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Kapitel 2: Wahrheiten

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Im Haus begrüßt mich schwanzwedelnd Bruno, unser brauner Labrador. Er spürt, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist und drängt sich an mich, um zu trösten. Dann sehe ich Anna. Ich umarme sie.

Sie fragt besorgt „Was ist denn nur los? Du warst ja ewig weg! Warum hat es denn so lange gedauert?“

Ich sage es ihr so schonend ich kann und sehe Entsetzen in ihren graublauen Augen.

Sie ruft „Oh nein!“, und schlägt die Hände vor den Mund. Ich umarme sie noch einmal, dieses Mal länger. Und siehe da, die Selbstbeschwörung im Auto hatte Erfolg. Meine Augen werden nicht mal feucht, geschweige denn, dass ich heulen muss. Bitte, geht doch.

„Es sind noch Untersuchungen zu machen, das Ergebnis der Biopsie steht noch aus, das Tumorboard muss eine Behandlungsempfehlung liefern.“

Ich erkläre ihr alles, was ich weiß, verschweige aber meine Gedanken über Sterben und Tod. Bis jetzt läuft es prima. Da ich nicht weine, kann sich auch Anna beherrschen. Es ist viel besser so. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn wir hier beide in Tränen erstickt zeternd und plärrend am Boden lägen.

Wegen solcher Schicksalsschläge sind schon ganze Familien zerbrochen. Das hätte mir gerade noch gefehlt. Ich fühle mich bestätigt. Wenn ich die Nerven behalte, regen sich die anderen auch nicht unnötig auf.

Anna, mit der ich seit neunzehn Jahren verheiratet bin, arbeitet in der Pharmaforschung. Eigentlich ist sie Biologin. Sie sagt, die Medizin habe gerade bei Darmkrebs in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht.

Ich weiß, warum sie mir das erzählt. Sie kennt die Geschichte mit meiner Großmutter und will mich beruhigen. Hoffentlich hat sie Recht, denke ich bitter. Anderenfalls muss sie unsere Silberhochzeit in sechs Jahren ohne mich feiern.

Mir fällt ein Arztwitz ein: Fragt ein Patient seinen Arzt, ‚Herr Doktor, wie lange habe ich noch?‘ Sagt der Arzt: ‚Lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich an Ihrer Stelle würde mir für den Bus eher keine Jahreskarte mehr kaufen.‘ Haha.

Kurios, dass ich gerade an die Silberhochzeit gedacht habe. Dabei hätten wir überhaupt nicht geheiratet, wenn Anna nicht dringend eine Arbeitserlaubnis gebraucht hätte. Sie ist Polin. Wir hatten uns an der Uni in Göttingen kennengelernt. Ich studierte Jura, Anna schrieb an ihrer Doktorarbeit. Ich traf sie bei der Examensfeier eines Nachbarn im Studentenwohnheim und verliebte mich sofort in sie.

Niemals werde ich vergessen, wie sie aufgebackene Baguettes aus dem Ofen holte und in der Drehung beinahe mit mir zusammenstieß. Anna hat Augen wie das Mittelmeer an seichten Stellen, so ein Blassblau, das ins Graue überzugehen scheint, und flachsblonde, dicke Haare, die sie zu einem Zopf geflochten hatte.

Zuerst ignorierte sie mich hartnäckig, ließ sich aber irgendwann doch zu einem Treffen überreden. Ich versuchte, sie mit Wodka Lemon betrunken zu machen, und scheiterte kläglich. Anna verträgt unglaublich viel Alkohol, sodass am Ende des Abends nicht sie, sondern ich randvoll war. Wenigstens schaffte ich es, mich halbwegs unfallfrei von ihr zu verabschieden. Sie erzählte mir später, dass sie meine Bemühungen an diesem Abend sehr amüsierten.

Ich brauchte also einen neuen Plan und versuchte es mit einer Einladung zum Essen. Erst als ich sie mit Seezunge in Champagnersoße bekochte, nahm sie mich ernst und verabredete sich von nun an öfter mit mir. In mich verliebt hat sie sich wohl aber erst mehrere Monate später. Wir waren zunächst lose verbandelt.

Das änderte sich, als wir zum Spaß auf dem Weg zur Mensa beim Studentenwerk vorbeischauten und durch einen reinen Zufall auf eine wunderschöne freie Wohnung in einer Jugendstilvilla im Göttinger Ostviertel aufmerksam wurden. Es handelte sich um eine Liegenschaft, die das Studentenwerk ursprünglich zum Verkauf vorgesehen hatte, nun aber mit neuen Mietern belegen wollte. Darum gab es für das Haus auch keine Warteliste. Wer sich meldete, konnte sofort einziehen. Frei war allerdings bloß noch die ehemalige Hausmeisterwohnung, wegen der Größe jedoch nur für zwei Mieter. Wir überlegten ein paar Minuten und füllten kurzentschlossen den Antrag aus, weil wir beide in winzigen Wohnheimzimmern hausten, die einzeln mehr kosteten als die große Wohnung geteilt durch zwei. So kam es, dass wir mit einem Mal zusammenwohnten, noch bevor wir ein richtiges Paar wurden. In unserer romantischen Villen-WG wuchs ganz allmählich unserer Liebe.

Fachlich war Anna dagegen überhaupt nicht glücklich, weil sie im Zoologischen Institut von einigen anderen Doktoranden gemobbt wurde. Dabei war sie die Einzige, die bereits als Diplomandin eine echte wissenschaftliche Entdeckung auf dem Konto hatte. Anna forschte nämlich an Heuschrecken, die sie und ihre Kollegen in der Umgebung Göttingens und andernorts einfingen, um die Funktionsweise ihrer Gehirne zu erforschen. Das Ganze lief unter der Überschrift ‚Erforschung neuronaler Netze‘.

Anna hatte bereits im Rahmen ihrer Diplomarbeit den Botenstoff identifiziert, der Heuschrecken zum Singen bringt. Sie hatte dafür die Substanz, die man für gesangsauslösend hielt, einer Heuschreckenart ins Hirn gespritzt, die in der Natur niemals sang und sie mit dem eingesetzten Botenstoff unter Laborbedingungen zum Zirpen gebracht. Die damit verbundenen Erkenntnisse reichten locker für eine Doktorarbeit, sodass Anna sich nicht sonderlich anstrengen musste.

Ein paar ihrer Kollegen machte das offenbar neidisch und die drangsalierten sie, wo es nur ging. Eines Tages besuchte Anna einen Neurobiologenkongress, wo ihr ein befreundeter Wissenschaftler das perfekte Jobangebot machte. Ein Pharmaunternehmen suchte osteuropäische Muttersprachler mit naturwissenschaftlichem Hintergrund für die Durchführung klinischer Studien in Polen, Tschechien, Russland und so weiter. Anna überlegte nicht lange und nahm an.

Leider hatte sie in der großen Freude nicht bedacht, dass ihre Arbeitserlaubnis und auch ihre Aufenthaltserlaubnis sich nur auf die Arbeit als Doktorandin an der Göttinger Uni bezogen. Als sie das erkannte, war es bereits zu spät: Der Arbeitsvertrag war unterschrieben, die Doktorandenstelle gekündigt, Ihr Doktorvater war stinkwütend auf sie. Ihr Arbeitsvertrag war aber ohne Arbeitserlaubnis wertlos. Und ohne Job würde umgekehrt ihre Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert werden, weil Polen damals noch kein Mitglied der Europäischen Union war.

Als sie mir davon erzählte, regte ich mich zunächst furchtbar auf. Volkswirtschaftlich war es doch totaler Irrsinn, auf fremde Kosten bestens ausgebildeten jungen Fachkräften zu verbieten, gut bezahlte Jobs in Deutschland anzunehmen. Im Gegensatz zu den meisten damals massenweise legal einwandernden deutschstämmigen Aussiedlern aus Osteuropa sprach Anna nahezu perfektes Deutsch, würde vom ersten Tag an in die Sozialkassen einzahlen und brachte zudem noch nicht einmal ihre Familie mit. Gar nicht davon zu reden, dass den Job ja ohnehin nur jemand machen konnte, der gar nicht in Deutschland aufgewachsen war.

„Ich muss wieder zurück nach Warschau gehen“, sagte Anna.

„Auf keinen Fall!“, antwortete ich.

Es war zum Haareraufen.

„Lass uns heiraten. Dadurch sind alle Probleme auf einen Schlag erledigt: Als meine Ehefrau bekommst Du automatisch eine Aufenthaltserlaubnis. Damit verbunden ist selbstverständlich eine unbeschränkte Arbeitserlaubnis, denn wer sich rechtmäßig und unbefristet in Deutschland aufhalten darf, hat auch das Recht, sich eine Arbeit zu suchen.“

„Und was ist, wenn es mit uns nicht funktioniert?“, fragte Anna.

„Dann lassen wir uns eben wieder scheiden. Aber ich werde mir von den Behörden nicht vorschreiben lassen, mit wem ich wie lange zusammenleben darf.“

Wir begriffen schnell, dass es für einen Deutschen gar nicht so leicht war, eine Ausländerin zu heiraten. Man stellt sich das wesentlich unkomplizierter vor, als es in Wahrheit ist. Wir benötigten ein Ehefähigkeitszeugnis nach Paragraf 1 Ehegesetz. Wir lernten, dass das erforderliche Dokument in Polen nur ausgestellt werden konnte, wenn wir zuvor ein Ehefähigkeitszeugnis von einem deutschen Standesamt vorlegen würden. Aber wenn es möglich gewesen wäre, das Dokument in Deutschland zu beantragen, hätten wir es ja gar nicht in Polen beschaffen müssen. Nach etlichem Hin und Her mit deutschen und polnischen Bürokraten gab ich schließlich auf. Ein Freund hatte mir geraten, doch ganz einfach in Dänemark zu heiraten, weil das wesentlich einfacher sei. Er musste es wissen, denn er hatte vergangenes Jahr eine Nicaraguanerin geehelicht.

In Dänemark brauche man lediglich einen Personalausweis und eine Meldebescheinigung. Ich rief sofort im Städtchen Tönder an, wo der Freund geheiratet hatte, doch in der Gemeinde waren gerade Sommerferien. Da es damals noch kaum Internet gab, ließ ich mir bei der internationalen Telefonauskunft einfach das Standesamt der nächsten Ortsvorwahl geben. Der Zufall wollte es, dass ich in der Gemeinde Hadsund anrief, wo man mir innerhalb weniger Tage tatsächlich einen Termin zur standesamtlichen Trauung gab. Ich hatte eilig ein paar dünne Ringe aus dreihundertdreiunddreißiger Gold beschafft. Die konnte ich mir gerade so eben leisten und ließ unsere Namen sowie ‚Juli 1997‘ eingravieren. Das genaue Datum unserer Eheschließung wusste ich zum Zeitpunkt des Erwerbs der Ringe nämlich noch gar nicht.

Wegen des Arbeitsvertrages hatten wir es sehr eilig und entdeckten erst in der Nähe von Flensburg, dass Hadsund gar keine Nachbargemeinde von Tönder war, sondern am nördlichen Ende von Dänemark lag. Es gab damals noch keine Navigationssysteme. Stattdessen hatte man einen Autoatlas an Bord. Da ich den Weg bis nach Flensburg kannte, konsultierten wir den Autoatlas aber erst, als die Grenze längst hinter uns lag und erkannten meinen Fehler bei der Wahl des Standesamtes so spät, dass wir nichts mehr dagegen tun konnten.

So kamen wir statt wie gedacht am frühen Abend erst nachts um drei Uhr bei unserem Ziel an. Alle Hotels waren geschlossen, und wir mussten die Nacht vor unserer Hochzeit im Auto auf einem Supermarktparkplatz verbringen. Den ‚Polterabend‘ feierten wir mit widerlich warmem Sekt und schliefen nach dem langen Tag schnell ein.

Am nächsten Tag verheiratete uns ein irritierter Bürgermeister, nachdem er uns genervt zuerst zwei Trauzeugen aus nahegelegenen Büros besorgt hatte.

Fast hätte er das nicht getan.

Denn vor der Zeremonie hatte er gesagt „Ich muss Euch fragen, ob Ihr aus wirtschaftlichem Gründen heiratet?“

Er meinte natürlich, ob wir eine Scheinehe planten.

Wie aus der Pistole geschossen antwortete Anna „Ja, ausschließlich wirtschaftliche Gründe! Wir heiraten wegen der Arbeitserlaubnis.“

Ich brauchte dann fast eine halbe Stunde, um den Mann davon zu überzeugen, dass wir zwar vordergründig tatsächlich wegen der Arbeitserlaubnis heirateten, uns aber wirklich und ernsthaft liebten und auch zusammenbleiben wollten. Erst nachdem ich ihm die komplette Geschichte samt Mobbing im Zoologischen Institut, Neurobiologenkongress, Jobangebot tutto completti erzählt hatte, willigte er schließlich ein, uns zu trauen.

Wenn er doch nur wüsste, dass wir nun schon fast zwanzig Jahre miteinander verbracht haben. Wie viele mehr werden es wohl noch? Oder endet unsere Ehe, weil mein Leben endet? Ich nehme mir vor, nach Hadsund zu fahren und den Bürgermeister von damals zu besuchen, sollte ich das hier überleben.

Kommunikationstechnisch kommt nun der härteste Brocken. Ich muss es den Kindern beibringen, hilft ja nichts. Zum Glück sind die beiden nicht mehr ganz so klein.

Max ist beim Eishockeytraining, deswegen ist zuerst die vierzehnjährige Annika dran. Sie ist in ihrem Zimmer. Ich klopfe und gehe entschlossen rein.

Sie ist erschrocken und weint, als ich ihr erzähle, was los ist. Zum Glück hat sie meinen Grundoptimismus geerbt. Schon nach ein paar weiteren Sätzen glaubt sie ganz fest daran, dass ich wieder vollständig gesund werde. Was auch sonst!

Gemeinsam holen wir Max vom Training ab. Wir gehen ein paar Schritte hinter die Eishalle.

Max weint auch und sagt entschlossen „Wenn du stirbst, bringe ich mich um!“

Ich antworte, dass ich ganz sicher damit rechne, jetzt nicht zu sterben.

„Aber“, fahre ich fort, “ich erwarte, dass du mich eines hoffentlich noch sehr fernen Tages einmal beerdigen wirst, weil Kinder eben nun mal ihre Eltern zu Grabe tragen sollten und nicht andersherum.“

Max erkennt die Folgerichtigkeit meiner Forderung. Ich sehe es in seinen Augen. Auch Anna und Annika nicken ernst. Ich habe das Gefühl, die Familie ist jetzt geeint, und wir stehen gemeinsam durch, was auch immer kommen wird.

Ich entschließe mich nach dieser positiven Erfahrung zu einer allgemein offensiven Kommunikationspolitik. Es wird nichts geheim gehalten. Meine Eltern, meine Brüder, der Rest der Familie, sie alle müssen es ebenso erfahren wie mein Arbeitgeber und meine Freunde.

Alles andere könnte ich gar nicht durchhalten. Ich verstehe die Leute nicht, die monatelang nicht damit herausrücken, was sie genau haben. Denen wird immer unterstellt, sie simulierten oder litten an irgendwas Peinlichem wie Drogensucht, Geschlechtskrankheiten oder sie hätten eine Schraube locker.

Als wäre Krankheit etwas, für das man sich schämen müsste.

Aber ich darf gar nicht schimpfen. Schließlich bin ich selbst genauso. Wer hat denn seine scheinbaren Hämorrhoiden so lange ignoriert, bis er alle vierzig Minuten und öfter aufs Klo musste? Eben.

Am folgenden Tag mache ich die wichtigsten Anrufe und verbreite Optimismus. Meinem Chef erkläre ich, ich sei in ein paar Wochen ohne jeden Zweifel wieder an Deck.

Er entgegnet, ich soll mich ordentlich behandeln lassen und erst wiederkommen, wenn ich komplett geheilt bin. Im Übrigen soll ich mir über die Arbeit keine Sorgen machen, die Gesundheit komme zuerst.

Das sieht ihm ähnlich. Er ist eben ein Unternehmer vom alten Schlag, für den das Beschäftigungsverhältnis über die Schreibtischkante weit hinausgeht. Ich bin sehr froh, dass ich mir wenigstens um meinen Job vorerst keine Sorgen machen muss. Ich organisiere in den verbleibenden Tagen bis zum Besprechungstermin in der Klinik meine Abwesenheit auf unbestimmte Zeit, richte eine automatische Antwort auf eingehende Mails ein und stelle das Telefon um.

Endlich kommt der Tag der Wahrheit. Ich werde pünktlich ins Besprechungszimmer des Professors gerufen, Doktor M alias Marc Greene ist auch dabei. Diesen beiden und dem Anästhesisten vor allem werde ich in ein paar Tagen mein Leben anvertrauen. Anvertrauen ist gut. Was für eine Wahl habe ich denn? Ich muss mich ständig zur Ordnung rufen. Wenn das mit meinen inneren Monologen und der Fantasie so weitergeht, bekomme ich womöglich doch noch vor der OP einen Rappel. Aber ich kann mir eben alle Abläufe hier in der Klinik, im Operationssaal, im Aufwachraum, auf Station bis ins Detail vorstellen. Schließlich habe ich meine Zivildienstzeit und mein halbes Studium als Rettungssanitäter verbracht.

Das ist gut und schlecht zugleich. Einerseits weiß ich ziemlich genau, wovon die Ärzte reden, auch wenn sie ihr Fachvokabular verwenden. Ich habe etliche Arztbriefe gelesen und hatte in ungezählten Nachtschichten stundenlang Zeit, jedes Krankheitsbild und alle interessanten Diagnosen nachzuschlagen.

Das ist natürlich jetzt gut, denn ich verstehe den ganzen Betrieb hier. Andererseits weiß ich aber auch genau, was alles schiefgehen kann und wie schlampig mitunter gearbeitet wird.

Das ist schlecht, weil ich dadurch weiß, dass man bei ernsten Erkrankungen immer auch Glück braucht.

Werde ich Glück haben? Ich hoffe es. Der wichtigste Schritt war, einen richtig guten, erfahrenen Chirurgen für meine Operation zu finden. Nach allem, was ich bisher gehört und gesehen habe, scheint das gelungen zu sein, wenn auch durch reinen Zufall. Denn nach dem Operateur hatte ich nicht explizit gesucht. Und da sitze ich nun vor ihm, dem großen Medicus und seiner rechten Hand, Doktor Marc Greene aus Emergency Room. Es gibt sicherlich Patienten, die ungünstiger gestartet sind.

Die Ärzte empfangen mich mit Handschlag und eröffnen mir die Vorschläge des Tumorboards. An einer baldigen Operation führt kein Weg vorbei. Das ist nach allem, was ich nun bereits weiß, keine Überraschung mehr.

„Wir sind bereit, wenn sie es sind. An ihrer Stelle würde ich allerdings nicht mehr sehr lange mit der Operation warten“, sagt Professor X.

Ich weiß schon, der drohende Darmverschluss. Er erklärt noch einmal, dass ich ein Rektumkarzinom habe.

„Das bedeutet, wir müssen tief unten in Ihrem Becken operieren. Momentan sieht es so aus, als könnten wir Ihren Schließmuskel erhalten, dann benötigen Sie den künstlichen Darmausgang nicht dauerhaft.“

Er lächelt mich leutselig an und lässt seine Sätze in Ruhe wirken. Mir ist, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube bekommen.

Künstlicher Darmausgang? Wahrscheinlich kann mein Schließmuskel erhalten werden? Was, wenn nicht? Dann behalte ich einen künstlichen Darmausgang und kacke bis an mein Lebensende in einen Plastikbeutel? Oh Gott nein, bloß das nicht! Ich bringe vor lauter Schreck statt einer Antwort nur heiseres Gestammel heraus.

Die Ärzte irritiert das keineswegs. Anscheinend sind sie an dergleichen gewöhnt. Sie sind aber auch nicht zu beneiden, wenn sie tagtäglich armen Schweinen wie mir den voraussichtlichen Grad ihrer Verstümmelung eröffnen müssen. Die beiden Herren fahren unbeirrt fort und erklären mir die zu planende Operation. Sie soll endoskopisch, also quasi durchs Schlüsselloch, durchgeführt werden.

Statt des traditionellen sogenannten Kulissenschnitts sei diese Operationsmethode zwar zeitaufwändiger und handwerklich anspruchsvoller, aber viel weniger invasiv als die konventionelle Methode, bei der man den gesamten Bauchinhalt herausholt, repariert und danach wieder hineinstopft. Der Kulissenschnitt trage seinen Namen übrigens, weil dabei die Bauchdecke vom Rippenbogen bis zum Schambein aufgesäbelt und somit wie im Theater ein Blick hinter die Kulissen möglich werde, erklärt mein Operateur voller Begeisterung. Im Gegensatz dazu spreche man bei der endoskopischen Methode auch von Schlüssellochchirurgie.

„Ach,“ mache ich unsicher. Es erinnert entfernt an einen Loriot-Dialog, zumindest wenn ich mir die aufkeimende Übelkeit wegdenke.

Damit der Darm nach der OP in Ruhe heilen kann, klemmt man ihn im unteren Bereich vom übrigen System ab und leitet die Exkremente durch ein Loch in der Bauchdecke nach außen ab. Dafür wird das obere Ende des Darms an der Bauchdecke festgenäht. Auf der anderen Seite fängt später ein Klebebeutel den ganzen Segen auf.

„Das ist heutzutage für den Patienten alles recht komfortabel,“ betont Professor X.

„Aha,“ sage ich, kein bisschen weniger beunruhigt.

Komfortabel? Ein künstlicher Darmausgang mit einem Klebebeutel? Eigenartige Sichtweise, finde ich. Aber allmählich gewöhne ich mich an den Gedanken, dass wir über keine Blindarmentfernung oder anderen Routine-Pipifax, sondern über eine ausgewachsene Darmkrebsoperation reden. Was habe ich denn erwartet? Fencheltee und ein paar Tage Bettruhe, dann ist alles wieder gut?

No Sir! Hier muss jetzt mit dem kompletten Waffenarsenal, das die moderne Chirurgie zu bieten hat, ohne Rücksicht auf Verluste schnell und hart zugeschlagen werden. Das schließt die gesammelten erwähnten und vielleicht auch ein paar unerwähnte Unannehmlichkeiten mit ein.

Jetzt heißt es, kaltschnäuzig bleiben. Augen zu und durch. Ich reiße mich also zusammen, während die beiden Ärzte im Plauderton erklären, was sie im Detail mit mir vorhaben.

Nun sind wir beim Thema Operationsvorbereitung. Die medizinischen Leitlinien sehen für meine Art Tumor standardmäßig eine Bestrahlung vor. Ich soll mich deswegen noch heute bei den Strahlentherapeuten vorstellen und beraten lassen. Unter anderem davon ob und wie lange ich mich freiwillig radioaktiver Strahlung aussetze, hängt der Operationstermin ab. Ich soll deswegen jetzt für ein Gespräch zur Oberärztin der Nuklearmedizin gehen.

Was wird denn noch alles kommen? Etwa auch noch Chemotherapie? Ich kapiere immer besser, dass ich wirklich und wahrhaftig und ernstlich krank bin.

Deswegen frage ich nun mit zunehmend flatternden Nerven, „Sagen Sie mal, reden wir hier eigentlich über Leben und Tod? Also, soll ich meine Angelegenheiten ordnen und mich so langsam verabschieden?“

„Aber Herr Töööllner,“ dröhnt der Professor mit ausgebreiteten Armen und einem jovialen Lächeln auf den Lippen, „an sowas stirbt man doch heutzutage nicht mehr!“

Doch noch bevor ich mich erleichtert entspannen kann, schiebt er halblaut nach, „jedenfalls nicht so schnell wie früher,“ und grient mich an.

Ich bin ihm für seinen Humor aufrichtig dankbar und muss nun selbst lachen. Die Engländer sagen Comic Relief dazu, wenn sich eine angestaute Spannung in einem Witz löst.

Auf einen Schlag begreife ich, wie befreiend so ein Lacher ist und erkenne, dass dies für mich fortan die einzig praktikable Art des Umgangs mit meiner Krankheit sein wird. Ich werde den verdammten Krebs einfach so lange kleinreden und lächerlich machen, bis er wieder weg ist. Na ja, oder eben ungünstigstenfalls, bis ich weg bin.

Ich bedanke mich artig und verspreche, sofort nach dem Termin wieder zurückzukommen, um alles Weitere zu bereden. Jetzt, da ich anscheinend nicht mehr zu den unmittelbar Todgeweihten zähle, fühlt sich mein Leben gleich viel lebenswerter an.

In der Abteilung Nuklearmedizin treffe ich eine sehr freundliche Oberärztin, die mir ans Herz legt, meinen Tumor operationsvorbereitend ein wenig mit Gammastrahlen zu traktieren. Ich frage, was das bewirkt. Sie klärt mich umfangreich über Wirkungen und Nebenwirkungen auf. Besonders gruselig finde ich die Aussicht auf irreversible Schäden an meinem Fortpflanzungsapparat. Und damit meine ich nicht so sehr die Beschädigung von Samenzellen, auf die ich nach abgeschlossener Familienplanung meinetwegen noch verzichten könnte. Viel übler hört sich an, dass die kleinen Blutgefäße im Becken, die meinen Penis mit Blut versorgen und die Nerven, die für die Erektion verantwortlich sind, durch die Bestrahlung kaputt gehen könnten.

Ohje, vorzeitige Impotenz ist keine schöne Aussicht. Ich sehe mich schon als alten Perversling, der selbst keinen mehr hochkriegt auf einem Stuhl sitzen, während ein junger, muskulöser Schwarzer es vor meinen Augen meiner Frau besorgt. Ich habe sowas mal in einem Film gesehen, ‚Der Zuschauer‘ oder so. Verdammtes Kopfkino, ich kann es einfach nicht abschalten.

Von meinem inneren Monolog leicht irritiert frage ich nach, welchen Nutzen ich von der Bestrahlung erwarten darf. Die Oberärztin sagt, sie könne das Risiko eines Rezidivs, also dass der Krebs nach erfolgreicher Operation wieder am selben Ort zurückkommt, um rund fünfzig Prozent senken.

Das hört sich allerdings gut an.

Ich frage, „Wie groß ist denn bei mir überhaupt das Rezidivrisiko?“

Über Risiken und Chancen hatte ich mit den Chirurgen noch gar nicht geredet. Die Oberärztin schätzt, fünf Prozent.

„Das ist ja nun relativ wenig“, sage ich.

Sie antwortet, „Ja, das ist im Prinzip richtig. Nur gibt es für Sie aber keine fünf oder zweieinhalb Prozent. Sie haben es oder Sie haben es eben nicht, also nur null oder hudert Prozent.“

Da hat sie leider vollkommen Recht.

Ich frage, „Würden Sie sich selbst unter diesen Umständen bestrahlen lassen?“

„Ja“, sagt sie, „auf jeden Fall.“

Ich bedanke mich und verspreche, dass ich nach dem Gespräch mit Professor X wegen der Bestrahlung Bescheid geben lasse und laufe zurück in Richtung seines Büros.

Unterwegs begegne ich einer weinenden Frau. Sie ist schätzungsweise Anfang sechzig. Sie presst eine Hand vor den Mund, als sie mich sieht. Sie schämt sich ihrer Tränen. Ob sie ihren Mann besucht hat? Ob er hier operiert wurde? Ob er schon im Sterben liegt? Ob er Schmerzen hat? Ich gehe zögernd auf sie zu, weil ich an ihr vorbeimuss. Ich will es lieber gar nicht wissen. Nicht dass mein Karma sich noch verschlechtert, wenn ich dem Tod nahekomme. Nicht dass Gevatter Hein Witterung zum mir aufnimmt und mich doch ganz plötzlich holen will. Selbstverständlich bin ich kein bisschen abergläubisch. Aber in meiner Situation geht man besser kein Risiko ein. Also schnell weiter zu meiner Verabredung.

Nach einer Weile im Wartezimmer des Professors werde ich aufgerufen zur zweiten Runde.

„Na, wie war’s bei den Strahlentherapeuten?“, fragt er. Doktor Greene ist inzwischen weg.

Ich sage, „Toll! Die waren so nett, dass ich große Lust habe hinzugehen.“

Der Professor lacht herzhaft.

„Na das ist ja mal ein Grund!“

„Ja, aber kein besonders guter. Ich kann fachlich doch gar nicht beurteilen, ob ich mich bestrahlen lassen sollte oder besser nicht.“

Ich erzähle ihm von der mutmaßlichen fünfzigprozentigen Reduzierung meines Rezidivrisikos. Er fragt, wie hoch man das Risiko bei den Nuklearmedizinern denn schätze. Ich sage es ihm. Er zieht die Augenbrauen hoch, stützt sich mit den Ellbogen auf der Tischplatte ab und sieht mir über den Rand seiner Brille in die Augen.

Er sagt, „Bei allem Respekt, wenn ich Sie operiere, ist Ihr Rezidivrisiko bei ein bis zwei Prozent.“

Er lehnt sich lässig in seinen Sessel zurück und zuckt leicht mit den Schultern, als er meinem fragenden Blick begegnet.

„Das sind meine Zahlen. Die Statistik lügt nicht.“ Sein Lächeln geht jetzt in ein Grinsen über, das selbstgefällig, aber auch stolz aussieht.

„Überlegen Sie einfach, ob Sie für einen mutmaßlichen therapeutischen Erfolg von nullkommafünf bis ein Prozent einhundert Prozent Nebenwirkungen akzeptieren wollen.“

Na, sage ich mir, das ist mal ein Arzt. Ich strahle ihn an und antworte „Nein, bestimmt nicht!“

Also keine Bestrahlung! Er erklärt mir, dass für Fälle wie meinen in den nächsten Monaten wahrscheinlich die Leitlinien geändert und zukünftig ohnehin keine Bestrahlung mehr empfohlen werde.

„Keine Ahnung, ob die Nuklearmediziner das schon wissen. Aber ich würde mich an Ihrer Stelle auch nicht bestrahlen lassen. Gute Entscheidung.“

Jetzt will ich noch wissen, ob ich das verlängerte Wochenende in Berlin absagen soll, wo die OP doch so dringend ist.

Er sagt, „Sie sollten tatsächlich nicht sehr lange damit warten. Aber es spricht nichts dagegen, nächstes Wochenende nochmal nach Berlin zu fahren. Tun Sie das ruhig.“

Ich frage, „Was ist, wenn ich einen Darmverschluss bekomme?“

Er antwortet, das glaube er zwar nicht, aber im Notfall bestehe in Berlin doch Aussicht auf ordentliche ärztliche Versorgung. Er grient schon wieder und fragt „Haben Sie schon mal von der Charité gehört?“

Selbstverständlich habe ich, und er weiß es. Die Charité, das ist der Inbegriff medizinischen Fortschritts. Dort haben die berühmtesten Ärzte aller Zeiten gearbeitet: Rudolf Virchow, Robert Koch, Paul Ehrlich, Emil von Behring, der große Sauerbruch und wer weiß noch alles. Nobelpreisträger hat die Charité hervorgebracht. Klar habe ich von der gehört.

Professor X sagt, „Wenn Sie tatsächlich einen Darmverschluss kriegen sollten, was ich, wie gesagt, nicht glaube, dann gehen Sie einfach in die Charité. Wir geben Ihnen einen Arztbrief mit, den zeigen Sie dort vor. Dann wird man Sie dort garantiert nicht schlechter als hier in Mannheim operieren.“

Wir verabreden die Operation für unmittelbar nach dem Berlin-Wochenende und verabschieden uns.

Als ich im Parkhaus ins Auto steige, fühle ich mich gut. Ich will und werde vorerst leben, jedenfalls aller Wahrscheinlichkeit nach. Die Ängste und die Unsicherheit der letzten Tage sind wie weggeblasen.

Wie es sich für echte Krieger gehört, machen wir kommendes Wochenende in Berlin nochmal ordentlich einen drauf. Anschließend ziehe ich dann in die Schlacht.

Das geschenkte Leben

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