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Kapitel 1: Die Diagnose

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„Es tut mir so, so leid für Sie, Herr Töllner.“

Die Ärztin drückt meine Hand und will sie anscheinend gar nicht mehr loslassen. Sie hat den Kopf schief gelegt und blickt mich so traurig und mitfühlend an, als wäre mein baldiger Tod nur noch eine Frage weniger Tage. Ich kann es zunächst nicht glauben. Es fühlt sich nämlich total unwirklich an. Es kann, es darf nicht sein! Irrt sie sich denn nicht?

„Aber müssen Sie nicht erst die Biopsie…, ich meine, ohne dass sie das Gewebe untersucht haben…, wie können Sie denn da so sicher sein?“, stammele ich.

Sie unterbricht mich. Ihr Mitleid ist plötzlich wie weggeblasen, da sie meinen Einwand ihrer Reaktion nach offenbar als unberechtigte Kritik versteht. Sie fixiert mich mit stechendem Blick.

„Glauben Sie mir, ich habe schon viele Tumore gesehen. Das was sich da in Ihrem Anus befindet, ist mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit Krebs. Und ein gefährlicher dazu, der Tumor ist nämlich bereits so groß, dass ein Darmverschluss droht. Sie müssen schnellstmöglich operiert werden. Am besten gehen Sie direkt rüber in die Uniklinik und lassen sich einen Termin bei Professor X geben. Der ist ein ziemlich bekannter Spezialist für Ihre Thematik. Ich wünsche Ihnen alles Gute, Herr Töllner.“

Wieder legt sie den Kopf schief, nickt bekräftigend. Das Stechende in ihren Augen ist jetzt verschwunden. Stattdessen zeigt sie nun wieder den Hundeblick, mit dem sie wohl Empathie heuchelt, wie eingangs.

„Danke,“ echoe ich mechanisch.

„Wiedersehen, Herr Töllner“, und weg ist sie.

Ich bleibe allein zurück und fühle: nichts.

Eine abstrakte Gefahr löst eben keinen Fluchtreflex aus. Wenn das Enddarmzentrum oder mein Enddarm selbst in Flammen stünde, ja dann wäre es wohl anders. Dann würde mein primitives ich vor Adrenalin bersten, und ich würde unter Hochspannung versuchen, mich in Sicherheit zu bringen. Dagegen löst ein Geschwür, das nicht weh tut, das man nicht einmal spürt und von dessen Existenz man bis gerade eben überhaupt keine Ahnung hatte, im ersten Augenblick offenbar rein gar nichts aus. Schon seltsam.

Ich verlasse das Enddarmzentrum und mache mich auf den Weg zum Auto. Nach und nach sickert das Gesagte wie flüssiger Honig in die Windungen meines Gehirns. Krebs. Ein Rektumkarzinom, so groß, dass die Ärztin mit dem Endoskop nicht daran vorbeigekommen war, um den dahinter liegenden Teil meines Darms zu begutachten. Die Geschwulst drückt den Darm schon fast vollkommen zu, hat sie gesagt. Es droht Darmverschluss, hat sie gesagt.

Deswegen also musste ich immer öfter aufs Klo, zuletzt um die zehn, fünfzehn Mal am Tag. Dabei hat alles so harmlos angefangen. Mit ein bisschen Blut im Stuhl. Mal mehr, mal weniger. Mal hörte es für mehrere Tage komplett auf. Dann war es wieder da. Ich war verflucht nochmal vor über zwei Jahren deswegen sogar beim Arzt gewesen. Aber das war unmittelbar nach einer Darmspiegelung, bei der außer einem winzig kleinen Polypen nichts entdeckt wurde. Nichts!

Der Arzt sagte damals, „Na, das kann ja bei Ihnen nichts Schlimmes sein. Ihren Darm haben wir doch gerade erst untersucht.“

Er hatte jovial gelächelt, ob so großer, offensichtlich unbegründeter Sorge eines medizinischen Laien und mich nach Hause geschickt. Ich solle die Sache beobachten und wiederkommen, sofern es wider Erwarten in sechs Wochen immer noch bluten würde.

„Ist sicher bloß eine Fissur oder eine kleine Hämorrhoide, kein Problem.“

Mit ‚Fissur‘ meinte er einen winzigen Riss in der zarten Haut an meinem Hinterausgang.

So machte ich mir keine Sorgen. Schließlich hatte ich alles an Vorsorge hinter mir, wozu man mir geraten hatte. Ich war damals außerdem total im Stress. Es war gar keine Zeit für überflüssige Arztbesuche. So kam es, dass ich das Ganze verschleppte. Dabei hatte der Doc ja nicht gesagt, ‚Geh heim und komm nie wieder.‘ Hängengeblieben war bei mir aber nun einmal, dass, was immer ich da hinten hatte, vollkommen harmlos wäre. Die fällige Wiedervorstellung nach sechs Wochen im Fall der Fortdauer der Blutungen verdrängte ich. Keine Zeit. Und auch keine Lust.

So überstand ich den Verkauf der Firma, in der ich arbeitete, den Verlust meines Arbeitsplatzes samt meiner Kollegen nach zwölf Jahren, suchte und fand einen neuen Job, brachte die Probezeit hinter mich, wechselte die Firma noch einmal, zeigte in ein, zwei Projekten, was ich konnte, machte Urlaub und so weiter für die nächsten zweieinhalb Jahre. Wahrscheinlich durch den erzwungenen Jobwechsel und die ganzen Querelen im Vorfeld hatte ich mir zwischendurch ein Speiseröhrengeschwür zugezogen, das aber schnell wieder abgeheilt war.

Ich würde nicht sagen, dass ich stressempfindlich bin. Eher im Gegenteil. Ich bin immer mit großer Freude zur Arbeit gegangen, ganz besonders, wenn viel zu tun war. Aber gefeuert zu werden, ohne je schlechte Leistungen abgeliefert zu haben und dann noch die Menschen zu verlieren, mit denen man mehr Zeit als mit der Familie verbrachte, darauf war ich einfach nicht vorbereitet.

Unser Arbeitgeber war die äußerst profitable Tochter eines Weltkonzerns, eine echte Cashcow, wie man so sagt. Nicht im Traum hätte ich geglaubt, einmal einer strategischen Entscheidung der Konzernzentrale zum Opfer zu fallen. Aber genau so war es gekommen.

Meine Frau behauptet, dass ‚die‘ mir damals mit ihrer irrationalen Entscheidung den Krebs verpasst haben. Tja, wer weiß. Tatsache ist, dass mir das Ganze wirklich sehr nah ging und ich ziemlich lange brauchte, bis das Arbeitsleben sich wieder halbwegs normal anfühlte.

Eines Tages fuhr ich für meinen neuen Arbeitgeber mit dem Auto nach München, was von unserem Wohnort aus eine Strecke von etwa viereinhalb Stunden ist. Unterwegs hielt ich an beinahe jeder Raststätte an, um auf die Toilette zu gehen. Ich verbrauchte auch seit einigen Wochen Unmengen an Klopapier und hatte gelesen, das sei ganz typisch für Hämorrhoiden. Also beschloss ich, die Dinger jetzt endlich wegmachen zu lassen. Ich meldete mich im Enddarmzentrum an und bekam Mitte August 2016 einen Termin.

Doch statt nach zwanzig Minuten mit einem in Ordnung gebrachten Hinterausgang den Laden zu verlassen, trage ich jetzt einen Zettel für die weiterbehandelnden Ärzte mit der Verdachtsdiagnose ‚Rektumkarzinom‘ in meiner Jackentasche.

Was nun? Ich puste die Luft durch die Backen aus. Es ist ein schöner, sonniger Tag, nicht zu warm, ein angenehmes Lüftchen weht. Die Menschen sehen alle so unbeschwert aus. Es ist Sommer. Es wird doch nicht etwa mein Letzter werden? Ich merke, wie mir die Hitze in den Kopf schießt und kalter Schweiß ausbricht.

Jetzt ruhig Blut. Bloß nicht durchdrehen. Ich beschließe, mich zusammenzureißen und erstmal nicht zu Hause anzurufen. Noch ist schließlich nichts raus, sage ich mir. Erstmal in die Uni, eine zweite Meinung einholen. Dann muss man ja auch noch die Gewebeuntersuchung abwarten. Vielleicht stellt sich heraus, dass das Ding in meinem Arsch gar nichts Bösartiges ist. Dann wäre aber eine Entschuldigung von dieser bescheuerten Ärztin fällig. Mich so in Panik zu versetzen! Lernen die denn an der Uni gar nichts über die nervenschonende Führung von Patientengesprächen? Außerdem kann es einfach nicht sein. Ich bin schließlich noch nicht mal fünfzig. Da stirbt man doch nicht, Menschenskind!

Aber was, wenn doch? Ich denke an meine Großmutter. Ein Rektumkarzinom hat sie vor rund vierzig Jahren umgebracht. Da war sie knapp über fünfzig.

Mein Mund wird trocken.

Wie in Trance steuere ich das Auto zum Universitätsklinikum Mannheim. Zuerst überlege ich, doch direkt nach Hause zu fahren und den Termin telefonisch zu machen. Aber dann entscheide ich mich dagegen, weil Arbeiten heute sowieso nicht mehr funktionieren würde. Außerdem, was soll ich meiner Familie denn erzählen, das sie nicht sofort in helle Panik versetzt? Und wenn es dann doch halb so schlimm ist?

No, Sir, jetzt erstmal schön den Ball flach halten, nehme ich mir vor.

Also begebe ich mich zur chirurgischen Ambulanz, um nachzufragen, wie es weitergehen soll. Den Weg kenne ich im Schlaf. Ich war schon mehrmals mit meinem Sohn hier. Er ist in der Uniklinik wegen diverser Platzwunden vom Eishockey und nach Skateboardunfällen immer bestens versorgt worden.

Die nette Dame hinter dem Tresen nimmt meinen Überweisungsschein routiniert entgegen, liest ihn durch und fragt, was ich konkret will.

Ich sage, „Keine Ahnung…, einen Termin oder was man in so einem Fall eben macht. Sie müssen entschuldigen, aber ich bin neu im Krebsgeschäft. Ich habe die Diagnose erst vor einer halben Stunde bekommen. Ich weiß es also leider nicht genauer.“

Sie muss etwas grinsen und sagt, „Warten Sie hier, ich kläre das. Vielleicht kann man gleich ein paar Untersuchungen machen. Klarheit ist doch immer das Beste.“

So ist es recht. Noch eine mitleidige Tante wie die Ärztin mit ihrer leeren Empathie hätte ich nicht ertragen. Profis tun irgendwas, anstatt dich zu bedauern.

Wenn etwas geschieht oder auch nur zu geschehen scheint, fühlt sich eine Situation weniger endgültig an. Das tröstet mehr als jedes dahingehauchte ‚Es tut mir, so, so leid.‘

Der gute erste Eindruck bestätigt sich. Nach kurzer Wartezeit erscheint ein Arzt, der sich als Doktor M vorstellt. Er ist um die Dreißig, hat schütteres dunkles Haar, Nickelbrille. Er sieht aus, wie der Held in der Fernsehserie Emergency Room, Doktor Marc Greene, dem er wie ein Zwilling gleicht. Ich werte das als gutes Omen. Doktor Greene ist in der Serie nämlich ein verdammt guter Chirurg. Das hoffe ich von seinem Mannheimer Doppelgänger auch.

Und siehe da, dieser Doktor Greene hier verspricht, noch heute mehrere Untersuchungen zu machen.

Mir wird Blut abgenommen, ich bekomme eine Ultraschalluntersuchung aller Weichteile und dank Doktor Greenes Tatkraft auch noch eine Ganzkörper-Computertomografie, kurz CT genannt. Alles in allem stellt sich heraus, dass ich einen faustgroßen Tumor in mir trage, der etwa fünf Zentimeter ab ano, also fünf Zentimeter von meinem Hinterausgang entfernt, rund um meinen Enddarm wächst und ihn allmählich zusammendrückt.

Und ja, sagt Doktor Greene, auch ohne das noch offene Ergebnis der Biopsie müsse man leider mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es sich um ein bösartiges Gewächs handele.

Während ich zur Besprechung des weiteren Vorgehens warte, kehren meine Gedanken zurück zu meiner Großmutter väterlicherseits, die mich als Kind in schreckliche Angst versetzt hatte.

Ich mochte sie nicht besonders, was unter anderem daher kam, dass sie mich im Alter von vier oder fünf Jahren einmal quer durch den Garten gejagt hatte, weil ich aus Versehen ihren halbvollen Eimer mit frisch geernteten Johannisbeeren umgestoßen hatte. Aus Versehen! Einzig ihr Geschrei war der Grund dafür, dass ich vor Schreck auch noch in die Beeren hineingetreten war.

Um sich für nicht einmal eine halbe Stunde vergeblicher Arbeit an mir zu rächen, schlug sie mir damals den Hintern grün und blau, eine Demütigung, die ich ihr niemals verzeihen konnte.

Sie war eine aggressive, herrische Person, die größten Wert auf Äußerlichkeiten legte. Meine Großeltern betrieben damals eine Pension im Oberharz. ‚Fremdenzimmer mit fließend warm und kalt Wasser‘ versprach das Werbeschild an der Toreinfahrt vor dem Haus.

Ein winziges Klo mit Dusche für alle Gäste auf dem Flur im Erdgeschoss und billige Marmelade aus Fünf-Liter-Eimern zum Frühstück, sagte es dagegen nicht. Dennoch kam das der Wahrheit wesentlich näher. Die Pension mit dem Standard der Fünfzigerjahre überlebte dank Stammgästen. Der Herr Doktor Soundso und der Herr Pfarrer Soundso und der Herr Gewerbelehrer mit Gattin, das war die Lieblingsklientel meiner Oma.

Eines Tages, ich war elf Jahre alt, fand ich meine Großmutter weinend vor dem Badezimmerspiegel, in der Hand ein großes Büschel Haare, das sie durch ihre Tränen hindurch anstarrte. Auf meine Frage, was los sei, warf sie die Haare ins Waschbecken und drehte sich um. Sie beugte sich herunter, sah mir in die Augen und legte beide Hände auf meine Schultern.

„Weißt Du, was Krebs ist?“, heulte sie.

Ich nickte, obwohl ich es natürlich nicht so genau wusste. Aber nach allem, was ich von den Erwachsenen mitbekommen hatte, musste es sich um etwas überaus Schreckliches handeln. Daraufhin schüttelte sie mich, wie man ein ungezogenes Kind schüttelt und schrie, „Und das habe ich nämlich!“

Dann war sie schluchzend vor mir auf die Knie gesunken und umklammerte mich wie eine Ertrinkende, sodass ich das Gefühl hatte, an ihrer Brust ersticken zu müssen. In meinem Entsetzen strampelte und boxte ich um mich, bis sie mich losließ, und rannte davon. In den folgenden Monaten verfiel sie mehr und mehr und starb schließlich qualvoll. Ich habe sie nie wieder besucht.

Fortan hatte ich namenlose, regelrecht panische Angst davor, dass meine armen Eltern, mein kleiner Bruder oder andere geliebte Menschen ebenso grausam sterben könnten wie meine Oma. Der Gedanke an Krebs krampfte mir jedes Mal die Eingeweide zusammen und erfüllte viele Nächte mit Angst und Schrecken. In meinen Alpträumen griff meine Großmutter wieder und wieder nach mir, sah mich mit ihren rotgeweinten Augen an, versuchte, mich zu umklammern und mit sich in die Dunkelheit zu nehmen.

Die Alpträume, schreckliche Verlustängste und mein schlechtes Gewissen, die sterbende Frau in ihrer Verzweiflung so jäh zurückgewiesen zu haben, begleiteten mich bis zum Abitur. Eigentlich hätte ich in die Hände eines Psychotherapeuten gehört. Doch merkten meine Eltern vom abrupten Ende meiner unbeschwerten Kindheit nichts, weil ich mit niemandem über meine Sorgen sprach.

Wunderbarerweise gelang es mir, mich mit der Zeit selbst zu therapieren. Ich hatte zwar das Pech, ein humanistisches Gymnasium besuchen zu müssen, wo man uns ein großbürgerliches Bildungsideal aus dem 19. Jahrhundert einhämmerte, das auf unsere Lebenswirklichkeit nicht zutraf. Mein großes Glück war aber, dass dort wegen der Ausrichtung der Schule neben den klassischen Fächern, antiker Kultur und alten Sprachen, auch Philosophie unterrichtet wurde.

So kam es, dass ich mich mit altgriechischer und römischer Weisheit beschäftigen durfte. Ich las über die Vorsokratiker, die Sophisten, Platon, Sokrates, die Stoiker und andere. Ich war beeindruckt davon, dass Sokrates sein Leben für seine Überzeugungen geopfert hatte und Seneca sich sogar selbst tötete, beziehungsweise durch einen Sklaven töten ließ, um Nero, der ihn umbringen wollte, zuvorzukommen.

Offensichtlich hatte der Tod für sie alle keinen Schrecken. Besonders gut gefielen mir auch die Ansichten Arthur Schopenhauers, der es letztlich schaffte, mich davon zu überzeugen, dass der Tod nichts ist, vor dem man sich fürchten muss. Die Stoiker halfen bei der Bekämpfung meiner Verlustängste. Denn alles ist Schicksal. Der Mensch muss einfach in allen Situationen sein Bestes tun, dann ist der Rest Bestimmung. Deswegen hilft es auch nichts, sich wegen möglichem zukünftigem Unglück zu ängstigen. Man verschlechtert damit nur sein gegenwärtiges Leben, ohne das Geringste an seinem Schicksal zu ändern. Wenn man es ordentlich durchdenkt, ist alles vollkommen logisch.

Alles das hatte ich mir während der Pubertät erarbeitet und dadurch schließlich meine jugendliche Unbeschwertheit zurückerobert. Dank Schopenhauer & Co. wurde ich die Alpträume endgültig los. Mit meinem weltanschaulichen Grundgerüst kam ich so gut klar, dass ich seit Jahren überhaupt nicht mehr über Tod und Verlust nachgedacht habe. Bis heute. Innerhalb der vergangenen halben Stunde im Wartezimmer der Uniklinik Mannheim ist nach wenigen Minuten alles wieder da. Welch ein Glück. Ich bin sicher, dass meine philosophische Grundausbildung die erste Panik verhindert hat.

Doktor Greene erscheint und erklärt mir, dass der Tumor zwar bittere Realität sei, es aber durchaus auch gute Neuigkeiten gebe. Die bisherigen Untersuchungen hätten nämlich ergeben, dass mein restlicher Körper, insbesondere Leber und Lunge, frei von Metastasen seien.

Ich antworte, „Das hätte ich heute nach dem Aufstehen aber auch nicht gedacht, dass die gute Nachricht des Tages lauten würde ‚Ihr Körper ist frei von Metastasen.‘ Aber trotzdem vielen Dank!“

Wir müssen beide lachen. Ich traue mich nicht, nach meinen Überlebenschancen zu fragen, weil ich nicht theatralisch wirken will. Vielleicht geht es gar nicht um Leben und Tod, deswegen will ich nicht übertreiben. Vielleicht schnippeln sie das unwillkommene Gewächs raus, und alles ist schnell wieder vergessen. Gleichzeitig denke ich, wie albern – wenn ich wirklich sterben müsste, könnte es mir doch egal sein, ob mich Doktor Greene, den es gar nicht gibt, oder Doktor M, den ich kaum kenne, für einen Hysteriker halten.

Der Doktor erklärt mir, es würde eine Besprechung meiner Situation im sogenannten Tumorboard der Klinik geben. Das sei ein interdisziplinäres Gremium von Ärzten, die über die bestmögliche Behandlung beratschlagen und dann eine gemeinsame Empfehlung aussprechen. Anschließend werde der behandelnde Arzt, in meinem Fall Professor X, die erforderlichen Maßnahmen mit mir erörtern. Mit ziemlicher Sicherheit sei eine größere Operation erforderlich, für die ich bei Professor X absolut an der richtigen Adresse sei.

„Lassen Sie sich einen Termin bei seiner Sekretärin für kommende Woche geben. Dann wird auch das Ergebnis der Biopsie da sein, und wir werden wissen, womit genau wir es zu tun haben.“

Mittlerweile ist es später Nachmittag geworden. So langsam muss ich mich mal zu Hause melden. Vorher sollte ich aber gut überlegen, wie ich es meiner Frau und unseren beiden Kindern sagen werde. Ich fühle mich nicht mehr so ohnmächtig wie am Vormittag. Dennoch brauche ich für das Gespräch zu Hause einen Plan. Ich spiele verschiedene Szenarien durch.

Oft ist ja der direkte Weg der beste, wie wäre es mit ‚Moin Leute, ich hab‘ Krebs‘?

Okay, wenig einfühlsam.

‚Moin Leute, es tut mir leid, aber ich hab‘ bedauerlicherweise Krebs.‘

Nein, zu förmlich. Etwas schonender wäre gut, also vielleicht ‚Wie Ihr ja wisst, war ich heute zur Darmuntersuchung. Da wurde etwas entdeckt, das demnächst operiert werden muss…‘

Auf gar keinen Fall darf es Heulen und Zähneklappern geben! Auf gar keinen Fall will ich verzweifelt und verängstigt wie meine Großmutter zusammenbrechen. Das kann ich uns nicht antun. Solange ich stehen kann, wird mich niemand auf den Knien sehen, nicht Anna, meine Frau, und schon gar nicht die Kinder. Ich verspreche mir selbst, keine Träne zu vergießen, und hoffe inständig, das mindestens vor den Kindern durchhalten zu können.

Da nichts im Leben so nützlich ist wie ein fester Vorsatz, den man sich beizeiten ins Bewusstsein und am besten auch ins Unterbewusstsein betoniert, tue ich genau das: ‚Ich werde nicht heulen. Ich werde nicht auf Knien winseln. Bloß kein Selbstmitleid.‘ Und gleich nochmal, ‘Ich werde auf gar keinen Fall heulen!‘

Während der Fahrt mit dem Auto rekapituliere ich den Tag. Sehen wir den Tatsachen ins Auge, ich habe also tatsächlich Krebs. Wenn es schlecht läuft, bin ich fällig wie Oma und Onkel Richard und Tante Uschi. Richard war wenige Jahre nach meiner Großmutter an Blasenkrebs erkrankt und bekam dann ebenso wie sie Metastasen auf der Leber, was letztlich beider Schicksal besiegelte. Uschi hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs, der sie direkt umbrachte, also ohne den zusätzlichen Aufwand mit Metastasen.

Ich mache mir nichts vor: Das kann auch mir blühen. Es ist also gut, wenn ich mich rein vorsorglich gleich jetzt damit auseinandersetze, im schlimmsten Fall das Besteck abzugeben. Ich will es Anna und den Kindern nicht unnötig schwer machen. Sie sollen nicht leiden, nur weil ich leide. Am besten, sie merken überhaupt nichts davon, wenn es mir nicht gut gehen sollte. Verschweigen geht nur leider nicht. Ich kann ja schlecht vortäuschen, in den Urlaub zu fahren, wenn ich zu der Operation aufbreche.

Mir fällt auf einmal ein Film über den amerikanischen Bürgerkrieg ein, den ich vor Jahren gesehen habe. ‚Gettysburg‘. Darin kommt eine Szene vor, an die ich jetzt denken muss. Jeff Daniels spielt einen Nordstaaten-Offizier, eine reale historische Figur, namens Joshua Laurence Chamberlain, der unbedingt die Stellung auf einem strategisch wichtigen Hügel gegen die anstürmenden Südstaatler halten muss. Nach unzähligen verlustreichen Angriffen geht seinem Regiment die Munition aus. Aber er kann sich nicht zurückziehen, weil die Südstaatler sonst die ganze Front von der Flanke her aufrollen.

Er sagt zu seinen Leuten, „Gentlemen, wenn wir diese Schlacht verlieren, dann verlieren wir den Krieg.“

Chamberlain hat also gar keine Wahl, denn die Munition ist ja verschossen. Also befiehlt er, die Bajonette aufzupflanzen. Er will die angreifenden Südstaatler endgültig brechen, indem er in seiner Verzweiflung einen Sturmangriff wagt. Es ist ein total verrückter Plan, aber seine Leute folgen ihm.

„Die Rebellen müssen noch fertiger sein als wir. Pflanzt die Bajonette auf!“, brüllt er mit stählernem Blick.

Der Angriff hat Erfolg, und die Südstaatler werden überrannt. Plötzlich steht der gegnerische Kommandeur mit dem Revolver im Anschlag vor Chamberlain. Er zielt aus dreißig Zentimetern Entfernung direkt zwischen Chamberlains Augen und spannt den Hahn. Dem ist jetzt klar, dass er sterben muss. Der andere wird ihm gleich ins Gesicht schießen. Chamberlain strafft sich ein letztes Mal und bläst Luft durch seinen riesigen Seehundschnäuzer. Er ist bereit.

Der Südstaatler drückt ab. Klick. Der erwartete Schuss löst sich aber nicht, weil die Trommel bereits leergeschossen ist. Chamberlain hebt zuerst die Augenbrauen und dann langsam seinen Säbel. Er hält ihn dem Südstaatler an die Kehle. Er sagt voller Würde, „Ihren Revolver, Sir!“

Der andere übergibt die Pistole und antwortet, „Ihr Gefangener, Sir.“ Szene vorbei.

So wie Chamberlain werde auch ich dem Tod gelassen ins Auge blicken. Komm und hol mich eben, wenn Du musst! Ich sage es mehrmals laut. Chamberlain, Seneca, Schopenhauer, Winston Churchill, mein Onkel Richard, meine Tante Uschi und viele andere werden mit mir sein. Wie Petronius so richtig über einen Verstorbenen schrieb: Abiit ad plures – wörtlich heißt das, er ging fort, zu den Mehreren, und bedeutet natürlich dahin, wo die meisten bereits sind.

Ich merke, wie der Gedanke mich zugleich beruhigt und amüsiert.

So. Nachdem mein Verhältnis zum Tod nunmehr geklärt ist, fordert meine Erkrankung ihr erstes Opfer: Das zarte Pflänzchen Selbstmitleid, das seit heute Vormittag fleißig keimte, ist soeben gestorben. Beste Voraussetzungen, um der Familie gegenüberzutreten. Kein Selbstmitleid, keine Tränen! Ich parke das Auto und steige aus. Entschlossen mache ich mich auf den Weg zum Haus.

Das geschenkte Leben

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