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Kapitel 4: Die Operation

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Gegen sechs werde ich geweckt. Ich bestelle Körnerbrötchen, Milchkaffee, ein weiches Ei und Lachs. Die Schwester lacht nur und schüttelt den Kopf.

„Dann eben nicht!“, rufe ich ihr hinterher.

Draußen ist es schon leidlich hell. Sieht schön aus. Mein Fenster geht zu einem kleinen Park mit Teich und Springbrunnen hinaus. Dort lebt eine Entenfamilie, die ich gestern schon beobachtet hatte. Niedlich.

Ich dusche in Ruhe, melde mich nochmal kurz bei Anna und stelle das Telefon ab. Ich ziehe den hinten offenen Kittel und Thrombosetrümpfe an. So ein schwummeriges Gefühl wie jetzt habe ich immer vor Achterbahnfahrten. Die Schwester kommt mit einer Beruhigungstablette.

Ich sage, „Ich bin aber total ruhig“ und grinse dazu. Immer schön große Schnauze, auch wenn’s schwerfällt. Ich soll die Pille trotzdem nehmen, das sei aus Erfahrung für alle Beteiligten besser. Na gut, dann eben runter mit dem Ding. Nach einer Weile werde ich leicht schläfrig. Man schiebt mich quer durch Haus in den OP-Trakt.

Unterwegs traue ich meinen Augen kaum. Da läuft doch tatsächlich mein ehemaliger Chef! Genau der hatte mir kurz vor Weihnachten vor dreieinhalb Jahren erklärt, unsere Firma würde zwar verkauft, aber wir sollten uns keine Sorge um unsere Jobs machen und beruhigt in den Weihnachtsurlaub gehen.

„Aus Raider wird Twix, und sonst passiert nix!“, hatte er fröhlich getönt und mir dabei in die Augen gesehen.

Vier Wochen später wurden wir dann alle gefeuert. Er allerdings nicht. Er hatte sich bei einer kleinen Reorganisation selbst in die Rechtsabteilung versetzt und sich so in Sicherheit gebracht.

Wenn ich heute sterbe, dann war ausgerechnet dieses Arschloch das letzte bekannte Gesicht, das ich gesehen habe. Unfassbar, was für beknackte Zufälle es gibt!

Ich bin an meinem heutigen Ziel. Ein maskierter Vollprofi namens Thomas verpasst mir einen venösen Zugang. Ich sehe nur seine braunen Augen und die buschigen Brauen. Seine Haare und das restliche Gesicht sind hinter OP-Kleidung verborgen. Auch ich bekomme eine Haube auf. Das Engelshemd musste ich schon ausziehen.

Er fragt, „Wie fühlen Sie sich?“

Ich sage „Danke, super, ein guter Tag zum Sterben!“

Er antwortet, „Nichts da, bei uns wird nicht gestorben. Wir operieren Ihr Bein, und ruck zuck sind Sie wieder oben in Ihrem Zimmer.“

Ich richte mich vor Schreck halb auf „Äh, Bein? Bei mir wird aber was ganz anderes gemacht…“ Weiter komme ich nicht.

Thomas lacht, „Ich veräppel‘ Sie doch bloß! Gleichen wir kurz ab: Sie bekommen eine Bauch-OP zur Entfernung eines Rektum-Karzinoms.“

„So isses!“, antworte ich erleichtert.

„Na denn!“, sagt er und wäscht meine üppige Wampe mit reichlich Desinfektionsmittel ab. Anwärmen ging wohl vorher nicht, es ist trotz des warmen Sommerwetters recht frisch auf der Haut.

Nun kommt der Anästhesist. Er stellt sich als Doktor Sowieso vor, aber es ist auch egal. Maskiert wie sie hier alle sind, erkenne ich sie ohnehin nicht wieder. Er erklärt mir einiges zur Narkose, was ich aber wegen der Aufklärung am Vortag schon von seiner Kollegin weiß. Allmählich ist es mir auch piepe, die Tablette wirkt inzwischen nämlich wunderbar. Er redet darüber, dass er mich dann auch intubieren müsse. „Ich weiß“, murmele ich, „wenn’s geht, brechen Sie mir bitte keine Zähne ab.“

Er lacht nur und verlangt, dass ich zählen soll. Gern würde ich ihm erklären, dass ich in meiner Zeit als Rettungssanitäter mit eigenen Augen eine ganze Reihe misslungener Intubationen, einschließlich herausgebrochener Schneidezähne, gesehen habe. Jetzt bin ich also gleich weg, denke ich. Adieu, schnöde Welt. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben. Weiter komme ich nicht mehr.

Der Schlaf ist der Bruder des Todes. Das weiß niemand besser als jener, der schon mal eine Vollnarkose hatte!

Meine nächste bewusste Wahrnehmung ist entsetzliches Gestöhne und Gutturallaute, die statt von einem Menschen auch von einem wilden Tier stammen könnten. Da hat anscheinend jemand Schmerzen. Bin das etwa ich?

Erst nach einer kleinen Ewigkeit begreife ich, dass jemand anderer die Laute produziert. Ich kriege die Augen trotz aller Anstrengung nicht auf. Stattdessen bewege ich zuerst die eine, dann die andere Hand ein wenig. Ich spüre meinen Hintern, es fühlt sich an, als hätte ich ins Bett gekackt. Eklig. Meine Beine spüre ich nicht und kann sie auch nicht bewegen. Das ist beunruhigend. Ich will etwas sagen, schaffe es aber nicht.

Mein Mund ist vollkommen ausgetrocknet. Eine männliche Stimme sagt meinen Namen. Als ich reagiere, fragt er, wie es mir geht.

Ich will sagen „Was glaubst Du denn?“, krächze aber nur Unverständliches und bringe schließlich „Habe Durst!“, heraus.

Der Pfleger stellt sich als Matthias vor und erklärt mir, dass ich noch nichts trinken darf.

„Sie sind hier in der Wachstation. Was zu Trinken gibt es erst im Aufwachraum. Dahin kommen Sie, sobald Sie sich etwas stabilisiert haben“.

Ich bekomme immerhin künstlichen Speichel auf einem Schaumstoffstiel, hätte aber in meinem Zustand auch echte Spucke akzeptiert, wenn bloß mein Mund ein klein wenig angefeuchtet würde. Die Zunge fühlt sich an wie ein Stück Holz, rau und hart. Ich könnte schwören, dass ich sowas Ekliges noch nie im Mund hatte. Allerdings legt die Logik nahe, dass es sich bei dem Ding in meinem Mund um meine eigene Zunge handeln muss. Widerlich. Viel schlimmer kann der Mund sich nach einem Tag ohne Wasser in der Wüste auch nicht anfühlen. Nach der Behandlung mit dem Schwämmchen lösen sich Teile der Kruste auf der Zunge und kleben wie Popel im Rachen. Trotzdem ist es jetzt besser als vorher.

Ich versuche, Pfleger Matthias von meinem Verdacht in Kenntnis zu setzen, dass ich ins Bett gemacht zu haben glaube. Ich brauche mehrere Anläufe, bis er kapiert, was ich ihm sagen will. Er glaubt es nicht, bis er nachsieht. Ich entschuldige mich, so gut ich kann. Der arme Matthias ist seit meiner Mutter der erste Mensch, der mich aus der Scheiße pellen muss. Ich schäme mich, kann aber rein gar nichts machen, weil ich mich praktisch nicht bewegen kann.

Zwischendurch dämmere ich ständig wieder weg. Keine Ahnung, wie lang die Schlaf- und Wachphasen sind. Mir ist jedes Zeitgefühl abhandengekommen. Glückwunsch Holger, du hast es from Hero to Zero in nur einem Vormittag geschafft.

Irgendwann rufe ich „Gebt dem Mann doch endlich ein Schmerzmittel, das ist ja nicht zum Aushalten!“, weil die Schreie einfach nicht aufhören wollen. Ist doch nicht zu fassen, dass einer hier mitten im Krankenhaus liegt, und keiner tut was gegen seine Schmerzen. Bloß gut, dass ich das nicht bin. Mir ging es zweifellos schon mal besser als jetzt, aber Schmerzen habe ich so gut wie keine. Kommt sicher später noch, denke ich.

Eine weibliche Stimme erklärt mir, „Der Mann hat keine Schmerzen, das ist ein Behinderter, der hat vor seiner OP auch schon solche Laute gemacht. Tut mir leid.“

Ach du liebe Güte, wo bin ich hier nur hingeraten. Die Laute, die der arme Kerl ausstößt, hören sich wirklich zum Gotterbarmen an. Hoffen wir, dass es stimmt, was die Schwester oder Ärztin sagt und er wirklich nicht an Schmerzen leidet. Ich kann es ohnehin nicht ändern.

Matthias ist wieder bei mir und erklärt, ich sei jetzt soweit stabil, dass ich in den Aufwachraum kann. Großartig, ich mache hier noch richtig Karriere, wenn es so weitergeht. Und schon dämmere ich wieder weg, werde aber jetzt immer wieder aufgeweckt. Deswegen heißt es wohl auch Aufwachraum und nicht Weiterschlafraum. Wer nach seiner Operation zu derart dämlichen Witzen fähig ist, wird sicher überleben, denke ich.

Ich wüsste gern, wie die OP gelaufen ist. Bin ich geheilt oder haben sie womöglich doch noch Metastasen gefunden? Und was ist mit meinem Schließmuskel? Ist der noch ganz? Ich taste mit der rechten Hand vorsichtig an meinem Bauch entlang in Richtung Leiste.

Da! Ein weicher Beutel, lauwarm beim Anfassen. Darin schwabbelt Flüssigkeit. Der berühmte Klebebeutel. Er verschließt meinen künstlichen Darmausgang.

Wäre ich doch nur aufgewacht und alles wäre ein böser Traum gewesen. Wenn sich während der OP doch nur herausgestellt hätte, dass kein anus praeter erforderlich ist. Aber nein. Alles ist eingetreten, wie von Professor X und Doktor Greene vorhergesagt. Hoffentlich lohnt sich das Ganze wenigstens und der Krebs ist weg. Dann will ich mich nicht beschwert haben.

Endlich werde ich auf mein Zimmer gebracht. Dort liegt jetzt in dem Bett nahe der Tür ein weiterer Patient. Soweit ich erkenne, ist der wesentlich älter als ich. Sein Name ist Doktor Forster. Er ist Arzt. Ich schätze ihn auf Ende siebzig.

Er fällt gleich negativ auf, weil er Schmerzen hat, die Pillen gegen Schmerzen aber angeblich nicht schlucken kann. Hat man sowas schon gehört, ein Arzt, der keine Pillen schlucken kann.

Ich nicke schon wieder ein.

Als es dämmert, kommt eine Schwester und sieht nach mir. Ich darf endlich schluckweise Tee trinken. Welche Wohltat! Doktor Greene kommt und erzählt mir, was sich den Tag über zugetragen hat.

Ich wurde sage und schreibe elfeinhalb Stunden lang operiert. Kein Wunder, dass ich mich ausgelaugt wie nach einem Marathon fühle. Um ein Haar hätte ich eine Bluttransfusion bekommen.

Nach neuesten Erkenntnissen geht man aber damit äußerst zurückhaltend um, weil sich nach erstmaliger Transfusion Antikörper bilden, die bei jeder folgenden Fremdblutübertragung allergische Reaktionen auslösen können. Nur beim ersten Mal ist es gefahrlos.

Nach neueren Studien kommt der Mensch mit viel weniger Blut aus, als man bisher angenommen hat. Deswegen habe ich trotz eines Blutverlustes von rund anderthalb Litern nichts bekommen. Sozusagen um den Freischuss für einen noch entscheidenderen Moment als heute aufzusparen.

Alles klar, also nicht nur halb ausgeweidet, sondern auch noch halb ausgeblutet liege ich hier. Wenn die Dinge aber so stehen, muss doch was schiefgegangen sein. Sonst hätten sie doch nicht so lange gebraucht.

Auf Nachfrage lerne ich jedoch, dass Professor X mit der OP sehr zufrieden gewesen sei. Man geht davon aus, dass der ganze Tumor entfernt werden konnte. Auch habe der Sicherheitsabstand ausgereicht, um den Schließmuskel nicht zu beschädigen. Alles sei planmäßig verlaufen. Der hohe Zeitbedarf wird mit der komplizierten Operationstechnik per Endoskop erklärt. Die Ärzte machen nur drei bis vier kleine Schnitte und stecken alle Instrumente durch sie in den Körper, nachdem sie das Innere mit Gas aufgeblasen haben.

„Morgen können Sie aufstehen und ein paar Schritte laufen.“

Ich staune nicht schlecht. Keine 24 Stunden nach so einer Aktion kann man herumturnen? Da bin ich aber gespannt. Ich erkundige mich nach meinen Füßen, die ich noch immer nicht spüren, aber inzwischen wieder bewegen kann.

„Was ist mit denen los?“, will ich wissen. Doktor Greene sagt, „Das wird ein Lagerschaden sein, das vergeht bald wieder.“

„Was zum Teufel ist denn ein Lagerschaden?“

Doktor Greene erklärt verbindlich lächelnd, „Bei Schlüssellochoperationen müssen wir die Patienten teilweise ganz schön verbiegen, um optimal arbeiten zu können. Na ja, und wenn man Sie mal ein paar Stunden in einer wenig natürlichen Lage fixiert, werden regelmäßig Blutgefäße und Nerven abgeklemmt. Die müssen erst wieder ordentlich durchblutet werden, um korrekt zu funktionieren. Kein Grund zur Sorge.“

Er lächelt. Hoffentlich behält er Recht.

Endlich kommen Anna und die Kinder. Max sagt, „Du siehst scheiße aus!“, und umarmt mich. Alle umarmen mich und wollen wissen, wie es war.

Ich sage, „Recht apart“, was die Wahrheit nicht hundertprozentig trifft.

Obwohl ich voll Schmerzmittel gepumpt bin, wage ich kaum, mich zu bewegen, aus Sorge, plötzlich könnte es irgendwo grausam wehtun. Aber außer einem dumpfen Spannungsgefühl und einer Art Ganzkörpermuskelkater merke ich nicht viel.

Was sich jetzt als wirklich nützlich erweisen könnte, ist meine relative Schmerzunempfindlichkeit. Ich habe mal gelesen, dass Nordeuropäer genetisch bedingt eine erheblich höhere Schmerztoleranz haben als der Rest der Welt.

Ich muss aber von Wikingern abstammen. Denn anders ist es nicht zu erklären, dass ich auch bei größeren Verletzungen kaum je Schmerzen gespürt habe.

Einmal hatte ich einen Motorradunfall, bei dem sich ein scharfes Blech des Motorradständers in meinen rechten Knöchel bohrte und dabei nicht nur die Haut, sondern die gesamte Gelenkkapsel aufschnitt. Ich war auf dem Weg ins Büro auf nassen Straßenbahnschienen gestürzt. Nachdem ich mich aufgerappelt hatte und das restliche Stück ins Büro zurückgelegt hatte, bemerkte erst mein Chef, dass ich verletzt war.

„Aus Ihrem Schuh sickert Blut, gehen Sie sich mal versorgen.“

Als ich den Socken auszog, klappte die Haut zurück, sodass man die weiße Kugel des Gelenks sehen konnte. Es war klar, dass ich in ein Krankenhaus musste. Dort staunten die Ärzte nicht schlecht, als ich verlangte, unter örtlicher Betäubung genäht zu werden, um abends wieder zu Hause zu sein. Das könne man unmöglich aushalten, hieß es unisono. Aber ich konnte.

Ähnlich war es beim Eishockey, wo ich mehrmals ohne Betäubung genäht wurde und auch bei meinem legendären Skiunfall.

Ich hatte mich nahe dem Gipfel des Stubaier Gletschers in einer Schneewehe mehrfach überschlagen. Dabei war der Unterschenkel, also Schien- und Wadenbein, glatt durchgebrochen. Es dauerte ewig, bis man mich von der Piste ins Tal heruntergeschafft hatte. Auch damals hatten sich die Schmerzen in Grenzen gehalten.

Jetzt hoffe ich natürlich, dass es mir dadurch leichter fallen wird, die Operationsschmerzen zu verkraften. Aktuell merke ich kaum etwas. Gut so. Anna hat schon unmittelbar nach der OP mit Professor X gesprochen. Er hat ihr mitgeteilt, dass alles ungefähr planmäßig verlaufen ist. Er werde mich morgen aufsuchen und mir alles im Detail erklären. Da ich körperlich völlig K.O. bin, verabschiedet sich die Familie.

Ich rufe noch schnell meine Eltern an. Es ist besser, wenn sie aus meinem eigenen Mund hören, dass ich soweit in Ordnung bin. Alle anderen Freunde müssen bis morgen warten oder sich bei Anna erkundigen.

Das geschenkte Leben

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