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Prolog

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Am Mittag des 13. Dezember 2019 verließen wir den Hafen von Le Marin auf der Insel Martinique. Wir setzten Segel und steuerten mit frischem Wind, der etwas achterlicher als backbord querab einfiel, 180 Grad. Wir segelten also auf einem Halbwindkurs nach Süden in Richtung Saint Lucia. Der Plan war, in den kommenden drei Wochen die südlichen der Inseln über dem Wind zu erkunden, namentlich Martinique und die Inselstaaten Saint Lucia, Saint Vincent und die Grenadinen sowie Grenada. Barbados würden wir bei dieser Reise aussparen.

Der Wind, der uns so kräftig vorantrieb, war der berühmte Nordostpassat, dem die Inseln über dem Wind ihren Namen verdanken. Er weht fast immer mit vier bis sechs Beaufort und ist damit ein idealer Segelwind, sofern man nicht gerade nach Nordosten segelt und deswegen gegen ihn aufkreuzen muss.

Die frische Brise, die Sonne, die geblähten Segel – genau so hatte ich es mir erträumt. Ich hatte, neben einem Revierführer und mehreren Seekarten, Segelanweisungen und Reiseberichten, quasi als kulturelle Reisevorbereitung, Stevensons Schatzinsel noch einmal gelesen. Jetzt fühlte ich mich wie Jim Hawkins, frei und unsterblich. Ich sog die frische Luft ein und schloss genießerisch die Augen. Das Grinsen, das sich dabei in mein Gesicht schlich, hätte man höchstwahrscheinlich nur operativ wieder entfernen können.

Abends ankerten wir in einer Bucht namens Vieux Fort an der Südspitze von Saint Lucia. Während wir das Abendessen zubereiteten und den in Martinique eingekauften Rum probierten, frischte der Wind weiter auf. Die Nacht war etwas unruhig, weil der böige Wind ständig drehte. Anscheinend hatten wir zudem schlechten Ankergrund erwischt, denn der Anker wollte nicht recht halten. Sicherheitshalber gingen wir in stockdunkler Nacht Anker auf und versuchten es etwas dichter unter Land noch einmal. Diesmal ging es besser. Wir schliefen abwechselnd, frühstückten in der Morgendämmerung und segelten nach Sonnenaufgang los, weiter nach Süden in Richtung Saint Vincent. Wir passierten die Hauptinsel nachmittags, um am Abend in der Admiralty Bay auf Bequia festzumachen.

Ein Einheimischer begrüßte uns lachend mit den Worten „Welcome to paradise!“

Diesen Ruf sollten wir im Verlauf der Reise fast täglich zu hören bekommen. Der fröhliche Mann mit seinen strahlend weißen Zähnen verkaufte uns frische Hummer, die ich später kochen wollte. Er empfahl, die Tiere in einen alten Zuckersack zu stecken, den wir mit Hilfe einer Leine außenbords ins Wasser hängen sollten, damit sie bis zum Verzehr frisch und lebendig blieben.

Wir gingen in die Stadt, wo wir beim Hafenmeister einklarierten und unsere Pässe als Zeichen ordnungsgemäßer Einreise abstempeln ließen. Als wir wieder an Bord waren, sprangen wir zum Schwimmen ins hellblaue, kristallklare Wasser. Im Vorbeischwimmen sah ich den Sack mit den Hummern friedlich an der Bordwand hängen und freute mich auf das bevorstehende Festessen.

Doch als das Wasser kochte, war der Sack mit unserem Abendessen auf einmal fort. Allein die lose Leine hing noch an der Reling. Ich vermutete sofort, der Einheimische, der uns die Lobster verkauft hatte, wäre heimlich an unser Boot herangeschnorchelt und habe sie gestohlen, um sie noch einmal zu verkaufen. Aber unser Skipper Rainer behauptete, mein Knoten habe sich wohl gelöst. Wir würden den Sack sicher unter unserem Schiff finden. Er sprang ins Wasser und suchte eine Weile, während ich mich schon darauf vorbereitete, die gesamte Crew zum Abendessen in ein Restaurant einladen zu müssen. Nach einer ganzen Weile rief Rainer, er sehe den Sack.

„Lobster sind doch dumm, bestimmt sind sie noch drin.“

Allerdings gelangte er nicht bis zu dem Sack, weil das Wasser unterm Schiff einige Meter tief war. Ich riss mir wütend die Kleider vom Leib, zog Brille und Schnorchel an und sprang ebenfalls ins Wasser.

Tatsächlich, da war in einiger Tiefe unser Sack. Ich holte mehrmals Luft und tauchte hinab. Mit den Taucherflossen ging es problemlos, und ich bekam ihn zu fassen.

Verrückterweise hatten vier von sechs Tieren es tatsächlich nicht geschafft herauszukrabbeln. Eine fairere Chance, dem Kochtopf zu entgehen, hat kein Hummer je bekommen. Wir lachten Tränen und erzählten einen Lobsterwitz nach dem anderen. Schon lange hatte ich mich nicht mehr so lebendig gefühlt wie nach diesem Schnorchelgang. Schließlich warfen wir die Tiere ohne schlechtes Gewissen ins kochende Wasser.

Sie schmeckten köstlich.

Am folgenden Tag segelten wir mit gutem Wind in die Tobago Cays. Dabei handelt es sich um ein Korallenriff, das hufeisenförmig von mehreren unbewohnten kleinen Inseln eingerahmt wird. Dort leben neben etlichen Fischarten und Rochen viele Wasserschildkröten, denen man sich tauchend bis auf wenige Zentimeter nähern kann. Als wir die Einfahrt in diese paradiesische Welt ansteuerten, stand ich am Bug und staunte über die unvergleichliche Schönheit dieses Fleckchens Erde. Vor uns lag eine Postkartenidylle.

Ganz langsam schob sich unser Katamaran vorbei an Palmen, die auf den Strand ragten, und spitzen, mit sattem Grün bewachsenen Felszinnen einer winzigen Insel. Ihr weißer Strand war menschenleer. Bald tauchten rund um das Boot Schildkröten auf. Sie streckten den Kopf jeweils kurz zum Luftholen nach oben, nahmen einen Rundumblick und verschwanden dann wieder unter der Wasseroberfläche. Es waren sicher Dutzende.

Genau so hatte ich mir als Kind beim Lesen immer Stevensons Schatzinsel vorgestellt oder das Eiland, auf dem Robinson Crusoe gestrandet war. Nicht zufällig wurden auf diesen Inseln die Fluch-der-Karibik-Filme mit Johnny Depp gedreht. Denn einen geeigneteren Ort kann man sich als Filmkulisse gar nicht vorstellen.

Ich sog tief die Seeluft ein, ließ den Blick schweifen, dachte an das, was ich hinter mir hatte und musste weinen.

Das geschenkte Leben

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