ergebnissen nieder. Das Gebot bleibt dennoch Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit, was angesichts des Bemühens um Wahrung der Persönlichkeitsrechte samt der Privatsphäre (rights of privacy), die grundsätzlich für alle gelten, eine Forderung ist, die oft der Quadratur des Kreises gleichkommt.
Hilde Link hat als Beitrag zur Nachvollziehbarkeit ihrer Forschungsergebnisse das dramatische Geschehen, die Terukkuttu-Ereignisse, filmisch, in Tonaufnahmen und fotografisch dokumentiert und im Institut für Indologie und Tamilistik der Universität zu Köln hinterlegt, wo diese Materialien archiviert und zugänglich sind.
In beschreibenden oder argumentativen wissenschaftlichen Abhandlungen verblasst oft genug die Lebenswirklichkeit, und das in einer Wissenschaft, in der es doch um das Leben geht. Der vom einzelnen Menschen absehenden Verallgemeinerung sind in der Ethnologie Grenzen gesetzt. Erst recht der Suche nach einem ‚Mittelwert der Kultur‘, ohnehin ein lebensfernes Konstrukt. Menschen entscheiden von Fall zu Fall, ob sie sich konform verhalten oder nicht, ob sie sich einem Trend anschließen oder einen eigenen Weg vorziehen. Überdies halten die jeweiligen Situationen und die handelnden Menschen so viele Imponderabilien bereit, dass ein Verhaltensmuster, ein Handlungsideal, ja selbst eine normative Konvention in einer Gesellschaft oft nur von einer – mitunter verschwindenden – Minderheit gelebt wird.
Der narrative Stil bietet dagegen die Möglichkeiten, Gefühle, Stimmungen, das Ambiente und die Atmosphäre zu schildern, die Impressionen wiederzugeben, die sich bei der Arbeit vor Ort aufgedrängt haben, die optischen, akustischen und olfaktorischen Eindrücke zu vermitteln. Er bietet auch die Chance, Abweichungen von der Norm zu zeigen sowie einen interkulturellen Dialog zu führen und so die kulturellen Besonderheiten beider Seiten kontrastiv herauszuarbeiten.
Der seit Generationen erhobenen Forderung, über die Umstände, Bedingungen, Konflikte während der Arbeit vor Ort zu berichten, wird nicht zuletzt wegen der Persönlichkeitsrechte und wegen des Arbeitsaufwandes sehr selten entsprochen, und wer es dennoch getan hat oder tut, gibt unvermeidlich viel Persönliches preis. Diese Offenheit macht sichtbar, wie sehr die Daten in der Ethnologie – und wohlgemerkt in den meisten kulturwissenschaftlichen, um nicht zu sagen wissenschaftlichen Disziplinen schlechthin – einen momentanen Kenntnisstand wiedergeben und sich eher auf der Ebene von augenblicklichen Impressionen als auf der von dauerhaften, festen Fakten bewegen. Mit dem doppelsinnigen Titel „Indisches Drama“ kommt Hilde Link hier der Forderung nach, offenzulegen, wie sie an die Daten gekommen ist.
Eine Besonderheit einer ethnologischen Feldforschung liegt darin, dass diese meist in einer kulturell fremden und in vielen Teilen überhaupt nicht vertrauten Welt durchgeführt wird. Die forschende Person muss erst einmal die fremden kulturellen Selbstverständlichkeiten und Besonderheiten lernen und hat ständig mit Situationen zu tun, die für sie Premieren sind. Wer sich heraus begibt aus der eigenen Kultur, befindet sich als erwachsener Mensch in einer Rolle, die innerhalb der Gesellschaft in der Regel nur Kinder durchlaufen, an die selbstverständlich andere Erwartungen gestellt werden als an einen Erwachsenen, auch wenn er ein Fremder ist.
Aufschlussreich, mitunter dramatisch, wird es dort, wo diese indische Welt mit dem Wertekanon einer Mitteleuropäerin zusammenstößt: konfliktträchtige Diskrepanzen bei zentralen Fragen des Lebens, bei dem, was als Recht und als Unrecht gilt, bei der unterschiedlichen Wertung von Symptomen, etwa als Anzeichen von Krankheit auf der einen Seite, als religiösvirtuoser Zustand auf der anderen. Oder herausfordernde Aufgaben beziehungsweise Gegebenheiten, etwa wenn jemand zum Spielball zwischen Kasten wird, wenn man sich fragen muss, wie jemand vor Gesichtsverlust bewahrt werden kann, wie man sich in einem ethischen Dilemma verhält oder wie man unversehens zu einer indischen Tochter kommt. Das zwingt zu Auseinandersetzungen, welche Divergenzen zwischen der eigenen und der fremden Einstellung zum Leben offenlegen und die unlösbare Verflechtung der ethischen Normen mit der jeweiligen kulturellen Tradition vor Augen führen.
Dieses Lernen der Eigenheiten und Techniken der anderen Kultur ist gleichzeitig eine hocheffiziente Diagnosehilfe. So ist es Fremden möglich, Fragen zu stellen, Präzisierungen zu erbitten, die ein Angehöriger der eigenen Kultur üblicherweise übergeht aus der Befürchtung, sich zu kompromittieren oder weil ihm die Mehrdeutigkeit einer Aussage nicht so bewusst vor Augen geführt wird, wie wenn man sie in eine andere Sprache bzw. Kultur übertragen will.
Hilde Link eröffnet Einblicke und zeichnet Impressionen, die das Leben in Tamilnadu und Züge aus der Tamilkultur ganz unmittelbar vermitteln und erklären. Man müsste sich durch umfangreiche wissenschaftliche Ethnographien, Abhandlungen und Diskussionen arbeiten und würde dennoch manches nicht erfahren. Darin liegt der besondere Wert eines solchen erzählenden Berichtes.
Wer das dörfliche Tamilnadu im Jahr 2020 vor Augen hat, stellt fest, wie aktuell das ist, was Hilde Link beschreibt, wie wenig sich geändert hat in den mehr als dreißig Jahren seit ihrer Feldforschung. Freilich ist der Zustand der großen Verbindungsstraßen unvergleichlich besser geworden, doch kaum biegt man von diesen ab, führen Schlaglochpisten und Staubwege zu den Dörfern und Slums. Der Straßenverkehr ist wesentlich dichter geworden und strapaziert die Nerven wie eh und je. Allerdings ist der ‚König der indischen Straße‘, der Ambassador, 2014 von Hindustan Motors aus der Produktion genommen, heute weitgehend von modernen Autos verdrängt, und wer früher per Fahrrad oder Moped vom Typ TVS 50 unterwegs war, fährt heute ein Auto, beliebter Anteil der Mitgift, einen Roller oder ein Motorrad.
In den Großstädten herrscht nach wie vor ein Wettbewerb im Zur-Schau- Stellen von Wohlstand oder Reichtum. Und da jeder besser dastehen möchte, als er es sich leisten kann, blüht das Hypothekar- und Kredit-Geschäft. Eine Verlockung, die viele Menschen in die fatale Schuldenfalle treibt. Zur optischen Modernisierung der Großstädte tragen die riesigen Investitionen von internationalen und indischen Großkonzernen bei, aber die Infrastruktur hinkt erheblich hinterher.
Heute bleibt man im Indian Coffee House vor Wanzenstichen verschont. Man findet Bioprodukte, Aufrufe zur Schonung der Umwelt; die Grünflächen in den Siedlungen und die umliegenden Felder sind mit weniger Plastikmüll übersät als zuvor, nachdem die indische Regierung im Jahr 2020 Plastiktüten verboten hat. Dafür wachsen an versteckten Stellen gigantische Berge von kompakt gepresstem Müll empor, seit Indien ein Großabnehmer vorwiegend toxischer europäischer Abfallstoffe geworden ist.
Rinnsale von Modernisierungsströmen erreichen auch die Dörfer. Doch obwohl Fernsehen und Internet auch dorthin vorgedrungen sind, hat sich wenig grundlegend geändert. Nach wie vor herrschen weitgehend die gleichen hygienischen Bedingungen. Der Alkoholmissbrauch lässt viele Familien zerbrechen, die Gewalt von Männern gegenüber Frauen und Kindern und das Gefälle zwischen den Geschlechtern sind geblieben, und das Kastensystem, offiziell seit der indischen Unabhängigkeit abgeschafft, besteht ungebrochen fort.
Der Einfluss von Fernsehen und Presse schürt gegenwärtig zwei gegenläufige Tendenzen. Einerseits gelangen sozialkritische und die Liberalisierung der Gesellschaft anmahnende Stimmen bis in die Dörfer, andererseits nehmen nationalistisch-hinduistische Strömungen in den letzten Jahren deutlich zu. Das fördert konservative Einstellungen auch und gerade auf dem Land. So kann man gegenwärtig eine Verschärfung der Abgrenzungen der einzelnen religiösen Gruppierungen voneinander sehen, die häufig eine Stigmatisierung der andersgläubigen Minderheiten zur Folge haben. Im Zuge dieser Rückbesinnung werden traditionelles Brauchtum und religiöse Riten beflissen beachtet, mitunter sogar ausgeschmückt und neu inszeniert. ‚Tradition‘ wird neu erfunden und als uralt oder wieder aufgefunden ausgegeben.
Die Kommerzialisierung alter Traditionen hat neben dem traditionellen indischen Tanz auch das Terukkuttu-Drama erfasst. Es wird in zunehmendem Maße zur Folklore zurechtgestutzt und für Touristen in Hotels oder auf großen indischen und internationalen Folklorefestivals aufgeführt, u.a. auch in Europa. Die Darsteller, oft junge Männer, die mit der Tradition keinerlei Verbindung haben, stecken in überladenen, bunten und karnevalesken Kostümen. Von entsprechendem Wert sind auch die Aufführungen. Auf den Dörfern abseits von Touristenströmen lebt jedoch die Terukkuttu-Tradition weiter wie ehedem.
Gerade unter dem Gesichtspunkt des Wandels wäre eine erneute Untersuchung der kultischen Dramen in höchstem Maße lohnend.
„Indisches Drama“ folgt chronologisch dem Weg der Forschung in Indien. Hilde Link führt die einzelnen Schritte, die Situationen und Personen plastisch vor Augen und zeigt eine indische Welt von damals und heute abseits der Metropolen, die sich dem Touristen oder dem Indian-Traveller zumeist verschließt, die in keinem Reiseführer zu finden ist, in wissenschaftlichen Publikationen ausgespart wird, selbst Städtern in Indien verborgen bleibt und die doch für weit mehr als die Hälfte der indischen Bevölkerung Lebenswirklichkeit ist.
Matthias Samuel Laubscher*
*Matthias Samuel Laubscher hatte 1986 als Vorstand des Instituts für Völkerkunde und Afrikanistik der Ludwig-Maximilians-Universität München das Projekt „Terukkuttu“ bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft beantragt.