Читать книгу Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Оноре де'Бальзак, Honoré de Balzac, Balzac - Страница 44

Die Frau ohne Herz

Оглавление

Nach ei­nem kur­z­en Schwei­gen sag­te Ra­pha­el leicht­hin: »Ich weiß wahr­haf­tig nicht, ob ich dem Dunst des Weins und des Pun­sches die Klar­heit zu­schrei­ben soll, die mich in die­sem Au­gen­blick mein gan­zes Le­ben in ei­nem ein­zi­gen Ge­mäl­de er­schau­en läßt, auf wel­chem die Ge­stal­ten, die Far­ben, die Lich­ter, die Schat­ten und Halb­schat­ten ge­treu­lich wie­der­ge­ge­ben sind. Dies poe­ti­sche Spiel mei­ner Ein­bil­dungs­kraft wür­de mich nicht in Er­stau­nen set­zen, wenn es nicht von ei­ner ge­wis­sen Ver­ach­tung für mei­ne ver­gan­ge­nen Schmer­zen und Freu­den be­glei­tet wäre. Aus der Ent­fer­nung be­trach­tet, ist mein Le­ben durch ein geis­ti­ges Phä­no­men wie zu­sam­men­ge­schrumpft. Die­ser lan­ge, schlei­chen­de Schmerz, der zehn Jah­re ge­dau­ert hat, läßt sich heu­te durch ein paar Sät­ze wie­der­ge­ben, in de­nen der Schmerz nur noch ein Ge­dan­ke und die Freu­de eine phi­lo­so­phi­sche Be­trach­tung ist. Ich ur­tei­le, statt zu emp­fin­den …«

»Du bist lang­wei­lig wie ein Zu­satz­an­trag, der im Par­la­ment dis­ku­tiert wird«, warf Émi­le ein.

»Kann sein«, er­wi­der­te Ra­pha­el ohne Mur­ren; »so will ich dir, um dei­nen Ohren nicht all­zu­viel zu­zu­mu­ten, die ers­ten sieb­zehn Jah­re mei­nes Le­bens schen­ken. Bis da­hin habe ich ge­lebt wie du, wie tau­send an­de­re, das Le­ben ei­nes Schü­lers, des­sen ein­ge­bil­de­te Lei­den und wirk­li­che Freu­den un­se­re Erin­ne­rung ent­zücken und nach des­sen Fas­ten­spei­se un­ser ver­wöhn­ter Gau­men stets zu­rück­ver­langt, so­lan­ge wir sie nicht von neu­em ge­nos­sen ha­ben: schö­nes Le­ben, des­sen Ar­bei­ten uns ver­ächt­lich schei­nen und das uns doch zu ar­bei­ten ge­lehrt hat …«

»Komm zum Dra­ma!« sag­te Émi­le in ei­nem halb ko­mi­schen, halb kla­gen­den Ton.

»Als ich das Collè­ge ver­las­sen hat­te«, er­wi­der­te Ra­pha­el und be­kun­de­te mit ei­ner ent­schie­de­nen Hand­be­we­gung das Recht fort­zu­fah­ren, »un­ter­warf mich mein Va­ter ei­ner stren­gen Dis­zi­plin, er lo­gier­te mich in ei­nem Zim­mer ein, das ne­ben sei­nem lag. Ich ging um neun Uhr abends zu Bett und stand um fünf Uhr mor­gens auf; nach sei­nem Wil­len soll­te ich ge­wis­sen­haft die Rech­te stu­die­ren. Ich be­such­te die ju­ris­ti­sche Fa­kul­tät und ar­bei­te­te gleich­zei­tig bei ei­nem Ad­vo­ka­ten; aber die Ge­set­ze von Zeit und Raum wur­den so pein­lich auf mei­ne Aus­gän­ge, mei­ne Ar­bei­ten an­ge­wen­det, und mein Va­ter ver­lang­te solch ge­naue Re­chen­schaft über …«

»Was geht denn mich das an?« un­ter­brach ihn Émi­le.

»Nun denn, hol dich der Teu­fel!« er­wi­der­te Ra­pha­el. »Wie kannst du mei­ne Ge­füh­le be­grei­fen, wenn ich dir nicht all die un­be­deu­ten­den Um­stän­de schil­de­re, die mei­ne See­le be­ein­fluß­ten, mich furcht­sam wer­den lie­ßen und mich lan­ge in der kind­li­chen Ein­falt des Jüng­lings be­fan­gen hiel­ten? Bis zu mei­nem ein­und­zwan­zigs­ten Jahr hat­te ich mich ei­nem Des­po­tis­mus zu beu­gen, der so hart war wie eine Klos­ter­re­gel. Um dir das gan­ze Elend mei­nes da­ma­li­gen Le­bens be­greif­lich zu ma­chen, ge­nügt es viel­leicht, dir mei­nen Va­ter zu be­schrei­ben: Er war ein großer, dür­rer, eng­brüs­ti­ger Mann mit ei­nem blei­chen Ge­sicht, scharf ge­schnit­ten wie eine Mes­ser­klin­ge, kurz an­ge­bun­den, zän­kisch wie eine alte Jung­fer und klein­lich wie ein Bü­ro­vor­ste­her. Sei­ne Va­ter­wür­de schweb­te dro­hend über mei­nen schel­mi­schen und fröh­li­chen Ge­dan­ken und hielt sie wie un­ter ei­ner blei­er­nen Kup­pel ge­fan­gen. Wenn ich ihm ein lie­be­vol­les, zärt­li­ches Ge­fühl be­zei­gen woll­te, be­han­del­te er mich wie ein Kind, das eine Dumm­heit sa­gen will; ich fürch­te­te ihn weit mehr als frü­her un­se­re Schul­meis­ter; in sei­nen Au­gen war ich im­mer acht Jah­re alt. Ich glau­be ihn noch vor mir zu se­hen. In sei­nem kas­ta­ni­en­brau­nen Über­rock, in dem er sich ge­ra­de­hielt wie eine Os­ter­ker­ze, sah er wie ein Bück­ling aus, der in das röt­li­che Pa­pier ei­nes Pam­phlets ge­wi­ckelt ist. Trotz­dem lieb­te ich mei­nen Va­ter: im Grun­de war er ge­recht. Vi­el­leicht has­sen wir die Stren­ge dann nicht, wenn sie durch einen auf­rech­ten Cha­rak­ter, durch rei­ne Sit­ten ge­recht­fer­tigt und ge­schickt mit Güte ver­bun­den wird. Ob­gleich mein Va­ter nie von mei­ner Sei­te wich, mir bis zu mei­nem zwan­zigs­ten Le­bens­jahr kei­ne zehn Fran­cs zu mei­ner Ver­fü­gung ließ, zehn elen­de, lum­pi­ge Fran­cs, ein un­er­meß­li­cher Reich­tum, de­ren ver­ge­bens er­hoff­ter Be­sitz mich maß­los be­glückt hät­te, so such­te er mir we­nig­tens ei­ni­ge Zer­streu­un­gen zu ver­schaf­fen. Nach­dem er mir mo­na­te­lang ein Ver­gnü­gen ver­spro­chen hat­te, führ­te er mich in die Bouf­fons, in ein Kon­zert, auf einen Ball, wo ich eine Ge­lieb­te zu fin­den hoff­te. Eine Ge­lieb­te! Das hieß für mich Un­ab­hän­gig­keit. Aber ver­schämt und schüch­tern, wie ich war, we­der die Spra­che der Sa­lons noch ir­gend je­man­den dort kann­te, kehr­te ich stets mit dem­sel­ben un­er­fah­re­nen, von un­er­füll­ten Wün­schen über­vol­lem Her­zen wie­der nach Hau­se zu­rück. Am nächs­ten Mor­gen muß­te ich dann, von mei­nem Va­ter wie ein Schwa­drons­pferd an der Kan­da­re ge­hal­ten, von früh an erst zu ei­nem Ad­vo­ka­ten, dann in die Fa­kul­tät, dann in den Jus­tiz­pa­last. Hät­te ich ver­sucht, von dem ein­för­mi­gen Weg, den mein Va­ter mir vor­ge­zeich­net hat­te, ab­zu­wei­chen, hät­te ich sei­nen Zorn auf mich ge­la­den; er hat­te mir ge­droht, mich bei mei­nem ers­ten Ver­ge­hen als Schiffs­jun­ge nach den An­til­len ein­zu­schif­fen. Wenn ich den­noch ge­le­gent­lich wag­te, mich die­ser Ge­fahr aus­zu­set­zen, auf ein oder zwei Stun­den, für ir­gend­ein harm­lo­ses Ver­gnü­gen, so stand ich furcht­ba­re Angst da­bei aus. Stell dir vor, die schwär­me­rischs­te Phan­ta­sie, das lie­be­volls­te Herz, das zärt­lichs­te Ge­müt, den poe­tischs­ten Geist im­mer­fort dem un­nach­gie­bigs­ten, sau­er­töp­fischs­ten, käl­tes­ten Men­schen der Welt aus­ge­setzt; kurz­um, ver­hei­ra­te ein jun­ges Mäd­chen mit ei­nem Ske­lett, und du wirst die merk­wür­di­gen Sze­nen ei­nes sol­chen Da­seins ver­ste­hen, die ich dir nur an­deu­ten kann: Flucht­plä­ne, die beim An­blick mei­nes Va­ters zu­nich­te wur­den, Verzweif­lungs­aus­brü­che, die der Schlaf be­sänf­tig­te, un­ter­drück­te Wün­sche und fins­te­re Schwer­mut, die in der Mu­sik Lin­de­rung fan­den. Ich ver­ström­te mein Un­glück in Me­lo­di­en. Mo­zart oder Beetho­ven wa­ren häu­fig mei­ne ver­schwie­ge­nen Ver­trau­ten. Heu­te muß ich lä­cheln, wenn ich mich all der Vor­ur­tei­le er­in­ne­re, die mein Ge­wis­sen in die­ser Pe­ri­ode der Un­schuld und Tu­gend be­un­ru­hig­ten. Den Fuß in eine Gast­stät­te zu set­zen, hät­te ich für mein Ver­der­ben ge­hal­ten. Ein Café mal­te ich mir als einen Ort des Las­ters aus, wo die Män­ner ihre Ehre ein­bü­ßen und ihr Ver­mö­gen aufs Spiel set­zen. Geld beim Spiel zu ris­kie­ren, dazu hät­te ich frei­lich erst wel­ches ha­ben müs­sen.

Oh! selbst wenn es dich ein­schlä­fern soll­te, will ich dir doch eine der schreck­lichs­ten Freu­den mei­nes Le­bens er­zäh­len, eine je­ner Freu­den, die sich mit Kral­len in un­ser Herz boh­ren, wie ein glü­hen­des Ei­sen in die Schul­ter ei­nes Sträf­lings. Ich war auf dem Ball des Duc de Na­varr­eins, ei­nem Cou­sin mei­nes Va­ters. Da­mit du mei­ne Si­tua­ti­on völ­lig be­grei­fen kannst, mußt du wis­sen, daß ich einen schä­bi­gen al­ten Rock trug, plum­pe Schu­he, eine Kut­scher­kra­wat­te und ab­ge­tra­ge­ne Hand­schu­he. Ich hat­te mich in eine Ecke ge­stellt, um nach Her­zens­lust Eis es­sen zu kön­nen und die hüb­schen Frau­en an­zu­se­hen. Mein Va­ter ent­deck­te mich. Aus ei­nem Grund, den ich nie­mals er­ra­ten habe, so sehr ver­blüff­te mich die­ser Ver­trau­ens­akt, gab er mir sei­ne Bör­se und sei­ne Schlüs­sel zum Auf­be­wah­ren. Zehn Schrit­te von mir ent­fernt spiel­ten ei­ni­ge Her­ren. Ich hör­te das Gold klin­gen. Ich war zwan­zig und von dem Wunsch be­seelt, ein­mal einen gan­zen Tag lang den Las­tern mei­nes Al­ters zu hul­di­gen. Mei­ne Phan­ta­sie nähr­te Sehn­süch­te, wie man ih­res­glei­chen wohl kaum in den Ge­lüs­ten der Kur­ti­sa­nen oder in den Träu­men der jun­gen Mäd­chen fin­det. Seit ei­nem Jahr träum­te ich da­von, ele­gant ge­klei­det im Wa­gen zu fah­ren, eine schö­ne Frau an mei­ner Sei­te, den großen Herrn zu spie­len, bei Véry1 zu di­nie­ren, am Abend ins Schau­spiel zu ge­hen, ent­schlos­sen, erst am nächs­ten Tag zu mei­nem Va­ter zu­rück­zu­keh­ren und dann ge­gen ihn mit ei­nem Aben­teu­er ge­wapp­net zu sein, ver­wi­ckel­ter als die Hoch­zeit des Fi­ga­ro, so daß er mir un­mög­lich auf die Sch­li­che kom­men könn­te. Die­ses gan­ze Ver­gnü­gen hat­te ich auf 50 Ta­ler ge­schätzt. Stand ich nicht noch un­ter dem kind­li­chen Zau­ber des Schul­schwän­zens? Ich ging also in ein Bou­doir, wo ich al­lein war, und zähl­te mit bren­nen­den Au­gen und zit­tern­den Fin­gern das Geld mei­nes Va­ters: 100 Ta­ler! Von die­ser Sum­me her­auf­be­schwo­ren, um­tanz­ten mich die Glücks­bil­der mei­nes er­träum­ten Strei­ches wie die He­xen Mac­beths ih­ren Kes­sel, aber ver­lo­ckend, be­rau­schend, ver­füh­re­risch. Ich ward zum toll­küh­nen Schelm. Ohne auf das Klin­gen in mei­nen Ohren noch auf das ra­sen­de Klop­fen mei­nes Her­zens zu ach­ten, nahm ich zwei 20-Fran­cs-Stücke, die ich noch heu­te vor mir sehe. Ihre Jah­res­zah­len wa­ren ab­ge­grif­fen, und das Bild Bo­na­par­tes glotz­te mir ent­ge­gen. Ich steck­te die Bör­se in mei­ne Ta­sche, trat an einen Spiel­tisch; die bei­den Gold­stücke in mei­ner feuch­ten Hand, um­kreis­te ich die Spie­ler wie ein Sper­ber den Hüh­ner­stall. Von un­be­schreib­li­chen Ängs­ten ge­pei­nigt, warf ich rasch einen schar­fen Blick um mich. Nach­dem ich mich ver­ge­wis­sert hat­te, von kei­nem mei­ner Be­kann­ten be­merkt wor­den zu sein, setz­te ich auf das Spiel ei­nes klei­nen, fet­ten, lus­ti­gen Man­nes, auf des­sen Kopf ich mehr Ge­be­te und Ge­lüb­de häuf­te, als wäh­rend drei­er Stür­me auf dem Meer zum Him­mel ge­schickt wer­den. Dann pflanz­te ich mich mit ei­nem für mein Al­ter über­ra­schen­den In­stinkt von Ver­rucht­heit oder Ma­chia­vel­lis­mus an ei­ner Tür auf, ließ mei­nen Blick durch die Sa­lons strei­fen, ohne et­was dar­in wahr­zu­neh­men. Mei­ne See­le und mei­ne Au­gen schweb­ten über dem ver­häng­nis­vol­len grü­nen Tisch. Von je­nem Abend da­tiert die ers­te phy­sio­lo­gi­sche Beo­b­ach­tung, der ich jene ei­gen­tüm­li­che durch­drin­gen­de Geis­tes­schär­fe ver­dan­ke, die mir ei­ni­ge Ge­heim­nis­se un­se­rer Dop­pel­na­tur ent­hüllt hat. Ich dreh­te dem Tisch den Rücken zu, von dem mein zu­künf­ti­ges Glück ab­hing, ein Glück um so tiefer viel­leicht, als es ver­bre­che­risch war; zwi­schen den bei­den Spie­lern und mir be­fand sich eine vier oder fünf Rei­hen dich­te Mau­er aus plau­dern­den Men­schen. Stim­men­ge­mur­mel ver­hin­der­te, daß man den Klang des Gol­des un­ter­schei­den konn­te, der sich mit der Mu­sik des Or­che­s­ters misch­te; doch mit der den Lei­den­schaf­ten ei­ge­nen Macht, Zeit und Raum auf­zu­he­ben, hör­te ich al­len die­sen Hin­der­nis­sen zum Trotz deut­lich die Wor­te der bei­den Spie­ler; ich kann­te ihre Sti­che, ich wuß­te, wel­cher von den bei­den den Kö­nig auf­deck­te, als ob ich die Kar­ten ge­se­hen hät­te; kurz­um, zehn Schrit­te von dem Spiel ent­fernt, er­bleich­te ich bei sei­nen un­vor­her­ge­se­he­nen Wen­dun­gen. Mein Va­ter ging plötz­lich an mir vor­bei, und da ver­stand ich das Wort der hei­li­gen Schrift: »Der Geist Got­tes ging an ihm vor­über!« Ich hat­te ge­won­nen. Be­hend wie ein Aal, der durch die zer­ris­se­ne Ma­sche ei­nes Net­zes ent­kommt, schlän­gel­te ich mich hur­tig durch das die Spie­ler um­wo­gen­de Ge­drän­ge zum Tisch. Die schmerz­haf­te An­span­nung mei­ner Ner­ven lös­te sich in Freu­de auf. Ich fühl­te mich wie ein Ver­ur­teil­ter, der auf dem Wege zum Richt­platz dem Kö­nig be­geg­net ist. Zu­fäl­lig fehl­ten ei­nem or­dens­ge­schmück­ten Herrn 40 Fran­cs, auf die er An­spruch hat­te. Miß­traui­sche Bli­cke rich­te­ten sich arg­wöh­nisch auf mich, ich er­bleich­te, und Schweiß­trop­fen perl­ten von mei­ner Stirn. Das Ver­bre­chen, mei­nen Va­ter be­stoh­len zu ha­ben, schi­en mir ge­rächt. Da sag­te der gute di­cke klei­ne Mann mit ei­ner wahr­haft en­gel­glei­chen Stim­me: »Die­se Mes­sieurs hier hat­ten alle ge­setzt«, und er be­zahl­te die 40 Fran­cs. Nun er­hob ich mei­ne Stirn wie­der und warf tri­um­phie­ren­de Bli­cke auf die Spie­ler. Nach­dem ich die der Bör­se mei­nes Va­ters ent­wen­de­ten Gold­stücke wie­der er­setzt hat­te, ließ ich mei­nen Ge­winn bei dem wür­di­gen, bie­de­ren Herrn ste­hen, des­sen Glückss­träh­ne an­hielt. Als ich 160 Fran­cs be­saß, wi­ckel­te ich sie in mein Ta­schen­tuch, so daß sie auf un­se­rem Nach­hau­se­weg nicht an­ein­an­der klin­gen konn­ten, und spiel­te nicht mehr.

»Was ha­ben Sie beim Spiel ge­macht?« frag­te mein Va­ter mich, als wir in die Drosch­ke stie­gen. – »Ich sah zu«, ant­wor­te­te ich zit­ternd. – »Nun«, fuhr mein Va­ter fort, »es wäre nicht schlimm ge­we­sen, wenn Sie sich aus Ei­gen­lie­be hät­ten dazu ver­lei­ten las­sen, auch einen klei­nen Ein­satz zu wa­gen. In den Au­gen der Welt schei­nen Sie alt ge­nug, um Dumm­hei­ten be­ge­hen zu dür­fen. Auch wür­de ich es ent­schul­di­gen, Ra­pha­el, wenn Sie sich mei­ner Bör­se be­dient hät­ten …« Ich ant­wor­te­te nicht. Zu Hau­se gab ich mei­nem Va­ter sei­ne Schlüs­sel und sein Geld zu­rück. Er ging in sein Zim­mer, leer­te die Bör­se auf dem Ka­min­sims, zähl­te das Geld, wand­te sich mit ei­ner recht lie­bens­wür­di­gen Mie­ne zu mir und sag­te, wo­bei er nach je­dem Satz eine mehr oder min­der lan­ge, be­deut­sa­me Pau­se ein­leg­te: »Mein Sohn, Sie sind nun bald zwan­zig Jah­re alt. Ich bin mit Ih­nen zu­frie­den. Sie brau­chen ein Ta­schen­geld, sei es auch nur, Sie spa­ren und die Din­ge des Le­bens ken­nen zu leh­ren. Von heu­te ab gebe ich Ih­nen 100 Fran­cs mo­nat­lich. Sie kön­nen dar­über ver­fü­gen, wie es Ih­nen be­liebt. Hier ist das Geld für die ers­ten drei Mo­na­te«, füg­te er hin­zu, in­dem er mit der Hand sacht über eine Rol­le Gol­des fuhr, als woll­te er die Sum­me noch­mals über­prü­fen. Ich ge­ste­he, daß ich nahe dar­an war, mich ihm zu Fü­ßen zu wer­fen, ihm zu be­ken­nen, daß ich ein Dieb, ein Nichts­wür­di­ger, und … schlim­mer als das, ein Lüg­ner wäre. Die Scham hielt mich da­von ab. Ich woll­te ihn um­ar­men, er schob mich sanft zu­rück. – »Du bist jetzt ein Mann, mein Kind«, sag­te er zu mir. »Was ich tue, ist ein­fach ge­recht, wo­für du mir nicht zu dan­ken hast. Wenn ich ein Recht auf Ihre Dank­bar­keit habe, Ra­pha­el«, fuhr er mit ei­nem sanf­ten, aber wür­de­vol­len Ton fort, »so ist es da­für, daß ich Ihre Ju­gend vor den Ge­fah­ren be­wahrt habe, de­nen alle jun­gen Leu­te in Pa­ris zum Op­fer fal­len. Von jetzt an wer­den wir Freun­de sein. In ei­nem Jahr sind Sie Dok­tor der Rech­te. Sie ha­ben sich, nicht ohne ei­ni­ge Unan­nehm­lich­kei­ten und man­cher­lei Ent­beh­run­gen, so­li­de Kennt­nis­se und die Lie­be zur Ar­beit an­ge­eig­net, un­ent­behr­lich für Män­ner, die zu lei­ten­den Stel­lun­gen be­ru­fen sind. Ler­nen Sie auch mich ken­nen, Ra­pha­el! Ich will aus Ih­nen we­der einen Ad­vo­ka­ten noch einen No­tar ma­chen, son­dern einen Staats­mann, der der­einst der Ruhm un­se­res be­schei­de­nen Hau­ses wer­den möge. Auf mor­gen!« füg­te er hin­zu und ver­ab­schie­de­te mich mit ei­ner viel­sa­gen­den Ge­bär­de. Von dem Tage an weih­te mein Va­ter mich frei­mü­tig in alle sei­ne Plä­ne ein. Ich war der ein­zi­ge Sohn, und ich hat­te mei­ne Mut­ter schon vor zehn Jah­ren ver­lo­ren. Mein Va­ter, Haupt ei­nes al­ten, fast ver­ges­se­nen Adels­ge­schlechts aus der Au­ver­gne,2 fand das Recht, mit dem De­gen an der Sei­te sei­nen Kohl an­zu­bau­en, we­nig schmei­chel­haft und war sei­ner­zeit nach Pa­ris ge­kom­men, um da den Kampf mit dem Teu­fel auf­zu­neh­men. Be­gabt mit je­ner fei­nen Schläue, die, wenn sie mit Ener­gie ge­paart ist, die Män­ner aus dem Sü­den Frank­reichs so über­le­gen macht, war es ihm ohne be­son­de­re Un­ter­stüt­zung ge­lun­gen, im Her­zen der Macht eine Po­si­ti­on zu er­rin­gen. Bald dar­auf ver­nich­te­te die Re­vo­lu­ti­on sein Ver­mö­gen; er hat­te es je­doch ver­stan­den, die Er­bin ei­nes großen Hau­ses zu hei­ra­ten, und hat­te sich un­ter dem Kai­ser­reich in der Lage ge­se­hen, un­se­rem Haus sei­nen eins­ti­gen Glanz wie­der­zu­ge­ben.

Die Re­stau­ra­ti­on,3 wel­che mei­ner Mut­ter be­trächt­li­che Gü­ter zu­rück­gab, rui­nier­te mei­nen Va­ter. Da er ehe­mals meh­re­re im Aus­land ge­le­ge­ne Gü­ter ge­kauft hat­te, die der Kai­ser sei­nen Ge­ne­ra­len ge­schenkt hat­te, schlug er sich seit zehn Jah­ren mit Li­qui­da­to­ren und Di­plo­ma­ten, mit preu­ßi­schen und baye­ri­schen Ge­richts­hö­fen her­um, um sich den um­strit­te­nen Be­sitz der un­glück­se­li­gen Schen­kun­gen zu er­hal­ten. Mein Va­ter stürz­te mich in das un­ent­wirr­ba­re La­by­rinth die­ses weit­rei­chen­den Pro­zes­ses, von dem un­se­re Zu­kunft ab­hing. Man konn­te uns ver­ur­tei­len, die Ein­künf­te, so­wie den Preis für be­stimm­te Holz­schlä­ge, die von 1814 bis 1816 er­folgt wa­ren, zu­rück­zu­er­stat­ten; in die­sem Fall hät­te das Ver­mö­gen mei­ner Mut­ter kaum ge­reicht, die Ehre un­se­res Na­mens zu ret­ten. An dem Tage also, da mein Va­ter mich in ge­wis­ser Hin­sicht selb­stän­dig ge­macht zu ha­ben schi­en, ver­fiel ich dem un­er­träg­lichs­ten Joch. Ich muß­te wie auf ei­nem Schlacht­feld kämp­fen, Tag und Nacht ar­bei­ten, Staats­män­ner auf­su­chen, ihre Mei­nung aus­for­schen, sie für un­se­re Sa­che zu in­ter­es­sie­ren su­chen, ih­nen, ih­ren Frau­en, ih­ren Die­nern, ih­ren Hun­den schmei­cheln und die­ses ab­scheu­li­che Tun un­ter ele­gan­ten For­men, un­ter an­ge­neh­men Scher­zen ver­ber­gen. Nun be­griff ich den Kum­mer, der das Ge­sicht mei­nes Va­ters mit Run­zeln ge­furcht hat­te. Ein Jahr lang un­ge­fähr führ­te ich also schein­bar das Le­ben ei­nes Man­nes von Welt; aber hin­ter die­sen Zer­streu­un­gen und mei­nem Ei­fer, mit ein­fluß­rei­chen Ver­wand­ten und Leu­ten, die uns nüt­zen konn­ten, in Ver­bin­dung zu tre­ten, ver­barg sich un­end­li­che Müh­sal. So­gar mei­ne Ver­gnü­gun­gen wa­ren noch Plä­doy­ers und mei­ne Ge­sprä­che Ein­ga­ben. Bis da­hin war ich tu­gend­haft ge­we­sen, weil es mir un­mög­lich war, mei­nen ju­gend­li­chen Lei­den­schaf­ten nach­zu­ge­hen; nun aber, da ich fürch­te­te, durch ein Ver­säum­nis mei­nen und mei­nes Va­ters Ruin zu ver­ur­sa­chen, wur­de ich mein ei­ge­ner De­spot und ge­stat­te­te mir we­der ein Ver­gnü­gen noch eine Aus­ga­be. Wenn wir jung sind, wenn uns die Men­schen und Din­ge noch nicht so tief ver­letzt ha­ben, daß jene zar­te Blü­te des Ge­fühls in uns zer­stört ist, jene Fri­sche des Ge­dan­kens, die edle Rein­heit des Ge­wis­sens, die sich im­mer ge­gen das Böse auf­lehnt, füh­len wir un­se­re Pf­lich­ten; un­se­re Ehre spricht laut und for­dert Ge­hör; wir sind of­fen und ohne Falsch: so war ich da­mals. Ich woll­te das Ver­trau­en mei­nes Va­ters recht­fer­ti­gen. Vor­dem hät­te ich ihm mit tau­send Freu­den einen jäm­mer­li­chen Be­trag ent­wen­det; aber seit­dem ich die Last sei­ner Ge­schäf­te, sei­nes Na­mens, sei­nes Hau­ses mit ihm trug, hät­te ich ins­ge­heim mein Erbe, mei­ne Hoff­nun­gen für ihn hin­ge­ge­ben, so wie ich ihm mei­ne Ver­gnü­gun­gen op­fer­te und glück­lich über die­ses Op­fer war. Als dann auch noch Mon­sieur de Villèle4 ei­gens für uns ein kai­ser­li­ches De­kret über den Ver­fall der Schen­kun­gen aus­grub und uns da­mit rui­niert hat­te, un­ter­zeich­ne­te ich den Ver­kauf mei­ner Gü­ter und be­hielt nur eine wert­lo­se, in­mitt­ten der Loi­re ge­le­ge­ne In­sel, auf der sich das Grab mei­ner Mut­ter be­fand. Heu­te wür­de es mir wahr­schein­lich nicht an Ar­gu­men­ten, Aus­flüch­ten, phi­lo­so­phi­schen, phil­an­thro­pi­schen und po­li­ti­schen Be­weis­füh­run­gen feh­len, um dem, was mein Ad­vo­kat eine »Dumm­heit« nann­te, zu ent­ge­hen; aber mit ein­und­zwan­zig Jah­ren sind wir, ich wie­der­ho­le es, ganz Groß­mut, ganz Ei­fer, ganz Lie­be. Die Trä­nen, die ich in den Au­gen mei­nes Va­ters sah, wa­ren da­mals für mich das schöns­te al­ler Gü­ter, und die Erin­ne­rung an die­se Trä­nen hat mich in mei­nem Elend oft ge­trös­tet. Zehn Mo­na­te, nach­dem mein Va­ter sei­ne Gläu­bi­ger be­zahlt hat­te, starb er vor Gram. Er lieb­te mich über al­les und hat­te mich rui­niert; die­ser Ge­dan­ke tö­te­te ihn. Im Jah­re 1826, zwei­und­zwan­zig Jah­re alt, ge­gen Ende des Herbs­tes, folg­te ich ganz al­lein dem Sarg mei­nes ers­ten Freun­des, mei­nes Va­ters. Nur we­ni­ge jun­ge Leu­te sind wohl je so al­lein mit ih­ren Ge­dan­ken, so ver­lo­ren in Pa­ris, ohne Zu­kunft, ohne Ver­mö­gen hin­ter ei­nem Lei­chen­wa­gen her­ge­gan­gen. Die Wai­sen, de­ren sich die öf­fent­li­che Wohl­tä­tig­keit an­nimmt, ha­ben we­nigs­tens das Schlacht­feld als Zu­kunft, die Re­gie­rung oder den kö­nig­li­chen Pro­ku­ra­tor zum Va­ter, das Wai­sen­haus als Zuf­lucht. Ich hat­te nichts! Drei Mo­na­te spä­ter hän­dig­te mir ein Auk­tio­na­tor 1112 Fran­cs aus, der Rein­er­lös der vä­ter­li­chen Erb­schaft. Gläu­bi­ger hat­ten mich ge­zwun­gen, un­ser Mo­bi­li­ar zu ver­kau­fen. Von Ju­gend auf dar­an ge­wöhnt, einen großen Wert auf die Lu­xus­ge­gen­stän­de zu le­gen, die mich um­ga­ben, konn­te ich mich nicht ent­hal­ten, ein ge­wis­ses Er­stau­nen über die­sen ge­ring­fü­gi­gen Er­trag zu äu­ßern. – ›Oh!‹ sag­te der Auk­tio­na­tor, ›das war al­les schon sehr ’alt­mo­disch’!‹ Schreck­li­ches Wort, das den Glau­ben mei­ner Kind­heit zer­stör­te und mir die ers­ten Il­lu­sio­nen, die liebs­ten von al­len, raub­te. Mein Ver­mö­gen be­leg­te ein Auk­ti­ons­ver­zeich­nis, mei­ne Zu­kunft ruh­te in ei­nem Lei­nen­beu­tel, der 1112 Fran­cs ent­hielt, die Ge­sell­schaft er­schi­en mir in der Ge­stalt ei­nes Ta­xa­tors, der den Hut auf­be­hielt, wenn er mit mir re­de­te. Ein Kam­mer­die­ner na­mens Jo­na­thas, der mich ins Herz ge­schlos­sen hat­te und dem mei­ne Mut­ter einst 400 Fran­cs Lei­b­ren­te aus­ge­setzt hat­te, sag­te zu mir, als wir das Haus ver­lie­ßen, aus dem ich in mei­ner Kind­heit so oft fröh­lich im Wa­gen fort­ge­fah­ren war: »Sei­en Sie recht spar­sam, Mon­sieur Ra­pha­el.« Er wein­te, der gute Mann.

Dies, mein lie­ber Émi­le, sind die Er­eig­nis­se, die mein Ge­schick be­stimm­ten, mei­ne See­le form­ten und mich so jung noch in die schwie­rigs­te Lage brach­ten«, sag­te Ra­pha­el nach ei­ner Pau­se. »Es be­stan­den zwar fa­mi­li­äre Ban­de, wenn­gleich schwa­che, zu ei­ni­gen rei­chen Häu­sern, doch hät­te ich die­se schon aus Stolz nicht be­tre­ten, wenn nicht Ge­ring­schät­zung und Gleich­gül­tig­keit mir be­reits ihre Tü­ren ver­schlos­sen hät­ten. Ob­wohl mit sehr ein­fluß­rei­chen Per­sön­lich­kei­ten ver­wandt, die ihre Gunst an Frem­de ver­schwen­de­ten, hat­te ich we­der Ver­wand­te noch Gön­ner. Da mei­ne See­le, so­bald sie sich auf­schlie­ßen woll­te, im­mer­fort zu­rück­ge­sto­ßen wur­de, hat­te sie sich ganz in sich selbst zu­rück­ge­zo­gen. So frei­mü­tig und of­fen­her­zig ich auch war, muß­te ich doch kalt und ver­schlos­sen er­schei­nen; die Ty­ran­nei mei­nes Va­ters hat­te mir je­des Selbst­ver­trau­en ge­raubt. Ich war schüch­tern, lin­kisch; ich glaub­te nicht, daß mei­ne Stim­me das ge­rings­te Ge­hör fin­den könn­te. Ich miß­fiel mir, ich fand mich häß­lich, ich schäm­te mich mei­nes Blicks. Trotz der in­ne­ren Stim­me, die be­gab­te Men­schen in ih­ren Kämp­fen auf­recht­er­hält und die mir zu­rief: ›Mut! Vor­wärts!‹; trotz­dem sich mei­ne Kraft mir in der Ein­sam­keit plötz­lich of­fen­bar­te; trotz der Hoff­nung, die mich be­leb­te, wenn ich die vom Pub­li­kum be­wun­der­ten neu­en Wer­ke mit de­nen ver­glich, die mir in mei­ner Phan­ta­sie vor­schweb­ten, zwei­fel­te ich an mir wie ein Kind. Ich war von ei­nem über­stei­ger­ten Ehr­geiz be­ses­sen, ich glaub­te mich zu großen Din­gen be­ru­fen und war zur Nich­tig­keit ver­dammt. Ich brauch­te Men­schen und be­saß kei­ne Freun­de. Ich soll­te mir einen Weg in die Welt bah­nen und blieb al­lein, we­ni­ger aus Furcht als aus Scham. In dem Jahr, in dem mein Va­ter mich dem Stru­del der großen Ge­sell­schaft aus­ge­setzt hat­te, gab ich mich ihr mit un­schul­di­gem Her­zen, mit un­ver­dor­be­ner See­le hin. Wie alle großen Kin­der sehn­te ich mich heim­lich nach der Lie­be. Un­ter den jun­gen Leu­ten mei­nes Al­ters traf ich eine Cli­que von Groß­mäu­lern, die er­ho­be­nen Haup­tes ein­her­stol­zier­ten, Nich­tig­kei­ten schwätz­ten, sich keck zu Frau­en setz­ten, die mir höchs­te Ach­tung ein­flö­ßten, fre­che Re­den führ­ten, am Knauf ih­res Spa­zier­stocks kau­ten, sich ei­tel zier­ten und schön­ta­ten, sich den hüb­sche­s­ten Frau­en an­tru­gen, in al­len Schlaf­zim­mern ein und aus gin­gen, es zu­min­dest be­haup­te­ten, eine Mie­ne zo­gen, als ob ih­nen nichts mehr Ver­gnü­gen mach­te, die tu­gend­haf­tes­ten und züch­tigs­ten Frau­en für leich­te Beu­te hiel­ten, die man mit ei­nem al­ber­nen Wort, der kleins­ten ge­wag­ten Ges­te oder dem ers­ten dreis­ten Blick er­obern kön­ne! Ich schwö­re es dir auf Ehre und Ge­wis­sen: es schi­en mir we­ni­ger schwer, po­li­ti­sche Macht oder großes li­te­ra­ri­sches An­se­hen zu er­rin­gen als den Er­folg bei ei­ner geist­rei­chen und an­mu­ti­gen jun­gen Dame aus obers­ten Krei­sen. So stan­den also die Wir­ren mei­nes Her­zens, mei­ne Emp­fin­dun­gen, mein Be­dürf­nis, an­zu­be­ten, im Wi­der­spruch zu den Grund­re­geln der Ge­sell­schaft. Kühn war nur mei­ne See­le, nicht mein Auf­tre­ten. Spä­ter habe ich ge­merkt, daß Frau­en nicht ge­bet­telt wer­den wol­len; ich sah vie­le, die ich von fer­ne an­be­te­te, de­nen ich ein Herz ent­ge­gen­brach­te, zu je­der Pro­be be­reit, eine See­le zum Zer­rei­ßen und eine Glut, die vor kei­nen Op­fern und kei­nen Mar­tern zu­rück­ge­schreckt wäre; sie aber ge­hör­ten jäm­mer­li­chen Tröp­fen an, die ich nicht ein­mal als Por­tiers ge­wollt hät­te. Wie oft habe ich nicht stumm und re­gungs­los die Frau mei­ner Träu­me be­wun­dert, wenn sie auf ei­nem Ball vor mir auf­tauch­te; und wäh­rend ich dann in Ge­dan­ken mein gan­zes Da­sein nicht en­den­wol­len­der Zärt­lich­kei­ten für sie weih­te, leg­te ich all mei­ne Hoff­nun­gen in einen Blick und bot ihr in mei­ner Hin­ge­ris­sen­heit die Lie­be ei­nes Jüng­lings dar, die über Täu­schun­gen er­ha­ben ist. In man­chen Au­gen­bli­cken hät­te ich mein Le­ben für eine ein­zi­ge Nacht hin­ge­ge­ben. Aber nie fand ich Ohren, in die ich mei­ne lei­den­schaft­li­chen Wor­te stam­meln, nie ein Auge, in das mein Blick sich sen­ken konn­te, nie ein Herz für mein Herz, und so durch­leb­te ich alle Qua­len ei­ner ohn­mäch­ti­gen Glut, die sich selbst ver­zehr­te; sei es aus Man­gel an Kühn­heit oder an Ge­le­gen­hei­ten, oder sei es aus Uner­fah­ren­heit. Vi­el­leicht ver­zwei­fel­te ich dar­an, daß ich mich nicht ver­ständ­lich ma­chen könn­te, oder ich fürch­te­te, zu gut ver­stan­den zu wer­den. Und da­bei droh­te je­der freund­li­che Blick, den man mir gönn­te, einen Sturm in mir zu ent­fes­seln. Doch trotz mei­ner Be­reit­schaft, einen sol­chen Blick oder schein­bar herz­li­che Wor­te als zar­te Auf­for­de­rung zu deu­ten, wag­te ich nie, zur rech­ten Zeit zu spre­chen oder zu schwei­gen. All­zu star­kes Ge­fühl ließ mei­ne Wor­te nichts­sa­gend wer­den und mein Schwei­gen al­bern. Frag­los war ich zu naiv für eine der­art über­fei­ner­te Ge­sell­schaft, die in Glanz und Herr­lich­keit lebt und alle ihre Ge­dan­ken in kon­ven­tio­nel­le Phra­sen oder Mo­de­wör­ter klei­det. Ich ver­stand we­der be­redt zu schwei­gen, noch re­dend zu ver­schwei­gen. Kurz, ich trug ein Feu­er in mir, das mich ver­brann­te; ich hat­te ein Herz, wie es die Frau­en zu fin­den wün­schen, war so glü­hend und hin­ge­bungs­voll, wie sie es er­seh­nen; ich be­saß die Ener­gie, de­ren die Tröp­fe sich nur rüh­men – und doch ha­ben mich alle Frau­en aufs grau­sams­te ver­ra­ten. Kein Wun­der, daß ich die Hel­den je­ner Cli­que ganz naiv be­wun­der­te, wenn sie mit ih­ren Tri­um­phen prahl­ten, und kei­nes­wegs arg­wöhn­te, daß sie lü­gen könn­ten. Es war ohne Zwei­fel tö­richt von mir, auf blo­ße Wor­te hin Lie­be zu be­geh­ren, im Her­zen ei­ner fri­vo­len und leicht­sin­ni­gen, auf Lu­xus er­pich­ten, von Ei­tel­keit trun­ke­nen Frau, die ge­wal­ti­ge Lei­den­schaft zu er­hof­fen, den stür­mi­schen Ozean, der in mei­nem ei­ge­nen Her­zen bran­de­te. Oh, sich ge­bo­ren füh­len, um zu lie­ben, um eine Frau glück­lich zu ma­chen, und kei­ne fin­den, nicht ein­mal eine mu­ti­ge und edle Mar­ce­li­ne5 oder ir­gend­ei­ne alte Mar­qui­se! Wenn man Schät­ze in ei­nem Bet­tel­sack trägt und kein Kind, kein neu­gie­ri­ges Mäd­chen fin­det, das sie be­wun­dern will! Ich habe mich oft aus Verzweif­lung um­brin­gen wol­len.«

»Du bist ja hübsch tra­gisch heu­te abend!« rief Émi­le.

»Laß mich, laß mich mein Le­ben ver­dam­men«, er­wi­der­te Ra­pha­el. »Wenn dei­ne Freund­schaft nicht so stark ist, mei­ne Kla­ge­lie­der an­zu­hö­ren, wenn du nicht um mei­net­wil­len eine hal­be Stun­de Lan­ge­wei­le er­tra­gen kannst, dann schla­fe! Aber ver­lan­ge dann kei­ne Er­klä­rung mehr von mir für mei­nen Selbst­mord, der in mir grollt, sich er­hebt, mich ruft und den ich grü­ße. Wenn man je­man­den be­ur­tei­len will, muß man zu­min­dest die Ge­heim­nis­se sei­ner Ge­dan­ken, sei­ner Nöte, sei­ner Ge­füh­le ken­nen. Ein Le­ben bloß nach den äu­ße­ren Er­eig­nis­sen be­ur­tei­len zu wol­len, heißt eine Chro­no­lo­gie ab­fas­sen – was Dumm­köp­fe Ge­schich­te nen­nen!«

Der bit­te­re Ton, in dem die­se Wor­te ge­spro­chen wur­den, mach­te Émi­le so be­trof­fen, daß er Ra­pha­el von nun an auf­merk­sam lausch­te, wo­bei er ihn fas­sungs­los an­sah.

»Aber jetzt«, fuhr der Er­zäh­ler fort, »er­schei­nen die­se Er­eig­nis­se in ei­nem ganz an­de­ren, ganz neu­en Licht. Die Ord­nung der Din­ge, die ich frü­her als Un­glück be­trach­te­te, hat viel­leicht die schö­nen Fä­hig­kei­ten ge­zei­tigt, auf die ich spä­ter so stolz war. Wa­ren es nicht die phi­lo­so­phi­sche Neu­gier, das rast­lo­se Ar­bei­ten, die Lie­be zum Le­ben, die von mei­nem sie­ben­ten Jah­re an bis zu mei­nem Ein­tritt in die Ge­sell­schaft mein Le­ben be­stän­dig er­füll­ten, wel­che mich je­ner Leich­tig­keit fä­hig ge­macht ha­ben, mit der ich, wenn man euch glau­ben darf, mei­ne Ide­en aus­zu­drücken und auf dem wei­ten Feld mensch­li­chen Wis­sens vor­an­zu­schrei­ten ver­mag? Wa­ren es nicht die Ver­las­sen­heit, zu der ich ver­ur­teilt war, die Ge­wohn­heit, mei­ne Ge­füh­le zu un­ter­drücken und ein­sam in mei­nem Her­zen zu le­ben, die mir die Gabe ver­lie­hen, zu ver­glei­chen und in tie­fes Nach­den­ken zu ver­sin­ken? Hat sich mein Emp­fin­dungs­ver­mö­gen nicht ge­ra­de da­durch, daß es sich nicht im Diens­te mon­dä­ner Rei­ze ver­lor, wel­che die schöns­te See­le er­nied­ri­gen und sie her­un­ter­brin­gen, bis nur mehr Plun­der von ihr bleibt, im stil­len sam­meln kön­nen, um das vollen­de­te Werk­zeug ei­nes Wil­lens zu wer­den, hö­her als dem der Lei­den­schaft? Da die Frau­en mich ver­kann­ten, habe ich sie – ich er­in­ne­re mich wohl – mit dem schar­fen Blick der ver­schmäh­ten Lie­be aufs Korn ge­nom­men. Jetzt sehe ich wohl ein, daß mein auf­rich­ti­ger Cha­rak­ter ih­nen miß­fal­len muß­te! Ob die Frau­en nicht ein biß­chen Heu­che­lei wol­len? Muß­ten sie nicht bei ei­nem wie mir, der zur sel­ben Stun­de mal Mann, mal Kind, mal Flat­ter­geist, mal Den­ker, ohne Vor­ur­tei­le und vol­ler Aber­glau­ben und zu al­le­dem oft Weib wie sie ist – muß­ten sie da nicht Nai­vi­tät für Zy­nis­mus und so­gar die Lau­ter­keit der Ge­dan­ken für Fri­vo­li­tät hal­ten? Wis­sen­schaft be­deu­te­te ih­nen Lan­ge­wei­le, weib­li­ches Schmach­ten Schwä­che. Die über­schweng­li­che Be­weg­lich­keit mei­ner Phan­ta­sie, das Un­glück der Dich­ter, mach­te mich in ih­ren Au­gen un­be­strit­ten zu ei­nem, der zur Lie­be un­fä­hig, des­sen Sinn un­be­stän­dig, der bar je­der Ener­gie ist. Schwieg ich, hielt man mich für blöd, streng­te ich mich an, ih­nen zu ge­fal­len, er­schreck­te ich sie wahr­schein­lich, und so ha­ben die Frau­en mich ver­dammt. Ich habe das Ur­teil der Welt in Trä­nen und Kum­mer hin­ge­nom­men. Die­se Qual trug Früch­te. Ich woll­te mich an der Ge­sell­schaft rä­chen, woll­te die See­le al­ler Frau­en be­sit­zen, in­dem ich mir die Köp­fe un­ter­warf, woll­te al­ler Au­gen auf mich ge­rich­tet se­hen, wenn ein Die­ner an der Tür ir­gend­ei­nes Sa­lons mei­nen Na­men mel­de­te. Ich be­schloß, ein großer Mann zu wer­den. Schon als Kind hat­te ich an mei­ne Stirn ge­klopft und wie An­dré de Ché­nier6 zu mir ge­sagt: Da­hin­ter steckt et­was! Ich spür­te, es leb­te in mir ein Ge­dan­ke, der nach Aus­druck rang, ein Sys­tem, das auf­ge­stellt, das kund­ge­tan wer­den woll­te. Ach, mein lie­ber Émi­le, heu­te, da ich kaum sechs­und­zwan­zig Jah­re alt und ge­wiß bin, un­be­kannt in den Tod zu ge­hen, ohne daß ich je die Frau um­fan­gen habe, die zu be­sit­zen ich träum­te; laß mich dir all mei­ne Tor­hei­ten er­zäh­len! Ha­ben wir nicht alle mehr oder we­ni­ger un­se­re Wün­sche für Wirk­lich­kei­ten ge­hal­ten? Wahr­haf­tig, ich möch­te kei­nen Jüng­ling zum Freund, der sich nicht in sei­nen Träu­men Krän­ze ge­floch­ten, ein Posta­ment er­baut oder will­fäh­ri­ge Ge­lieb­te be­ses­sen hät­te. Ich war oft Ge­ne­ral, Kai­ser; ich war By­ron und dann wie­der nichts. Und nach­dem ich mich spie­le­risch über alle mensch­li­chen Din­ge er­ho­ben hat­te, muß­te ich ge­wah­ren, daß alle Ber­ge und alle Schwie­rig­kei­ten noch zu über­win­den blie­ben. Die maß­lo­se Ei­gen­lie­be, die in mir gär­te, der un­be­irr­ba­re Glau­be an ein Schick­sal, der den Men­schen völ­lig durch­drin­gen kann, wenn er durch die Berüh­rung mit Ge­schäf­ten sei­ne See­le nicht so leicht zer­fet­zen läßt wie das Schaf sei­ne Wol­le im Dorn­ge­büsch, durch das es streift, das al­les hat mich ge­ret­tet. Ich woll­te mich mit Ruhm be­de­cken und in al­ler Stil­le für die Ge­lieb­te ar­bei­ten, die ich ei­nes Ta­ges zu er­rin­gen hoff­te. Alle Frau­en ver­schmol­zen sich mir zu ei­ner ein­zi­gen, und die­ses Ide­al­ge­schöpf glaub­te ich in der erst­bes­ten zu fin­den, die mir un­ter die Au­gen kam. Da ich aber in je­der von ih­nen eine Kö­ni­gin er­blick­te, muß­ten sie mir ar­mem, ge­pei­nig­tem, schüch­ter­nen Tropf eben ent­ge­gen­kom­men, wie Kö­ni­gin­nen ih­ren Lieb­ha­bern ein ers­tes ver­hei­ßungs­vol­les Zei­chen ge­ben müs­sen.

Ach, je­ner einen, die Mit­ge­fühl mit mir emp­fun­den, hät­te ich ne­ben der Lie­be ein so dank­er­füll­tes Herz dar­ge­bracht, daß ich sie ihr gan­zes Le­ben lang an­ge­be­tet hät­te. Spä­ter lehr­ten mich mei­ne Beo­b­ach­tun­gen grau­sa­me Wahr­hei­ten. Sol­cher­art, lie­ber Émi­le, lief ich Ge­fahr, ewig al­lein zu blei­ben. Ir­gend­ei­ner Geis­tes­nei­gung fol­gend, se­hen die Frau­en an ei­nem Mann von Ta­lent nur sei­ne Feh­ler und an ei­nem Dumm­kopf nur sei­ne gu­ten Ei­gen­schaf­ten; sie emp­fin­den große Sym­pa­thie für die Vor­zü­ge ei­nes Hohl­kopfs, weil sie ih­ren ei­ge­nen Feh­lern un­auf­hör­lich schmei­cheln, wäh­rend der be­deu­ten­de Mann ih­nen nicht so viel Be­frie­di­gung ge­währt, daß da­durch sei­ne Un­voll­kom­men­heit auf­ge­wo­gen wäre. Das Ta­lent ist ein Wech­sel­fie­ber, und kei­ne Frau hat Lust, nur des­sen Miß­hel­lig­kei­ten zu tei­len; alle er­war­ten sie von ih­ren Lieb­ha­bern, daß die­se ih­rer Ei­tel­keit hul­di­gen. Was lie­ben sie in uns? Le­dig­lich sich sel­ber noch ein­mal! Hüllt sich aber ein ar­mer stol­zer, mit schöp­fe­ri­scher Kraft be­gab­ter Künst­ler nicht in einen ver­let­zen­den Ego­is­mus? Ihn um­gibt ein ei­gen­ar­ti­ger Wir­bel von Ide­en, in den er al­les, selbst sei­ne Ge­lieb­te hin­ein­zieht, die de­ren Be­we­gung fol­gen muß. Kann eine um­wor­be­ne, um­schmei­chel­te Frau an die Lie­be ei­nes sol­chen Man­nes glau­ben? Kann sie eine sol­che Lie­be su­chen? Ein sol­cher Lieb­ha­ber hat nicht die Muße, sich vor ei­nem Di­wan all den äf­fi­schen Sen­ti­men­ta­li­tä­ten zu über­las­sen, auf die die Frau­en so großen Wert le­gen und die ge­ra­de die falschen und herz­lo­sen Män­ner bei­spiel­los be­herr­schen. Er hat für sei­ne Ar­beit nicht Zeit ge­nug, wie soll­te er sie da­mit ver­geu­den, sich zu er­nied­ri­gen und den Ge­cken zu spie­len? Ich war be­reit, mein Le­ben auf ein­mal hin­zu­ge­ben, nie aber stück­wei­se weg­zu­wer­fen. Au­ßer­dem liegt in dem dienst­eif­ri­gen Ge­ba­ren ei­nes Wech­sel­mak­lers, der für so eine blas­se Zier­pup­pe den Lauf­bur­schen spielt, et­was der­art Er­bärm­li­ches, daß es dem Künst­ler ein Greu­el ist. Die ab­strak­te Lie­be ge­nügt ei­nem ar­men großen Mann nicht, er ver­langt alle Hin­ga­be. Die see­len­lo­sen Ge­schöp­fe, die ihr Le­ben da­mit ver­brin­gen, Kasch­mir­schals zu pro­bie­ren oder Klei­der­stän­der der Mode zu spie­len, sind kei­ner Hin­ga­be fä­hig, für sie ist die Lie­be al­lein das Ver­gnü­gen zu be­feh­len, nicht das, zu ge­hor­chen. Die wah­re Gat­tin, die es mit See­le und Leib und ih­rem gan­zen We­sen ist, folgt je­nem wil­lig, in dem ihr Le­ben, ihre Kraft, ihr Ruhm und ihr Glück be­schlos­sen liegt. Gro­ße Män­ner brau­chen ori­en­ta­li­sche Frau­en, die kei­nen an­de­ren Ge­dan­ken ken­nen, als de­ren Be­dürf­nis­se zu er­kun­den; denn ihr Un­glück ist das Miß­ver­hält­nis zwi­schen ih­ren Wün­schen und ih­ren Mit­teln. Und ich, der ich mich für ein Ge­nie hielt, muß­te aus­ge­rech­net sol­che Mo­de­däm­chen lie­ben! Ich heg­te Ge­dan­ken, die al­len über­lie­fer­ten wi­der­spra­chen; war fes­ten Wil­lens, den Him­mel ohne Lei­ter zu stür­men; ich be­saß Schät­ze, die kei­nen Kurs­wert hat­ten; ich war mit Kennt­nis­sen voll­ge­stopft, die mein Ge­dächt­nis be­las­te­ten, weil sie noch nicht ge­ord­net, ja kaum ver­daut wa­ren; ich stand in der grau­en­haf­tes­ten Wüs­te, in ei­ner Wüs­te, die ge­pflas­tert und be­lebt war, die dach­te, leb­te, in der ei­nem al­les mehr als feind­lich ge­gen­über­steht, näm­lich gleich­gül­tig, mut­ter­see­len­al­lein. Ohne El­tern und ohne Freun­de. Da war der Ent­schluß, den ich faß­te, so toll er war, doch na­tür­lich; er ver­lang­te Un­mög­li­ches, und das mach­te mir Mut. Es war, als hät­te ich mit mir selbst ge­wet­tet, wo­bei ich Spie­ler und Ein­satz zu­gleich war. Höre, wel­chen Plan ich faß­te: Mit mei­nen 1100 Fran­cs woll­te ich drei Jah­re lang mein Le­ben fris­ten und die­se Zeit dar­an wen­den, ein Werk zu ver­fas­sen, das die öf­fent­li­che Auf­merk­sam­keit auf mich len­ken, mir ein Ver­mö­gen oder einen Na­men schaf­fen muß­te. Ich schwelg­te in dem Ge­dan­ken, daß ich mich mit­ten im lär­men­den Pa­ris in ei­ner Sphä­re der Ar­beit und des Schwei­gens ein­gra­ben woll­te wie eine Schmet­ter­lings­pup­pe, um glän­zend und glor­reich auf­zu­er­ste­hen. Ich mal­te mir aus, wie ich, ei­nem Ein­sied­ler der The­bais ver­gleich­bar, in die Welt der Bü­cher und der Ge­dan­ken un­ter­tau­chen und ab­ge­schlos­sen und un­zu­gäng­lich von Milch und Brot le­ben woll­te. Ich woll­te mein Le­ben aufs Spiel set­zen, um zu le­ben. Ich fand, daß, wenn ich mich auf die wah­ren Be­dürf­nis­se, auf das un­be­dingt Not­wen­di­ge be­schränk­te, 365 Fran­cs im Jahr für mein ärm­li­ches Le­ben rei­chen müß­ten. Und in der Tat habe ich mit die­ser kar­gen Sum­me mein Da­sein so lan­ge ge­fris­tet, wie ich mich mei­ner selbst­au­fer­leg­ten klös­ter­li­chen Dis­zi­plin fü­gen woll­te …«

»Un­mög­lich!« rief Émi­le.

»Ich habe fast drei Jah­re so ge­lebt«, ver­setz­te Ra­pha­el mit ei­nem ge­wis­sen Stolz. »Rech­nen wir nach!« fuhr er fort. »Für drei Sous Brot, für zwei Sous Milch, für drei Sous Fleisch lie­ßen mich nicht Hun­gers ster­ben und hiel­ten mei­nen Geist in ei­nem Zu­stand selt­sa­mer Klar­heit. Wie du weißt, habe ich be­ob­ach­tet, daß die Diät einen wun­der­ba­ren Ein­fluß auf die Phan­ta­sie aus­übt. Mein Zim­mer kos­te­te mich drei Sous täg­lich, nachts ver­brann­te ich für drei Sous Öl, ich räum­te mein Zim­mer selbst auf und trug Fla­nell­hem­den, um nicht mehr als zwei Sous pro Tag für Wä­sche aus­ge­ben zu müs­sen. Ich heiz­te mit Stein­koh­le und habe, wenn man die Aus­ga­be auf alle Tage des Jah­res ver­teilt, nie mehr als zwei Sous täg­lich da­für aus­ge­ge­ben. Ich be­saß Klei­der, Wä­sche und Schu­he für drei Jah­re und ge­dach­te, mich nur or­dent­lich an­zu­klei­den, wenn ich in eine öf­fent­li­che Vor­le­sung und in die Biblio­the­ken ging. Die­se Aus­ga­ben mach­ten ins­ge­samt nur 18 Sous, es blie­ben mir also für Un­vor­her­ge­se­he­nes zwei Sous täg­lich. Ich er­in­ne­re mich nicht, wäh­rend die­ser gan­zen lan­gen Ar­beits­pe­ri­ode ein ein­zi­ges Mal über den Pont-des-Arts ge­gan­gen zu sein oder mir Was­ser ge­kauft zu ha­ben. Ich hol­te es mir mor­gens vom Brun­nen der Place-Saint-Mi­chel, Ecke der Rue des Grès. Oh! ich trug mei­ne Ar­mut stolz. Wer eine schö­ne Zu­kunft vor sich sieht, schrei­tet in sei­nem Elend da­hin wie ein Un­schul­di­ger, der zum Gal­gen ge­führt wird, er schämt sich nicht. Krank­heit hat­te ich nicht ein­kal­ku­lie­ren wol­len. Wie für Aqui­li­na hat­te der Ge­dan­ke ans Spi­tal für mich kei­nen Schre­cken. Ich habe nicht einen Au­gen­blick lang an mei­ner Ge­sund­heit ge­zwei­felt. Zu­dem darf ein Ar­mer sich nur hin­le­gen, um zu ster­ben. Ich schnitt mir die Haa­re bis zu dem Au­gen­blick selbst, wo ein En­gel der Lie­be und Güte … Doch ich will nicht vor­grei­fen. Nur ei­nes sollst du wis­sen, lie­ber Freund, daß ich statt mit ei­ner Ge­lieb­ten mit ei­nem großen Ge­dan­ken, ei­nem Traum, ei­ner Lüge zu­sam­men­leb­te, an die wir alle mehr oder we­ni­ger zu­erst glau­ben. Heu­te la­che ich über mich, über die­ses »Ich«, das viel­leicht hei­lig und er­ha­ben war und das jetzt nicht mehr exis­tiert. Die Ge­sell­schaft, die Welt, un­se­re Bräu­che, un­se­re Sit­ten ha­ben mir, als ich sie aus der Nähe sah, die Ge­fah­ren mei­ner un­schul­di­gen Gläu­big­keit und die Über­flüs­sig­keit mei­nes in­brüns­ti­gen Ar­bei­tens ent­hüllt. All die­se Vor­keh­run­gen sind un­nütz für den Ehr­gei­zi­gen. Wer dem Glück nach­jagt, muß leich­tes Ge­päck ha­ben! Hoch­be­gab­te Men­schen be­ge­hen den Feh­ler, daß sie ihre jun­gen Jah­re ver­geu­den, um sich für den Er­folg wür­dig zu ma­chen. Wäh­rend die­se Ärms­ten ihre Kraft und ihr Wis­sen auf­spei­chern, um mü­he­los die Bür­de ei­ner Macht tra­gen zu kön­nen, die sie flieht, sind die wort­rei­chen und ide­en­ar­men Int­ri­gan­ten pau­sen­los da­bei, die Dum­men zu über­töl­peln und sich in das Ver­trau­en der Ein­fäl­ti­gen ein­zu­schlei­chen. Die einen stu­die­ren, die an­de­ren mar­schie­ren, die einen sind be­schei­den, die an­de­ren sind un­ver­fro­ren; das Ge­nie un­ter­drückt sei­nen Stolz, der Int­ri­gant pflanzt ihn auf und muß mit Not­wen­dig­keit ans Ziel ge­lan­gen. Die Mäch­ti­gen ha­ben den Glau­ben an das fer­ti­ge Ver­dienst und das dreis­te Ta­lent so un­be­dingt nö­tig, daß es wahr­haft kin­disch ist, wenn der wirk­li­che Ge­lehr­te von den Men­schen einen Lohn er­war­tet. Es liegt mir wahr­haft nichts dar­an, den Ge­mein­plät­zen über die Tu­gend et­was hin­zu­zu­fü­gen, noch das ur­al­te Lied, das die ver­kann­ten Ge­nies im­mer ge­sun­gen ha­ben, neu an­zu­stim­men; ich will le­dig­lich lo­gisch den Grund su­chen, warum mit­tel­mä­ßi­ge Men­schen so häu­fig Er­folg ha­ben. Mein Gott, das Stu­di­um ist eine so gute Mut­ter, daß es viel­leicht ein Ver­bre­chen ist, von ihm an­de­ren Lohn zu er­war­ten als die rei­nen und sanf­ten Freu­den, mit de­nen es sei­ne Kin­der nährt. Ich ent­sin­ne mich, wie ich oft in hei­te­rer Stim­mung mein Brot in die Milch ge­taucht habe, an mei­nem Fens­ter die fri­sche Luft at­me­te und mei­ne Bli­cke über eine Land­schaft von brau­nen, grau­en und ro­ten Dä­chern aus Schie­fer oder aus Zie­geln, von gel­ben oder grü­nen Moos­fle­cken be­deckt, schwei­fen ließ. An­fangs fand ich die­se Aus­sicht ein­för­mig, doch bald ent­deck­te ich al­ler­lei selt­sa­me Schön­hei­ten. Am Abend be­leb­ten hel­le Licht­strei­fen, die aus den schlecht ge­schlos­se­nen Fens­ter­lä­den fie­len, die tie­fen Schat­ten die­ses merk­wür­di­gen Reichs. Manch­mal dran­gen von un­ten her die gelb­li­chen Re­fle­xe der Stra­ßen­la­ter­nen durch den Ne­bel und zeich­ne­ten die Wel­len­li­ni­en der dicht­ge­dräng­ten Dä­cher schwach von den Stra­ßen ab, so daß man ein Meer von un­be­weg­li­chen Wo­gen zu se­hen mein­te. Zu­wei­len tauch­ten ver­ein­zel­te Ge­stal­ten in die­ser schweig­sa­men Ein­öde auf; zwi­schen den Blu­men ei­nes hän­gen­den Gar­tens sah ich das ha­ken­na­si­ge, ecki­ge Pro­fil ei­ner al­ten Frau, die Ka­pu­zi­ner­kres­se be­goß, oder in dem Rah­men ei­ner mor­schen Dach­lu­ke ein jun­ges Mäd­chen, das sich bei der Toi­let­te al­lein glaub­te und von dem ich ge­ra­de nur die schö­ne Stirn und die lan­gen Haa­re wahr­neh­men konn­te, die von ei­nem hüb­schen wei­ßen Arm hoch­ge­ho­ben wur­den. In den Dach­rin­nen be­wun­der­te ich eine ver­gäng­li­che Ve­ge­ta­ti­on, küm­mer­li­che Pflänz­chen, die ein Ge­wit­ter hin­weg­zu­schwem­men pfleg­te. Ich stu­dier­te die Moo­se, die nach ei­nem Re­gen­schau­er frisch er­grün­ten und sich in der Son­ne zu ei­nem tro­ckenen brau­nen, ei­gen­tüm­lich schim­mern­den Samt ver­wan­del­ten. Die flüch­ti­gen reiz­vol­len Ef­fek­te des Ta­ges­lichts, die me­lan­cho­li­schen Stim­mun­gen des Ne­bels, das plötz­li­che Her­vor­bre­chen der Son­ne, die Stil­le und die Wun­der der Nacht, die Ge­heim­nis­se der Mor­gen­däm­me­rung, der Rauch aus den Ka­mi­nen, alle Er­schei­nun­gen die­ser selt­sa­men Na­tur wur­den mir ver­traut und er­freu­ten mich. Ich lieb­te mein Ge­fäng­nis, war ich doch frei­wil­lig dort. Die­se Sa­van­nen von Pa­ris, Dach an Dach gleich­för­mig zu ei­ner Ebe­ne ge­reiht, dar­un­ter Ab­grün­de, in de­nen Men­schen wim­mel­ten, rühr­ten mein Herz und har­mo­ni­sier­ten mit mei­nen Ge­dan­ken. Wenn wir aus den himm­li­schen Hö­hen, wo­hin wis­sen­schaft­li­che Me­di­ta­tio­nen uns ge­tra­gen ha­ben, her­ab­stei­gen, ist es quä­lend, sich un­ver­mit­telt wie­der der Welt ge­gen­über­zu­se­hen. Da­mals habe ich die kar­ge Sch­licht­heit der Klös­ter be­grei­fen ge­lernt. Als ich fest ent­schlos­sen war, mei­nen neu­en Le­bens­plan durch­zu­füh­ren, such­te ich mir in den ein­sams­ten Vier­teln von Pa­ris eine Un­ter­kunft.

Ei­nes Abends, als ich von der Place de l’Estra­pa­de kam, ging ich durch die Rue des Cor­diers heim. An der Ecke der Rue de Cluny sah ich ein klei­nes Mäd­chen von un­ge­fähr vier­zehn Jah­ren mit ei­ner Spiel­ge­fähr­tin Fe­der­ball spie­len, und das La­chen und der Mut­wil­le der bei­den amü­sier­te die Nach­barn. Es war schö­nes Wet­ter, der Abend war warm, es war im Sep­tem­ber. Die Frau­en sa­ßen vor den Tü­ren und un­ter­hiel­ten sich wie in ei­ner Pro­vinz­stadt am Fei­er­tag. Ich be­trach­te­te zu­erst das jun­ge Mäd­chen, des­sen Ge­sicht einen wun­der­vol­len Aus­druck hat­te und das in ma­le­ri­scher Hal­tung da­stand. Es war eine rei­zen­de Sze­ne. Ich such­te nach der Ur­sa­che die­ser Trau­lich­keit in­mit­ten von Pa­ris und be­merk­te, daß die Stra­ße eine Sack­gas­se war und dem­nach kaum sehr be­lebt sein konn­te. Da ich mich er­in­ner­te, daß Jean-Jac­ques Rous­seau in der Ge­gend ge­wohnt hat­te, such­te ich das Ho­tel Saint-Quen­tin auf; sein ver­fal­le­ner Zu­stand ließ mich hof­fen, dort ein bil­li­ges Quar­tier zu fin­den, und ich woll­te mich dar­in um­se­hen. Als ich das nied­ri­ge En­trée be­trat, sah ich die klas­si­schen kup­fer­nen Arm­leuch­ter, be­steckt mit Ker­zen, die sich me­tho­disch über den Schlüs­seln reih­ten, und ich war er­staunt, wel­che Sau­ber­keit in dem Raum herrsch­te, der in an­de­ren Ho­tels ge­wöhn­lich sehr schlecht ge­hal­ten zu sein pflegt, hier aber wie ein Gen­re­bild an­mu­te­te; das blaue Bett, die Gerät­schaf­ten, die Mö­bel zeug­ten von ei­nem kon­ven­tio­nel­len Schön­heits­sinn. Die Wir­tin, eine Frau von un­ge­fähr vier­zig Jah­ren, aus de­ren Zü­gen Kum­mer sprach und de­ren Blick wie von Trä­nen ge­trübt war, er­hob sich und kam auf mich zu. Ich nann­te ihr be­schei­den den Preis, den ich für die Mie­te zah­len konn­te; sie schi­en dar­über nicht ver­wun­dert, such­te aus all den Schlüs­seln einen her­aus, führ­te mich zu den Dach­stu­ben und zeig­te mir eine Kam­mer mit ei­nem Aus­blick auf die Dä­cher und die Höfe der Nach­bar­häu­ser, aus de­ren Fens­tern lan­ge, mit Wä­sche be­han­ge­ne Stan­gen rag­ten. Nichts konn­te schreck­li­cher sein als die­se Man­sar­de mit ih­ren schmut­zi­gen gel­ben Wän­den, die nach Elend roch und nur auf den ar­men Ge­lehr­ten zu war­ten schi­en. Das Dach senk­te sich auf bei­den Sei­ten gleich­mä­ßig dar­über, und die aus­ein­an­der­klaf­fen­den Zie­gel lie­ßen den Him­mel hin­durch­se­hen. Es war Platz für ein Bett, einen Tisch, ei­ni­ge Stüh­le, und un­ter dem spit­zen Win­kel des Da­ches konn­te ich mein Kla­vier un­ter­brin­gen. Da die arme Frau nicht reich ge­nug war, die­sen Kä­fig, den die Blei­kam­mern von Ve­ne­dig7 wohl kaum über­tra­fen, ein­zu­rich­ten, hat­te sie ihn bis­her nie ver­mie­ten kön­nen. Ich hat­te vom Ver­kauf der Mö­bel die Ge­gen­stän­de aus­ge­schlos­sen, die zu mei­nem per­sön­li­chen Be­darf ge­hör­ten, und so wur­de ich mit mei­ner Wir­tin bald han­dels­ei­nig und zog am Tag dar­auf bei ihr ein. Ich leb­te in die­sem Man­sar­den­grab na­he­zu drei Jah­re, ar­bei­te­te un­abläs­sig Tag und Nacht und mit so viel Freu­de, daß das Stu­di­um mir als die schöns­te Auf­ga­be, die glück­lichs­te Lö­sung des mensch­li­chen Le­bens er­schi­en. Die Ruhe und das Schwei­gen, die der Ge­lehr­te braucht, ha­ben et­was un­aus­sprech­lich Sanf­tes und Berau­schen­des wie die Lie­be. Die an­ge­spann­te Ar­beit der Ge­dan­ken, die Su­che nach Ide­en, die ru­hi­gen Be­trach­tun­gen der Wis­sen­schaft spen­den uns un­säg­li­che Won­nen, die man so we­nig schil­dern kann wie alle üb­ri­gen Phä­no­me­ne des Geis­tes, da sie für un­se­re äu­ße­ren Sin­ne nicht wahr­nehm­bar sind. Wir müs­sen da­her die Ge­heim­nis­se des Geis­tes auch im­mer durch ma­te­ri­el­le Ver­glei­che er­klä­ren. Das Ver­gnü­gen, al­lein und von ei­ner sanf­ten Bri­se um­schmei­chelt in ei­nem kla­ren See in­mit­ten von Fel­sen, Wäl­dern und Blu­men zu schwim­men, wür­de den Un­wis­sen­den nur ein schwa­ches Bild des Glücks ge­ben, das ich emp­fand, wenn sich mei­ne See­le gleich­sam in ei­nem über­ir­di­schen Lich­te ba­de­te, wenn ich den schreck­li­chen und ver­wor­re­nen Stim­men der In­spi­ra­ti­on lausch­te, wenn Bil­der aus ei­ner un­be­kann­ten Quel­le in mein zu­cken­des Hirn spran­gen. Zu be­ob­ach­ten, wie auf dem Feld der Abstrak­tio­nen eine Idee sprießt, gleich der Mor­gen­son­ne em­por­steigt, oder bes­ser, die her­an­wächst wie ein Kind, das lang­sam zur Rei­fe ge­langt und zum Mann wird, ist eine Freu­de, die alle ir­di­schen Freu­den über­steigt, oder viel­mehr, ist gött­li­che Lust. Das Stu­di­um ver­leiht al­lem, was uns um­gibt, einen ma­gi­schen Schein. Der wa­cke­li­ge Tisch, auf dem ich schrieb, das brau­ne Schafle­der, mit dem er be­deckt war, mein Kla­vier, mein Bett, mein Lehn­stuhl, die Schnör­ke­lei­en auf mei­ner Ta­pe­te, mei­ne Gerät­schaf­ten, all die­se Din­ge ge­wan­nen ein ei­ge­nes Le­ben und wur­den mei­ne er­ge­be­nen Freun­de, die ver­schwie­ge­nen Ge­fähr­ten mei­ner Zu­kunft. Wie oft habe ich ih­nen nicht, wenn ich sie an­sah, mei­ne See­le ent­hüllt! Wie oft, wenn ich mei­ne Au­gen über ein wind­schie­fes Ge­sims glei­ten ließ, sind mir neue Ge­dan­ken­fol­gen ge­kom­men, ein schla­gen­der Be­weis mei­nes Sys­tems oder Wor­te, die mir tref­fend schie­nen, kaum aus­zu­drücken­de Ge­dan­ken wie­der­zu­ge­ben.

Wie ich die Din­ge, die mich um­ga­ben, be­trach­te­te, ent­deck­te ich, daß je­des eine Phy­sio­lo­gie, einen be­son­de­ren Cha­rak­ter hat­te. Oft spra­chen sie zu mir; wenn die un­ter­ge­hen­de Son­ne über die Dä­cher hin­weg einen flüch­ti­gen Schein in mein schma­les Fens­ter warf, färb­ten sie sich, ver­blaß­ten, leuch­te­ten auf, wur­den bald düs­ter, bald hei­ter und über­rasch­ten mich stets durch neue Wand­lun­gen. Die­se win­zi­gen Er­eig­nis­se ei­nes ein­sa­men Le­bens, die der rast­los ge­schäf­ti­gen Welt ent­ge­hen, sind der Trost der Ge­fan­ge­nen. War ich denn nicht ge­fan­gen von der Idee, in ein Sys­tem ge­sperrt, ob­gleich die Aus­sicht auf eine glor­rei­che Zu­kunft mich auf­recht­er­hielt? Bei je­der über­wun­de­nen Schwie­rig­keit küß­te ich die wei­chen Hän­de der rei­chen, ele­gan­ten Frau mit den schö­nen Au­gen, die mir ei­nes Ta­ges die Haa­re strei­cheln und ge­rührt zu mir sa­gen wür­de: ›Du hast viel ge­lit­ten, mein ar­mer En­gel!‹ Ich hat­te zwei große Wer­ke in An­griff ge­nom­men. Eine Ko­mö­die soll­te mir in we­ni­gen Ta­gen einen Na­men, ein Ver­mö­gen und den Ein­tritt in jene Welt ver­schaf­fen, wo ich die Ho­heits­rech­te des Ge­nies aus­zuü­ben ge­dach­te. Ihr alle habt in die­sem Meis­ter­werk den ers­ten Fehl­griff ei­nes jun­gen Man­nes, der ge­ra­de aus dem Collè­ge kommt, ge­se­hen, nichts als eine Kin­de­rei. Eure Spöt­te­lei­en ha­ben hoch­flie­gen­den Il­lu­sio­nen die Flü­gel ge­stutzt, und seit­her ru­hen sie. Du, lie­ber Émi­le, warst der ein­zi­ge, der Lin­de­rung in die tie­fe Wun­de träu­fel­te, die die an­de­ren in mein Herz schlu­gen. Du al­lein hast mei­ne ›Theo­rie des Wil­lens‹8 be­wun­dert, jene lang­wäh­ren­de Ar­beit, um de­rent­wil­len ich die ori­en­ta­li­schen Spra­chen, die Ana­to­mie, die Phy­sio­lo­gie stu­diert und der ich den größ­ten Teil mei­ner Zeit ge­op­fert habe. Die­ses Werk wird, wenn ich mich nicht täu­sche, die Ar­bei­ten von Mes­mer,9 La­va­ter,10 Gall11 und Bichat er­gän­zen und der Wis­sen­schaft einen neu­en Weg wei­sen. Hier en­det mein schö­nes Le­ben, die­ses mit je­dem Tag er­neu­er­te Op­fer, die­se der Welt un­be­kann­te Sei­den­wurm­ar­beit, de­ren ein­zi­ger Lohn viel­leicht in der Ar­beit selbst liegt. Vom Al­ter der Ver­nunft an bis zu dem Tag, da ich mei­ne Theo­rie be­en­de­te, habe ich un­abläs­sig be­ob­ach­tet, ge­lernt, ge­schrie­ben, ge­le­sen; mein Le­ben war wie ein lan­ges Straf­pen­sum. Ob­wohl ich ver­weich­licht war und zu ori­en­ta­li­scher Faul­heit neig­te, ob­wohl ich in mei­ne Träu­me ver­liebt und sinn­li­cher Na­tur war, habe ich doch im­mer ge­ar­bei­tet und mir die Freu­den des Pa­ri­ser Le­bens ver­sagt. Ich schätz­te Ta­fel­genüs­se und leb­te aufs kärg­lichs­te; ich lieb­te das Wan­dern und das Rei­sen zur See, sehn­te mich, frem­de Län­der ken­nen­zu­ler­nen, ja, ich hät­te noch Ver­gnü­gen dar­an ge­fun­den, gleich ei­nem Kin­de, Kie­sel­stei­ne auf dem Was­ser hüp­fen zu las­sen, und bin doch be­stän­dig mit der Fe­der in der Hand auf ei­nem Fleck sit­zen­ge­blie­ben. Trotz mei­ner Red­se­lig­keit lausch­te ich still­schwei­gend den Vor­le­sun­gen der Pro­fes­so­ren in der Biblio­thek und im Mu­se­um; ich schlief auf mei­nem ein­sa­men La­ger wie ein Be­ne­dik­ti­ner­mönch, und doch war eine Frau mein ein­zi­ger Wunsch, ein stän­dig ge­heg­tes und nie er­füll­tes Ver­lan­gen. Kurz, mein Le­ben war ein grau­sa­mer Wi­der­spruch, eine fort­wäh­ren­de Lüge. Aber so ist der Mensch! Manch­mal bra­chen mei­ne na­tür­li­chen Trie­be her­vor wie eine Feu­ers­brunst, die lan­ge im ver­bor­ge­nen ge­schwelt hat. Wie in hit­zi­gen Fie­ber­träu­men sah ich mich, der ich doch all die glü­hend er­sehn­ten Frau­en ent­behr­te und in äu­ßers­ter Ar­mut in ei­ner elen­den Künst­ler­man­sar­de haus­te, von hin­rei­ßen­den Frau­en um­ge­ben. Ich lehn­te in den wei­chen Pols­tern ei­ner glän­zen­den Equi­pa­ge und fuhr durch die Stra­ßen von Pa­ris. Von Las­tern aus­ge­höhlt, stürz­te ich mich in Aus­schwei­fun­gen, woll­te al­les, be­saß al­les, war nüch­tern trun­ken wie der hei­li­ge An­to­ni­us in sei­ner Ver­su­chung. Glück­li­cher­wei­se lösch­te der Schlaf schließ­lich die­se ver­zeh­ren­den Vi­sio­nen; am an­de­ren Tag rief mich lä­chelnd die Wis­sen­schaft wie­der und ich war ihr treu. Ich den­ke mir, daß auch die so­ge­nann­ten tu­gend­haf­ten Frau­en oft von sol­chen Stür­men der Ra­se­rei, der Be­gier­de und der Lei­den­schaft heim­ge­sucht wer­den, die sich ge­gen un­se­ren Wil­len in uns er­he­ben. Sol­che Phan­tasi­en sind nicht ohne Reiz; glei­chen sie nicht je­nen Win­ter­abend­plau­de­rei­en, wo man von sei­nem Ka­min­feu­er aus bis nach Chi­na reist? Aber was wird wäh­rend die­ser köst­li­chen Fahr­ten, wo der Ge­dan­ke alle Hin­der­nis­se über­springt, aus der Tu­gend? Wäh­rend der zehn ers­ten Mo­na­te mei­ner Zu­rück­ge­zo­gen­heit führ­te ich das dürf­ti­ge und ein­sa­me Le­ben, das ich dir ge­schil­dert habe; am frü­hen Mor­gen hol­te ich, ohne daß je­mand mich sah, mei­ne Vor­rä­te für den Tag ein; ich räum­te mein Zim­mer auf, war Herr und Die­ner zu­gleich und spiel­te den Dio­ge­nes12 mit ei­nem un­glaub­li­chen Stolz.

Aber nach die­ser Zeit, wäh­rend der die Wir­tin und ihre Toch­ter mei­ne Ge­wohn­hei­ten und mei­ne Sit­ten aus­kund­schaf­te­ten, mei­ne Per­son prüf­ten und mein Elend ver­stan­den, viel­leicht weil sie sel­ber sehr un­glück­lich wa­ren, knüpf­ten sich zwi­schen ih­nen und mir un­ver­meid­li­che Be­zie­hun­gen an. Pau­li­ne, das rei­zen­de Ge­schöpf, des­sen zar­te, kind­li­che Gra­zie mich ei­gent­lich erst dort­hin ge­führt hat­te, er­wies mir ver­schie­de­ne Diens­te, die ich un­mög­lich ab­wei­sen konn­te. Alle trau­ri­gen Schick­sa­le sind ver­wandt; sie spre­chen die­sel­be Spra­che und ha­ben die glei­che Groß­her­zig­keit, die Groß­her­zig­keit je­ner, die, da sie nichts be­sit­zen, frei­ge­big sind mit ih­ren Ge­füh­len und ihre Zeit und ihre Per­son dar­ein­set­zen. Un­merk­lich nis­te­te Pau­li­ne sich bei mir ein, woll­te mich be­die­nen, und ihre Mut­ter wi­der­setz­te sich dem nicht. Ich sah, wie die Mut­ter selbst mei­ne Wä­sche flick­te und er­rö­te­te, als ich sie bei die­ser barm­her­zi­gen Be­schäf­ti­gung er­tapp­te. Da ich, ohne es zu wol­len, ihr Schütz­ling ge­wor­den war, sträub­te ich mich ge­gen ihre Diens­te nicht. Um die­se ei­gen­tüm­li­che Zu­nei­gung zu ver­ste­hen, muß man die Lei­den­schaft der Ar­beit ken­nen, die Ty­ran­nei der Ide­en und je­nen na­tür­li­chen Wi­der­wil­len, den ein Mensch, der in ei­ner geis­ti­gen Welt lebt, ge­gen die Klei­nig­kei­ten des ma­te­ri­el­len Le­bens emp­fin­det. Konn­te ich der zar­ten Auf­merk­sam­keit wi­der­ste­hen, mit der Pau­li­ne mir mit lei­sen Schrit­ten mei­ne be­schei­de­ne Mahl­zeit brach­te, wenn sie be­merk­te, daß ich seit sie­ben oder acht Stun­den nichts zu mir ge­nom­men hat­te? Mit weib­li­cher An­mut und kind­li­cher Un­be­fan­gen­heit lä­chel­te sie mir zu und be­kun­de­te durch ein Zei­chen, daß ich sie nicht be­ach­ten sol­le. Sie war Ari­el,13 der wie eine Syl­phe14 un­ter mein Dach schlüpf­te und für mein leib­li­ches Wohl sorg­te. Ei­nes Abends er­zähl­te mir Pau­li­ne mit rüh­ren­der Nai­vi­tät ihre Ge­schich­te. Ihr Va­ter war Schwa­drons­chef bei den be­rit­te­nen Gre­na­die­ren der kai­ser­li­chen Gar­de ge­we­sen. Beim Über­gang über die Be­re­si­na15 war er von den Ko­sa­ken ge­fan­gen­ge­nom­men wor­den; spä­ter, als Na­po­le­on ihn aus­tau­schen woll­te, lie­ßen ihn die rus­si­schen Be­hör­den ver­geb­lich in Si­bi­ri­en su­chen; nach den Aus­sa­gen an­de­rer Ge­fan­ge­ner war er ent­flo­hen und plan­te, sich nach In­di­en durch­zu­schla­gen. Seit­her hat­te mei­ne Wir­tin, Ma­da­me Gau­din, kei­ner­lei Nach­richt von ih­rem Man­ne er­lan­gen kön­nen. Die Un­glücks­jah­re von 1814 und 1815 wa­ren her­ein­ge­bro­chen; al­lein, ohne Hil­fe und Hilfs­quel­len, hat­te sie es un­ter­nom­men, ein Ho­tel zu un­ter­hal­ten, um ihre Toch­ter zu er­näh­ren. Sie hoff­te im­mer noch, ih­ren Gat­ten wie­der­zu­se­hen. Ihr größ­ter Kum­mer war, daß sie Pau­li­ne kei­ne Er­zie­hung an­ge­dei­hen las­sen konn­te, ih­rer Pau­li­ne, dem Pa­ten­kind der Fürs­tin Bor­ghe­se,16 das die von ih­rer kai­ser­li­chen Be­schüt­ze­rin ver­hei­ße­ne glän­zen­de Zu­kunft nicht Lü­gen stra­fen soll­te. Als Ma­da­me Gau­din mir die­sen bit­te­ren Schmerz, der an ih­rem Her­zen nag­te, an­ver­trau­te und mit er­grei­fen­dem Ton zu mir sag­te: ›Gern wür­de ich den Fet­zen Pa­pier, der Gau­din zum Baron des Kai­ser­reichs macht, und die An­sprü­che auf die Schen­kung von Wistchnau da­für hin­ge­ben, Pau­li­ne in Saint-De­nis er­zo­gen zu wis­sen!‹, da er­beb­te ich plötz­lich, und um die Ge­fäl­lig­kei­ten, mit de­nen bei­de Frau­en mich über­häuf­ten, zu ver­gel­ten, hat­te ich den Ein­fall, mich zu er­bie­ten, Pau­li­nes Er­zie­hung zu ver­voll­stän­di­gen. Die bei­den Frau­en nah­men mei­nen Vor­schlag eben­so treu­her­zig auf, wie ich ihn ge­macht hat­te. So ka­men denn für mich Stun­den der Er­ho­lung. Die Klei­ne hat­te die glück­lichs­ten An­la­gen; sie lern­te so leicht, daß sie mich bald auf dem Kla­vier über­traf. Sie ge­wöhn­te sich dar­an, an mei­ner Sei­te laut zu den­ken und ent­fal­te­te den gan­zen Lieb­reiz ei­nes Her­zens, das sich wie der Kelch ei­ner Blu­me un­ter den Strah­len der Son­ne dem Le­ben öff­net; sie hef­te­te ihre schwar­zen Samtau­gen, die stän­dig zu lä­cheln schie­nen, auf mich und lausch­te mir an­däch­tig und freu­dig, ihre Lek­tio­nen re­pe­tier­te sie mit sanf­ter Schmei­chel­stim­me und freu­te sich kind­lich, wenn ich mit ihr zu­frie­den war. Die Mut­ter, die mit wach­sen­der Un­ru­he jede Ge­fahr von dem Mäd­chen fern­hal­ten woll­te, das beim Her­an­rei­fen al­les er­füll­te, was ihre kind­li­che An­mut ver­hei­ßen hat­te, sah es mit Ver­gnü­gen, daß sie sich den gan­zen Tag ein­sperr­te, um zu ler­nen. Da sie selbst kein Kla­vier be­saß, be­nutz­te Pau­li­ne mei­ne Ab­we­sen­heit, um zu üben. Wenn ich heim­kam, fand ich sie in mei­ner Kam­mer; sie war im­mer in sehr be­schei­de­ner Klei­dung, aber die Be­we­gung ent­hüll­te ih­ren ge­schmei­di­gen Wuchs und den gan­zen Reiz ih­rer Per­son un­ter dem gro­ben Stoff. Wie die Hel­din des Mär­chens von der Esels­haut hat­te sie den zier­lichs­ten Fuß in plum­pen Schu­hen ste­cken.

Aber all die­se Schät­ze, die­ser Jung­mäd­chen­reiz, die­se strah­len­de Schön­heit wa­ren für mich gleich­sam ver­lo­ren. Ich hat­te es mir auf­er­legt, in Pau­li­ne nur eine Schwes­ter zu er­bli­cken, ich hät­te es schänd­lich ge­fun­den, das Ver­trau­en der Mut­ter zu hin­ter­ge­hen. Ich be­wun­der­te das rei­zen­de Mäd­chen wie ein Ge­mäl­de, wie das Bild­nis ei­ner ver­stor­be­nen Ge­lieb­ten; es war mein Ge­schöpf, mei­ne Sta­tue. Als ein neu­er Pyg­ma­li­on17 woll­te ich aus ei­ner le­ben­di­gen, blü­hen­den Jung­frau, die fühl­te und sprach, einen Mar­mor ma­chen. Ich war sehr streng mit ihr; doch je mehr schul­meis­ter­li­che Ge­walt ich sie füh­len ließ, de­sto sanf­ter und un­ter­wür­fi­ger wur­de sie. Wenn ich auch in mei­ner Zu­rück­hal­tung und Ent­halt­sam­keit von ed­len Ge­füh­len be­stärkt wur­de, so war ich doch nicht frei von be­rech­nen­den Er­wä­gun­gen. Red­lich­keit in Geldan­ge­le­gen­hei­ten ohne Red­lich­keit der Ge­sin­nung be­grei­fe ich nicht. Eine Frau be­trü­gen oder Bank­rott ma­chen, ist für mich im­mer das glei­che ge­we­sen. Wenn man ein jun­ges Mäd­chen liebt oder sich von ihm lie­ben läßt, geht man einen Ver­trag ein, des­sen Be­din­gun­gen ein­sichts­voll ge­hand­habt wer­den müs­sen. Es steht uns frei, eine Frau zu ver­las­sen, die sich ver­kauft, aber nicht ein jun­ges Mäd­chen, das sich hin­gibt, denn es kennt die Trag­wei­te sei­nes Op­fers nicht. Ich hät­te also Pau­li­ne hei­ra­ten müs­sen, und das wäre eine Tor­heit ge­we­sen. Hie­ße es nicht, eine zar­te, jung­fräu­li­che See­le schreck­li­chem Un­ge­mach preis­ge­ben? Mei­ne Ar­mut re­de­te ihre egois­ti­sche Spra­che und leg­te im­mer ihre ei­ser­ne Hand zwi­schen mich und das gute Ge­schöpf. Au­ßer­dem, ich ge­ste­he es zu mei­ner Schan­de, schließt Elend für mich Lie­be aus. Vi­el­leicht bin ich ver­dor­ben von der mensch­li­chen Krank­heit, die wir Zi­vi­li­sa­ti­on nen­nen; aber eine Frau, wäre sie auch so reiz­voll wie die schö­ne He­le­na oder die Gala­tea Ho­mers, hat kei­ne Macht mehr über mei­ne Sin­ne, wenn sie von Stra­ßen­schmutz be­su­delt ist. Ah! es lebe die Lie­be, die Lie­be in Sei­de und Kasch­mir, um­ge­ben von den Wun­dern des Lu­xus, die so herr­lich zie­ren, wohl weil sie selbst viel­leicht ein Lu­xus ist. Ich lie­be es, wenn mein hei­ßes Be­geh­ren ele­gan­te Toi­let­te zer­knit­tert, Blu­men zer­bricht, mei­ne Hand zer­stö­re­risch in den zier­li­chen Auf­bau duf­ten­den Haa­res fährt. Bren­nen­de Au­gen hin­ter ei­nem Spit­zen­schlei­er, den die Bli­cke durch­drin­gen wie die Flam­me den Rauch der Ka­no­ne, ha­ben et­was un­sag­bar Ver­lo­cken­des für mich. Mei­ne Lie­be ver­langt sei­de­ne Lei­tern, die im Schwei­gen ei­ner Win­ter­nacht er­klom­men wer­den. Wel­che Lust, mit Schnee be­deckt in ein durch­duf­te­tes, mit be­mal­ter Sei­de be­spann­tes Ge­mach zu tre­ten und dort eine Frau zu fin­den, die gleich­falls Schnee ab­schüt­telt, denn wie an­ders soll man jene wol­lüs­ti­gen Mus­sel­in­schlei­er nen­nen, durch die ihre Ge­stalt sich zart ab­zeich­net und aus de­nen sie her­vor­tritt wie ein En­gel aus ei­ner Wol­ke? Ich brau­che ein ver­stoh­le­nes Glück, ver­we­ge­ne Sorg­lo­sig­keit. Dann will ich die­se ge­heim­nis­vol­le Frau strah­lend in­mit­ten der Ge­sell­schaft wie­der­se­hen, tu­gend­haft, mit Hul­di­gun­gen über­häuft, in Spit­zen ge­klei­det, von Dia­man­ten fun­kelnd, wie sie der Stadt ihre Be­feh­le er­teilt, so hoch­ge­stellt und ge­bie­te­risch, daß nie­mand sein Be­geh­ren zu ihr zu er­he­ben wagt. In­mit­ten ih­res Hof­staats aber wirft sie mir einen ver­schwie­ge­nen Blick zu, einen Blick, der alle die­se Kunst­grif­fe Lü­gen straft, der die Welt und die Men­schen für mich op­fert. Ge­wiß, ich habe mich hun­dert­mal lä­cher­lich ge­fun­den, ein paar El­len Sei­den­spit­ze zu lie­ben; Samt oder fei­nen Ba­tist, die Kunst­stücke ei­nes Fri­seurs, Ker­zen, eine Kut­sche, einen Ti­tel, Wap­pen­kro­nen, von Glas­ma­lern ge­malt oder von ei­nem Gold­schmied zi­se­liert; kurz, al­les das, was künst­lich und am Weib we­ni­ger weib­lich ist; ich habe mich ver­spot­tet, mir ver­nünf­tig zu­ge­re­det, al­les ver­ge­bens. Eine ari­sto­kra­ti­sche Frau mit ih­rem fei­nen Lä­cheln, ih­ren vor­neh­men Ma­nie­ren und ih­rer Selb­st­ach­tung be­zau­bert mich. Wenn sie zwi­schen sich und der Welt eine Schran­ke er­rich­tet, schmei­chelt sie all mei­nen Ei­tel­kei­ten, die die Hälf­te der Lie­be sind.

Wenn mich alle be­nei­den, so hat mein Glück mehr Wür­ze für mich. Wenn sie nichts tut, was die an­de­ren Frau­en tun, nicht geht wie sie, nicht lebt wie sie, sich in einen Man­tel hüllt, den sie nicht ha­ben kön­nen, Düf­te at­met, die nur ihr ei­gen sind, scheint es mir, als ob mei­ne Ge­lieb­te mir noch mehr an­ge­hö­re. Je mehr sie sich von der Erde ent­fernt, selbst in dem, was die Lie­be Ir­di­sches hat, de­sto schö­ner wird sie in mei­nen Au­gen. Zum Glück für mich gibt es in Frank­reich seit 20 Jah­ren kei­ne Kö­ni­gin mehr, sonst hät­te ich die Kö­ni­gin ge­liebt. Um das Auf­tre­ten ei­ner Prin­zes­sin zu ha­ben, muß eine Frau reich sein. Was war, an­ge­sichts mei­ner ro­man­ti­schen Phan­tasi­en, Pau­li­ne? Konn­te sie mir Näch­te ver­kau­fen, die das Le­ben kos­ten, eine Lie­be, die Tod bringt und alle mensch­li­chen Fä­hig­kei­ten ab­ver­langt? Wir ster­ben wohl kaum für arme klei­ne Mäd­chen, die sich hin­ge­ben. Ich habe nie von die­sen Dich­ter­träu­men und Ge­füh­len ab­las­sen kön­nen. Ich war für die un­mög­li­che Lie­be ge­schaf­fen, und der Zu­fall woll­te, daß ich über mei­ne Wün­sche hin­aus be­dient wur­de. Wie oft habe ich nicht Pau­li­nes zier­li­che Füß­chen in At­las­schu­he ge­steckt, ih­ren Kör­per, schlank wie eine jun­ge Pap­pel, in ein Tüll­kleid gehüllt, ein duf­ti­ges Tuch über ih­ren Bu­sen ge­wor­fen, sie über die Tep­pi­che ih­res Ho­tels schrei­ten las­sen und zu ei­nem ele­gan­ten Wa­gen ge­führt! So hät­te ich sie an­ge­be­tet. Ich ver­lieh ihr einen Stolz, den sie nicht be­saß, ich be­raub­te sie al­ler ih­rer Tu­gen­den, ih­res kind­li­chen Lieb­rei­zes, ih­res an­mut­vol­len Na­tu­rells, ih­res un­be­fan­ge­nen Lä­chelns, um sie in den Styx18 un­se­rer Las­ter zu tau­chen und ihr Herz un­ver­wund­bar zu ma­chen, sie mit un­se­ren Ver­bre­chen her­aus­zu­schmin­ken, eine ex­tra­va­gan­te Sa­lon­pup­pe aus ihr zu ma­chen, eine bleich­süch­ti­ge Frau, die mor­gens zu Bett geht, um abends beim Schein der Ker­zen wie­der auf­zu­le­ben. Pau­li­ne war ganz Ge­fühl, ganz Fri­sche; ich woll­te sie fühl­los und kalt. In den letz­ten Ta­gen mei­nes Wahns zeig­te die Erin­ne­rung mir Pau­li­ne so, wie sie uns die Sze­nen un­se­rer Kind­heit zu­rück­ruft. Mehr als ein­mal dach­te ich be­wegt an köst­li­che Au­gen­bli­cke: sei es, daß ich das lie­be Mäd­chen nahe bei mei­nem Tisch sit­zen, mit ei­ner Näh­ar­beit be­schäf­tigt sah, fried­lich, still, nach­denk­lich, und sanft vom Ta­ges­licht be­schie­nen, das durch mei­ne Dach­lu­ke her­ein­drang und über ihr schö­nes schwar­zes Haar einen zar­ten Sil­ber­schein brei­te­te; sei es, daß ich ihr jun­ges La­chen oder ihre wohl­klin­gen­de Stim­me lieb­li­che Wei­sen sin­gen hör­te, die sie mü­he­los selbst kom­po­nier­te. Häu­fig ge­riet mei­ne Pau­li­ne beim Mu­si­zie­ren in schwär­me­ri­sches Ver­zücken, ihr Ge­sicht glich dann auf­fal­lend dem ed­len Kopf, in dem Car­lo Dol­ci19 Ita­li­en dar­stel­len woll­te. Im­mer wie­der führ­te mir mein grau­sa­mes Ge­dächt­nis in mei­nem zü­gel­lo­sen Da­sein das Bild je­nes jun­gen Mäd­chens vor Au­gen wie eine Ver­kör­pe­rung der Tu­gend, des Ge­wis­sens. Doch über­las­sen wir das arme Kind sei­nem Ge­schick. So un­glück­lich es auch sein mag, je­den­falls habe ich es vor ei­nem ent­setz­li­chen Un­ge­mach be­wahrt, in­dem ich es nicht mit in mei­ne Höl­le hin­ein­riß. Bis zum letz­ten Win­ter führ­te ich das ru­hi­ge und ar­beits­rei­che Le­ben, von dem ich dir einen Ein­druck zu ge­ben ver­such­te. In den ers­ten Ta­gen des De­zem­bers 1829 be­geg­ne­te ich Ras­ti­gnac, der mir trotz des elen­den Zu­stan­des mei­ner Klei­der den Arm gab und sich mit ei­ner wahr­haft brü­der­li­chen An­teil­nah­me nach mei­nem Ge­schick er­kun­dig­te. Von sei­nem ein­neh­men­den We­sen ge­fan­gen, er­zähl­te ich ihm kurz mein Le­ben und mei­ne Hoff­nun­gen; er lach­te und hieß mich Ge­nie und Dumm­kopf zu­gleich. Sei­ne gas­co­g­ni­sche Re­de­wei­se, sei­ne Wel­ter­fah­rung, das Auf-großem-Fuß-Le­ben, das er sei­ner Ge­wandt­heit ver­dank­te, wirk­ten un­wi­der­steh­lich auf mich. Er pro­phe­zei­te mir, daß ich wie ein ver­kann­ter Tropf im Ar­men­haus en­den, er mei­nen ei­ge­nen Lei­chen­zug an­füh­ren und mich ins Loch der ar­men Leu­te wer­fen wür­de. Er sprach von Schar­la­ta­ne­rie. Mit sei­nem lie­bens­wer­ten Elan, der ihn so mit­rei­ßend macht, stell­te er alle Ge­nies als Schar­la­ta­ne hin. Er er­klär­te mir, daß ich einen Sinn zu­we­nig be­sä­ße und es dem Tode gleich­käme, wenn ich wei­ter­hin ein­sam in der Rue des Cor­diers le­ben woll­te. Er sei der Mei­nung, daß ich in Ge­sell­schaft ge­hen, die Leu­te dar­an ge­wöh­nen müß­te, mei­nen Na­men aus­zu­spre­chen, und selbst das de­mü­ti­ge ›M­on­sieur‹ ab­le­gen sol­le, das sich für einen großen Mann zu sei­nen Leb­zei­ten nicht ziemt. ›Dumm­köp­fe‹, rief er, ›nen­nen solch Han­deln: in­tri­gie­ren; Moral­pre­di­ger äch­ten es mit der Be­zeich­nung: ver­schwen­de­tes Le­ben; las­sen wir uns von den Men­schen nicht auf­hal­ten, se­hen wir uns die Re­sul­ta­te an. Du also ar­bei­test? Schön, du wirst es nie zu et­was brin­gen. Ich eig­ne mich für al­les und tau­ge zu nichts, bin faul wie ein Hum­mer! Schön, ich er­rei­che al­les. Ich ma­che mich über­all breit, drän­ge mich vor, man macht mir Platz; ich rüh­me mich, man glaubt mir; ich ma­che Schul­den, man be­zahlt sie! Ver­schwen­dung, mein Lie­ber, ist ein po­li­ti­sches Sys­tem. Das Le­ben ei­nes Man­nes, der sein Ver­mö­gen durch­bringt, wird oft eine Spe­ku­la­ti­on; man legt sei­ne Ka­pi­ta­li­en an in Freun­den, Ver­gnü­gun­gen, Gön­nern, Be­kannt­schaf­ten. ›Ris­kier­t‹ ein Ge­schäfts­mann eine Mil­li­on? 20 Jah­re lang trinkt er nicht, schläft er nicht, amü­siert er sich nicht, er brü­tet über sei­ner Mil­li­on, läßt sie durch ganz Eu­ro­pa wan­dern; er lang­weilt sich, über­läßt sich al­len Teu­feln, die der Mensch er­fun­den hat; und schließ­lich kommt eine Li­qui­da­ti­on, wie ich es oft mit an­ge­se­hen habe, und läßt ihn ohne einen Sou, ohne Na­men, ohne Freund. Der Ver­schwen­der hin­ge­gen ge­nießt es zu le­ben, al­les aufs Spiel zu set­zen. Wenn er durch Zu­fall sein Ka­pi­tal ver­liert, kann ihm im­mer noch das Glück blü­hen, Ober­steuer­ein­neh­mer zu wer­den, sich reich zu ver­hei­ra­ten, bei ei­nem Mi­nis­ter oder Ge­sand­ten einen Pos­ten zu be­kom­men. Er hat noch Freun­de, einen Na­men und im­mer Geld. Da er die Trieb­fe­dern der Welt kennt, läßt er sie zu sei­nem Vor­teil spie­len. Ist die­ses Sys­tem lo­gisch, oder bin ich nur ein Narr? Ist es nicht die Moral der Ko­mö­die, die sich alle Tage in der Welt ab­spielt?‹ – ›Dein Werk ist vollen­det‹ fuhr er nach ei­ner Pau­se fort, ›du hast ein ko­los­sa­les Ta­lent. Nun, jetzt stehst du da, wo ich be­gon­nen habe. Dei­nen Er­folg mußt du sel­ber zu­stan­de brin­gen, das ist si­che­rer. Du mußt Ver­bin­dun­gen zur Ge­sell­schaft knüp­fen, Lob­hud­ler din­gen. Ich will dei­nen Ruhm zur Hälf­te mit­we­ben und wer­de der Ju­we­lier sein, der die Dia­man­ten dei­ner Kro­ne ge­faßt hat. Um gleich zu be­gin­nen‹ sag­te er, ›komm mor­gen abend hier­her. Ich will dich in ein Haus ein­füh­ren, wo ganz Pa­ris er­scheint, das heißt un­ser Pa­ris, das Pa­ris der Stut­zer, der Mil­lio­näre, der Berühmt­hei­ten, kurz der Män­ner, die Gold re­den wie Chry­so­sto­mus.20 Wenn die­se Leu­te sich ei­nes Bu­ches an­neh­men, so kommt es in Mode; wenn es wirk­lich gut ist, so ha­ben sie ein Ge­nie an­er­kannt, ohne es zu wis­sen. Wenn du Geist hast, lie­bes Kind, so wirst du selbst das Glück dei­ner ›Theo­rie‹ be­grün­den, in­dem du die Theo­rie des Glücks be­grei­fen lernst. Mor­gen abend wirst du die schö­ne Com­tes­se Fœ­do­ra se­hen, die zur Zeit Mode ist.‹

›Ich habe nie von ihr spre­chen hö­ren …‹

›Du bist ein Kaf­fer, er­wi­der­te Ras­ti­gnac la­chend. ›Du kennst Fœ­do­ra nicht? Eine gute Par­tie mit etwa 80 000 Li­vres Ren­te, die kei­nen will oder die kei­ner will. Eine rät­sel­haf­te Frau, eine Pa­ri­se­rin, die zur Hälf­te Rus­sin, oder eine Rus­sin, die zur Hälf­te Pa­ri­se­rin ist! Eine Frau, bei der alle ro­man­ti­schen Pro­duk­tio­nen ver­legt wer­den, die nicht öf­fent­lich er­schei­nen, die schöns­te, gra­zi­öses­te Frau von Pa­ris! Du bist nicht ein­mal ein Kaf­fer, du bist das Zwi­schen­glied zwi­schen Kaf­fer und Vieh. Also adieu, auf mor­gen …‹

Er dreh­te sich auf dem Ab­satz her­um und ging, ohne mei­ne Ant­wort ab­zu­war­ten, da er es nicht für mög­lich hielt, daß ein ver­nunft­be­gab­ter Mensch es ab­leh­nen kön­ne, Fœ­do­ra vor­ge­stellt zu wer­den. Wie soll man das Be­stri­cken­de ei­nes Na­mens er­klä­ren! FŒDORA ver­folg­te mich wie ein bö­ser Ge­dan­ke, mit dem man sich ab­zu­fin­den sucht. Eine Stim­me sag­te mir: ›Du wirst zu Fœ­do­ra ge­hen!‹

Ich konn­te ge­gen die­se Stim­me an­ge­hen, so­viel ich woll­te, und ihr zu­ru­fen, daß sie lüge; sie mach­te all mei­ne Ein­wän­de zu­nich­te mit dem Na­men: Fœ­do­ra. Aber war die­ser Name, die­se Frau nicht das Sym­bol all mei­ner Sehn­sucht und der In­halt mei­nes Le­bens? Der Name er­weck­te die künst­li­che Poe­sie der großen Welt, ließ die Fes­te des ari­sto­kra­ti­schen Pa­ris und den Flit­ter­tand der Ei­tel­keit vor mir er­glän­zen. Die Frau er­stand vor mir mit al­len Rät­seln der Lei­den­schaft, die mir den Kopf ver­dreht hat­ten. Vi­el­leicht wa­ren es we­der die Frau noch der Name, son­dern alle mei­ne Las­ter, die in mei­ner See­le auf­er­stan­den, um mich aufs neue zu ver­su­chen. War die Com­tes­se Fœ­do­ra, die reich und ohne Lieb­ha­ber, den Ver­füh­run­gen von Pa­ris wi­der­stand, nicht die In­kar­na­ti­on mei­ner Hoff­nun­gen, mei­ner Vi­sio­nen? Ich schuf mir eine sol­che Frau, lieh ihr in mei­nen Ge­dan­ken Ge­stalt, träum­te von ihr. In der Nacht schlief ich nicht, ich wur­de ihr Ge­lieb­ter; in ein paar Stun­den preß­te ich ein gan­zes Le­ben, ein Le­ben der Lie­be, und ge­noß sei­ne tie­fen, zeh­ren­den Won­nen. Am nächs­ten Mor­gen, da ich die Qual, den Abend zu er­war­ten, nicht zu er­tra­gen ver­moch­te, lieh ich mir einen Ro­man aus und ver­brach­te den Tag mit Le­sen, in­dem ich es mir auf die­se Wei­se un­mög­lich mach­te, zu den­ken und die Zeit zu mes­sen. Wäh­rend ich las, klang der Name Fœ­do­ra in mir wie ein Ton aus der Fer­ne, nicht stö­rend, aber hör­bar. Glück­li­cher­wei­se be­saß ich noch einen recht an­stän­di­gen Frack und eine wei­ße Wes­te; von mei­nem gan­zen Ver­mö­gen blie­ben mir noch un­ge­fähr 30 Fran­cs, die ich über­all in mei­nen Sa­chen und mei­nen Schub­la­den ver­streut hat­te, um zwi­schen ei­nem 100-Sous-Stück und den Ein­ge­bun­gen mei­nes Ver­lan­gens die dor­nen­vol­le Sper­re ei­ner Durch­stö­be­rung und Um­se­ge­lung mei­nes Zim­mers zu er­rich­ten. Vor dem An­klei­den durch­wühl­te ich einen Ozean von Pa­pier nach mei­nem Schatz. Bei der Höhe mei­nes Bar­be­stan­des wirst du dir vor­stel­len kön­nen, wel­che Reich­tü­mer mei­ne Hand­schu­he und ein Wa­gen ver­schlan­gen; das Brot für einen gan­zen Mo­nat ging drauf. Es fehlt uns eben lei­der nie an Geld für un­se­re Lau­nen. Wir mark­ten nur um den Preis für nütz­li­che oder not­wen­di­ge Din­ge. Wir wer­fen das Gold leich­ten Her­zens an Tän­ze­rin­nen weg und feil­schen mit ei­nem Ar­bei­ter, des­sen hun­gern­de Fa­mi­lie auf die Be­zah­lung ei­ner Rech­nung war­tet. Wie vie­le Leu­te tra­gen einen Rock für 100 Fran­cs, einen Dia­man­ten im Knauf ih­res Spa­zier­stocks und ge­hen für 25 Sous es­sen! Es scheint, daß wir die Freu­den der Ei­tel­keit nie teu­er ge­nug be­zah­len. Ras­ti­gnac er­schi­en pünkt­lich am ver­ein­bar­ten Treff­punkt, lä­chel­te über mei­ne Me­ta­mor­pho­se und be­spöt­tel­te mich des­we­gen; doch auf dem Wege zur Com­tes­se gab er mir noch al­ler­lei gut­ge­mein­te Ratschlä­ge, wie ich mich ihr ge­gen­über zu be­neh­men hät­te; er schil­der­te sie mir gei­zig, ei­tel und miß­trau­isch; aber gei­zig mit Prunk, ei­tel mit Sch­licht­heit, miß­trau­isch mit Wohl­wol­len.

›Du kennst mei­ne Ver­hält­nis­se und weißt, wie­viel ich bei ei­nem Wech­sel mei­ner Lie­be ver­lie­ren wür­de‹, sag­te er. ›Bei mei­ner Beo­b­ach­tung Fœ­do­ras war ich un­ei­gen­nüt­zig, kalt­blü­tig, mei­ne Be­mer­kun­gen müs­sen also rich­tig sein. Ich hat­te nur dein Glück im Sin­ne, als ich dar­an dach­te, dich bei ihr ein­zu­füh­ren; nimm dich also in acht mit al­lem, was du sagst; sie hat ein grau­sa­mes Ge­dächt­nis, sie ist von ei­ner Schlau­heit, die einen Di­plo­ma­ten zur Verzweif­lung trei­ben kann; sie wür­de den Mo­ment er­ra­ten, wo er die Wahr­heit sagt. Un­ter uns: ich glau­be, daß ihre Hei­rat vom Kai­ser nicht an­er­kannt wird, denn der rus­si­sche Ge­sand­te brach in Ge­läch­ter aus, als ich die Rede auf sie brach­te. Er emp­fängt sie nicht und grüßt sie sehr oben­hin, wenn er ihr im Bois21 be­geg­net. Nichts­de­sto­we­ni­ger ge­hört sie zum Kreis von Ma­da­me de Séri­sy und ver­kehrt mit Ma­da­me de Nu­cin­gen und Ma­da­me de Re­staud. In Frank­reich ist ihr Ruf ta­del­los; die Du­ches­se de Ca­rig­lia­no, die hoch­nä­sigs­te Mar­schal­lin der gan­zen bo­na­par­tis­ti­schen Cli­que, ver­bringt oft den Som­mer mit ihr auf ih­rem Land­gut. Vie­le jun­ge Laf­fen, un­ter an­de­ren der Sohn ei­nes Pairs22 von Frank­reich, ha­ben ihr einen Na­men zum Tausch für ihr Ver­mö­gen ge­bo­ten; sie hat sie alle höf­lichst ab­ge­wie­sen. Vi­el­leicht regt sich ihr Ge­fühl erst beim Ti­tel ei­nes Com­te. Bist du nicht Mar­quis? Frisch vor­an also, wenn sie dir ge­fällt. Das hei­ße ich In­struk­tio­nen er­tei­len.‹

Die­se Ne­cke­rei­en lie­ßen mich glau­ben, daß Ras­ti­gnac sich einen Scherz ma­chen und mei­ne Neu­gier­de an­sta­cheln woll­te, so daß, als wir vor ei­nem blu­men­ge­schmück­ten Säu­len­hof an­lang­ten, mei­ne im­pro­vi­sier­te Lei­den­schaft ih­ren Hö­he­punkt er­reicht hat­te. Als wir eine brei­te, mit Tep­pi­chen be­leg­te Trep­pe hin­auf­stie­gen, wo ich den aus­ge­such­tes­ten eng­li­schen Kom­fort be­merk­te, poch­te mein Herz; ich wur­de rot, ver­leug­ne­te mei­ne Ab­stam­mung, mei­ne Ge­füh­le, mei­nen Stolz, ich war ein lä­cher­li­cher Bour­geois. Gott ja, ich kam nach drei Jah­ren der Ar­mut aus ei­ner Dach­stu­be und ver­stand noch nicht, jene er­wor­be­nen Schät­ze über die Nich­tig­kei­ten des Le­bens zu stel­len, je­nes un­ge­heu­re geis­ti­ge Ka­pi­tal, das uns in dem Mo­ment reich macht, da uns die Macht in die Hän­de fällt, ohne daß sie uns zu Bo­den drückt, weil uns das Stu­di­um von vorn­her­ein auf die po­li­ti­schen Kämp­fe vor­be­rei­tet hat. Ich er­blick­te eine Frau von etwa zwei­und­zwan­zig Jah­ren, von mitt­ler­er Grö­ße, weiß ge­klei­det, von ei­nem Kreis von Her­ren um­ringt, in der Hand hielt sie einen Fä­cher aus Fe­dern. Als sie Ras­ti­gnac ein­tre­ten sah, er­hob sie sich, kam uns ent­ge­gen, lä­chel­te an­mu­tig und mach­te mir mit me­lo­di­scher Stim­me ein zwei­fel­los vor­be­rei­te­tes Kom­pli­ment. Un­ser Freund hat­te mich als einen Mann von Ta­lent an­ge­kün­digt, und sei­ne Ge­wandt­heit und gas­co­g­ni­sche Be­red­sam­keit be­rei­te­ten mir einen schmei­chel­haf­ten Empfang. Ich wur­de der Ge­gen­stand be­son­de­rer Auf­merk­sam­keit, die mich in Ver­le­gen­heit setz­te; doch glück­li­cher­wei­se hat­te Ras­ti­gnac von mei­ner Be­schei­den­heit ge­spro­chen. Ich traf dort Ge­lehr­te, Li­te­ra­ten, ehe­ma­li­ge Mi­nis­ter, Pairs von Frank­reich. Die Un­ter­hal­tung nahm kurz nach mei­ner An­kunft wie­der ih­ren Lauf, und da ich fühl­te, daß ich einen Ruf zu wah­ren hat­te, nahm ich mich zu­sam­men. Wenn ich an­ge­spro­chen wur­de, war ich be­müht, ohne mei­ne Rede lang aus­zu­deh­nen, die Dis­kus­sio­nen durch mehr oder we­ni­ger ent­schie­de­ne, tief­grün­di­ge oder geist­rei­che Be­mer­kun­gen zu­sam­men­zu­fas­sen. Ich rief ei­ni­ges Auf­se­hen her­vor. Zum tau­sends­ten­mal in sei­nem Le­ben war Ras­ti­gnac Pro­phet. Als die Ge­sell­schaft so zahl­reich war, daß sich je­der frei fühl­te, gab mir mein Be­schüt­zer den Arm, und wir wan­del­ten durch die Ge­mä­cher. ›Laß bloß die Fürs­tin dei­ne Ver­wun­de­rung nicht an­mer­ken‹, sag­te er zu mir, ›sie er­rät sonst den Grund dei­nes Be­suchs!‹ Die Sa­lons wa­ren mit aus­ge­wähl­tem Ge­schmack aus­ge­stat­tet. Ich sah er­le­se­ne Ge­mäl­de. Je­der Raum hat­te, wie bei den reichs­ten Eng­län­dern, sei­nen be­son­de­ren Cha­rak­ter, und die Sei­den­be­hän­ge, die Ver­zie­run­gen, die Form der Mö­bel, der kleins­te Zie­rat stimm­ten har­mo­nisch mit ei­nem Grund­stil über­ein. In ei­nem go­ti­schen Bou­doir, des­sen Tü­ren ge­stick­te Por­tie­ren ver­bar­gen, wa­ren das Rand­de­kor des Stof­fes, die Pen­del­uhr, das Mus­ter des Tep­pichs go­tisch. Die Fel­der zwi­schen den ge­schnitz­ten brau­nen Bal­ken der De­cke wa­ren ori­gi­nell ge­stal­tet; die Holz­tä­fe­lung war kunst­voll ge­ar­bei­tet; nichts stör­te den Ge­samtein­druck die­ser hüb­schen De­ko­ra­ti­on; nicht ein­mal die Fens­ter mit ih­ren kost­ba­ren, be­mal­ten Schei­ben. Ich war über­rascht beim An­blick ei­nes klei­nen mo­der­nen Sa­lons, den ein mir be­kann­ter Künst­ler im Stil un­se­rer Zeit, der so leicht, so an­mu­tend, so ge­fäl­lig, so prunk­los und spar­sam an Ver­gol­dung ist, vollen­det aus­ge­stat­tet hat­te. Er war äthe­risch und lie­bes­durch­weht, wie eine deut­sche Bal­la­de, ein rech­tes Nest für eine Lei­den­schaft von 1827, er­füllt vom Duft sel­te­ner Blu­men. Hin­ter die­sem Sa­lon sah ich noch eine Flucht von Zim­mern, dar­un­ter ein Ge­mach, das reich ver­gol­det den Stil Lud­wigs XIV. auf­le­ben ließ, der un­se­rem Ge­schmack ent­ge­gen­ge­setzt einen bi­zar­ren, doch an­ge­neh­men Kon­strast bil­de­te. ›Du wirst hier ganz gut un­ter­ge­bracht sein‹, sag­te Ras­ti­gnac zu mir mit ei­nem Lä­cheln, das eine lei­se Iro­nie um­spiel­te. ›Ist dies nicht ver­füh­re­risch?‹ füg­te er hin­zu, in­dem er sich setz­te.

Plötz­lich stand er wie­der auf, nahm mich bei der Hand, führ­te mich in das Schlaf­zim­mer und zeig­te mir un­ter ei­nem Him­mel aus weißem Mus­se­lin und Moiré ein sanft be­leuch­te­tes wol­lüs­ti­ges Bett, das wah­re Bett für eine jun­ge Fee, die ei­nem Ge­nie ver­spro­chen ist. ›Liegt nicht‹, sag­te er mit lei­ser Stim­me, ›maß­lo­se Scham­lo­sig­keit, Ver­mes­sen­heit und maß­lo­se Ko­ket­te­rie dar­in, uns die­sen Lie­bes­thron be­trach­ten zu las­sen? Sich kei­nem hin­zu­ge­ben und je­dem zu ge­stat­ten, sei­ne Kar­te hier ab­zu­ge­ben? Wenn ich frei wäre, so woll­te ich die­se Frau de­mü­tig an mei­ner Tür wei­nen se­hen.‹ – ›Bist du denn ih­rer Tu­gend so si­cher?‹ – ›Die ver­we­gens­ten un­se­rer Sa­lon­lö­wen und so­gar die ge­schick­tes­ten ge­ben zu, daß sie bei ihr ge­schei­tert sind; sie lie­ben sie noch im­mer und sind ihre er­ge­be­nen Freun­de. Ist die­se Frau nicht ein Rät­sel?‹ Die­se Wor­te ver­setz­ten mich in eine Art Rausch. Ich fing schon an, auf ihre Ver­gan­gen­heit ei­fer­süch­tig zu wer­den. Freu­dig er­regt, kehr­te ich ei­lig in den Sa­lon zu­rück, in dem die Com­tes­se ge­weilt hat­te; ich traf sie in dem go­ti­schen Bou­doir. Sie ent­bot mich mit ei­nem Lä­cheln zu sich, hieß mich Platz neh­men, frag­te nach mei­nen Ar­bei­ten und schi­en sich leb­haft da­für zu in­ter­es­sie­ren, be­son­ders als ich ihr mein Sys­tem in scher­zen­der Wei­se dar­leg­te, an­statt es ge­lehr­ten­haft im Pro­fes­so­ren­stil vor ihr zu ent­wi­ckeln. Sie schi­en sich sehr zu amü­sie­ren, als sie ver­nahm, daß der mensch­li­che Wil­le eine dem Dampf ver­gleich­ba­re ma­te­ri­el­le Kraft sei; daß nichts in der mo­ra­li­schen Welt die­ser Kraft wi­der­ste­hen könn­te, wenn ein Mensch sich dar­an ge­wöh­ne, sie zu kon­zen­trie­ren, sie als Gan­zes wir­ken zu las­sen und das Ge­schütz die­ser flüs­si­gen Mas­se be­stän­dig auf die See­len rich­te; daß ein sol­cher Mensch nach Be­lie­ben al­les, was mit dem Men­schen zu­sam­men­hängt, selbst die Na­tur­ge­set­ze, ver­än­dern kön­ne. Die Ein­wen­dun­gen Fœ­do­ras be­kun­de­ten einen ge­wis­sen Scharf­sinn; ich ge­fiel mir dar­in, ihr für ein paar Au­gen­bli­cke recht zu ge­ben, um ihr zu schmei­cheln, und zer­stör­te dann ihre weib­li­chen Ver­nünf­te­lei­en mit ei­nem Wort, in­dem ich ihre Auf­merk­sam­keit auf ein all­täg­li­ches, dem An­schein nach ge­wöhn­li­ches Phä­no­men lenk­te, und zwar den Schlaf, der für den Ge­lehr­ten im Grun­de je­doch voll un­lös­li­cher Pro­ble­me sei, und ich reiz­te ihre Neu­gier. Die Com­tes­se wur­de so­gar für ein Weil­chen recht schweig­sam, als ich ihr sag­te, daß un­se­re Ide­en voll­kom­men or­ga­ni­sche We­sen sei­en, die in ei­ner un­sicht­ba­ren Welt leb­ten und auf un­se­re Ge­schi­cke Ein­fluß hät­ten, und zum Be­weis führ­te ich ihr die Ge­dan­ken von Des­car­tes, Di­de­rot23 und Na­po­le­on an, die ein gan­zes Jahr­hun­dert ge­lei­tet hat­ten und noch lei­te­ten. Ich hat­te die Ehre, die­se Frau zu amü­sie­ren; als sie mich ver­ließ, for­der­te sie mich auf, sie zu be­su­chen; das heißt in der Hof­spra­che aus­ge­drückt: sie ge­stat­te­te mir frei­en Zu­tritt. Sei es, daß ich nach mei­ner löb­li­chen Ge­wohn­heit höf­li­che Re­dens­ar­ten für Her­zens­wor­te hielt, sei es, daß Fœ­do­ra in mir eine zu­künf­ti­ge Berühmt­heit sah und ihre Me­na­ge­rie von Ge­lehr­ten ver­meh­ren woll­te: ich re­de­te mir ein, ihr ge­fal­len zu ha­ben. Ich nahm alle mei­ne phy­sio­lo­gi­schen Kennt­nis­se und frü­he­ren Stu­di­en über die Frau­en zu Hil­fe, um die­se ei­gen­tüm­li­che Per­son und ihr We­sen an die­sem Abend ein­ge­hend zu stu­die­ren. In ei­ner Fens­ter­ni­sche ver­bor­gen, such­te ich aus ih­rer Hal­tung, aus der Art, wie sie die Haus­her­rin spiel­te, die kommt und geht, sich setzt und plau­dert, einen Herrn an­ruft, ihn be­fragt, oder sich, um ihm zu­zu­hö­ren, an einen Tür­pfos­ten lehnt, ihre Ge­dan­ken zu er­spä­hen; sie wieg­te sich lei­se beim Ge­hen, ihr Kleid schwang so an­mu­tig, sie er­weck­te so hef­tig das Be­geh­ren, daß ich in be­zug auf ihre Tu­gend sehr un­gläu­big wur­de. Wenn Fœ­do­ra heu­te die Lie­be ver­leug­ne­te, muß­te sie doch frü­her ein­mal vol­ler Lei­den­schaft ge­we­sen sein; denn eine wis­sen­de Sinn­lich­keit ver­riet sich selbst in der Art, wie sie sich vor je­man­den hin­stell­te, um mit ihm zu spre­chen; sie lehn­te sich ko­kett an die Tä­fe­lung wie eine Frau, die nahe am Um­sin­ken ist oder be­reit zu ent­flie­hen, wenn ein all­zu ver­we­ge­ner Blick sie ein­schüch­tert. Mit läs­sig ver­schränk­ten Ar­men stand sie da, schi­en die Wor­te zu trin­ken, hör­te sie so­gar mit den Bli­cken wohl­ge­fäl­lig an; sie war ganz Ge­fühl. Ihre fri­schen ro­ten Lip­pen sta­chen leb­haft von dem blen­dend­wei­ßen Teint ab. Ihr brau­nes Haar har­mo­nier­te ei­gen mit den oran­ge­far­be­nen Au­gen, die ge­ädert wa­ren wie Flo­ren­ti­ner Mar­mor und de­ren Spiel ih­ren Wor­ten Fein­heit ver­lieh. Ihr Wuchs war von lo­cken­der An­mut. Eine Ri­va­lin hät­te viel­leicht die dich­ten, fast zu­sam­men­ge­wach­se­nen Au­gen­brau­en zu streng ge­fun­den und den un­merk­li­chen Flaum, der die Kon­tu­ren ih­res Ge­sichts um­gab, ge­ta­delt. Ich fand al­les von Lei­den­schaft ge­prägt. Lie­be lag auf den ita­lie­ni­schen Li­dern die­ser Frau, auf ih­ren schö­nen Schul­tern, die ei­ner Ve­nus von Milo an­ge­stan­den hät­ten, auf ih­ren Zü­gen, auf der ein we­nig vor­tre­ten­den und leicht be­schat­te­ten Un­ter­lip­pe. Sie war mehr als eine Frau, sie war ein Ro­man. Frei­lich, all die­se pracht­vol­le Weib­lich­keit, die Har­mo­nie der Li­ni­en, die Ver­hei­ßun­gen der Lei­den­schaft, die man aus die­sem vol­len Zu­sam­men­klang emp­fing, wur­den von ei­ner stän­di­gen Sprö­dig­keit ge­dämpft, ei­ner au­ßer­ge­wöhn­li­chen Sitt­sam­keit, die ih­rer gan­zen Er­schei­nung wi­der­sprach. Es be­durf­te ei­ner so schar­fen Beo­b­ach­tung wie der mei­ni­gen, um in die­ser Na­tur die An­zei­chen zu ent­de­cken, daß sie zur Wol­lust ge­schaf­fen sei. Um mei­ne Ge­dan­ken kla­rer aus­zu­drücken: Fœ­do­ra be­stand aus zwei Frau­en, die viel­leicht die Tail­le von­ein­an­der trenn­te: die eine war kalt, der Kopf al­lein schi­en lie­bes­fä­hig zu sein. Be­vor sie ihre Au­gen auf einen Mann rich­te­te, be­rei­te­te sie erst ih­ren Blick vor, als ob sich ir­gend et­was Ge­heim­nis­vol­les in ihr voll­zö­ge; eine Art krampf­haf­ter Ver­zückung war in ih­ren strah­len­den Au­gen. Kurzum, ent­we­der war mein Wis­sen un­voll­kom­men, und ich hat­te noch vie­le Ge­heim­nis­se der geis­ti­gen Welt zu ent­de­cken, oder die Com­tes­se hat­te eine schö­ne See­le, de­ren Ge­füh­le und Auss­trah­lun­gen ih­rem Ge­sicht die­sen be­stri­cken­den Zau­ber lieh, der uns un­ter­wirft und fas­zi­niert, ein aus der See­le strö­men­der Ein­fluß, der um so mäch­ti­ger wirkt, als er mit un­se­ren Be­gier­den über­ein­stimmt. Ich ging ent­zückt fort, hin­ge­ris­sen von die­ser Frau, be­rauscht von ih­rem Lu­xus, in al­lem auf­ge­reizt, was in mei­nem Her­zen edel, las­ter­haft, gut und böse war. Und wie ich mich so be­wegt, so le­ben­dig, so be­geis­tert fühl­te, glaub­te ich zu ver­ste­hen, wel­cher An­zie­hung alle die­se Künst­ler, Di­plo­ma­ten, die­se Män­ner der Macht, die­se Spe­ku­lan­ten, die wie ihre Kas­set­ten in­nen aus Blech wa­ren, ge­horch­ten; zwei­fel­los such­ten auch sie in ih­rer Nähe die wahn­wit­zi­ge Er­re­gung, die alle Kräf­te mei­nes We­sens vi­brie­ren ließ, mein Blut bis in die kleins­te Ader auf­peitsch­te, den feins­ten Nerv an­spann­te und in mei­nem Hirn beb­te. Sie hat­te sich kei­nem hin­ge­ge­ben, um sie alle zu be­hal­ten. Eine Frau ist ko­kett, so­lan­ge sie nicht liebt. ›Au­ßer­dem‹, sag­te ich zu Ras­ti­gnac, ›ist sie viel­leicht an einen al­ten Mann ver­hei­ra­tet oder ver­kauft wor­den, und die Erin­ne­rung an die­se Ehe flö­ßt ihr Grau­en ein vor der Lie­be.‹

Ich ging vom Fau­bourg Saint-Ho­noré,24 wo Fœ­do­ra wohn­te, zu Fuß heim. Zwi­schen ih­rem Haus und der Rue des Cor­diers liegt bei­na­he ganz Pa­ris; der Weg er­schi­en mir kurz, ob­wohl es sehr kalt war. Fœ­do­ra im Win­ter er­obern zu wol­len, ei­nem so stren­gen Win­ter noch dazu, und kei­ne 30 Fran­cs in der Ta­sche ha­ben bei der Ent­fer­nung, die uns trenn­te! Nur ein ar­mer jun­ger Mann weiß, was eine Lei­den­schaft an Wa­gen­fahr­ten, Hand­schu­hen, An­zü­gen, Wä­sche und so wei­ter kos­tet. Wenn eine Lie­be ein we­nig zu lan­ge pla­to­nisch bleibt, wird sie sein Ruin. Wahr­haf­tig, es gibt Lau­zuns25 an der Éco­le de Droit, für die eine Lei­den­schaft, die ein ers­tes Stock­werk be­wohnt, ein Ding der Un­mög­lich­keit ist. Und wie konn­te ich, schwach, schmäch­tig, ein­fach ge­klei­det, blaß und elend wie ein Künst­ler, der sich von ei­ner großen Ar­beit er­holt, mit wohl­fri­sier­ten, schmu­cken, be­ste­chend ele­gan­ten jun­gen Män­nern kon­kur­rie­ren, die Kra­wat­ten tra­gen, an de­nen ganz Kroa­ti­en ver­zwei­feln konn­te, die reich wa­ren, mit ei­nem Til­bu­ry26 und ei­ner ge­hö­ri­gen Por­ti­on Im­per­ti­nenz auf­war­te­ten? ›Bah! Fœ­do­ra ist das Glück!‹ Das schö­ne go­ti­sche Bou­doir und der Sa­lon im Stil Lud­wigs XIV. tauch­ten vor mei­nen Au­gen auf, ich sah die Com­tes­se in ih­rem wei­ßen Klei­de, ih­ren wei­ten gra­zi­ösen Är­meln, mit ih­rem ver­füh­re­ri­schen Gang, ih­rem lo­cken­den Wuchs. Als ich in mei­ner nack­ten, kal­ten Dach­kam­mer an­lang­te, die in so schlech­tem Zu­stand war wie die Perücke ei­nes Ge­lehr­ten, um­gau­kel­ten mich noch im­mer die Bil­der des Lu­xus, der bei Fœ­do­ra herrsch­te. Die­ser Kon­trast war ein schlech­ter Rat­ge­ber; so mö­gen wohl Ver­bre­chen ge­bo­ren wer­den. Be­bend vor Wut, ver­fluch­te ich da mein an­stän­di­ges, ehr­li­ches Elend, mei­ne frucht­ba­re Man­sar­de, wo so vie­le Ge­dan­ken her­an­ge­reift wa­ren. Ich ver­lang­te von Gott, dem Teu­fel, dem Staat, mei­nem Va­ter, dem gan­zen Wel­tall Re­chen­schaft für mein Schick­sal, für mein Un­glück; aus­ge­hun­gert ging ich zu Bett, lä­cher­li­che Flü­che stam­melnd, aber fest ent­schlos­sen, Fœ­do­ra zu ver­füh­ren. Das Herz die­ser Frau war ein letz­tes Lot­te­rie­los, das mein Glück ent­schied. Ich er­las­se dir mei­ne ers­ten Be­su­che bei Fœ­do­ra, um rasch zum Dra­ma zu ge­lan­gen. Um das Herz die­ser Frau zu er­obern, ver­such­te ich zu­nächst, ih­ren Geist zu ge­win­nen, ihre Ei­tel­keit zu er­re­gen. Um letzt­end­lich ge­liebt zu wer­den, gab ich ihr tau­send Grün­de, sich selbst noch mehr zu lie­ben; nie­mals ließ ich sie in ei­nem Zu­stand der Gleich­gül­tig­keit. Die Frau­en wol­len Er­re­gun­gen um je­den Preis. Ich ver­schaff­te sie ihr in rei­chem Maße. Lie­ber hät­te ich ih­ren Zorn er­regt, als sie mir ge­gen­über teil­nahms­los zu se­hen. Er­lang­te ich an­fangs, von dem fes­ten Wil­len und dem Wun­sche be­seelt, ihre Lie­be zu ge­win­nen, einen ge­wis­sen Ein­fluß auf sie, so stei­ger­te sich mei­ne Lei­den­schaft bald so sehr, daß ich nicht mehr Herr mei­ner selbst war, auf­rich­tig wur­de, mich ver­lor und wahn­sin­nig ver­lieb­te. Ich weiß nicht ge­nau, was wir in der Poe­sie oder im Ge­spräch ›Lie­be‹ nen­nen; doch das Ge­fühl, das sich plötz­lich in mei­ner Dop­pel­na­tur ent­fal­te­te, habe ich nir­gends be­schrie­ben ge­fun­den, we­der in den rhe­to­risch gedrech­sel­ten Phra­sen von Jean-Jac­ques Rous­seau, des­sen Zim­mer ich viel­leicht be­wohn­te, noch in den kal­ten Schöp­fun­gen der letz­ten bei­den li­te­ra­ri­schen Jahr­hun­der­te, noch in der Ma­le­rei Ita­li­ens. Al­lein die An­sicht des Bie­ler Sees, ei­ni­ge Mo­ti­ve Ros­si­ni, die Ma­don­na von Mu­ril­lo, die Mar­schall Soult27 be­sitzt, die Brie­fe der Les­com­bat,28 ei­ni­ge ver­streu­te Wor­te in den An­ek­do­ten­samm­lun­gen, be­son­ders aber die Ge­be­te der Ek­sta­ti­ker und man­che Pas­sa­gen in un­se­ren Fa­b­li­aux29 ha­ben mich in die himm­li­schen Re­gio­nen mei­ner ers­ten Lie­be ver­set­zen kön­nen. Nichts in der mensch­li­chen Spra­che, kei­ne Wie­der­ga­be des Ge­dan­kens mit Hil­fe von Far­ben, Mar­mor, Wor­ten oder Tö­nen trifft den Nerv, die Echt­heit, die Voll­kom­men­heit, die Plötz­lich­keit die­ses Ge­fühls in der See­le. Ja, wer Kunst sagt, sagt Lüge. Die Lie­be durch­läuft un­end­li­che Ver­wand­lun­gen, be­vor sie sich un­se­rem Le­ben bei­mischt und es für im­mer mit ih­rer Flam­men­far­be tönt. Das Ge­heim­nis die­ser un­merk­li­chen Ver­schmel­zung ent­geht der Ana­ly­se des Künst­lers. Die wah­re Lei­den­schaft ver­rät sich durch Schreie, durch Seuf­zer, die ei­nem kal­ten Men­schen miß­fal­len. Man muß wahr­haft lie­ben, um beim Le­sen der ›Cla­ris­sa Har­lo­we‹30 nur halb­wegs in das Brül­len des Lo­ve­lace ein­zu­stim­men. Die Lie­be ist eine spru­deln­de Quel­le, aus ih­rem Bett von Kres­se, Blu­men und Kie­sel­stein her­aus­strö­mend, wächst sie zum Fluß, zum Strom an, än­dert mit je­der Wel­le ihre Na­tur und ihr Aus­se­hen und er­gießt sich in einen un­er­meß­li­chen Ozean, in dem un­voll­kom­me­ne Geis­ter Ein­för­mig­keit er­bli­cken, große See­len aber sich in nie en­den­de Be­trach­tun­gen ver­sen­ken. Wie soll­te ich die­se flüch­ti­gen Far­ben­tö­ne des Ge­fühls zu schil­dern wa­gen, die­se Nich­tig­kei­ten, die so be­deut­sam sind, die­se Wor­te, de­ren Ton­fall die Schät­ze der Spra­che aus­schöpft, die­se Bli­cke, die be­fruch­ten­der sind als die reichs­ten Ge­dich­te? In je­der die­ser mys­ti­schen Sze­nen, durch die wir un­merk­lich für eine Frau ent­bren­nen, öff­net sich ein Ab­grund, der alle mensch­li­chen Dich­tun­gen ver­schlingt. Ach, wie könn­ten wir die le­ben­di­gen und ge­heim­nis­vol­len Er­schüt­te­run­gen der See­le wie­der­ge­ben, wenn uns schon die Wor­te feh­len, um die sicht­ba­ren Ge­heim­nis­se der Schön­heit zu schil­dern. Welch be­zau­bern­de Macht! Wie vie­le Stun­den habe ich in ei­ner un­aus­sprech­li­chen Ek­sta­se ver­bracht, ein­zig da­mit be­schäf­tigt, ›sie‹ zu se­hen! Glück­lich, wor­über? Ich weiß es nicht. Wenn in je­nen Au­gen­bli­cken ihr Ge­sicht ganz von Licht über­strömt war, ging eine ge­heim­nis­vol­le Er­schei­nung auf ihm vor und ließ es auf­leuch­ten. Der fei­ne Flaum, der ihre zar­te Haut ver­gol­de­te, zeich­ne­te sanft die Kon­tu­ren ih­res Ge­sichts mit je­ner An­mut, die wir an den fer­nen Li­ni­en des Ho­ri­zonts be­wun­dern, wenn sie sich in der Son­ne ver­lie­ren.

Es war, als ob das Ta­ges­licht sie lieb­kos­te, in­dem es mit ihr ver­schmolz, oder als ob von ih­rem strah­len­den Ant­litz ein Leuch­ten aus­gin­ge, hel­ler als das Licht selbst; dann flog ein Schat­ten über ihr schö­nes An­ge­sicht, und im Wech­sel­spiel der Farb­tö­ne ver­än­der­te es sei­nen Aus­druck. Oft schi­en sich ein Ge­dan­ke auf ih­rer Mar­morstirn ab­zu­zeich­nen, ihr Auge sich zu rö­ten, ihre Li­der zuck­ten, ihre Züge beb­ten, von ei­nem Lä­cheln be­wegt; das be­red­te Korall ihre Lip­pen ver­tief­te sich, kräu­sel­te sich, glät­te­te sich; war­me Re­fle­xe fie­len von ih­ren brau­nen Haa­ren auf ihre rei­nen Schlä­fen; aus je­der kleins­ten Wand­lung sprach sie zu mir. Jede Nuan­ce ih­rer Schön­heit ge­währ­te mei­nen Au­gen neue Fes­te, of­fen­bar­te mei­nem Her­zen un­be­kann­te Won­nen. In je­dem Wech­sel ih­rer Züge woll­te ich ein Ge­fühl, eine Hoff­nung le­sen. Die­se stum­men Zwie­spra­chen dran­gen von See­le zu See­le wie ein Ton in das Echo und spen­de­ten mir eine Fül­le flüch­ti­ger Freu­den, die tief in mir nach­wirk­ten. Ihre Stim­me ver­setz­te mich in einen Sin­nen­tau­mel, den ich nur schwer be­meis­tern konn­te. Ich hät­te wie je­ner loth­rin­gi­sche Prinz, des­sen Name mir ent­fal­len ist, eine glü­hen­de Koh­le in mei­ner Hand nicht ge­fühlt, wenn ihre lieb­ko­sen­den Fin­ger durch mein Haar ge­glit­ten wä­ren. Das war nicht mehr Be­wun­de­rung, Be­geh­ren, es war ein Zau­ber, ein Ver­häng­nis. Oft, wenn ich wie­der un­ter mei­nem Da­che saß, schweb­te Fœ­do­ra vor mei­nen Au­gen; ich teil­te ihr Le­ben; wenn sie litt, litt auch ich, und ich sag­te ihr am nächs­ten Tage: ›Sie ha­ben Kum­mer ge­habt!‹ – Wie oft er­schi­en sie bei mir in der Stil­le der Nacht, von der Macht mei­ner Ek­sta­se her­bei­ge­ru­fen. Manch­mal schlug sie mir, wie der Schlag ei­nes Blit­zes, die Fe­der aus der Hand, ver­scheuch­te Wis­sen­schaft und Stu­di­um, die tief be­küm­mert ent­flo­hen; sie zwang mich, sie in der rei­zen­den Pose, in der ich sie un­längst ge­se­hen hat­te, zu be­wun­dern. Bald ging ich ihr in der Welt der Er­schei­nun­gen selbst ent­ge­gen, grüß­te sie wie eine Hoff­nung und fleh­te sie an, mich ihre Sil­ber­stim­me hö­ren zu las­sen; dann er­wach­te ich wei­nend. Ei­nes Ta­ges, nach­dem sie mir ver­spro­chen hat­te, mit mir ins Thea­ter zu ge­hen, wei­ger­te sie sich plötz­lich lau­nisch, aus­zu­ge­hen, und bat mich, sie al­lein zu las­sen. Verzwei­felt über einen Wi­der­spruch, der mich einen gan­zen Ar­beits­tag und – soll ich es ge­ste­hen? – mei­nen letz­ten Ta­ler ge­kos­tet hat­te, be­gab ich mich da­hin, wo auch sie hät­te sein sol­len, da ich das Stück se­hen woll­te, das sie zu se­hen ge­wünscht hat­te. Kaum hat­te ich Platz ge­nom­men, als ich et­was wie einen elek­tri­schen Schlag im Her­zen fühl­te. Eine Stim­me sag­te mir: Sie ist da! Ich dreh­te mich um, ich sehe die Com­tes­se im Hin­ter­grund ih­rer Par­ter­re­lo­ge, im Schat­ten ver­bor­gen. Mein Blick zö­ger­te nicht, mei­ne Au­gen fan­den sie so­gleich mit ih­rer fa­bel­haf­ten Klar­heit, mei­ne See­le war ih­rem Le­ben zu­ge­flo­gen wie ein In­sekt sei­ner Blu­me. Auf wel­che Wei­se hat­ten mei­ne Sin­ne die Mit­tei­lung emp­fan­gen? Sie rührt her von je­nem in­ne­ren Er­schau­ern, das ober­fläch­li­che Men­schen über­ra­schen mag; und doch sind die­se Wir­kun­gen un­se­rer in­ne­ren Na­tur eben­so ein­fach wie die ge­wohn­ten Er­schei­nun­gen der äu­ße­ren Wahr­neh­mung; so­mit war ich nicht er­staunt, son­dern är­ger­lich. Mei­ne Stu­di­en über die Macht un­se­res Geis­tes, über die man recht we­nig weiß, dienten we­nigs­tens dazu, mir in mei­ner Lei­den­schaft ei­ni­ge le­ben­di­ge Be­wei­se für mein Sys­tem vor Au­gen zu füh­ren. Die­se Ver­bin­dung des Ge­lehr­ten mit dem Ver­lieb­ten, ei­ner wahr­haft ab­göt­ti­schen mit ei­ner wis­sen­schaft­li­chen Lie­be hat­te et­was höchst Selt­sa­mes. Die Wis­sen­schaft frohlock­te oft, wenn der Lie­ben­de ver­zwei­fel­te; und wenn er sich nahe dem Sie­ge glaub­te, jag­te er fro­hen Her­zens die Wis­sen­schaft von dan­nen. Fœ­do­ra sah mich und wur­de ernst, ich stör­te sie. In der ers­ten Pau­se ging ich zu ihr; sie war al­lein, ich blieb. Ob­wohl wir nie von Lie­be ge­spro­chen hat­ten, ahn­te ich eine Er­klä­rung. Ich hat­te ihr mein Ge­heim­nis noch nicht ent­hüllt, und doch herrsch­te zwi­schen uns eine Art Span­nung; sie ver­trau­te mir alle ihre Ver­gnü­gungs­plä­ne an und frag­te mich am Abend mit ei­ner ge­wis­sen freund­schaft­li­chen Un­ru­he, ob ich am fol­gen­den Tag kom­men wür­de; sie be­frag­te mich mit ei­nem Blick, wenn sie et­was Geistrei­ches ge­sagt hat­te, als ob sie aus­schließ­lich mir hät­te ge­fal­len wol­len; wenn ich schmoll­te, wur­de sie zärt­lich; wenn sie ver­är­gert schi­en, hat­te ich so­zu­sa­gen das Recht, die Ur­sa­che zu er­fra­gen; wenn ich ihr einen Feh­ler ein­ge­stand, ließ sie sich lan­ge bit­ten, bis sie mir ver­gab. Die­se Strei­te­rei­en, an de­nen wir Ge­fal­len fan­den, wa­ren voll Lie­be. Sie ent­fal­te­te da­bei so viel An­mut und Ko­ket­te­rie, und ich, ich fand so viel Glück dar­in! In die­sem Au­gen­blick war un­se­re In­ti­mi­tät voll­stän­dig auf­ge­ho­ben, und wir sa­ßen bei­ein­an­der wie zwei Frem­de. Die Com­tes­se war ei­sig; ich be­fürch­te­te ein na­hen­des Un­glück.

»Sie wer­den mich be­glei­ten«, sag­te sie, als das Stück zu Ende war. Das Wet­ter war plötz­lich um­ge­schla­gen. Als wir ins Freie ka­men, fiel ein mit Re­gen ver­misch­ter Schnee. Der Wa­gen Fœ­do­ras konn­te nicht bis an das Por­tal des Thea­ters fah­ren. Ein Dienst­mann hielt so­fort, als er die fei­ne Dame sah, die ge­nö­tigt war, den Bou­le­vard zu über­schrei­ten, einen Re­gen­schirm über un­se­re Köp­fe und ver­lang­te, als wir ein­ge­stie­gen wa­ren, den Lohn für sei­nen Dienst. Ich hat­te nichts; zehn Jah­re mei­nes Le­bens hät­te ich hin­ge­ge­ben, um zwei Sous zu ha­ben. Al­les, was den Mann aus­macht, all sei­ne tau­send Ei­tel­kei­ten, wur­den von ei­nem höl­li­schen Schmerz in mir zer­malmt. Die Wor­te: »Ich habe kein Geld, mein Lie­ber!« wur­den in ei­nem har­ten Ton ge­spro­chen, der mei­ner ge­kränk­ten Lie­be zu ent­sprin­gen schi­en, ge­spro­chen von mir, dem Bru­der die­ses Man­nes, von mir, der das Elend so gut kann­te, von mir, der einst 700 000 Fran­cs leich­ten Her­zens hin­ge­ge­ben hat­te. Der Die­ner stieß den Dienst­mann bei­sei­te, und die Pfer­de zo­gen an. Wäh­rend der Heim­fahrt war Fœ­do­ra zer­streut oder gab sich den An­schein, an­de­res im Kopf zu ha­ben, und ant­wor­te­te ein­sil­big und ge­ring­schät­zig auf mei­ne Fra­gen. Ich ver­stumm­te. Es war ein schreck­li­cher Mo­ment. Als wir bei ihr an­ge­langt wa­ren, setz­ten wir uns an den Ka­min. Nach­dem der Die­ner das Feu­er ge­schürt und sich ent­fernt hat­te, wand­te sich die Com­tes­se mit ei­ner un­durch­dring­li­chen Mie­ne mir zu und sag­te mit ei­ner Art Fei­er­lich­keit: »Seit mei­ner Rück­kehr nach Frank­reich hat mein Ver­mö­gen so man­chen jun­gen Mann in Ver­su­chung ge­führt; man hat mir Lie­bes­er­klä­run­gen ge­macht, die mei­nen Stolz hät­ten be­frie­di­gen kön­nen; ich bin Män­nern be­geg­net, de­ren Zu­nei­gung so auf­rich­tig und so tief war, daß sie mich auch dann noch ge­hei­ra­tet hät­ten, wenn sie in mir nur das arme Mäd­chen ge­fun­den hät­ten, das ich ehe­mals war. Las­sen Sie sich wei­ter­hin sa­gen, Mon­sieur de Va­len­tin, daß man mir neue Reich­tü­mer und neue Ti­tel an­ge­bo­ten hat; doch mer­ken Sie sich auch, daß ich die­je­ni­gen nie wie­der­ge­se­hen habe, die so schlecht be­ra­ten wa­ren, zu mir von Lie­be zu spre­chen. Wenn mei­ne Zu­nei­gung zu Ih­nen ober­fläch­lich wäre, wür­de ich Ih­nen die­se War­nung nicht er­tei­len, aus der mehr Freund­schaft als Stolz spricht. Eine Frau setzt sich der Ge­fahr aus, be­lei­digt zu wer­den, wenn sie sich, in dem Glau­ben, daß man sie liebt, von vorn­her­ein ei­nem doch im­mer schmei­chel­haf­ten Ge­fühl ver­sagt. Ich ken­ne die Sze­nen von Ar­si­noë,31 von Ara­min­te32 und bin folg­lich auch mit den Ant­wor­ten ver­traut, die ich un­ter sol­chen Um­stän­den zu hö­ren be­käme; doch heu­te hof­fe ich, von ei­nem über­ra­gen­den Mann nicht miß­ver­stan­den zu wer­den, weil ich ihm mei­ne See­le auf­rich­tig ge­zeigt habe.« Sie drück­te sich mit der Kalt­blü­tig­keit ei­nes Ad­vo­ka­ten oder No­tars aus, der sei­nem Kli­en­ten das Für und Wi­der ei­nes Pro­zes­ses oder die Ar­ti­kel ei­nes Ver­trags aus­ein­an­der­setzt. Der hel­le, be­stri­cken­de Klang ih­rer Stim­me ver­riet nicht die min­des­te Er­re­gung; nur ihr Ge­sicht und ihre Hal­tung, wenn auch wie im­mer vor­nehm und takt­voll, schie­nen mir von ei­ner di­plo­ma­ti­schen Käl­te und Tro­cken­heit. Sie hat­te sich of­fen­bar ihre Wor­te über­legt und den Ablauf die­ser Sze­ne ge­plant. Oh, mein lie­ber Freund, wenn ge­wis­se Frau­en eine Lust dar­an fin­den, uns das Herz zu zer­rei­ßen, wenn sie vor­ha­ben, uns einen Dolch hin­ein­zu­sto­ßen und ihn in der Wun­de um­zu­dre­hen, so sind die­se Frau­en an­be­tungs­wür­dig, denn sie lie­ben und wol­len ge­liebt sein! Ei­nes Ta­ges wer­den sie uns für un­se­re Schmer­zen be­loh­nen, wie Gott, heißt es, uns un­se­re gu­ten Wer­ke an­rech­nen wird; sie wer­den uns das Hun­dert­fa­che des Lei­des, des­sen Tie­fe sie er­ken­nen, mit Freu­den ver­gel­ten: ist ihre Bos­heit nicht vol­ler Lei­den­schaft? Aber von ei­ner Frau ge­mar­tert zu wer­den, die uns mit Gleich­gül­tig­keit tö­tet, ist das nicht eine wahn­wit­zi­ge Qual? In die­sem Au­gen­blick trat Fœ­do­ra, ohne es zu wis­sen, alle mei­ne Hoff­nun­gen mit Fü­ßen, zer­brach mein Le­ben und zer­stör­te mei­ne Zu­kunft mit der kal­ten Un­be­küm­mert­heit und un­schul­di­gen Grau­sam­keit ei­nes Kin­des, das aus Neu­gier­de ei­nem Schmet­ter­ling die Flü­gel aus­reißt. ›Spä­ter‹, füg­te Fœ­do­ra hin­zu, wer­den Sie, hof­fe ich, die Zu­ver­läs­sig­keit der Nei­gung er­ken­nen, die ich mei­nen Freun­den ent­ge­gen­brin­ge. Sie wer­den mich im­mer gü­tig und er­ge­ben ih­nen ge­gen­über fin­den. Ich könn­te ih­nen mein Le­ben wei­hen, doch wür­den Sie mich ver­ach­ten, wenn ich ihre Lie­be er­dul­de­te, ohne sie zu tei­len. Das mag ge­nü­gen. Sie sind der ein­zi­ge Mann, dem ich die­se letz­ten Wor­te je ge­sagt habe.‹ – Zu­erst blie­ben mir die Wor­te im Hal­se ste­cken, und ich hat­te Mühe, den Sturm zu meis­tern, der in mir auf­stieg; bald aber dräng­te ich mei­ne Er­re­gung auf den Grund mei­ner See­le zu­rück und zwang mich zu ei­nem Lä­cheln. – ›Wenn ich Ih­nen sage, daß ich Sie lie­be‹, ant­wor­te­te ich, ›ver­ban­nen Sie mich; wenn ich mich der Gleich­gül­tig­keit zei­he, stra­fen Sie mich. Die Pries­ter, die Rats­her­ren und die Frau­en wer­fen ihre Robe nie ganz ab. Das Schwei­gen ver­pflich­tet zu nichts; ge­stat­ten Sie also, Ma­da­me, daß ich schwei­ge. Um mir so schwes­ter­li­che Ratschlä­ge zu er­tei­len, müs­sen Sie be­fürch­tet ha­ben, mich zu ver­lie­ren, und die­ser Ge­dan­ke könn­te mei­nen Stolz be­frie­di­gen. Aber las­sen wir das Per­sön­li­che au­ßer acht. Sie sind viel­leicht die ein­zi­ge Frau, mit der ich als Phi­lo­soph eine den Ge­set­zen der Na­tur so wi­der­spre­chen­de Ent­schei­dung er­ör­tern kann. Im Ver­gleich zu an­de­ren Ver­tre­te­rin­nen Ihres Ge­schlechts sind Sie ein Phä­no­men. Nun denn, su­chen wir ein­mal ge­mein­sam un­vor­ein­ge­nom­men die Ur­sa­che die­ser psy­cho­lo­gi­schen Anoma­lie. Lebt in Ih­nen, wie in vie­len Frau­en, die auf sich stolz und in ihre Voll­kom­men­heit ver­liebt sind, ein Ge­fühl von raf­fi­nier­tem Ego­is­mus, das Ihren Ab­scheu er­regt bei dem Ge­dan­ken, ei­nem Man­ne an­zu­ge­hö­ren, sich Ihres Wil­lens zu ent­äu­ßern und ei­ner kon­ven­tio­nel­len Über­le­gen­heit, die Sie ver­letzt, un­ter­wor­fen zu wer­den? Mir wür­den Sie tau­send­mal schö­ner er­schei­nen! Oder wur­den Sie von ei­ner ers­ten Lie­be schnö­de ent­täuscht? Vi­el­leicht läßt Sie der Wert, den Sie der Ele­ganz Ih­rer Tail­le, Ih­rer ent­zücken­den Büs­te bei­le­gen, die Verun­stal­tun­gen der Mut­ter­schaft be­fürch­ten: wäre dies am Ende ei­ner Ih­rer stärks­ten ge­hei­men Grün­de, daß Sie es ab­leh­nen, zu sehr ge­liebt zu wer­den? Oder ha­ben Sie Un­voll­kom­men­hei­ten zu ver­ber­gen, die Sie ge­gen Ihren Wil­len tu­gend­haft ma­chen? Wer­den Sie nicht böse, ich er­ör­te­re nur das Pro­blem, ich stu­die­re, ich bin tau­send Mei­len von der Lei­den­schaft ent­fernt. Die Na­tur, die Blin­de zur Welt kom­men läßt, kann eben­so­gut Frau­en her­vor­brin­gen, die in der Lie­be stumm, taub und blind sind. Wahr­haf­tig, Sie sind ein kost­ba­res Ob­jekt für die me­di­zi­ni­sche For­schung! Sie wis­sen gar nicht, was Sie wert sind. Ihr Ekel vor den Män­nern mag im üb­ri­gen höchst be­rech­tigt sein; ich pflich­te Ih­nen bei, sie er­schei­nen mir alle sehr häß­lich und un­an­ge­nehm. Sie ha­ben recht«, schloß ich, da ich fühl­te, daß mir das Herz schwoll.

»Sie müs­sen uns ver­ach­ten. Es gibt kei­nen Mann, der Ih­rer wür­dig wäre!« Ich wer­de dir nicht alle sar­kas­ti­schen Re­den wie­der­ho­len, die ich ihr la­chend her­be­te­te. In­des­sen, das ät­zends­te Wort, die bei­ßends­te Iro­nie ent­lock­ten ihr we­der eine Be­we­gung noch eine Ge­bär­de des Un­wil­lens. Sie hör­te mir mit ih­rem ge­wohn­ten Lä­cheln auf den Lip­pen und in den Au­gen zu, die­sem Lä­cheln, das sie an­leg­te wie ein Klei­dungs­stück und das für ihre Freun­de, ihre flüch­ti­gen Be­kann­ten und Frem­de stets und stän­dig das glei­che war. – »Ist es nicht sehr gut­mü­tig von mir, mich von Ih­nen hier se­zie­ren zu las­sen?« sag­te sie, einen Au­gen­blick nut­zend, in dem ich sie schwei­gend an­sah. »Sie se­hen«, fuhr sie la­chend fort, »ich habe kei­ne dum­men Emp­find­lich­kei­ten in der Freund­schaft. Vie­le Frau­en wür­den Ihre Un­ver­schämt­heit stra­fen, in­dem sie Ih­nen die Tür wie­sen.« – »Sie kön­nen mich aus Ihrem Haus ver­ban­nen, ohne Re­chen­schaft für Ihre Stren­ge zu ge­ben.« Wäh­rend ich dies sag­te, fühl­te ich mich nahe dar­an, sie um­zu­brin­gen, wenn sie mir den Ab­schied ge­ben wür­de. – »Sie sind ver­rückt!« rief sie mit ei­nem Lä­cheln. – »Ha­ben Sie je­mals dar­an ge­dacht«, fing ich wie­der an, »wel­che Wir­kung eine hef­ti­ge Lie­be ha­ben könn­te? Oft hat ein Mann aus Verzweif­lung sei­ne Ge­lieb­te um­ge­bracht.« – »Bes­ser tot als un­glück­lich« er­wi­der­te sie kalt; »ein der­art lei­den­schaft­li­cher Mann wird ei­nes Ta­ges sei­ne Frau bet­tel­arm im Stich las­sen, nach­dem er ihr Ver­mö­gen durch­ge­bracht hat.« Die­se Arith­me­tik mach­te mich sprach­los. Ein Ab­grund tat sich zwi­schen mir und die­ser Frau auf. Wir wür­den uns nie­mals ver­ste­hen kön­nen. »Adieu« sag­te ich kühl. – »Adieu!« ant­wor­te­te sie mit ei­nem freund­schaft­li­chen Ni­cken. »Auf mor­gen!« Ich sah sie mit ei­nem Blick an, der ihr die gan­ze Lie­be, der ich ent­sag­te, vor sie hin schleu­der­te. Sie stand da und zeig­te mir ihr ba­na­les Lä­cheln, das ab­scheu­li­che Lä­cheln ei­ner Mar­mor­sta­tue, das Lie­be aus­zu­drücken scheint und emp­fin­dungs­los ist. Kannst du dir vor­stel­len, mein Lie­ber, wel­che Qua­len in mir wü­te­ten, als ich in Schnee und Re­gen über die eis­glat­ten Quais eine Mei­le Wegs nach Hau­se ging, nach­dem ich al­les ver­lo­ren hat­te? Oh! zu wis­sen, daß sie an mein Elend nicht ein­mal dach­te und mich reich wähn­te wie sich und in ei­nem weich ge­pols­ter­ten Wa­gen sit­zend! – Wie vie­le Trüm­mer, wie vie­le Ent­täu­schun­gen! Nicht um Geld han­del­te es sich mehr, son­dern um alle Gü­ter mei­ner See­le. Ich schritt aufs Ge­ra­te­wohl da­hin, in­dem ich die Re­den die­ser selt­sa­men Un­ter­hal­tung hin und her dreh­te und mich so sehr in mei­nen Aus­le­gun­gen ver­wi­ckel­te, daß ich schließ­lich an der wört­li­chen Be­deu­tung der Wor­te und Be­grif­fe zwei­fel­te. Und ich lieb­te noch im­mer, lieb­te die­se kal­te Frau, de­ren Herz in je­dem Au­gen­blick neu er­obert wer­den woll­te, die an je­dem Tage die Ver­spre­chun­gen des vo­ri­gen Ta­ges aus­lösch­te und sich am nächs­ten Tag wie eine neue Ge­lieb­te zeig­te. Als ich an den Por­ta­len des In­sti­tuts vor­bei­kam, be­fiel mich ein fie­bri­ges Schau­ern. Es fiel mir ein, daß ich noch nichts ge­ges­sen hat­te. Ich be­saß kei­nen Hel­ler. Um mein Un­glück voll­zu­ma­chen, brach­te der Re­gen mei­nen Hut aus der Fas­son. Wie soll­te ich je­mals ohne einen brauch­ba­ren Hut vor eine ele­gan­te Frau hin­tre­ten und mich in ei­nem Sa­lon prä­sen­tie­ren! Längst ver­fluch­te ich die dum­me al­ber­ne Mode, die uns ver­dammt, durch be­stän­di­ges In-der-Hand-Hal­ten des Hu­tes das Hut­fut­ter den Bli­cken preis­zu­ge­ben; doch war es mir bis­her durch äu­ßers­te Sorg­falt ge­lun­gen, den mei­nen in ei­nem er­träg­li­chen Zu­stand zu er­hal­ten. Ohne daß er auf­fal­lend neu oder ab­ge­nutzt alt, sehr sei­dig oder ganz ohne al­len Glanz ge­we­sen wäre, konn­te er für den Hut ei­nes sorg­fäl­tig ge­klei­de­ten Men­schen gel­ten; aber sei­ne künst­li­che Exis­tenz lang­te nun bei ih­rer letz­ten Pe­ri­ode an; er war ver­bo­gen, zer­beult, fer­tig, ein wah­rer Lum­pen, wür­di­ger Re­prä­sen­tant sei­nes Herrn. We­gen feh­len­der 30 Sous ging ich mei­ner müh­sa­men Ele­ganz ver­lus­tig. Oh! Wie vie­le Op­fer hat­te ich Fœ­do­ra seit drei Mo­na­ten ge­bracht, von de­nen sie nichts wuß­te! Oft gab ich das Geld für eine Wo­che Brot da­hin, um sie einen Au­gen­blick zu se­hen. Mei­ne Ar­beit lie­gen­las­sen und hun­gern, das war nichts! – aber durch die Stra­ßen von Pa­ris ei­len, ohne sich be­sprit­zen zu las­sen, ren­nen, um nicht in den Re­gen zu kom­men, in eben­so ta­del­lo­ser Klei­dung vor ihr zu er­schei­nen wie die Stut­zer, die sie um­ga­ben –, ja, die­se Auf­ga­be barg für einen ver­lieb­ten und zer­streu­ten Poe­ten un­zäh­li­ge Schwie­rig­kei­ten! Mein Glück, mei­ne Lie­be hing von ei­nem Sprit­zer­chen Stra­ßen­schmutz auf mei­ner ein­zi­gen wei­ßen Wes­te ab! Da­rauf ver­zich­ten zu müs­sen, sie zu se­hen, wenn ich schmut­zig oder naß wur­de! Nicht fünf Sous zu be­sit­zen, um von ei­nem Stie­fel­put­zer die Kotsprit­zer auf mei­nen Stie­feln ent­fer­nen zu las­sen! Und trotz al­ler die­ser klei­nen un­be­kann­ten Mar­tern, die für einen reiz­ba­ren Men­schen un­ge­heu­er wa­ren, war mei­ne Lei­den­schaft ge­wach­sen. Die Un­glück­li­chen müs­sen Op­fer brin­gen, über die sie mit den Frau­en, die in ei­ner Sphä­re des Lu­xus und der Ele­ganz le­ben, nicht spre­chen dür­fen; jene se­hen die Welt durch ein Pris­ma, das Men­schen und Din­ge ver­gol­det. Op­ti­mis­tisch aus Ego­is­mus, grau­sam aus gu­tem Ton, schen­ken sich die­se Frau­en das Nach­den­ken um des Ge­nie­ßens wil­len und spre­chen sich von ih­rer Gleich­gül­tig­keit ge­gen das Un­glück da­mit frei, daß sie vom Ver­gnü­gen zu sehr in An­spruch ge­nom­men sind. Für sie ist ein Hel­ler eine Mil­li­on, die Mil­li­on scheint ih­nen ein Hel­ler. Wenn die Lie­be ihre Sa­che mit großen Op­fern ver­fech­ten muß, so muß sie die­se auch zart­füh­lend mit ei­nem Schlei­er ver­hül­len, sie im Still­schwei­gen be­gra­ben. Den rei­chen Män­nern aber kom­men, wenn sie sich auf­op­fern und ihr Ver­mö­gen und ihr Le­ben ver­geu­den, die ge­sell­schaft­li­chen Vor­ur­tei­le zu­gu­te, die ihre ver­lieb­ten Tor­hei­ten im­mer mit ei­nem ge­wis­sen Glanz um­ge­ben; das Schwei­gen re­det für sie, und der Schlei­er ist eine Gunst, wäh­rend mei­ne schreck­li­che Not mich zu ent­setz­li­chen Lei­den ver­damm­te, ohne daß es mir ver­gönnt ge­we­sen wäre zu sa­gen: Ich lie­be! oder: Ich st­er­be! Und konn­te man das schließ­lich Auf­op­fe­rung nen­nen? War ich denn nicht reich­lich be­lohnt durch die Freu­de, al­les für sie hin­zu­ge­ben? Die Com­tes­se hat­te den all­täg­lichs­ten Er­eig­nis­sen mei­nes Le­bens au­ßer­or­dent­li­chen Wert, un­sag­ba­re Won­nen ver­lie­hen. Frü­her war ich in punk­to Klei­dung gleich­gül­tig, jetzt re­spek­tier­te ich mei­nen An­zug wie ein zwei­tes Ich. Zwi­schen ei­ner Wun­de und ei­nem Riß in mei­nem Frack hät­te ich kei­nen Au­gen­blick ge­schwankt. Ver­set­ze dich in mei­ne Lage, dann wirst du die wut­schäu­men­den Ge­dan­ken, die wach­sen­de Ra­se­rei be­grei­fen, die mich beim Ge­hen durch­tob­ten und viel­leicht mei­nen Schritt noch be­schleu­nig­ten. Ich emp­fand eine gleich­sam in­fer­na­li­sche Freu­de, mich nun auf dem Gip­fel des Un­glücks zu se­hen. Ich woll­te in die­ser letz­ten Kri­se ein Un­ter­pfand des Glücks er­bli­cken; aber das Un­heil ist an Schät­zen un­er­schöpf­lich. Die Haus­tür mei­nes Ho­tels war halb­of­fen. Durch die herz­för­mi­gen Aus­schnit­te des Fens­ter­la­dens fiel ein Licht­schein auf die Stra­ße. Pau­li­ne und ihre Mut­ter er­war­te­ten plau­dernd mein Nach­hau­se­kom­men. Ich hör­te mei­nen Na­men, ich lausch­te. »Ra­pha­el«, sag­te Pau­li­ne, »ist viel hüb­scher als der Stu­dent von Nr. 7! Sei­ne blon­den Haa­re ha­ben eine so schö­ne Far­be. Fin­dest du nicht, daß er et­was in der Stim­me hat, was ei­nem, ich weiß nicht wie, das Herz be­wegt? Auch ist er so gut, ob­wohl er ein biß­chen stolz aus­sieht, und hat so fei­ne Ma­nie­ren. Oh! er ist wirk­lich sehr nett! Ich bin über­zeugt, daß alle Frau­en in ihn ver­narrt sind.« – »Du sprichst von ihm, als ob du ihn lieb­test«, be­merk­te Ma­da­me Gau­din.

»Oh! ich lie­be ihn wie einen Bru­der«, er­wi­der­te sie fröh­lich. »Es wäre schön un­dank­bar von mir, wenn ich kei­ne Freund­schaft für ihn emp­fän­de. Hat er mir nicht die Mu­sik bei­ge­bracht, das Zeich­nen, die Gram­ma­tik, kurz al­les, was ich weiß? Du ach­test nicht sehr auf mei­ne Fort­schrit­te, lie­be Mut­ter; aber ich wer­de so ge­scheit, daß ich in ei­ni­ger Zeit selbst wer­de Un­ter­richt er­tei­len kön­nen, und dann kön­nen wir uns einen Dienst­bo­ten hal­ten.« Ich zog mich lei­se zu­rück, und nach­dem ich mich laut be­merk­bar ge­macht hat­te, be­trat ich den Vor­saal, um dort mei­ne Lam­pe zu ho­len, die Pau­li­ne an­zün­den woll­te. Die lie­be Klei­ne hat­te so­eben köst­li­chen Bal­sam in mei­ne Wun­de ge­träu­felt. Die­ses kind­li­che Lob mei­ner Per­son gab mir wie­der et­was Mut. Es tat mir not, an mich zu glau­ben und ein un­par­tei­isches Ur­teil über den wah­ren Wert mei­ner Vor­zü­ge zu hö­ren. Mei­ne also wie­der­be­leb­ten Hoff­nun­gen strahl­ten viel­leicht auf die Din­ge zu­rück, die ich sah. Vi­el­leicht hat­te ich die­se Sze­ne, die mir die bei­den Frau­en in die­sem Raum mei­nen Bli­cken schon oft ge­bo­ten hat­ten, noch nie so auf­merk­sam be­trach­tet; doch an je­nem Abend be­wun­der­te ich das köst­lichs­te Bild schlich­ter Na­tür­lich­keit, wie es flä­mi­sche Ma­ler so ur­sprüng­lich dar­ge­stellt ha­ben, in sei­ner Wirk­lich­keit. Die Mut­ter, am hal­b­er­lo­sche­nen Feu­er des Ka­mins sit­zend, strick­te St­rümp­fe und hat­te ein gü­ti­ges Lä­cheln auf den Lip­pen. Pau­li­ne be­mal­te Licht­schir­me; ihre Far­ben und ihre Pin­sel, die auf ei­nem klei­nen Tisch­chen aus­ge­brei­tet wa­ren, zo­gen das Auge durch ein ma­le­ri­sches Far­ben­spiel an. Sie war auf­ge­stan­den, um mei­ne Lam­pe an­zu­zün­den, und das Licht fiel nun voll auf ihr wei­ßes Ge­sicht; man muß­te schon der Skla­ve ei­ner schreck­li­chen Lei­den­schaft sein, um von ih­ren durch­schei­nend ro­si­gen Hän­den, ih­rem vollen­det schö­nen Kopf und ih­rer jung­fräu­li­chen Hal­tung nicht be­zau­bert zu wer­den. Die Nacht und die Stil­le er­höh­ten den Reiz die­ses ar­beit­sa­men Bei­sam­men­seins, die­ses fried­li­chen In­te­rieurs. Die­ses un­aus­ge­setz­te Sichab­mü­hen, das hei­te­ren Sinns er­tra­gen wur­de, zeug­te von ei­ner from­men Er­ge­bung voll er­ha­be­nen Ge­fühls. Zwi­schen den Din­gen und Per­so­nen wal­te­te eine un­säg­li­che Har­mo­nie. Bei Fœ­do­ra herrsch­te nüch­ter­ner Prunk, der schlim­me Ge­dan­ken in mir er­weck­te, wäh­rend die­ses de­mut­vol­le Elend und die­se un­ver­fälsch­te Na­tur mir die See­le er­quick­ten. Vi­el­leicht fühl­te ich mich an­ge­sichts je­nes Lu­xus ge­de­mü­tigt; ne­ben die­sen bei­den Frau­en, in die­sem dunklen Raum, wo das ein­fa­che Le­ben sich in die Emp­fin­dun­gen des Her­zens zu­rück­zu­zie­hen schi­en, söhn­te ich mich mit mir sel­ber aus, viel­leicht weil ich hier den Schutz aus­üben konn­te, den ein Mann so ei­fer­süch­tig zu ge­wäh­ren trach­tet. Als ich ne­ben Pau­li­ne stand, warf sie mir einen bei­na­he müt­ter­li­chen Blick zu und rief, wäh­rend sie mit zit­tern­den Hän­den die Lam­pe nie­der­setz­te: »Mein Gott, wie blaß Sie sind! Oh! er ist ganz durch­näßt. Mei­ne Mut­ter wird Sie ab­trock­nen … Mon­sieur Ra­pha­el«, fuhr sie nach ei­ner klei­nen Pau­se fort, »Sie trin­ken doch so ger­ne Milch; wir hat­ten Sah­ne heu­te abend, wol­len Sie nicht da­von kos­ten?« Sie sprang wie ein Kätz­chen nach ei­nem Por­zellan­napf mit Milch und reich­te ihn mir mit ei­ner so leb­haf­ten Be­we­gung, hielt ihn mir so drol­lig un­ter die Nase, daß ich zö­ger­te. – »Wol­len Sie mir einen Korb ge­ben?« frag­te sie mit zit­tern­der Stim­me. Je­der ver­stand den Stolz des an­de­ren. Pau­li­ne schi­en ihre Ar­mut schmerz­lich zu emp­fin­den und mir mei­nen Hoch­mut vor­zu­wer­fen. Es rühr­te mich. Die­se Milch war viel­leicht ihr Früh­stück für den nächs­ten Mor­gen, ich nahm sie trotz­dem. Das arme Mäd­chen woll­te sei­ne Freu­de ver­ber­gen, aber sie strahl­te ihr aus den Au­gen. – »Es hat mir not ge­tan«, sag­te ich, in­dem ich mich setz­te. (Ein sor­gen­vol­ler Aus­druck glitt über ihre Stirn.) – »Ent­sin­nen Sie sich der Stel­le, Pau­li­ne, wo Bos­su­et sagt, daß Gott ein Glas Was­ser reich­li­cher loh­nen wird als einen Sieg?« – »Ja«, ant­wor­te­te sie. Und ihr Herz schlug wie das ei­ner jun­gen Gras­mücke in den Hän­den ei­nes Kin­des. – »Nun, da wir uns bald tren­nen wer­den«, sag­te ich mit un­si­che­rer Stim­me, »las­sen Sie mich Ih­nen mei­ne Dank­bar­keit be­zei­gen für all die Sorg­falt, die Sie und Ihre Mut­ter mir zu­ge­wen­det ha­ben.‹

›Oh, rech­nen wir nicht!‹ sag­te sie la­chend. – Ihr La­chen ver­barg eine Er­re­gung, die mir weh tat. – ›Mein Kla­vier‹, sag­te ich, ohne ihre Wor­te zu be­ach­ten, ›ist eins der bes­ten In­stru­men­te von Érard,33 neh­men Sie es. Neh­men Sie es un­be­denk­lich, ich kann es wirk­lich nicht auf die Rei­se mit­schlep­pen, die ich vor­ha­be.‹ Der me­lan­cho­li­sche Aus­druck, mit dem ich die­se Wor­te sag­te, ließ die bei­den Frau­en wohl be­grei­fen, denn sie schie­nen mich ver­stan­den zu ha­ben und blick­ten mich mit ent­setz­tem Er­stau­nen an. Die Lie­be, die ich in den kal­ten Re­gio­nen der großen Welt such­te, war also hier, echt, prunk­los, aber wei­he­voll und viel­leicht dau­er­haft. – ›Sie müs­sen sich nicht sol­che Sor­gen ma­chen!‹ sag­te die Mut­ter. ›Blei­ben Sie hier! Mein Mann ist zu die­ser Stun­de un­ter­wegs. Heu­te abend habe ich das Evan­ge­li­um des hei­li­gen Jo­han­nes ge­le­sen, wäh­rend Pau­li­ne un­se­ren mit der Bi­bel ver­bun­de­nen Haus­schlüs­sel zwi­schen ih­ren Fin­gern hän­gen ließ, und der Schlüs­sel hat sich ge­dreht. Die­ses Zei­chen be­deu­tet, daß Gau­din wohl­auf und vom Glück be­güns­tigt ist. Pau­li­ne hat das­sel­be für Sie und den jun­gen Mann von Nr. 7 pro­biert: doch der Schlüs­sel hat sich nur für Sie ge­dreht. Wir wer­den alle reich. Gau­din kommt als Mil­lio­när zu­rück: ich habe ihn im Traum auf ei­nem Schiff vol­ler Schlan­gen ge­se­hen, glück­li­cher­wei­se war das Was­ser trü­be, was Gold und Edel­stei­ne von jen­seits des Mee­res be­deu­tet.‹ Die­se freund­schaft­li­chen und doch lee­ren Wor­te, die dem lei­sen Ge­summ ei­ner Mut­ter äh­nel­ten, die die Schmer­zen ih­res Kin­des ein­lul­len will, ga­ben mir wie­der eine ge­wis­se Ruhe. Der Ton und der Blick der gu­ten Frau ström­ten eine sanf­te Herz­lich­keit aus, die den Kum­mer zwar nicht aus­löscht, ihn aber be­sänf­tigt, in den Schlaf wiegt und sei­nen Sta­chel nimmt. Pau­li­ne, scharf­sich­ti­ger als ihre Mut­ter, sah mich un­ru­hig for­schend an, ihre klu­gen Au­gen schie­nen mein Le­ben und mei­ne Zu­kunft zu er­ra­ten. Ich dank­te Mut­ter und Toch­ter mit ei­nem Nei­gen des Kop­fes; dann ging ich ei­lig hin­aus, da ich fürch­te­te, von Rüh­rung er­faßt zu wer­den. Als ich un­ter mei­nem Dach mit mir al­lein war, leg­te ich mich mit all den Emp­fin­dun­gen mei­nes Un­glücks zu Bett. Mei­ne un­glück­se­li­ge Phan­ta­sie ent­warf tau­send Plä­ne, die ohne Hand und Fuß, dik­tier­te mir Ent­schlüs­se, die un­mög­lich aus­zu­füh­ren wa­ren. Wenn ein Mann sich un­ter den Trüm­mern sei­nes Glücks da­hin­schleppt, stößt er viel­leicht noch auf ir­gend­ei­ne Hilfs­quel­le; ich be­fand mich im Nichts. Ach, mein Lie­ber, all­zu rasch kla­gen wir das Elend an. Üben wir Nach­sicht ge­gen die Ver­hee­run­gen die­ses wirk­sams­ten so­zia­len Zer­set­zungs­mit­tels! Wo Elend herrscht, ist we­der Scham noch Ver­bre­chen, we­der Tu­gend noch Geist. Ich hat­te kei­ne Ein­fäl­le mehr, kei­ne Kraft, wie ein jun­ges Mäd­chen, das vor ei­nem Ti­ger auf die Knie ge­sun­ken ist. Ein Mensch ohne Lei­den­schaft und ohne Geld bleibt Herr sei­ner selbst; aber ein Un­glück­li­cher, wel­cher liebt, ge­hört sich nicht mehr und kann sich nicht ein­mal tö­ten. Die Lie­be ver­leiht uns eine Art Ver­eh­rung un­se­res ei­ge­nen Ich, wir ach­ten in uns ein an­de­res Le­ben; sie wird dann zum schreck­lichs­ten Un­glück, zu ei­nem Un­glück, das Hoff­nung in sich trägt, eine Hoff­nung, die uns Fol­ter­qua­len wil­lig er­tra­gen läßt. Ich schlief mit der Ab­sicht ein, am nächs­ten Tage Ras­ti­gnac den ei­gen­tüm­li­chen Ent­schluß von Fœ­do­ra an­zu­ver­trau­en. »Aha!« sag­te Ras­ti­gnac, als er mich um neun Uhr mor­gens bei sich ein­tre­ten sah, »ich weiß, was dich her­führt, ge­wiß hat dir Fœ­do­ra den Ab­schied ge­ge­ben. Ein paar gute Seel­chen, die auf dei­ne Macht­stel­lung bei der Com­tes­se nei­disch wa­ren, ha­ben eure Hei­rat an­ge­kün­digt. Gott weiß, wel­che Tor­hei­ten dir dei­ne Ne­ben­buh­ler an­ge­dich­tet ha­ben und wel­che Ver­leum­dun­gen über dich im Schwan­ge wa­ren.« – »Nun wird mir al­les klar!« rief ich aus. Ich rief mir alle mei­ne Un­ver­schämt­hei­ten ins Ge­dächt­nis zu­rück und fand die Com­tes­se er­ha­ben. Nach mei­ner Mei­nung war ich ein Schuft, der noch nicht ge­nug ge­lit­ten hat­te, und ich er­blick­te in ih­rer Nach­sicht jetzt nur noch die barm­her­zi­ge Ge­duld der Lie­be.

»Nur nicht so rasch!« sag­te der klu­ge Gas­co­gner. »Fœ­do­ra be­sitzt den na­tür­li­chen Scharf­blick der zu­tiefst egois­ti­schen Frau­en; sie hat ihr Ur­teil über dich ver­mut­lich schon zu dem Zeit­punkt ge­fällt, als du nur ihr Ver­mö­gen und ih­ren Lu­xus in ihr sahst; trotz dei­nes ge­schick­ten Auf­tre­tens wird sie dich durch­schaut ha­ben. Sie ver­stellt sich selbst so sehr, daß die Ver­stel­lungs­küns­te ei­nes an­de­ren kei­ne Gna­de mehr vor ihr fin­den. Ich fürch­te«, sag­te er, »daß ich dich auf einen schlech­ten Weg ge­bracht habe. Trotz der Fein­heit ih­res Geis­tes und ih­rer Ma­nie­ren scheint mir die­ses We­sen sehr her­risch, wie alle Frau­en, de­ren Ver­gnü­gen nur durch den Kopf geht. Das Glück liegt für sie ein­zig im Wohl­stand, in ge­sell­schaft­li­chen Ver­gnü­gun­gen, bei ihr ist das Ge­fühl eine Rol­le, die sie spielt; sie wür­de dich un­glück­lich ma­chen, und du wärst nur ihr ers­ter La­kai.« Ras­ti­gnac pre­dig­te tau­ben Ohren. Ich un­ter­brach ihn und schil­der­te ihm mit vor­ge­täusch­ter Leicht­fer­tig­keit mei­ne fi­nan­zi­el­le Lage. »Ges­tern abend«, sag­te er, »hat eine Pech­sträh­ne mei­ne gan­ze Bar­schaft da­hin­ge­rafft. Ohne die­ses ge­mei­ne Miß­ge­schick hät­te ich gern mei­ne Bör­se mit dir ge­teilt. Aber laß uns früh­stücken ge­hen, viel­leicht ge­ben uns die Aus­tern einen gu­ten Rat.« Er klei­de­te sich an und ließ sein Til­bu­ry an­span­nen. Wie zwei Mil­lio­näre lang­ten wir im Café de Pa­ris an, mit der Dreis­tig­keit je­ner küh­nen Spe­ku­lan­ten, die von ima­gi­nären Ka­pi­ta­li­en le­ben. Der ver­teu­fel­te Gas­co­gner ver­blüff­te mich durch die Un­ge­zwun­gen­heit sei­ner Ma­nie­ren und sein un­er­schüt­ter­lich si­che­res Auf­tre­ten. In dem Au­gen­blick, da wir nach ei­ner höchst de­li­ka­ten und treff­lich zu­sam­men­ge­stell­ten Mahl­zeit den Kaf­fee ein­nah­men, sag­te Ras­ti­gnac, der mitt­ler­wei­le eine gan­ze An­zahl jun­ger Leu­te mit ei­nem Kopf­ni­cken be­grüßt hat­te, die durch ihr Be­neh­men und die Ele­ganz ih­rer Klei­dung be­sta­chen, als er einen die­ser Dan­dys ein­tre­ten sah: »Das ist dein Mann!« Und er gab ei­nem fei­nen, mit ei­ner präch­ti­gen Kra­wat­te aus­staf­fier­ten Herrn, der einen pas­sen­den Tisch zu su­chen schi­en, ein Zei­chen, daß er ihn spre­chen wol­le. »Die­ser Bur­sche«, flüs­ter­te Ras­ti­gnac mir ins Ohr, »hat Or­den da­für be­kom­men, daß er Wer­ke ver­öf­fent­licht, die er nicht ver­steht. Er ist Che­mi­ker, His­to­ri­ker, Ro­man­schrift­stel­ler, Pub­li­zist. Er ist zu Vier­teln, zu Drit­teln, zur Hälf­te an den Be­zü­gen aus so­und­so­vie­len Thea­ter­stücken be­tei­ligt und den­noch so dumm wie der Maulesel von Don Mi­guel. Das ist kein Mensch, es ist ein Name, ein dem Pub­li­kum ver­trau­tes Eti­kett. Er wür­de sich wohl hü­ten, in eins je­ner Ka­bi­net­te ein­zu­tre­ten, wo drü­ber­steht: »Hier kann man selbst schrei­ben.« Er ist ge­witzt ge­nug, einen gan­zen Kon­greß hin­ters Licht zu füh­ren. Mit ei­nem Wort, er ist ein Misch­ling der Moral, we­der ganz ehr­lich noch ganz Spitz­bu­be. Aber still dar­über! Er hat sich schon ge­schla­gen, mehr ver­langt die Welt nicht und heißt ihn: Ehren­mann!« – »Nun, mein vor­treff­li­cher Freund, mein ver­ehr­ter Freund, wie be­fin­den sich Eure In­tel­li­genz?« be­grüß­te Ras­ti­gnac den Un­be­kann­ten, als er sich an einen Nach­bar­tisch setz­te. »We­der gut noch schlecht. Ich bin mit Ar­beit über­häuft. Ich habe das ge­sam­te not­wen­di­ge Ma­te­ri­al für sehr in­ter­essan­te his­to­ri­sche Me­moi­ren in den Hän­den, aber ich weiß nicht, wen ich da­mit be­trau­en soll. Das macht mir Sor­ge, Eile tut not, denn Me­moi­ren kom­men aus der Mode.« – »Sind es zeit­ge­nös­si­sche, aus frü­he­rer Zeit, über den Hof, oder wor­über?« – »Über die Hals­ban­daf­fä­re.«34

»Ist es nicht ein Wun­der!« sag­te Ras­ti­gnac la­chend zu mir. Sich wie­der an den Spe­ku­lan­ten wen­dend, fuhr er dann fort und deu­te­te auf mich: »Mon­sieur de Va­len­tin ist ein Freund von mir, den ich Ih­nen als eine un­se­rer zu­künf­ti­gen li­te­ra­ri­schen Berühmt­hei­ten vor­stel­len darf. Er hat­te frü­her eine Tan­te, die bei Hofe sehr an­ge­se­hen war, eine Mar­qui­se, und seit zwei Jah­ren ar­bei­tet er an ei­ner roya­lis­ti­schen Ge­schich­te der Re­vo­lu­ti­on.« In­dem er sich dem Ohr die­ses son­der­ba­ren Han­dels­man­nes nä­her­te, sag­te er noch: »Er hat Ta­lent, aber er ist ein Ha­be­nichts, der Ih­nen im Na­men sei­ner Tan­te Ihre Me­moi­ren ver­fas­sen kann, für 100 Ta­ler pro Band.« – »Ich bin mit dem Han­del ein­ver­stan­den« ant­wor­te­te der an­de­re und schob sei­ne Kra­wat­te in die Höhe. »Kell­ner, mei­ne Aus­tern, rasch!« – »Aber Sie müß­ten mir 25 Louis­dors Pro­vi­si­on ge­ben und ihm einen Band im vor­aus be­zah­len«, sag­te Ras­ti­gnac. – »Nein, nein. Ich schie­ße nur 50 Ta­ler vor, um si­cher zu sein, daß ich bald mein Ma­nu­skript be­kom­me.« Ras­ti­gnac wie­der­hol­te mir die­se ge­schäft­li­chen Be­din­gun­gen mit lei­ser Stim­me. Hier­auf ant­wor­te­te er ihm, ohne mich erst zu fra­gen: »Wir sind ein­ver­stan­den. Wann dür­fen wir zu Ih­nen kom­men, um das Ge­schäft ab­zu­schlie­ßen?« – »Nun, kom­men Sie mor­gen abend um sie­ben Uhr hier­her zum Di­ner.« Wir er­ho­ben uns. Ras­ti­gnac warf dem Kell­ner ein Trink­geld zu, schob die Rech­nung in sei­ne Ta­sche, und wir gin­gen fort. Ich war höchst er­staunt über die Leicht­fer­tig­keit und Un­be­küm­mert­heit, mit der er mei­ne hoch­acht­ba­re Tan­te, die Mar­qui­se de Mont­bau­ron, ver­kauft hat­te. – »Ich will mich lie­ber nach Bra­si­li­en ein­schif­fen und dort den In­dia­nern Al­ge­bra bei­brin­gen, wo­von ich kei­nen Deut ver­ste­he, als den Na­men mei­ner Fa­mi­lie in den Schmutz zu zie­hen!« Ras­ti­gnac ant­wor­te­te mir mit lau­tem Ge­läch­ter. – »Bist du ein Esel! Nimm erst mal die 50 Ta­ler und ver­fas­se die Me­moi­ren. Wenn sie fer­tig sind, wei­gerst du dich, den Na­men dei­ner Tan­te dar­un­ter­zu­set­zen, Dumm­kopf! Die Reifrö­cke, das hohe An­se­hen, die Schön­heit, die Schmin­ke, die Pan­töf­fel­chen der Ma­da­me de Mont­bau­ron, die noch dazu auf dem Scha­fott ge­stor­ben ist, sind viel mehr wert als 600 Fran­cs. Wird der Buch­händ­ler dann nicht für dei­ne Tan­te zah­len, was sie wert ist, wird er schon noch einen al­ten Be­trü­ger oder ir­gend­ei­ne ob­sku­re Com­tes­se fin­den, die ihm sei­ne Me­moi­ren zeich­ne­te – »Oh!« rief ich aus, warum habe ich mei­ne tu­gend­haf­te Man­sar­de ver­las­sen? Wie sind die Kehr­sei­ten der Welt doch ab­scheu­lich ge­mein!« – »Gut, das war Poe­sie, hier dreht’s sich aber um Ge­schäf­te«, sag­te Ras­ti­gnac. »Du bist ein Kind. Höre: Was die Me­moi­ren an­geht, so wird das Pub­li­kum dar­über ur­tei­len; was mei­nen li­te­ra­ri­schen Kupp­ler be­trifft, so hat er acht Jah­re sei­nes Le­bens hin­ge­ge­ben und sei­ne Be­zie­hun­gen zum Buch­han­del mit grau­sa­men Er­fah­run­gen be­zahlt. Die Ar­beit an dem Buch ist zwar un­gleich ge­teilt, aber ist dein An­teil am Ge­winn nicht doch der schö­ne­re? 25 Louis­dors sind für dich eine weit grö­ße­re Sum­me als 1000 Fran­cs für ihn. Du kannst doch wohl his­to­ri­sche Me­moi­ren, selbst wenn’s ein Kunst­werk wür­de, schrei­ben, wenn Di­de­rot sechs Pre­dig­ten für 100 Ta­ler ver­faßt hat.« – »Sei’s drum«, er­wi­der­te ich be­wegt, »es ist für mich eine Not­wen­dig­keit. Da­rum bin ich dir Dank schul­dig, lie­ber Freund. 25 Louis wer­den mich sehr reich ma­chen …«

»Und rei­cher als du glaubst«, ver­setz­te er la­chend. »Er­rätst du nicht, daß, falls mir Fi­not eine Pro­vi­si­on bei die­sem Ge­schäft gibt, die­se für dich be­stimmt ist? Ge­hen wir in den Bois de Bou­lo­gne«, sag­te er, »wir wer­den dort dei­ne Com­tes­se se­hen, und ich will dir die hüb­sche klei­ne Wit­we zei­gen, die ich hei­ra­ten soll, eine rei­zen­de Per­son, El­säs­se­rin, frei­lich ein biß­chen fett. Sie liest Kant, Schil­ler, Jean Paul und noch eine Men­ge »was­ser­för­dern­der« Bü­cher. Sie hat die Ma­nie, mich im­mer nach mei­ner Mei­nung zu fra­gen; dann muß ich eine Mie­ne schnei­den, als ver­stün­de ich die­se gan­ze deut­sche Emp­fin­de­lei und kenn­te einen Hau­fen Bal­la­den: lau­ter Dro­gen, die mir vom Arzt ver­bo­ten sind. Ich habe ihr ih­ren li­te­ra­ri­schen En­thu­si­as­mus noch nicht ab­ge­wöh­nen kön­nen, sie heult zum Steiner­wei­chen, wenn sie Goe­the liest, und ich muß aus Ge­fäl­lig­keit ein biß­chen mit wei­nen, denn es ste­hen 50 000 Li­vres Ren­te in Fra­ge, mein Lie­ber, und der nied­lichs­te Fuß, das rei­zends­te Händ­chen der Welt. Ach! wenn sie nicht ›mon an­che‹ sag­te statt ›mon an­ge‹ und ›prou­lier‹ statt ›brouil­ler‹, wäre sie eine voll­kom­me­ne Frau.« Wir sa­hen die Com­tes­se, glän­zend in glän­zen­der Equi­pa­ge. Die Ko­ket­te grüß­te uns sehr herz­lich und warf mir ein Lä­cheln zu, das mir da­mals himm­lisch und vol­ler Lie­be vor­kam. Ach! ich war sehr glück­lich, ich glaub­te mich ge­liebt, hat­te Geld und Schät­ze an Lei­den­schaft. Das Elend war vor­bei. Leich­ten Her­zens, hei­ter, mit al­lem zu­frie­den, fand ich auch die Ge­lieb­te mei­nes Freun­des be­zau­bernd. Die Bäu­me, die Luft, der Him­mel, die gan­ze Na­tur schie­nen mir das Lä­cheln Fœ­do­ras wi­der­zu­spie­geln. Auf dem Rück­we­ge von den Champs-Elysées gin­gen wir zu dem Hut­ma­cher und dem Schnei­der Ras­ti­gnacs. Die Hals­band­ge­schich­te er­laub­te mir, von mei­nem kläg­li­chen Frie­dens­pfad auf einen stol­zen Kriegs­pfad über­zu­wech­seln. In Zu­kunft konn­te ich mich furcht­los mit der Gra­zie und Ele­ganz der jun­gen Män­ner, die Fœ­do­ra um­schwärm­ten, mes­sen. Ich ging nach Hau­se, ich schloß mich ein und saß an­schei­nend ru­hig vor mei­ner Dach­lu­ke; in Wahr­heit aber sag­te ich mei­nen Dä­chern auf ewig Le­be­wohl, leb­te be­reits in der Zu­kunft, mal­te mir mein Le­ben aus, ge­noß im vor­aus die Lie­be und de­ren Freu­den. Oh, wie stür­misch kann das Le­ben zwi­schen den vier Wän­den ei­ner Man­sar­de wer­den! Die mensch­li­che See­le ist eine Fee, sie ver­wan­delt Stroh in Dia­man­ten; un­ter ih­rem Zau­ber­sta­be er­ste­hen die Mär­chen­sch­lös­ser wie die Blu­men des Fel­des un­ter dem war­men Hauch der Son­ne. Am nächs­ten Tage um die Mit­tags­stun­de klopf­te Pau­li­ne lei­se an mei­ne Tür und brach­te mir – rate was? – einen Brief von Fœ­do­ra. Die Com­tes­se bat mich, sie im Lu­xem­bourg ab­zu­ho­len und sie ins Mu­se­um und den Jar­din des Plan­tes35 zu be­glei­ten. »Der Bote war­tet auf Ant­wort«, sag­te sie nach ei­nem Mo­ment des Schwei­gens. Ich krit­zel­te ei­ligst einen Dank­brief, den Pau­li­ne mit­nahm. Ich klei­de­te mich an. Im Au­gen­blick, da ich recht zu­frie­den mit mir mei­ne Toi­let­te be­en­de­te, über­lief es mich eis­kalt bei dem Ge­dan­ken: Ist Fœ­do­ra zu Fuß oder im Wa­gen ge­kom­men? Wird es reg­nen, wird es schön sein? Aber gleich­viel, sag­te ich mir, ob zu Fuß oder im Wa­gen, ist man je­mals vor den phan­tas­ti­schen Lau­nen ei­ner Frau si­cher? Sie wird kein Geld bei sich ha­ben und ei­nem klei­nen Sa­voyar­den 100 Sous ge­ben wol­len, weil er in sei­nen Lum­pen so hübsch aus­sieht. Ich be­saß kei­nen ro­ten Hel­ler und soll­te erst am Abend Geld be­kom­men. Oh, wie teu­er zahlt ein Dich­ter in je­nen ent­schei­de­nen Au­gen­bli­cken der Ju­gend sei­ne geis­ti­ge Über­le­gen­heit, die er der Ar­beit und sei­ner stren­gen Le­bens­wei­se ver­dankt! Im Nu schos­sen mir tau­send schmerz­haf­te Ge­dan­ken wie spit­ze Pfei­le durch den Kopf. Ich blick­te durch mein Dach­fens­ter zum Him­mel. Das Wet­ter war sehr un­si­cher. Wenn es not täte, könn­te ich al­len­falls einen Wa­gen für den Tag mie­ten; aber wür­de ich nicht in mei­nem Glück je­den Au­gen­blick zit­tern, Fi­not am Abend nicht an­zu­tref­fen? Ich fühl­te mich nicht stark ge­nug, so vie­le Ängs­te in­mit­ten mei­ner Freu­den aus­zu­hal­ten. Ob­wohl ich ge­wiß war, nichts zu fin­den, un­ter­nahm ich eine aus­ge­dehn­te Such­ak­ti­on in mei­nem Zim­mer, bis in die Tie­fen mei­nes Strohsacks hin­ab forsch­te ich nach nicht vor­han­de­nen Ta­lern, ich kehr­te das Un­ters­te zu­oberst, schüt­tel­te so­gar die al­ten Stie­fel aus. In fie­ber­haf­ter Auf­re­gung starr­te ich auf mei­ne Mö­bel, die ich al­le­samt durch­stö­bert hat­te. Den­ke dir, wie ich au­ßer mir ge­riet, als ich zum sie­ben­ten Male mei­ne Schreib­tisch­schub­la­de mit der Be­harr­lich­keit, die uns die Verzweif­lung ein­gibt, un­ter­su­che und, ge­gen ein Sei­ten­brett ge­lehnt, tückisch ver­kro­chen, aber blank, glän­zend, hell wie ein auf­ge­hen­der Stern ein schö­nes ed­les 100-Sous-Stück ent­deck­te! Ohne von ihm Re­chen­schaft zu for­dern ob sei­nes Schwei­gens, noch ob der Grau­sam­keit, der es sich sei­nes Katz-und-Maus-Spiels we­gen schul­dig ge­macht hat­te, küß­te ich es wie einen Freund in der Not und be­grüß­te es mit ei­nem lau­ten Ruf, der ein Echo fand. Ich dreh­te mich um und ge­wahr­te Pau­li­ne, die ganz blaß war. »Ich habe ge­glaubt«, sag­te sie mit be­weg­ter Stim­me, »daß Sie sich weh ge­tan ha­ben. Der Bote …« (sie hielt inne, als müs­se sie nach Luft rin­gen), »mei­ne Mut­ter hat ihn be­zahlt«, sag­te sie noch. Dann eil­te sie hin­aus, ein kind­lich lau­ni­scher Flat­ter­geist. Arme Klei­ne! Ich wünsch­te ihr mein Glück. Im Au­gen­blick schi­en es mir, als trü­ge ich alle Se­lig­keit der Erde in mei­nem Her­zen, und ich hät­te den Un­glück­li­chen den Teil zu­rück­er­stat­ten mö­gen, den ich ih­nen zu steh­len glaub­te. Fast im­mer trifft ein Un­glück, das wir vor­au­sah­nen, ein; die Com­tes­se hat­te ih­ren Wa­gen weg­ge­schickt. Aus ei­ner je­ner Lau­nen, die schö­nen Frau­en meist selbst un­er­klär­lich sind, woll­te sie zu Fuß über die Bou­le­vards zum Jar­din des Plan­tes ge­hen. – ›A­ber es wird reg­nen‹, wand­te ich ein. Es ge­fiel ihr, mir zu wi­der­spre­chen. Zu­fäl­lig blieb es schön, so­lan­ge wir im Lu­xem­bourg spa­zie­ren­gin­gen. Als wir den Park ver­lie­ßen, fie­len aus ei­ner di­cken Wol­ke, de­ren Her­auf­zie­hen mich schon be­un­ru­higt hat­te, ei­ni­ge Re­gen­trop­fen, und wir nah­men einen Wa­gen. Doch hör­te der Re­gen auf, als wir auf den Bou­le­vards an­ge­langt wa­ren; der Him­mel hei­ter­te sich auf. Vor dem Mu­se­um woll­te ich den Wa­gen weg­schi­cken; Fœ­do­ra bat mich je­doch, ihn zu be­hal­ten. Wel­che Qua­len! Aber mit ihr zu plau­dern, wäh­rend ich einen ge­hei­men Aber­witz un­ter­drück­te, der sich auf mei­nem Ge­sicht wahr­schein­lich in ei­nem star­ren, al­ber­nen Lä­cheln spie­gel­te; durch den Jar­din des Plan­tes zu schwei­fen, die schat­ti­gen Al­leen zu durch­wan­dern und ih­ren Arm auf dem mei­nen zu füh­len, in all dem lag et­was un­ge­mein Phan­tas­ti­sches; es war ein Traum am hel­len Tage. Doch hat­ten ihre Be­we­gun­gen, ob wir nun gin­gen oder ste­hen­blie­ben, trotz ih­rer schein­ba­ren Sinn­lich­keit, nichts Hin­ge­ben­des und Sanf­tes. Wenn ich ver­such­te, mich ih­rem in­ne­ren Rhyth­mus ge­wis­ser­ma­ßen an­zu­glei­chen, stieß ich in ihr auf eine ver­bor­ge­ne Hef­tig­keit, et­was ei­gen­tüm­lich Ruck­haf­tes, Ex­zen­tri­sches. Frau­en ohne Herz ha­ben nichts Wei­ches, An­schmieg­sa­mes in ih­ren Be­we­gun­gen. Auch wa­ren wir we­der durch einen glei­chen Wil­len noch durch einen glei­chen Schritt ver­eint. Es gibt kei­ne Wor­te, um die­se kör­per­li­che Dis­har­mo­nie zwei­er We­sen wie­der­zu­ge­ben, denn wir sind noch nicht dar­an ge­wöhnt, aus der Be­we­gung einen Ge­dan­ken ab­zu­le­sen. Die­ses Phä­no­men un­se­rer Na­tur ist nur in­stink­tiv zu füh­len, es läßt sich nicht in Wor­te fas­sen.

*

In sol­chen Hoch­ge­füh­len mei­ner Lei­den­schaft«, fuhr Ra­pha­el nach ei­ni­gem Schwei­gen fort, als ob er auf einen Ein­wand, den er sich selbst ge­macht hat­te, ant­wor­te­te, »habe ich mei­ne Emp­fin­dun­gen nicht se­ziert noch mei­ne Lust­ge­füh­le ana­ly­siert, noch mei­ne Herz­schlä­ge be­rech­net, wie ein Geiz­hals sei­ne Gold­stücke prüft und wägt. O nein! Heu­te wirft die Er­fah­rung ihr trü­bes Licht auf die ver­gan­ge­nen Er­eig­nis­se, und die Erin­ne­rung treibt mir die­se Bil­der zu, wie Mee­res­flu­ten die Trüm­mer ei­nes Wracks bei schö­nem Wet­ter Stück für Stück ans Ufer schwem­men. – ›Sie kön­nen mir einen großen Dienst er­wei­sen‹, sag­te die Com­tes­se zu mir und schau­te mich ver­wirrt an. ›Nach­dem ich Ih­nen mei­ne Ab­nei­gung ge­gen die Lie­be ein­ge­stan­den habe, füh­le ich mich frei­er, im Na­men der Freund­schaft eine Ge­fäl­lig­keit zu er­bit­ten. Wäre es nicht weitaus ver­dienst­vol­ler‹, füg­te sie la­chend hin­zu, ›wenn Sie mich heu­te zu Dank ver­pflich­ten?‹ Ich warf ihr einen schmerz­li­chen Blick zu. Sie emp­fand nichts ne­ben mir, tat süß, aber ohne Lie­be; sie er­schi­en mir als eine vollen­de­te Schau­spie­le­rin. Dann er­weck­te plötz­lich ein Ton, ein Blick, ein Wort wie­der mei­ne Hoff­nung. Spie­gel­ten aber mei­ne Au­gen mei­ne wie­der­ent­flamm­te Lie­be, hielt sie dem Feu­er stand, ohne daß die Klar­heit ih­rer Au­gen sich trüb­te, denn wie bei de­nen ei­nes Ti­gers, schi­en ihr Un­ter­grund aus Me­tall zu sein. In sol­chen Mo­men­ten haß­te ich sie. ›Die Für­spra­che des Duc de Na­varr­eins‹, fuhr sie mit ein­schmei­cheln­dem Stimm­klang fort, ›wä­re mir von großem Nut­zen bei ei­ner in Ruß­land all­mäch­ti­gen Per­son, de­ren Ver­mitt­lung nö­tig ist, da­mit mir in ei­ner An­ge­le­gen­heit, die mein Ver­mö­gen und mei­ne Stel­lung in der Welt be­trifft, Ge­rech­tig­keit wi­der­fah­re, es geht um die Aner­ken­nung mei­ner Hei­rat durch den Za­ren. Ist nicht der Duc de Na­varr­eins Ihr Cou­sin? Ein Brief von ihm wür­de den Aus­schlag ge­ben.‹ – ›Ich ste­he zu Ihren Diens­ten‹, ant­wor­te­te ich ihr, ›be­feh­len Sie!‹ – ›Sie sind sehr lie­bens­wür­dig‹, sag­te sie und drück­te mir die Hand. ›Di­nie­ren Sie bei mir, ich wer­de Ih­nen al­les er­zäh­len wie ei­nem Beicht­va­ter‹. Die­se so miß­traui­sche, ver­schlos­se­ne Frau, von der noch nie­mand ein Wort über ihre An­ge­le­gen­hei­ten ver­nom­men hat­te, woll­te mei­nen Rat. ›Oh, wie ist mir jetzt das Schwei­gen teu­er, das Sie mir auf­er­legt ha­ben!‹ rief ich aus. ›Doch hät­te ich mir eine noch här­te­re Prü­fung ge­wünscht.‹ In die­sem Au­gen­blick ent­zog sie sich mei­nen trun­ke­nen Bli­cken nicht und ließ sich mei­ne Be­wun­de­rung ge­fal­len, sie lieb­te mich also! Wir lang­ten bei ihr an. Zum Glück reich­te der In­halt mei­ner Bör­se hin, den Kut­scher zu be­zah­len. Ich ver­brach­te den Tag bei ihr voll Won­ne, mit ihr al­lein; es war das ers­te­mal, daß ich ihr so nahe sein durf­te. Bis zu die­sem Tage hat­ten die Ge­sell­schaft, ihre läs­ti­ge Höf­lich­keit und ihr kal­tes We­sen uns im­mer ge­trennt, selbst bei ih­ren üp­pi­gen Di­ners; nun aber war ich bei ihr, als ob ich un­ter ih­rem Da­che leb­te, sie war so­zu­sa­gen mein. Mei­ne un­ge­zü­gel­te Phan­ta­sie spreng­te alle Fes­seln, lenk­te die Er­eig­nis­se des Le­bens nach mei­nen Wün­schen und ver­senk­te mich in die Se­lig­kei­ten ei­ner glück­li­chen Lie­be. Ich wähn­te mich schon als ih­ren Gat­ten, wäh­rend ich sie bei ih­ren klei­nen Be­schäf­ti­gun­gen be­wun­der­te; ich emp­fand so­gar Glück zu­zu­se­hen, wie sie ih­ren Schal und ih­ren Hut ab­leg­te. Sie ließ mich einen Au­gen­blick al­lein und kehr­te mit neu ge­rich­te­tem Haar zu­rück, be­zau­bernd. Für mich hat­te sie sich her­aus­ge­putzt. Wäh­rend des Es­sens er­wies sie mir un­zäh­li­ge Auf­merk­sam­kei­ten und ent­fal­te­te un­end­li­chen Lieb­reiz in tau­sen­der­lei Din­gen, die nich­tig schei­nen und doch das hal­be Le­ben aus­ma­chen. Als wir bei­de auf sei­de­nen Pols­tern, von den be­geh­rens­wer­tes­ten Schöp­fun­gen ei­nes ori­en­ta­li­schen Lu­xus um­ge­ben, vor dem fla­ckern­den Ka­min­feu­er sa­ßen, als die­se Frau, de­ren be­rühm­te Schön­heit so vie­le Her­zen hö­her schla­gen ließ, mir so nahe war, als die­se so schwer zu er­rin­gen­de Frau mit mir plau­der­te, mir all ihre Ko­ket­te­rie zu­wand­te, wur­de mein wol­lüs­ti­ges Glück fast zum Schmerz. Un­glück­li­cher­wei­se fiel mir das wich­ti­ge Ge­schäft ein, das ich ab­schlie­ßen soll­te, und ich woll­te mich zu der tags vor­her ver­ab­re­de­ten Zu­sam­men­kunft be­ge­ben. – ›Wie! schon?‹ frag­te sie, als ich mei­nen Hut nahm. Sie lieb­te mich! Ich glaub­te es we­nigs­tens, als ich sie die­se zwei Wor­te mit zärt­li­cher Schmei­chel­stim­me sa­gen hör­te. Um mei­ne Ek­sta­se zu ver­län­gern, hät­te ich da­mals freu­dig zwei Jah­re mei­nes Le­bens für jede Stun­de hin­ge­ge­ben, die sie mir ge­wäh­ren woll­te. Mein Glück ver­tief­te sich mit all dem Geld, das ich ver­lor. Es war Mit­ter­nacht, als sie mich entließ. Am fol­gen­den Mor­gen in­des­sen kos­te­te mich mein He­ro­is­mus vie­le Ge­wis­sens­bis­se, ich fürch­te­te, das Ge­schäft mit den Me­moi­ren ver­patzt zu ha­ben, von dem al­les für mich ab­hing. Ich eil­te zu Ras­ti­gnac, und wir gin­gen, den Ti­tu­lar mei­ner künf­ti­gen Ar­bei­ten bei sei­nem Le­ver zu über­ra­schen.

Fi­not las mir einen kur­z­en Ver­trag vor, worin von mei­ner Tan­te kei­ne Rede war, und nach­dem ich un­ter­zeich­net hat­te, zahl­te er mir 50 Ta­ler aus. Wir früh­stück­ten zu dritt. Als ich mei­nen neu­en Hut, 60 Spei­se­mar­ken, das Stück zu 30 Sous, und mei­ne Schul­den be­zahlt hat­te, blie­ben mir nur noch 30 Fran­cs; aber alle Schwie­rig­kei­ten des Le­bens wa­ren für ei­ni­ge Tage be­sei­tigt. Wenn ich hät­te auf Ras­ti­gnac hö­ren wol­len, so hät­te ich mir Schät­ze er­wer­ben kön­nen, wenn ich mir frei­her­aus das ›eng­li­sche Sys­tem‹ zu ei­gen mach­te. Er woll­te mir durch­aus einen Kre­dit er­öff­nen und mich zum Schul­den­ma­chen ver­lei­ten, denn er be­haup­te­te, Schul­den hiel­ten den Kre­dit auf­recht. Er mein­te, daß von al­len Ka­pi­ta­li­en der Welt die Zu­kunft das wert­volls­te und so­li­des­te sei. In­dem er so mei­ne Schul­den als Hy­po­thek auf mei­ne Zu­kunfts­mög­lich­kei­ten be­trach­te­te, be­trau­te er sei­nen Schnei­der mit mei­ner Kund­schaft, einen Künst­ler, der sich auf den ›jun­gen Mann‹ ver­stand und mich bis zu mei­ner Hei­rat be­hel­li­gen soll­te. Von die­sem Tage an brach ich mit dem mön­chi­schen, ar­beit­sa­men Le­ben, das ich drei Jah­re lang ge­führt hat­te. Ich ging flei­ßig zu Fœ­do­ra, wo ich die Maul­hel­den und die Sa­lon­lö­wen aus­zu­ste­chen such­te, die sich bei ihr ein­fan­den. Da ich mich nun für im­mer dem Elend ent­ron­nen glaub­te, er­lang­te ich mei­ne geis­ti­ge Frei­heit wie­der, stell­te mei­ne Ri­va­len in den Schat­ten und galt als ver­füh­re­ri­scher, blen­den­der, un­wi­der­steh­li­cher jun­ger Mann. Be­son­ders ge­witz­te al­ler­dings be­haup­te­ten von mir: ›Ein so geist­rei­cher jun­ger Mann kann Lei­den­schaft nur im Kopf ha­ben!‹ Und wohl­mei­nend rühm­ten sie mei­nen Geist auf Kos­ten mei­ner Ge­füh­le. ›Wie glück­lich er ist, nicht zu lie­ben!‹ rie­fen sie aus. ›Wä­re er, wenn er lieb­te, so hei­ter, so mit­rei­ßend?‹ Fœ­do­ra ge­gen­über frei­lich war ich ein ver­lieb­ter Trot­tel! Al­lein mit ihr, wuß­te ich nichts zu sa­gen, oder wenn ich sprach, schmäh­te ich die Lie­be; in­ner­lich trüb­se­lig, ge­bär­de­te ich mich lus­tig wie ein Höf­ling, der einen grau­sa­men Ver­druß zu ver­heh­len sucht. Kurz, ich be­müh­te mich, ih­rem Le­ben, ih­rem Glück, ih­rer Ei­tel­keit un­ent­behr­lich zu wer­den; tag­täg­lich bei ihr, ward ich ihr Skla­ve, ein Spiel­zeug, ihr stän­dig zu Wil­len. Nach­dem ich mei­nen Tag der­art ver­geu­det hat­te, kam ich nach Hau­se, um die Nacht durch­zu­ar­bei­ten und ge­gen Mor­gen kaum mehr als zwei oder drei Stun­den zu schla­fen. Doch da ich mich nicht, wie Ras­ti­gnac, auf das ›eng­li­sche Sys­tem‹ ver­stand, war ich bald ohne einen Sou. Da stand ich nun, mein Lie­ber, ein Geck ohne Ver­mö­gen, ein Stut­zer ohne Geld, ein Ver­lieb­ter ohne Na­men und sank wie­der in das küm­mer­li­che Le­ben zu­rück, in die kal­te, tie­fe Not, die ich un­ter dem trü­ge­ri­schen Schein von Lu­xus sorg­fäl­tig ver­barg. Es wa­ren mei­ne al­ten Lei­den, die ich aufs neue er­dul­de­te, we­ni­ger bren­nend frei­lich; wahr­schein­lich hat­te ich mich an ihre schreck­li­chen Kri­sen be­reits ge­wöhnt. Oft wa­ren Ku­chen und Tee, die in den Sa­lons so spar­sam dar­ge­reicht wer­den, mei­ne ein­zi­ge Nah­rung. Mit­un­ter muß­ten die üp­pi­gen Di­ners der Com­tes­se für meh­re­re Tage vor­hal­ten. Ich setz­te mei­ne gan­ze Zeit, mei­ne Kräf­te und mei­ne Beo­b­ach­tungs­ga­be dar­ein, den un­durch­dring­li­chen Cha­rak­ter Fœ­do­ras zu er­grün­den. Bis da­hin hat­ten Hoff­nung oder Verzweif­lung mei­ne Mei­nung be­ein­flußt, ich er­blick­te in ihr mal die lie­be­volls­te, mal die ge­fühl­lo­ses­te Ver­tre­te­rin ih­res Ge­schlechts. Aber die­ser Wech­sel von Freu­de und Nie­der­ge­schla­gen­heit wur­de un­er­träg­lich: ich woll­te die­sen fürch­ter­li­chen Kampf be­en­den, in­dem ich mei­ne Lie­be tö­te­te. Un­heil­kün­den­de Lich­ter blitz­ten oft in mei­ner See­le auf und wie­sen mir die Ab­grün­de, die zwi­schen uns klaff­ten. Die Com­tes­se recht­fer­tig­te alle mei­ne Be­fürch­tun­gen, noch nie hat­te ich Trä­nen in ih­ren Au­gen ge­se­hen; im Thea­ter ließ eine rüh­ren­de Sze­ne sie kalt oder reiz­te ih­ren Spott. All ihre Klug­heit diente nur ih­rer ei­ge­nen Per­son; frem­des Glück oder Un­glück nahm sie nicht wahr. End­lich sah ich ein, daß sie mich hin­ters Licht ge­führt hat­te. Glück­lich, ihr ein Op­fer brin­gen zu kön­nen, hat­te ich mich für sie bei­na­he er­nied­rigt; als ich mei­nen Ver­wand­ten, den Duc de Na­varr­eins, auf­such­te, einen egois­ti­schen Men­schen, der sich mei­ner Not­la­ge schäm­te und mir ge­gen­über zu sehr im Un­recht war, um mich nicht zu has­sen. Er emp­fing mich mit je­ner kal­ten Höf­lich­keit, wel­che je­des Wort und jede Ge­bär­de wie einen Schimpf er­schei­nen läßt; sein un­si­che­rer Blick er­reg­te mein Be­dau­ern. Ich schäm­te mich für ihn sei­ner Klein­lich­keit in all dem Glanz, sei­ner Arm­se­lig­keit in all dem Über­fluß. Er sprach mir von an­sehn­li­chen Ver­lus­ten, die ihm die drei­pro­zen­ti­ge Staats­ren­te ver­ur­sach­te; dann nann­te ich ihm den Grund mei­nes Be­suchs. Die Ver­än­de­rung in sei­nem Be­neh­men, das von Fros­tig­keit all­mäh­lich zu großer Lie­bens­wür­dig­keit über­ging, wi­der­te mich an. Kurz und gut, mein Freund, er be­such­te die Com­tes­se und stell­te mich dort ein­fach kalt. Fœ­do­ra ent­fal­te­te für ihn einen un­ge­ahn­ten Zau­ber; sie um­strick­te ihn völ­lig, ver­han­del­te mit ihm die mys­te­ri­öse An­ge­le­gen­heit, ohne daß ich ein Wort da­von er­fuhr; ich war ihr nur Mit­tel zum Zweck ge­we­sen! … Sie schi­en mich nicht mehr zu be­mer­ken, wenn mein Cou­sin bei ihr war; sie emp­fing mich dann viel­leicht mit ge­rin­ge­rer Freu­de als an dem Tag, da ich ihr vor­ge­stellt wor­den war. Ei­nes Abends de­mü­tig­te sie mich vor dem Duc de Na­varr­eins durch eine je­ner Ges­ten, einen je­ner Bli­cke, die man nicht in Wor­te fas­sen kann. Ich ging mit Trä­nen in den Au­gen fort; schmie­de­te tau­send Ra­che­plä­ne und er­wog, ihr Ge­walt an­zu­tun.

Oft be­glei­te­te ich sie in die Bouf­fons: dort, ne­ben ihr, ganz mei­ner Lie­be hin­ge­ge­ben, sah ich sie an und gab mich zu­gleich dem Zau­ber der Mu­sik hin, ging auf in dem dop­pel­ten Ge­nuß, zu lie­ben und die Re­gun­gen mei­nes Her­zens in den Me­lo­di­en des Mu­si­kers wie­der­zu­fin­den. Mei­ne Lei­den­schaft war in der Luft, auf der Büh­ne, sie sieg­te über­all, nur nicht bei mei­ner Ge­lieb­ten. Ich er­griff dann wohl Fœ­do­ras Hand, mus­ter­te for­schend ihre Züge, ihre Au­gen, er­sehn­te ein Ver­schmel­zen un­se­rer Ge­füh­le, eine je­ner un­will­kür­li­chen Har­mo­ni­en, die, von den Klän­gen er­weckt, die See­len ver­eint schwin­gen läßt; aber ihre Hand war stumm, und ihre Au­gen sag­ten nichts. Wenn das Feu­er mei­nes Her­zens, das aus mei­nen Zü­gen ström­te, ihr zu heiß ins Ant­litz schlug, warf sie mir ein ge­such­tes Lä­cheln zu, je­nes un­ver­bind­li­che Lä­cheln, das in den Sa­lons auf den Lip­pen al­ler Por­träts starrt. Sie lausch­te der Mu­sik nicht. Die gött­li­chen Wei­sen Ros­si­nis, Ci­ma­ro­sas,36 Zin­ga­rel­lis37 rie­fen kein Ge­fühl in ihr her­vor, klan­gen nicht als Aus­druck ei­ge­nen Emp­fin­dens in ihr wi­der; ihre See­le war öde und leer. Fœ­do­ra stell­te sich wie ein Schau­spiel im Schau­spiel dar. Ihre Lor­gnet­te wan­der­te un­auf­hör­lich von Loge zu Loge; voll in­ne­rer Un­ru­he, ob­gleich schein­bar ru­hig, war sie ein Op­fer der Mode: ihre Loge, ihr Hut, ihr Wa­gen, ihre Per­son wa­ren ihr al­les. Man be­geg­net zu­wei­len Men­schen von rie­sen­haf­tem Kör­per­bau, die in ei­ner eher­nen Brust ein wei­ches lie­be­vol­les Herz ber­gen; aber sie barg ein eher­nes Herz un­ter ih­rer zar­ten, an­mu­ti­gen Hül­le. Mei­ne ver­häng­nis­vol­le Men­schen­kennt­nis riß vie­le Schlei­er von mei­nen Au­gen. Wenn der gute Ton dar­in be­steht, sich selbst um des an­de­ren wil­len zu ver­ges­sen, in Stim­me und Ge­bär­de eine stän­di­ge Sanft­mut wal­ten zu las­sen, den an­de­ren zu ge­fal­len, in­dem man ihr Selbst­be­wußt­sein be­frie­digt, so war es Fœ­do­ra trotz ih­rer Klug­heit nicht ge­lun­gen, jede Spur ih­rer ple­be­ji­schen Her­kunft aus­zu­lö­schen: ihre Selbst­ver­ges­sen­heit war Falsch­heit; ihre Ma­nie­ren wa­ren nicht an­ge­bo­ren, son­dern müh­se­lig er­wor­ben; kurz, ihre Höf­lich­keit roch nach Lie­be­die­ne­rei. Für ihre Günst­lin­ge wa­ren ihre ho­nig­sü­ßen Re­den frei­lich der Aus­druck von Güte, ihre af­fek­tier­te Über­spannt­heit ed­ler En­thu­si­as­mus. Ich al­lein hat­te ihre Gri­mas­sen stu­diert, ich hat­te die dün­ne Rin­de, die der Welt ge­nüg­te, von ih­rem In­ne­ren ab­ge­zo­gen und ließ mich von ih­rem heuch­le­ri­schen Schön­tun nicht mehr täu­schen: ich hat­te ihre Kat­zen­see­le durch­schaut. Wenn ir­gend­ein al­ber­ner Tropf ihr Kom­pli­men­te mach­te, sie pries, schäm­te ich mich für sie. Und ich lieb­te sie trotz al­lem! Ich hoff­te, das Eis ih­res Her­zens mit dem Hauch der Dich­ter­lie­be zu schmel­zen. Wenn ich ihr Herz ein­mal nur weib­li­cher Zärt­lich­keit öff­nen, sie der himm­li­schen Kraft der Hin­ge­bung hät­te emp­fäng­lich stim­men kön­nen, dann wäre sie voll­kom­men, wäre mir wie ein En­gel er­schie­nen. Ich lieb­te sie als Mann, als Lieb­ha­ber, als Künst­ler, wäh­rend man, um sie zu er­lan­gen, sie gar nicht hät­te lie­ben müs­sen; ein see­len­lo­ser Geck, ein kalt­sin­ni­ger Rech­ner hät­te sie viel­leicht be­zwun­gen. Ei­tel und in­tri­gant, wie sie war, hät­te sie zwei­fel­los auf die Spra­che der Ei­tel­keit ge­hört und sich in den Fall­stri­cken ei­ner Int­ri­ge fan­gen las­sen; ein tro­ckener, fros­ti­ger Ge­sel­le hät­te sie zu be­herr­schen ver­mocht. Bren­nen­der Schmerz durch­bohr­te mein Herz, wenn sie mir so un­be­fan­gen ih­ren Ego­is­mus ent­hüll­te. Tief­be­wegt er­kann­te ich, daß sie ei­nes Ta­ges al­lein im Le­ben da­ste­hen wür­de, ohne zu wis­sen, wem sie die Hand rei­chen soll­te, ohne freund­li­chen Bli­cken zu be­geg­nen, in de­nen die ih­ren ru­hen könn­ten. Ei­nes Abends fand ich den Mut, ihr in leb­haf­ten Far­ben ihr ver­öde­tes, ein­sa­mes und lee­res Al­ter aus­zu­ma­len. An­ge­sichts sol­cher schreck­li­chen Ra­che der hin­ter­gan­ge­nen Na­tur sag­te sie et­was Ab­scheu­li­ches: ›Ich wer­de im­mer Geld ha­ben. Mit Geld aber kön­nen wir im­mer die Ge­füh­le um uns schaf­fen, die zu un­se­rem Wohl­be­ha­gen nö­tig sind.‹ Ich ging fort, nie­der­ge­schmet­tert von der Lo­gik die­ses Lu­xus, die­ser Frau, die­ser Welt, über­häuf­te mich mit Vor­wür­fen, daß ich sie so hirn­ver­brannt ver­göt­ter­te. Ich lieb­te ja die arme Pau­li­ne auch nicht; hat­te die rei­che Fœ­do­ra nicht das Recht, den ar­men Ra­pha­el zu­rück­zu­wei­sen? Un­ser Ge­wis­sen ist ein un­fehl­ba­rer Rich­ter, wenn wir es noch nicht ge­mor­det ha­ben. – ›Fœ­dora‹, rief mir eine so­phis­ti­sche Stim­me zu, ›liebt nie­man­den und weist nie­man­den zu­rück; sie ist frei, aber ehe­dem hat sie sich für Gold ver­kauft. Der rus­si­sche Graf, mag er Gat­te oder Lieb­ha­ber ge­we­sen sein, hat sie be­ses­sen. War­te es ab!‹

Ohne Tu­gend und ohne Las­ter leb­te die­se Frau fern von der Mensch­heit, in ei­ner Sphä­re für sich, ei­ner Höl­le oder ei­nem Pa­ra­dies. Die­ses weib­li­che Rät­sel in Kasch­mir und Sti­cke­rei­en setz­te alle mensch­li­chen Trieb­kräf­te in mir in Be­we­gung: Stolz, Ehr­geiz, Lie­be, Neu­gier­de. Eine Mo­de­lau­ne oder die Ma­nie, ori­gi­nell zu er­schei­nen, von der wir alle be­ses­sen sind, hat­te uns dazu ge­trie­ben, ein klei­nes Bou­le­vard­thea­ter zu be­vor­zu­gen. Die Com­tes­se äu­ßer­te den Wunsch, die be­pu­der­te Phy­sio­gno­mie ei­nes Mi­men zu se­hen, den ei­ni­ge Leu­te von Geist himm­lisch fan­den, und mir ward die Ehre zu­teil, sie zur Pre­mie­re ir­gend­ei­ner mie­sen Pos­se zu be­glei­ten. Die Loge kos­te­te kaum 100 Sous, doch be­saß ich nicht einen lum­pi­gen Hel­ler. Da ich noch einen hal­b­en Band Me­moi­ren zu schrei­ben hat­te, wag­te ich nicht, Fi­not um Geld an­zu­ge­hen, und Ras­ti­gnac, mein hel­fen­der En­gel, war ver­reist. Die­se be­stän­di­ge Ver­le­gen­heit mach­te mein gan­zes Le­ben zum Fluch. Ein­mal, als wir aus der Oper ka­men und es schreck­lich reg­ne­te, hat­te Fœ­do­ra einen Wa­gen für mich vor­fah­ren las­sen, ohne daß ich mich die­sem eit­len Lie­bes­dienst hät­te ent­zie­hen kön­nen: sie ließ kei­ne mei­ner Ent­schul­di­gun­gen gel­ten, we­der mei­ne Vor­lie­be für den Re­gen noch den Ein­wand, daß ich spie­len ge­hen wol­le. Sie ahn­te nichts von mei­ner Not; sie er­riet sie nicht aus mei­ner ver­le­ge­nen Hal­tung und nicht aus mei­nen trau­rig scher­zen­den Wor­ten. Mei­ne Au­gen brann­ten scham­voll, aber ver­stand sie einen ein­zi­gen mei­ner Bli­cke? Das Le­ben der jun­gen Leu­te ist son­der­ba­ren Lau­nen un­ter­wor­fen! Auf der Fahrt be­schwor jede Um­dre­hung der Rä­der Ge­dan­ken in mir her­auf, die mir das Herz ver­zehr­ten; ich ver­such­te, aus dem Bo­den des Wa­gens ein Brett zu lö­sen, in der Hoff­nung, auf das Pflas­ter glei­ten zu kön­nen; aber da ich auf un­über­wind­li­che Hin­der­nis­se stieß, fing ich krampf­haft zu la­chen an und ver­harr­te dann in ei­ner düs­te­ren Ruhe, stumpf, wie ein Mensch am Pran­ger. Als ich zu Hau­se an­ge­langt war, un­ter­brach mich Pau­li­ne bei den ers­ten Wor­ten, die ich stam­mel­te, und sag­te: ›Wenn es Ih­nen an Geld fehlt …?‹ Oh! Ros­si­nis Mu­sik war nichts ge­gen die­se Wor­te. Aber zu­rück zum Théâtre des Fu­n­am­bu­les. Um die Com­tes­se dort hin­füh­ren zu kön­nen, woll­te ich den gol­de­nen Rah­men vom Bild mei­ner Mut­ter ver­pfän­den. Das Leih­haus stel­le ich mir von je­her wie eins der Tore zum Ba­gno vor; aber es war im­mer noch bes­ser, so­gar mein Bett da­hin zu tra­gen, als Al­mo­sen zu er­bet­teln. Der Blick ei­nes Men­schen, den man um Geld bit­tet, tut so weh! Man­che Dar­le­hen kos­ten uns un­se­re Ehre, wie manch ab­schlä­gi­ger Be­scheid aus Freun­des­mund uns eine letz­te Il­lu­si­on raubt. Pau­li­ne ar­bei­te­te, ihre Mut­ter hat­te sich zur Ruhe be­ge­ben. Nach ei­nem flüch­ti­gen Blick auf das Bett, des­sen Vor­hän­ge leicht zu­rück­ge­zo­gen wa­ren, glaub­te ich Ma­da­me Gau­din fest ein­ge­schla­fen, da ich ihr gel­bes ru­hi­ges Pro­fil auf dem Kopf­kis­sen wahr­nahm. – ›Sie ha­ben Kum­mer?‹ frag­te Pau­li­ne und leg­te den Pin­sel auf ihre Mal­ar­beit. – ›Gu­tes Kind, Sie kön­nen mir einen großen Ge­fal­len er­wei­sen‹, er­wi­der­te ich ihr. Sie sah mich so be­glückt an, daß ich er­zit­ter­te. ›Soll­te sie mich lie­ben?‹ dach­te ich. ›Pau­li­ne‹, be­gann ich von neu­em und setz­te mich nun nahe zu ihr, um sie aus­zu­for­schen. Sie er­riet, was ich woll­te, so ein­dring­lich fra­gend war mein Ton; sie senk­te die Au­gen, und ich sah sie prü­fend an. Ich glaub­te in ih­rem Her­zen le­sen zu kön­nen wie in mei­nem ei­ge­nen, denn der Aus­druck ih­res Ant­lit­zes war rein und un­schul­dig. – ›Sie lie­ben mich?‹ frag­te ich end­lich. – ›Ein biß­chen, über alle Ma­ßen, gar nicht!‹ rief sie. Sie lieb­te mich nicht. Ihr necki­scher Ton und ihre pos­sier­li­chen Ge­bär­den zeug­ten nur von der mut­wil­li­gen Dank­bar­keit ei­nes jun­gen Mäd­chens. Ich ge­stand ihr also mei­ne schlim­me Lage, die Ver­le­gen­heit, in der ich mich be­fand, und bat sie, mir zu hel­fen. – ›Wie, Mon­sieur Ra­phael‹, rief sie, ›Sie wol­len nicht aufs Leih­haus ge­hen und schi­cken mich!‹ Ich er­rö­te­te. Ihre kind­li­che Lo­gik setz­te mich in Ver­le­gen­heit. Dann er­griff sie mei­ne Hand, als wol­le sie die Wahr­heit ih­res Aus­rufs durch eine Zärt­lich­keit wie­der­gut­ma­chen. – ›Oh!‹ fuhr sie dann fort, ›ich gin­ge schon gern, aber der Gang ist un­nö­tig. Heu­te mor­gen habe ich hin­ter dem Kla­vier zwei 100-Sous-Stücke ge­fun­den, die Sie wohl aus Ver­se­hen zwi­schen Wand und Scheu­er­leis­te rol­len lie­ßen; ich habe sie Ih­nen auf Ihren Tisch ge­legt.‹ – ›Sie wer­den ge­wiß bald Geld be­kom­men, Mon­sieur Ra­phael‹, sag­te nun die gute Mut­ter und steck­te den Kopf durch die Vor­hän­ge, ›ich kann Ih­nen in­zwi­schen gut und gern ein paar Ta­ler lei­hen.‹ – ›O Pau­li­ne!‹, rief ich und drück­te ihr die Hand, ›ich woll­te, ich wäre reich!‹ – ›Bah! Wa­rum denn?‹ rief sie keck. Ihre Hand zit­ter­te in mei­ner und er­wi­der­te alle Schlä­ge mei­nes Her­zens; sie zog ihre Fin­ger rasch zu­rück und be­trach­te­te prü­fend mei­ne Hand. ›Sie wer­den eine rei­che Frau hei­ra­ten‹, sag­te sie dann, ›a­ber sie wird Ih­nen viel Kum­mer ma­chen. O mein Gott! sie wird Sie tö­ten! Das weiß ich si­cher.‹ In ih­rem Auf­schrei lag ein ge­wis­ser Glau­ben an die när­ri­schen Pro­phe­zei­un­gen ih­rer Mut­ter. – ›Sie sind sehr leicht­gläu­big, Pau­li­ne!‹ – ›Oh, ganz si­cher‹, ver­setz­te sie und sah mich ent­setzt an, ›die Frau, die Sie lie­ben, wird Sie tö­ten!‹ Sie griff wie­der zu ih­rem Pin­sel, tauch­te ihn, tief­be­wegt, in die Far­be und sah mich nicht mehr an. In die­sem Au­gen­blick hät­te ich schon an der­lei Hirn­ge­spins­te glau­ben mö­gen. Ein Mensch ist nicht so elend dran, wenn er aber­gläu­bisch ist. Der Aber­glau­be ist oft eine Hoff­nung. In mei­nem Zim­mer sah ich in der Tat zwei präch­ti­ge Ta­ler auf dem Tisch lie­gen, de­ren Da­sein mir un­er­klär­lich schi­en. In den wir­ren Ge­dan­ken wäh­rend des Ein­schla­fens ging ich mei­ne Aus­ga­ben durch, um die­sen un­er­hoff­ten Fund zu recht­fer­ti­gen, aber in ver­geb­li­che Rech­ne­rei­en ver­lo­ren, schlief ich ein. Am nächs­ten Mor­gen kam Pau­li­ne, als ich ge­ra­de aus­ge­hen woll­te, um eine Loge zu be­stel­len. ›Vi­el­leicht rei­chen Sie mit zehn Fran­cs nicht aus‹, sag­te das lie­be, hol­de Kind er­rö­tend, ›im Auf­trag mei­ner Mut­ter soll ich Ih­nen die­ses Geld an­bie­ten. Neh­men Sie, neh­men Sie!‹ Sie leg­te drei Ta­ler auf den Tisch und woll­te ei­ligst hin­aus; aber ich hielt sie fest. Be­wun­de­rung trock­ne­te die Trä­nen, die mir in die Au­gen tra­ten. ›Pau­li­ne‹, rief ich, ›Sie sind ein En­gel! Die­ses Dar­lehn rührt mich nicht so tief wie das Zart­ge­fühl, mit dem Sie es mir bie­ten. Ich sehn­te mich nach ei­ner rei­chen, ele­gan­ten, vor­neh­men Frau. Aber ach, jetzt woll­te ich, ich be­sä­ße Mil­lio­nen und fän­de ein jun­ges Mäd­chen, das arm wäre und ein rei­ches Herz hät­te wie Sie. Dann wür­de ich ei­ner ver­häng­nis­vol­len Lei­den­schaft ent­sa­gen, die mich tö­ten wird. Vi­el­leicht wer­den Sie da­mit recht be­hal­ten.‹

›Ge­nug!‹ rief sie. Sie ent­floh, und ihre Nach­ti­gal­len­stim­me, ihr fri­sches Träl­lern klang von der Trep­pe her wi­der. – ›Wie glück­lich sie ist, daß sie noch nicht liebt!‹ sag­te ich zu mir selbst und dach­te an die Qua­len, die ich seit meh­re­ren Mo­na­ten aus­stand. Die 15 Fran­cs Pau­li­nes er­wie­sen sich mir als sehr wert­voll. Als Fœ­do­ra an die ple­be­ji­schen Düns­te dach­te, die wir in dem Saal ein paar Stun­den lang er­tra­gen soll­ten, be­dau­er­te sie, kein Bu­kett zu ha­ben; ich hol­te ihr die Blu­men und brach­te ihr da­mit mein Le­ben und mein gan­zes Ver­mö­gen dar. Ich emp­fand Reue und Ver­gnü­gen zu­gleich, als ich ihr den Strauß brach­te, des­sen Preis mich lehr­te, wie kost­spie­lig die ober­fläch­li­che Galan­te­rie der vor­neh­men Welt ist. Bald dar­auf klag­te sie über den auf­dring­li­chen Duft des me­xi­ka­ni­schen Jas­mins; als sie den Saal er­blick­te, pack­te sie ein un­er­träg­li­cher Wi­der­wil­le, und als sie auf der har­ten Bank Platz ge­nom­men hat­te, mach­te sie mir Vor­wür­fe, daß ich sie dort­hin ge­führt hat­te. Was scher­te es sie, daß sie mit mir zu­sam­men war; sie woll­te ge­hen, und sie ging. Näch­te­lang hat­te ich nicht ge­schla­fen, zwei Mo­na­te mei­ner Exis­tenz ver­schwen­det und kei­ne Gna­de vor ih­ren Au­gen ge­fun­den! Nie war die­ser Teu­fel an­mu­ti­ger und lieb­lo­ser ge­we­sen. Un­ter­wegs, als ich ne­ben ihr in dem en­gen Coupé saß, at­me­te ich ih­ren Atem, be­rühr­te ih­ren par­fü­mier­ten Hand­schuh, sah all die Herr­lich­kei­ten ih­rer Schön­heit, spür­te einen sü­ßen Duft wie von Schwert­li­li­en: ganz ein Weib und ganz und gar kein Weib. In die­sem Au­gen­blick zuck­te es wie ein Blitz durch mei­ne See­le, und ich schau­te in die Tie­fen die­ses ge­heim­nis­vol­len Da­seins. Ich dach­te an das jüngst er­schie­ne­ne Buch ei­nes Dich­ters, ein wah­res Kunst­werk, wie nach der Sta­tue des Po­ly­klet ge­schaf­fen. Ich glaub­te je­nes Un­ge­heu­er vor mir zu se­hen, das bald als Of­fi­zier ein feu­ri­ges Roß bän­digt, bald als jun­ges Mäd­chen sich her­aus­putzt und sei­ne Lieb­ha­ber zur Verzweif­lung treibt, bald selbst als Lieb­ha­ber eine sanf­te und ehr­ba­re Jung­frau ins Elend stürzt. Da ich Fœ­do­ra nicht mehr an­ders ent­rät­seln konn­te, er­zähl­te ich ihr die­se phan­tas­ti­sche Ge­schich­te; nichts je­doch ver­riet ihre Ähn­lich­keit mit die­ser Dich­tung des Un­mög­li­chen, sie fand ganz treu­her­zig ih­ren Spaß dar­an, wie ein Kind an ei­nem Mär­chen aus Tau­send­und­ei­ner Nacht. – ›Wenn Fœ­dora‹, sag­te ich auf dem Nach­hau­se­weg zu mir, ›der Lie­be ei­nes Man­nes in mei­nem Al­ter, dem zün­den­den Feu­er, das von See­le zu See­le springt, wi­der­ste­hen kann, muß sie un­ter dem Schutz ir­gend­ei­nes Ge­heim­nis­ses ste­hen. Vi­el­leicht ist sie von Krebs be­fal­len, wie Lady De­la­cour?38 Wie auch im­mer, sie führt ein künst­li­ches Le­ben.‹ Bei die­sem Ge­dan­ken über­lief es mich kalt. Und nun er­sann ich den aus­ge­fal­lens­ten und zu­gleich ver­nünf­tigs­ten Plan, auf den ein Lie­ben­der je ver­fal­len ist. Um den Kör­per die­ser Frau zu prü­fen, wie ich ih­ren Geist er­forscht hat­te, um sie end­lich ganz ken­nen­zu­ler­nen, be­schloß ich, ohne ihr Wis­sen eine Nacht in ih­rem Haus, in ih­rem Schlaf­ge­mach zu­zu­brin­gen. Die­ses Un­ter­neh­men, das mir an der See­le nag­te, wie Rach­sucht am Her­zen ei­nes kor­si­schen Mön­ches, führ­te ich fol­gen­der­ma­ßen durch. An ih­ren Empfangs­ta­gen hat­te Fœ­do­ra eine so zahl­rei­che Ge­sell­schaft bei sich, daß es dem Por­tier un­mög­lich war, ge­nau fest­zu­stel­len, ob alle Gäs­te auch wie­der fort­gin­gen. Si­cher, daß ich im Haus zu­rück­blei­ben konn­te, ohne Auf­se­hen zu er­re­gen, war­te­te ich un­ge­dul­dig auf die nächs­te Soirée der Com­tes­se. Beim An­klei­den steck­te ich als Er­satz für einen Dolch ein klei­nes eng­li­sches Fe­der­mes­ser in die Wes­ten­ta­sche. Wur­de es bei mir ge­fun­den, konn­te das klei­ne Ding, das zum Hand­werks­zeug ei­nes Schrift­stel­lers ge­hör­te, kei­ner­lei Ver­dacht er­re­gen; da ich in­des­sen nicht wuß­te, wie weit mich mein ro­man­ti­scher Ent­schluß füh­ren konn­te, woll­te ich be­waff­net sein. Als die Sa­lons sich zu fül­len be­gan­nen, ging ich in das Schlaf­zim­mer, um die Si­tua­ti­on dort zu er­kun­den, und fand die Ja­lou­si­en und Fens­ter­lä­den ge­schlos­sen, was ich als glück­li­ches Omen deu­te­te. Da die Zofe kom­men konn­te, um die Vor­hän­ge an den Fens­tern her­un­ter­zu­las­sen, lös­te ich die Hal­ter selbst; frei­lich war die­se Vor­weg­nah­me häus­li­cher Vor­keh­run­gen ris­kant, doch sah ich den Ge­fah­ren mei­ner Lage ge­faßt ins Auge und hat­te sie kalt­blü­tig ein­kal­ku­liert. Ge­gen Mit­ter­nacht ver­barg ich mich in ei­ner Fens­ter­ni­sche. Da­mit man mei­ne Füße nicht se­hen konn­te, ver­such­te ich, mich mit dem Rücken ge­gen die Wand auf die Leis­te der Tä­fe­lung zu stel­len, wo­bei ich mich am Fens­ter­rie­gel fest­hielt. Nach­dem ich mein Gleich­ge­wicht aus­pro­biert, mei­ne Stütz­punk­te und den Raum zwi­schen mir und den Vor­hän­gen ge­prüft hat­te, ge­lang es mir, mich an mei­ne schwie­ri­ge Stel­lung zu ge­wöh­nen, so daß ich dort un­ent­deckt ver­har­ren konn­te, wenn kein Krampf, kein Hus­ten und kein Nie­sen da­zwi­schen kam. Um mich nicht un­nütz an­zu­stren­gen, blieb ich auf dem Fuß­bo­den ste­hen bis zu dem kri­ti­schen Au­gen­blick, in dem ich hän­gen muß­te, wie die Spin­ne in ih­rem Netz. Der wei­ße Moiré und der Mus­se­lin der Vor­hän­ge war­fen tie­fe Fal­ten vor mir und gli­chen Or­gel­pfei­fen, in die ich mit mei­nem Mes­ser Lö­cher schnitt, um ver­mit­telst die­ser Art Schieß­schar­ten al­les zu se­hen. Aus den Sa­lons drang ge­dämpft das Ge­läch­ter und Stim­men­ge­wirr der Plau­dern­den zu mir her­über. Die­ser ver­wor­re­ne Lärm, das dump­fe Hin und Her wur­de all­mäh­lich schwä­cher. Ei­ni­ge Her­ren ka­men ihre Hüte ho­len, die un­mit­tel­bar ne­ben mir auf der Kom­mo­de der Com­tes­se ab­ge­legt wa­ren. Wenn sie die Vor­hän­ge streif­ten, über­lief mich ein Schau­der, da ich an die Zer­streut­heit und das wahl­lo­se Um­her­su­chen von Men­schen dach­te, die es ei­lig ha­ben fort­zu­kom­men und dann al­les durch­stö­bern. So wer­te­te ich es als ein gu­tes Zei­chen, daß kein sol­ches Miß­ge­schick ein­trat. Den letz­ten Hut hol­te ein al­ter Ver­eh­rer Fœ­do­ras, der sich al­lein glaub­te, einen Blick auf das Bett warf und einen schwe­ren Seuf­zer aus­stieß, dem ein un­ver­ständ­li­cher, aber recht ener­gi­scher Aus­ruf folg­te. Die Com­tes­se, die in dem Bou­doir ne­ben ih­rem Schlaf­zim­mer nur noch fünf oder sechs enge Freun­de bei sich hat­te, schlug ih­nen vor, dort den Tee ein­zu­neh­men. Es misch­ten sich nun­mehr die Ver­leum­dun­gen, für die sich die heu­ti­ge Ge­sell­schaft das biß­chen Glau­ben, was ihr noch ge­blie­ben ist, be­wahrt hat, die Sti­chel­re­den, die wit­zi­gen Ur­tei­le mit dem Ge­klap­per der Tas­sen und Löf­fel. Ohne je­des Er­bar­men mit mei­nen Ne­ben­buh­lern er­reg­te Ras­ti­gnac mit sei­nen bei­ßen­den Be­mer­kun­gen schal­len­des Ge­läch­ter. – ›M­on­sieur de Ras­ti­gnac ist ein Mann, mit dem man es nicht ver­der­ben dar­f‹, sag­te die Com­tes­se la­chend.

›Das will ich mei­nen‹, er­wi­der­te er un­be­fan­gen. ›In mei­nem Haß habe ich im­mer recht ge­habt. In mei­nen Freund­schaf­ten üb­ri­gens auch‹, füg­te er hin­zu. ›Mei­ne Fein­de sind mir viel­leicht eben­so dien­lich wie mei­ne Freun­de. Ich habe die mo­der­ne Aus­drucks­wei­se und die na­tür­li­chen Knif­fe, de­rer man sich be­dient, um al­les an­zu­grei­fen oder al­les zu ver­tei­di­gen, be­son­ders ein­ge­hend stu­diert. Re­de­ge­wandt wie ein Mi­nis­ter zu sein ist eine so­zia­le Ver­voll­komm­nung. Ist ei­ner Ih­rer Freun­de geist­los, he­ben Sie sei­ne Ehr­lich­keit und sei­nen Frei­mut her­vor. Ist das Werk ei­nes an­de­ren schwer­fäl­lig, de­kla­rie­ren Sie es als ge­wis­sen­haf­te Stu­die. Ist das Buch schlecht ge­schrie­ben, lo­ben Sie sei­nen Ide­en­ge­halt. Je­mand ist un­zu­ver­läs­sig, un­be­stän­dig, nie beim Wort zu neh­men, nun, hei­ßen Sie ihn ver­füh­re­risch, blen­dend, char­mant. Han­delt es sich aber um Ihre Fein­de, so wer­fen Sie ih­nen die To­ten und die Le­ben­den an den Kopf und keh­ren Ihre Spra­che ein­fach um, so ge­schickt Sie die Vor­zü­ge Ih­rer Freun­de ge­prie­sen ha­ben, so vir­tu­os stö­bern Sie die Feh­ler Ih­rer Fein­de auf. Die­se An­wen­dung der mo­ra­li­schen Lupe ist das Ge­heim­nis un­se­rer Kon­ver­sa­ti­on und die gan­ze Kunst des Höf­lings. Sie nicht ge­brau­chen hie­ße waf­fen­los ge­gen Leu­te zu Fel­de zie­hen, die ge­wapp­net sind wie Ban­ner­trä­ger. Und ich ge­brau­che sie! Ich miß­brau­che sie so­gar zu­wei­len; dar­um hat man Re­spekt vor mir, vor mir und mei­nen Freun­den, denn üb­ri­gens, mein De­gen ist nicht schlech­ter als mei­ne Zun­ge.‹ Ei­ner der glü­hends­ten Ver­eh­rer Fœ­do­ras, ein jun­ger Mann, des­sen Dreis­tig­keit be­rühmt und ihm so­gar Mit­tel zum Zweck war, hob den Feh­de­hand­schuh auf, den Ras­ti­gnac so ver­ächt­lich hin­ge­wor­fen hat­te. Er fing an, von mir zu spre­chen und mei­ne Be­ga­bung und mei­ne Per­son über alle Ma­ßen zu rüh­men. Ras­ti­gnac hat­te die­se Art, je­man­den zu läs­tern, al­ler­dings ver­ges­sen. Die­se hä­mi­sche Lo­bes­hym­ne täusch­te die Com­tes­se, die mich mit­leid­los op­fer­te; um ihre Freun­de zu un­ter­hal­ten, spot­te­te sie über mei­ne Ge­heim­nis­se, mei­ne Wün­sche und mei­ne Hoff­nun­gen. – ›Er hat eine Zu­kunft!‹ sag­te Ras­ti­gnac. ›Vi­el­leicht ist er ei­nes Ta­ges im­stan­de, grau­sa­me Ra­che zu neh­men; sei­ne Be­ga­bung kommt zu­min­dest sei­nem Mut gleich. Ich hal­te also Leu­te, die ihn rei­zen, für sehr ver­we­gen, denn er hat ein gu­tes Ge­dächt­nis …‹

›Und schreibt Me­moi­ren‹, füg­te die Com­tes­se hin­zu, der das tie­fe Schwei­gen, wel­ches sich plötz­lich aus­ge­brei­tet hat­te, zu miß­fal­len schi­en. ›Me­moi­ren ei­ner falschen Com­tes­se, Ma­da­me‹, ver­setz­te Ras­ti­gnac. ›Um sie zu schrei­ben, be­darf es ei­ner an­de­ren Sor­te Mut.‹ – ›Ich traue ihm viel Mut zu‹, er­wi­der­te sie, ›er ist mir treu.‹ Ich war leb­haft ver­sucht, vor den Spöt­tern auf­zut­au­chen wie Ban­quos Geist in Mac­beth. Ich ver­lor eine Ge­lieb­te, aber be­saß einen Freund! Je­doch flüs­ter­te mir die Lie­be mit ei­nem Male eine je­ner fei­gen und spitz­fin­di­gen Pa­ra­doxa zu, mit de­nen sie all un­se­ren Schmerz ein­zu­lul­len ver­steht. – ›Wenn Fœ­do­ra mich lieb­t‹, dach­te ich, ›muß sie dann ihre Nei­gung nicht un­ter bos­haf­ten Scher­zen ver­ste­cken. Wie oft schon hat das Herz den Lü­gen des Mun­des wi­der­spro­chen!‹ End­lich woll­te mein un­ver­schäm­ter Ri­va­le, der als letz­ter bei der Com­tes­se ge­blie­ben war, sich ver­ab­schie­den. – ›Wie? schon?‹ frag­te sie in schmeich­le­ri­schem Ton. Ich zit­ter­te. ›Wol­len Sie mir nicht noch einen Au­gen­blick schen­ken? Ha­ben Sie mir nichts mehr zu sa­gen? Kön­nen Sie mir nicht ei­nes Ih­rer Ver­gnü­gen op­fern?‹ Er ging. ›Ach!‹ rief sie und gähn­te, ›wie lang­wei­lig sie alle sind!‹ Sie zog hef­tig an ei­ner Schnur, und eine Klin­gel er­tön­te. Die Com­tes­se trat in ihr Schlaf­zim­mer und träl­ler­te die Me­lo­die ›Pria che spun­ti‹.39 Nie hat­te sie je­mand sin­gen hö­ren, und die­ses Nicht­sin­gen hat­te zu ab­son­der­li­chen Deu­tun­gen ge­führt. Man sag­te, sie hät­te ih­rem ers­ten Lieb­ha­ber, der von ih­rem Ta­lent ent­zückt und übers Grab hin­aus ei­fer­süch­tig ge­we­sen wäre, ver­spro­chen, nie­man­dem ein Glück zu ge­wäh­ren, das er al­lein ge­nos­sen ha­ben woll­te. Ich spann­te alle Kräf­te mei­ner See­le an, um die Klän­ge in mich auf­zu­neh­men. Von Note zu Note sang sie vol­ler, schi­en Fœ­do­ra leb­haf­ter, der Reich­tum ih­rer Keh­le ent­fal­te­te sich, und die Me­lo­die ge­wann et­was Gött­li­ches. Die Com­tes­se hat­te eine kla­re, rei­ne Stim­me und et­was Har­mo­ni­sches und Vi­brie­ren­des in ih­rem Or­gan, das das Herz be­weg­te und won­nig be­rühr­te. Mu­si­zie­ren­de Frau­en sind fast im­mer ver­liebt. Wer aber so sang wie sie, muß­te sehr wohl zu lie­ben wis­sen. Die Schön­heit die­ser Stim­me war also ein Ge­heim­nis mehr an die­ser Frau, die schon so ge­heim­nis­voll ge­nug war. Ich sah sie da­mals, wie ich dich sehe; sie schi­en sich selbst zu lau­schen und da­bei eine ei­ge­ne Wol­lust zu emp­fin­den wie in ei­nem Lie­bes­rausch. Sie ging an den Ka­min, wäh­rend sie das Haupt­mo­tiv die­ses Ron­do zu Ende sang; aber als sie nun schwieg, ver­än­der­te sich ihr Ge­sichts­aus­druck, ihre Züge er­schlaff­ten, und sie sah müde aus. Sie leg­te eine Mas­ke ab, die Schau­spie­le­rin hat­te ihre Rol­le be­en­det. In­des­sen war die­ses Welk­wer­den ih­rer Schön­heit nach dem kunst­vol­len Ge­sang oder in­fol­ge des an­stren­gen­den Abends nicht ohne Reiz. – ›So also ist sie in Wahr­heit‹, dach­te ich. Sie stell­te, wie um sich zu wär­men, einen Fuß auf die Bron­ze­stan­ge des Ka­min­schirms, zog ihre Hand­schu­he aus, leg­te die Arm­bän­der ab und streif­te eine gol­de­ne Ket­te, an der ihre mit kost­ba­ren Stei­nen be­setz­te Riech­do­se hing, über den Kopf. Ich emp­fand un­säg­li­ches Ver­gnü­gen, ihre Be­we­gun­gen zu ver­fol­gen, de­ren ge­schmei­di­ge An­mut an eine Kat­ze er­in­ner­te, die sich in der Son­ne putzt. Sie be­sah sich im Spie­gel und sag­te laut und miß­ver­gnügt: ›Ich sah heu­te abend nicht gut aus, mein Teint welkt er­schre­ckend schnell. Ich soll­te mich viel­leicht frü­her schla­fen le­gen, die­sem lie­der­li­chen Le­ben ein Ende set­zen. Aber was fällt denn Jus­ti­ne ein?‹ Sie klin­gel­te noch ein­mal; die Zofe kam her­bei­ge­eilt. Wo war ihr Zim­mer? Ich weiß nicht. Sie war über eine ge­hei­me Trep­pe ge­kom­men. Ich war neu­gie­rig, sie zu be­trach­ten. Mei­ne Dich­ter­phan­ta­sie hat­te die­se un­sicht­ba­re Die­ne­rin, eine große, hübsch ge­bau­te Brü­net­te, oft­mals in schlim­mem Ver­dacht ge­habt. – ›Ma­da­me ha­ben ge­klin­gelt?‹ – ›Zwei­mal‹, ant­wor­te­te Fœ­do­ra; ›du bist wohl auf ein­mal taub?‹ – ›Ich be­rei­te­te die Man­del­milch für Ma­da­me.‹ Jus­ti­ne knie­te sich nie­der, lös­te die kreuz­wei­se ge­schlun­ge­nen Schnür­bän­der und zog dann ih­rer Her­rin die Schu­he aus, die sich in­des in ei­nem Lehn­stuhl am Ka­min re­kel­te, gähn­te und sich den Kopf kratz­te. Al­les in die­sen Be­we­gun­gen war durch­aus na­tür­lich, und kein Zei­chen ver­riet mir die ge­hei­men Schmer­zen oder die Lei­den­schaf­ten, die ich ver­mu­tet hat­te. – ›Ge­org ist ver­lieb­t‹, sag­te sie, ›ich muß ihn ent­las­sen. Hat nicht er heu­te abend noch die Vor­hän­ge her­ab­ge­las­sen? Was fällt ihm ein?‹ Als ich das hör­te, ström­te mir al­les Blut zum Her­zen; aber es war wei­ter kei­ne Rede mehr von den Vor­hän­gen. ›Das Le­ben ist sehr schal‹, fuhr die Com­tes­se fort. ›Au! gib acht, daß du mich nicht wie­der kratzt wie ges­tern. Hier, sieh mal her‹, sag­te sie und zeig­te ihr ein klei­nes Knie, das wie At­las schim­mer­te, ›da hab ich noch den Stem­pel dei­ner Un­ge­schick­lich­keit.‹ Sie fuhr mit ih­ren nack­ten Fü­ßen in die mit Schwa­nen­pelz ge­füt­ter­ten Samt­pan­tof­fel und zog ihr Kleid aus, wäh­rend Jus­ti­ne einen Kamm nahm, um ihr die Haa­re zu ord­nen. – ›Sie müs­sen hei­ra­ten, Ma­da­me, und Kin­der be­kom­men.‹

›Kin­der! Das fehl­te mir ge­ra­de noch!‹ rief sie. ›Ei­nen Mann! Wo ist der Mann, dem ich mich … War ich gut fri­siert heu­te abend?‹ – ›Nicht sehr gut.‹ – ›Du bist dumm.‹ – ›Nichts steht Ih­nen schlech­ter, als wenn Sie Ihr Haar zu sehr kräu­seln‹, er­wi­der­te Jus­ti­ne. ›Gro­ße, lan­ge Lo­cken klei­den Sie viel bes­ser.‹ – ›Wirk­lich?‹ – ›Ge­wiß, Ma­da­me, fein­ge­kräu­sel­tes Haar steht nur Blon­di­nen.‹ ›Mich ver­hei­ra­ten? Nein, nein! Die Ehe ist ein Scha­cher, für den ich nicht ge­schaf­fen bin.‹ Was für eine schreck­li­che Sze­ne für einen Lie­ben­den! Die­se ein­sa­me Frau, ohne El­tern, ohne Freun­de, eine Atheis­tin der Lie­be, die an kei­ne Emp­fin­dung glaub­te und, so schwach auch in ihr das je­dem mensch­li­chen We­sen ei­ge­ne Be­dürf­nis, sein Herz zu er­gie­ßen, sein moch­te, um es zu be­frie­di­gen, war sie ge­zwun­gen, mit ih­rer Zofe zu plau­dern, ein paar tro­ckene Re­dens­ar­ten oder Nich­tig­kei­ten zu sa­gen! Sie tat mir leid. Jus­ti­ne schnür­te sie auf. Ich be­trach­te­te sie neu­gie­rig, als der letz­te Schlei­er weg­ge­nom­men wur­de. Sie hat­te einen jung­fräu­li­chen Bu­sen, der mich blen­de­te; beim Schein der Ker­ze schim­mer­te ihr wei­ßer und ro­si­ger Kör­per durch das Hemd durch wie eine Sil­b­er­sta­tue un­ter ei­ner Ga­zehül­le. Nein, kei­ner­lei Un­voll­kom­men­heit muß­te sie die ver­stoh­le­nen Bli­cke der Lie­be fürch­ten las­sen. Ach, ein schö­ner Kör­per siegt im­mer über die hel­den­haf­tes­ten Ent­schlüs­se. Die Her­rin saß stumm und nach­denk­lich vor dem Feu­er, wäh­rend die Zofe die Ker­ze der Ala­bas­ter­lam­pe, die vor dem Bett hing, an­zün­de­te. Jus­ti­ne hol­te eine Wärm­fla­sche, mach­te das Bett zu­recht und half ih­rer Her­rin, sich schla­fen zu le­gen; dann hat­te sie noch al­ler­lei klei­ne Diens­te zu ver­rich­ten, die von der tie­fen Ver­eh­rung zeug­ten, die Fœ­do­ra für sich sel­ber heg­te, und ging schließ­lich. Die Com­tes­se warf sich ein paar­mal hin und her; sie war auf­ge­regt, sie seufz­te; von ih­ren Lip­pen drang ein leich­tes Geräusch, das ihre Un­ge­duld ver­riet; sie streck­te die Hand nach dem Tisch aus, nahm ein Fläsch­chen und goß ei­ni­ge Trop­fen ei­nes brau­nen Saf­tes in ihre Milch, ehe sie trank; end­lich nach et­li­chen qual­vol­len Seuf­zern rief sie: ›Mein Gott!‹ Die­ser Aus­ruf und vor al­lem der Ton, der dar­in lag, fie­len mir schwer aufs Herz. Un­ver­se­hens lag sie ganz reg­los. Ich be­kam Angst; aber bald ver­nahm ich den gleich­mä­ßi­gen und tie­fen Atem der Schla­fen­den; ich schlug die rau­schen­de Sei­de der Vor­hän­ge zu­rück, ver­ließ mei­nen un­be­que­men Pos­ten und stell­te mich an das Fu­ßen­de ih­res Bet­tes. Ich be­trach­te­te sie mit ei­nem un­be­schreib­li­chen Ge­fühl. Sie war ent­zückend, wie sie so dalag. Sie hat­te den Kopf wie ein Kind auf den Arm ge­legt; ihr ru­hi­ges, schö­nes Ant­litz, in Spit­zen gehüllt, hat­te einen sol­chen Lieb­reiz, daß ich hin­ge­ris­sen war. Ich hat­te mir zu­viel zu­ge­traut und hat­te nicht be­dacht, wel­che Mar­ter ich aus­zu­ste­hen hat­te: ihr so nahe und zu­gleich so fern zu sein! Ich muß­te alle Qua­len er­lei­den, die ich mir selbst ge­schaf­fen hat­te. ›Mein Gott!‹ die­ses Bruch­stück ei­nes un­be­kann­ten Ge­dan­kens, das ich nun als ein­zi­ge Er­leuch­tung mit mir neh­men soll­te, hat­te mit ei­nem Schla­ge mei­ne Mei­nung über Fœ­do­ra ge­än­dert. Die­ses Wort konn­te un­be­deu­tend oder tief, in­halt­los oder vol­ler Wirk­lich­keit sein, konn­te sich auf Glück oder auf Kum­mer, auf kör­per­li­ches oder see­li­sches Leid be­zie­hen. War es ein Fluch oder ein Ge­bet, Erin­ne­rung oder Zu­kunft, Reue oder Furcht? Ein gan­zes Le­ben lag in die­sem Wort, ein Le­ben in Ar­mut oder Reich­tum; es konn­te so­gar ein Ver­bre­chen be­deu­ten! Das Rät­sel, das in die­sem schö­nen Frau­en­bild ver­bor­gen lag, war wie­der­er­stan­den; Fœ­do­ra konn­te auf so vie­le Ar­ten er­klärt wer­den, daß sie un­er­klär­lich wur­de. Die Züge ih­res Atems, die schwach oder stark, schwer oder leicht von ih­ren Lip­pen ka­men, form­ten eine Art Spra­che, an die ich Ge­dan­ken und Ge­füh­le knüpf­te. Ich träum­te mit ihr und hoff­te, in ihre Ge­heim­nis­se ein­zu­drin­gen, in­dem ich mich in ih­ren Schlaf schlich, ich schwank­te zwi­schen tau­send wi­der­sprüch­li­chen Ent­schlüs­sen, zwi­schen tau­send ver­schie­de­nen Ur­tei­len. Wenn ich die­ses schö­ne Ge­sicht in sei­ner Rein­heit und Ruhe sah, konn­te ich die­ser Frau un­mög­lich ein Herz ab­spre­chen. Ich be­schloß, noch einen Ver­such zu un­ter­neh­men. Ich woll­te ihr von mei­nem Le­ben, mei­ner Lie­be, all mei­nen Op­fern er­zäh­len; viel­leicht, daß ich Mit­ge­fühl in ihr er­we­cken, ihr eine Trä­ne ent­lo­cken konn­te, ihr, die nie­mals wein­te. Ich war da­bei, all mei­ne Hoff­nun­gen auf die­se letz­te Pro­be zu set­zen, da kün­de­te mir der Lärm von der Stra­ße, daß der Tag an­brach. Ei­nen Au­gen­blick lang stell­te ich mir vor, wie Fœ­do­ra in mei­nen Ar­men er­wach­te. Ich konn­te mich sach­te ne­ben sie le­gen, mich an sie schmie­gen und sie um­ar­men. Die­se Vor­stel­lung quäl­te mich so fürch­ter­lich, daß ich, um ihr zu ent­rin­nen, in den Sa­lon flüch­te­te, un­ge­ach­tet der Geräusche, die ich her­vor­rief; zum Glück ge­lang­te ich an eine Ta­pe­ten­tür, die zu ei­ner klei­nen Trep­pe führ­te. Wie ver­mu­tet, steck­te der Schlüs­sel im Schloß; ich riß die Tür auf, eil­te be­herzt in den Hof hin­un­ter und sprang, ohne mich dar­um zu küm­mern, ob mich je­mand sah, in drei Sät­zen auf die Stra­ße. Zwei Tage spä­ter soll­te ein Schrift­stel­ler bei der Com­tes­se ein Lust­spiel vor­le­sen. Ich ging in der Ab­sicht hin, als Letz­ter zu blei­ben, um ihr ein recht son­der­ba­res An­lie­gen vor­zu­tra­gen; ich woll­te sie bit­ten, mir den Abend des nächs­ten Ta­ges zu wid­men; ihre Tür soll­te für je­den an­de­ren ge­schlos­sen blei­ben. Als ich mit ihr al­lein war, sank mein Mut. Je­der Pen­del­schlag der Uhr mach­te mir Angst. Es war drei­vier­tel Zwölf. – ›Wenn ich jetzt nicht mit ihr spre­che‹, sag­te ich zu mir selbst, ›schlag ich mir den Schä­del an der Ka­mi­ne­cke ein.‹ Ich be­wil­lig­te mir drei Mi­nu­ten Frist; die drei Mi­nu­ten ver­stri­chen; ich schlug mir nicht den Schä­del auf dem Mar­mor ein, mein Herz war schwer ge­wor­den wie ein Schwamm im Was­ser.

›Sie sind über­aus lie­bens­wür­dig‹, brach sie end­lich das Schwei­gen. ›Ach, Ma­da­me‹, rief ich, ›wenn Sie mich ver­ste­hen könn­ten!‹ – ›Was ha­ben Sie?‹ frag­te sie, ›Sie wer­den blaß.‹ – ›Ich will eine Gunst von Ih­nen er­bit­ten und wage es nicht.‹ Sie er­mu­tig­te mich mit ei­ner Hand­be­we­gung, und ich bat um die Zu­sam­men­kunft. – ›Gern‹, ant­wor­te­te sie. ›A­ber warum wol­len Sie nicht gleich jetzt zu mir spre­chen?‹ – ›Ich will Sie nicht täu­schen und muß Ih­nen sa­gen, was Ihr Ver­spre­chen bein­hal­tet: ich möch­te die­sen Abend mit Ih­nen ver­brin­gen, als wä­ren wir Ge­schwis­ter. Fürch­ten Sie nichts; ich weiß, was Sie nicht lei­den mö­gen; Sie ha­ben mich gut ge­nug ken­nen­ge­lernt, um si­cher zu sein, daß ich nichts von Ih­nen will, was Ih­nen miß­fal­len könn­te; über­dies, wer über die ge­bo­te­ne Schran­ke hin­aus­will, be­nimmt sich an­ders. Sie ha­ben mir Freund­schaft be­zeigt, Sie sind gut und vol­ler Nach­sicht. Nun, Sie sol­len wis­sen: mor­gen muß ich Ih­nen Le­be­wohl sa­gen. Neh­men Sie Ihr Wort nicht zu­rück!‰ rief ich, da ich sah, daß sie spre­chen woll­te, und ich enteil­te. Im Mai vo­ri­gen Jah­res, an ei­nem Abend ge­gen acht Uhr, saß ich al­lein mit Fœ­do­ra in ih­rem go­ti­schen Bou­doir. Ich zit­ter­te nicht, ich war si­cher, glück­lich zu wer­den. Die Frau, die ich lieb­te, soll­te mein wer­den, oder ich wür­de in die Arme des To­des flie­hen. Ich hat­te über mei­ne fei­ge Lie­be das Ur­teil ge­spro­chen. Ein Mann ist sehr stark, wenn er sich sei­ne Schwä­che ein­ge­steht. In ei­nem Kleid aus blau­em Kasch­mir lag die Com­tes­se aus­ge­streckt auf ei­nem Di­wan; ihre Füße ruh­ten auf ei­nem Kis­sen. Ein ori­en­ta­li­sches Ba­rett, ein Kopf­schmuck, wie ihn die Ma­ler den al­ten He­brä­ern ver­lei­hen, hat­te ih­rer ver­füh­re­ri­schen Er­schei­nung noch den pi­kan­ten Reiz des Fremd­ar­ti­gen hin­zu­ge­fügt. Auf ih­ren Zü­gen lag ein flüch­ti­ger Zau­ber, der zu be­wei­sen schi­en, daß wir in ei­nem je­den Au­gen­blick neue und ein­zig­ar­ti­ge We­sen sind ohne die min­des­te Ähn­lich­keit mit dem Ich der Zu­kunft und dem Ich der Ver­gan­gen­heit. Ich hat­te sie nie so strah­lend schön ge­se­hen. – ›Wis­sen Sie‹, sag­te sie lä­chelnd, ›daß Sie mei­ne Neu­gier er­regt ha­ben?‹ – ›Ich wer­de Sie nicht ent­täu­schen‹, er­wi­der­te ich kalt. Ich setz­te mich ne­ben sie und er­griff ihre Hand. Sie ließ sie mir. ›Sie ha­ben eine sehr schö­ne Stim­me!‹ – ›Sie ha­ben mich nie sin­gen hö­ren!‹ rief sie mit ei­ner er­staun­ten Be­we­gung. – ›Ich wer­de Ih­nen das Ge­gen­teil be­wei­sen, wenn es nö­tig sein wird. Soll­te denn Ihr ent­zücken­der Ge­sang ein Ge­heim­nis sein? Be­ru­hi­gen Sie sich, ich will es Ih­nen nicht ent­rei­ßen.‹ Wir plau­der­ten un­ge­fähr eine Stun­de ver­trau­lich mit­ein­an­der. Nahm ich auch den Ton, das Auf­tre­ten und die Ges­ten ei­nes Man­nes an, dem Fœ­do­ra nichts ver­wei­gern konn­te, wahr­te ich da­bei doch den gan­zen Re­spekt ei­nes Lie­ben­den. Durch die­ses Spiel er­lang­te ich die Gunst, ihr die Hand küs­sen zu dür­fen; sie zog mit ei­ner al­ler­liebs­ten Be­we­gung den Hand­schuh aus, und ich wieg­te mich so wol­lüs­tig in dem Wahn, an den ich mit Ge­walt glau­ben woll­te, daß sich mei­ne gan­ze See­le in die­sen Kuß er­goß. Fœ­do­ra ließ sich mit un­glaub­li­cher Nach­gie­big­keit schmei­cheln und lieb­ko­sen. Aber hal­te mich nicht für al­bern: einen Schritt über die­se brü­der­li­che Zärt­lich­keit hin­aus, und ich hät­te die Kral­len der Kat­ze zu spü­ren be­kom­men. Zehn Mi­nu­ten etwa blie­ben wir in tie­fes Schwei­gen ver­sun­ken. Ich über­ließ mich der Be­wun­de­rung; ich lieh ihr Rei­ze, die sie nicht hat­te. In die­sem Au­gen­blick ge­hör­te sie mir, mir al­lein. Ich be­saß die­ses ent­zücken­de Ge­schöpf, wie es er­laubt war, sie zu be­sit­zen: in der An­schau­ung und im Geis­te; ich hüll­te sie in mei­ne Sehn­sucht, hielt sie, drück­te sie an mich, mei­ne Phan­ta­sie ver­mähl­te sich mit ihr. So über­wand ich die Com­tes­se kraft ei­ner ma­gne­ti­schen Fas­zi­na­ti­on. Ich habe es des­halb im­mer be­dau­ert, daß ich mir die­se Frau nicht völ­lig un­ter­warf; aber in die­sem Au­gen­blick be­gehr­te ich nicht ih­ren Leib, ich woll­te eine See­le ha­ben, ich dürs­te­te nach ei­nem Le­ben, nach je­nem idea­len und voll­kom­me­nen Glück, nach dem schö­nen Traum, an den wir nicht lan­ge glau­ben.

›Ma­da­me la Com­tes­se‹, sag­te ich end­lich zu ihr, da ich fühl­te, daß die letz­te Stun­de mei­nes Rau­sches ge­kom­men war, ›hö­ren Sie mich an. Ich lie­be Sie, Sie wis­sen es, ich habe es Ih­nen tau­send­mal ge­sagt, Sie hät­ten mich ver­ste­hen müs­sen. Ich woll­te Ihre Lie­be nicht ei­ner ge­cken­haf­ten Zur­schau­stel­lung noch al­ber­nem Schön­tun oder tö­rich­ten Zu­dring­lich­kei­ten ver­dan­ken und bin dar­um nicht ver­stan­den wor­den. Wie vie­le Miß­hel­lig­kei­ten habe ich um Ihret­wil­len er­dul­det, an de­nen Sie den­noch un­schul­dig sind. Aber noch ein paar Au­gen­bli­cke, und Sie wer­den über mich ur­tei­len kön­nen. Es gibt zwei­er­lei Elend, Ma­da­me la Com­tes­se. Das eine geht scham­los und in Lum­pen auf der Stra­ße, es nimmt, ohne es zu wis­sen, das Le­ben des Dio­ge­nes wie­der auf, nährt sich von we­ni­gem, führt das Le­ben auf die Ein­fach­heit zu­rück; es ist viel­leicht glück­li­cher als der Reich­tum, ist we­nigs­tens sorg­los; es nimmt die Welt da, wo die Rei­chen nichts mehr von ihm wol­len. Dann gibt es das Elend des Lu­xus, ein spa­ni­sches Elend, das den Bet­tel­stab hin­ter ei­nem Ti­tel ver­steckt; es ist stolz und mit Fe­dern ge­schmückt, die­ses Elend mit wei­ßer Wes­te und gel­ben Hand­schu­hen, es hat Equi­pa­gen und ver­liert ein Ver­mö­gen, weil ihm ein Cen­ti­me fehlt. Das eine ist das Elend des Vol­kes; das an­de­re das der Schwind­ler, der Kö­ni­ge und der Ge­nies. Ich bin nicht Volk noch Kö­nig, noch Schwind­ler; viel­leicht habe ich auch kein Ge­nie: ich bin eine Aus­nah­me. Mein Name ge­bie­tet mir, lie­ber zu ster­ben als zu bet­teln. Be­ru­hi­gen Sie sich, Ma­da­me, ich bin heu­te reich, ich be­sit­ze al­les auf Er­den, was ich brau­che‹, füg­te ich hin­zu, als ich sah, wie ihr Ge­sicht den kal­ten Aus­druck an­nahm, der sich auf un­se­ren Mie­nen spie­gelt, wenn wir je­mand für einen Gent­le­man hiel­ten und er sich als ein Bitt­stel­ler ent­puppt. ›Erin­nern Sie sich an den Tag, wo Sie al­lein, ohne mich, ins Gym­na­se40 ge­hen woll­ten, weil Sie glaub­ten, ich wür­de nicht dort sein?‹ Sie nick­te mit dem Kopf. ›Ich hat­te mei­nen letz­ten Ta­ler ge­op­fert, um Sie dort se­hen zu kön­nen. Erin­nern Sie sich un­se­res Spa­zier­gangs im Jar­din des Plan­tes? Ihr Wa­gen hat mich mein gan­zes Ver­mö­gen ge­kos­tet.‹ Ich er­zähl­te ihr alle Op­fer, die ich ge­bracht hat­te, ich schil­der­te ihr mein Le­ben, nicht, wie jetzt dir im Rausch des Wei­nes, nein, im ed­len Rausch des Her­zens. Mei­ne Lei­den­schaft er­goß sich in flam­men­den Wor­ten, in ge­fühl­vol­len Aus­brü­chen, die ich seit­dem ver­ges­sen habe, nicht die Kunst und nicht die Erin­ne­rung könn­ten sie je wie­der­ge­ben. Das war nicht der kal­te Be­richt ei­ner ver­schmäh­ten Lie­be; mei­ne Lie­be in all ih­rer Kraft und in der Schön­heit ih­rer Hoff­nung gab mir Wor­te ein, die ein gan­zes Le­ben um­rei­ßen, da sie die Schreie ei­ner zer­ris­se­nen See­le bar­gen. Mein Ton glich dem letz­ten Ge­bet ei­nes Ster­ben­den auf dem Schlacht­feld. Sie wein­te. Ich brach ab. Gro­ßer Gott! Ihre Trä­nen ent­spran­gen je­ner künst­li­chen Rüh­rung, wie man sie für 100 Sous an ei­ner Thea­ter­kas­se kau­fen kann. Ich hat­te den Er­folg ei­nes gu­ten Ko­mö­di­an­ten. – ›Wenn ich ge­wußt hät­te …‹, sag­te sie. – ›Re­den Sie nicht wei­ter!‹ rief ich. ›Ich lie­be Sie in die­sem Au­gen­blick noch ge­nug, um Sie zu tö­ten …‹ Sie woll­te nach der Schnur der Klin­gel grei­fen. Ich brach in La­chen aus. ›Läu­ten Sie nicht‹, sprach ich. ›Ich las­se Sie Ihr Le­ben fried­lich be­schlie­ßen. Das hie­ße den Haß schlecht be­grei­fen, wenn ich Sie tö­te­te! Fürch­ten Sie kei­ner­lei Ge­walt: ich habe eine gan­ze Nacht am Fuß Ihres Bet­tes zu­ge­bracht, ohne …‹ – ›M­on­sieur!‹ rief sie und er­rö­te­te. Nach die­ser ers­ten Re­gung der Scham aber, die kei­ner Frau, selbst der ge­fühl­lo­ses­ten, völ­lig feh­len dürf­te, warf sie mir einen ver­ächt­li­chen Blick zu und fuhr fort: ›Sie müs­sen sehr kalt­blü­tig ge­we­sen sein!‹ – ›Glau­ben Sie, Ma­da­me‹, er­wi­der­te ich, denn ich er­riet die Ge­dan­ken, die sie heg­te, ›daß Ihre Schön­heit et­was so Kost­ba­res für mich ist? Ihr Ant­litz ist für mich das Ver­spre­chen ei­ner noch schö­ne­ren See­le. Und Ma­da­me, Män­ner, die in ei­ner Frau nur das Weib se­hen, kön­nen sich je­den Abend Oda­lis­ken kau­fen, die schön ge­nug für einen Ha­rem wä­ren, und für bil­li­ges Geld glück­lich sein! Aber ich war ehr­gei­zig, ich woll­te Herz an Herz mit Ih­nen le­ben, mit Ih­nen, ei­ner Frau, die kein Herz hat. Ich weiß es jetzt. Wenn Sie je ei­nem Man­ne ge­hö­ren soll­ten, wür­de ich ihn um­brin­gen. Aber nein, dann wür­den Sie ihn lie­ben, und sein Tod wür­de Ih­nen viel­leicht Schmerz be­rei­ten. Oh, wie furcht­bar ich lei­de!‹ rief ich. – ›Wenn es Sie trös­tet‹, sag­te sie hei­ter, ›kann ich Ih­nen ver­si­chern, daß ich nie ei­nem Man­ne an­ge­hö­ren wer­de.‹ – ›Hal­t‹, un­ter­brach ich sie; ›Sie läs­tern Gott und wer­den da­für be­straft wer­den! Ei­nes Ta­ges wer­den Sie auf dem Di­wan lie­gen, kein Geräusch und kein Licht ver­tra­gen, wer­den ver­dammt sein, in ei­ner Art Grab zu le­ben und un­er­hör­te Schmer­zen zu er­dul­den. Wenn Sie dann nach der Ur­sa­che die­ser lang­sa­men rä­chen­den Schmer­zen su­chen, ge­den­ken Sie des Un­glücks, das Sie so ver­schwen­de­risch auf Ihren Weg ge­streut ha­ben. Sie ha­ben über­all Flü­che ge­sät und wer­den Haß ern­ten. Wir sind un­se­re ei­ge­nen Rich­ter, die Hen­ker ei­nes Ge­rich­tes, das hie­nie­den sein Ur­teil spricht und das über dem Ge­richt der Men­schen und un­ter dem Got­tes wal­tet.‹ – ›Ach‹, er­wi­der­te sie la­chend, ›ich bin na­tür­lich eine große Ver­bre­che­rin, daß ich Sie nicht lie­be! Ist das mei­ne Schuld? Nein, ich lie­be Sie nicht; Sie sind ein Mann, das ist Grund ge­nug. Ich bin glück­lich, daß ich al­lein bin; warum soll­te ich mein Le­ben, mein egois­ti­sches Le­ben, wenn Sie es so nen­nen wol­len, ge­gen die Lau­nen ei­nes Herrn ver­tau­schen? Die Ehe ist ein Sa­kra­ment, das nichts als Kum­mer bringt. Und über­dies, Kin­der sind mir läs­tig. Habe ich Ih­nen nicht frei­mü­tig mei­nen Cha­rak­ter im vor­aus ge­schil­dert? Wa­rum ha­ben Sie sich nicht mit mei­ner Freund­schaft be­gnügt? Ich möch­te Sie ger­ne für die Qua­len, an de­nen ich schuld bin, weil ich nichts von Ihren Geld­ka­la­mi­tä­ten wuß­te, ent­schä­di­gen; ich sehe wohl, was Sie für Op­fer ge­bracht ha­ben; aber Lie­be al­lein kann Ihre Hin­ga­be und Ihr Zart­ge­fühl loh­nen; ich aber lie­be Sie so we­nig, daß die­ser Auf­tritt mir pein­lich ist.‹ – ›Ich weiß‹, ant­wor­te­te ich sanft und konn­te da­bei die Trä­nen nicht zu­rück­hal­ten, ›wie lä­cher­lich ich mich ma­che; ver­zei­hen Sie mir! Ich lie­be Sie so sehr, daß ich so­gar die grau­sa­men Wor­te, die Sie spre­chen, mit Ent­zücken höre. Oh, ich woll­te, ich könn­te mei­ne Lie­be mit mei­nem Blut be­sie­geln!‹ – ›Al­le Män­ner sa­gen uns in mehr oder we­ni­ger schö­nen Wor­ten die­se klas­si­schen Re­dens­ar­ten‹, ver­setz­te sie la­chend, ›a­ber es scheint wirk­lich schwer zu sein, zu un­se­ren Fü­ßen zu ster­ben; denn ich be­geg­ne der­lei To­ten über­all. Es ist Mit­ter­nacht, er­lau­ben Sie, daß ich schla­fen gehe.‹

›Und in zwei Stun­den schrei­en Sie wie­der auf: Mein Gott!‹ sag­te ich. – ›Vor­ges­tern! ja‹, ver­setz­te sie la­chend, ›ich dach­te an mei­nen Ban­kier; ich hat­te ver­ges­sen, ihm auf­zu­tra­gen, mei­ne fünf­pro­zen­ti­gen Ren­ten ge­gen drei­pro­zen­ti­ge zu tau­schen, und an dem Tag wa­ren die drei­pro­zen­ti­gen ge­sun­ken.‹ Ich sah sie mit wut­fun­keln­den Au­gen an. Oh! manch­mal muß ein Ver­bre­chen ein gan­zes Poem sein, das be­griff ich. Sie war of­fen­bar an die lei­den­schaft­li­chen Aus­brü­che ge­wöhnt und hat­te mei­ne Trä­nen und mei­ne Wor­te schon ver­ges­sen. – ›Wür­den Sie einen Pair von Frank­reich hei­ra­ten?‹ frag­te ich sie kalt. – ›Vi­el­leicht, wenn er Her­zog wäre.‹ Ich nahm mei­nen Hut und ver­beug­te mich. ›Ge­stat­ten Sie, daß ich Sie bis an die Tür mei­nes Zim­mers be­glei­te‹, sag­te sie mit ei­ner bei­ßen­den Iro­nie in ih­rer Ges­te, der Hal­tung ih­res Kop­fes und ih­rem Ton. – ›Ma­da­me.‹ – ›M­on­sieur?‹ – ›Ich wer­de Sie nicht wie­der­se­hen.‹ – ›Ich hof­fe es!‹ er­wi­der­te sie und neig­te ih­ren Kopf mit ei­ner im­per­ti­nen­ten Mie­ne. – ›Sie wol­len Her­zo­gin wer­den?‹ be­gann ich er­neut, durch ihre Hal­tung ge­ra­de­zu in Ra­se­rei ver­setzt. ›Sie dürs­ten nach Ti­teln und Ehren? Nun, dann las­sen Sie sich nur von mir lie­ben, be­feh­len Sie mei­ner Fe­der, nur für Sie zu schrei­ben, mei­ner Stim­me, nur für Sie zu er­tö­nen, sei­en Sie das ge­hei­me Prin­zip mei­nes Le­bens, sei­en Sie mein Stern! Neh­men Sie mich erst zum Ge­mahl, wenn ich Mi­nis­ter, Pair von Frank­reich, Her­zog bin … Ich wer­de al­les wer­den, was Sie wol­len!‹ ›Sie ha­ben‹, er­wi­der­te sie lä­chelnd, ›Ih­re Zeit beim An­walt gut ver­wen­det: Sie plä­die­ren sehr warm­her­zig.‹ – ›Du hast die Ge­gen­war­t‹, rief ich, ›und ich die Zu­kunft! Ich ver­lie­re nur eine Frau, du aber ver­lierst einen Na­men, eine Fa­mi­lie. Die Zeit trägt mei­ne Ra­che im Schoß: dir bringt sie Häß­lich­keit und Tod in der Ein­sam­keit; mir den Ruhm!‹ – ›Vie­len Dank für das Fina­le!‹ er­wi­der­te sie, un­ter­drück­te ein Gäh­nen und be­kun­de­te durch ihre Hal­tung, daß sie mich nicht län­ger se­hen woll­te. Nun schwieg ich, schleu­der­te ihr mei­nen Haß in ei­nem ein­zi­gen Blick zu und enteil­te. Es galt, Fœ­do­ra zu ver­ges­sen, mich von die­sem Wahn­sinn zu hei­len, mei­ne ein­sa­men Stu­di­en wie­der­auf­zu­neh­men oder zu ster­ben. Ich er­leg­te mir also ein ge­wal­ti­ges Ar­beits­pen­sum auf, ich woll­te mei­ne Wer­ke vollen­den. Vier­zehn Tage lang ver­ließ ich mei­ne Man­sar­de nicht und saß des Nachts über mei­nen an­stren­gen­den Stu­di­en. Trotz mei­nes Mu­tes und der Kraft der Verzweif­lung ar­bei­te­te ich schwer und nur spo­ra­disch. Die Muse hat­te mich ver­las­sen. Ich konn­te das strah­len­de, spöt­ti­sche Bild Fœ­do­ras nicht ban­nen. Je­der Ge­dan­ke brü­te­te einen an­de­ren krank­haf­ten Ge­dan­ken aus, ein Be­geh­ren, so schreck­lich quä­lend wie das Ge­wis­sen. Ich folg­te dem Bei­spiel der Ein­sied­ler aus der The­bais. Zwar be­te­te ich nicht wie sie, aber wie sie leb­te ich in ei­ner Ein­öde und höhlte mein Herz aus, wie sie die Fel­sen höhlten. Ich hät­te mir not­falls so­gar einen Sta­chel­gür­tel an­ge­legt, um den Schmerz der Lie­be durch den kör­per­li­chen Schmerz zu bän­di­gen. Ei­nes Abends drang Pau­li­ne in mein Zim­mer ein. – ›Sie rich­ten sich zu­grun­de‹, sag­te sie mit fle­hen­der Stim­me zu mir, ›Sie soll­ten aus­ge­hen, Ihre Freun­de auf­su­chen.‹ – ›Ach, Pau­li­ne! Ihre Pro­phe­zei­ung ist ein­ge­trof­fen. Fœ­do­ra tö­tet mich, ich will ster­ben. Das Le­ben ist mir un­er­träg­lich.‹ – ›Gibt es denn nur eine Frau in der Welt?‹ frag­te sie lä­chelnd. ›Wa­rum ma­chen Sie sich die­ses kur­ze Le­ben zu so maß­lo­ser Qual?‹ Ich blick­te Pau­li­ne wie er­starrt an. Sie ließ mich al­lein. Ich hat­te gar nicht be­merkt, daß sie ge­gan­gen war; ich hat­te ihre Stim­me ge­hört, ohne den Sinn ih­rer Wor­te zu ver­ste­hen. Bald dar­auf muß­te ich das Ma­nu­skript der Me­moi­ren zu mei­nem li­te­ra­ri­schen Un­ter­neh­mer brin­gen. Ich war so von mei­ner Lei­den­schaft be­ses­sen, daß ich nicht wuß­te, wie ich ohne Geld hat­te le­ben kön­nen; ich wuß­te bloß, daß ich die 450 Fran­cs, die mir zu­stan­den, aus­reich­ten, mei­ne Schul­den zu be­zah­len; ich woll­te also mein Ho­no­rar ho­len und traf Ras­ti­gnac. Er fand mich ver­än­dert und ab­ge­ma­gert. – ›Aus wel­chem Ho­spi­tal kommst du denn?‹ frag­te er mich. – ›Die­se Frau tö­tet mich‹, er­wi­der­te ich; ›ich kann sie nicht ver­ach­ten und nicht ver­ges­sen.‹ – ›Da ist es bes­ser, sie zu tö­ten‹, ver­setz­te er la­chend; ›viel­leicht denkst du dann nicht mehr an sie.‹ – ›Da­ran habe ich auch ge­dacht‹, war mei­ne Ant­wort; ›manch­mal er­quick­te ich mei­ne See­le mit dem Ge­dan­ken an ein Ver­bre­chen, Not­zucht oder Mord oder bei­des zu­sam­men; aber ich bin nicht im­stan­de, es wirk­lich zu be­ge­hen. Die Com­tes­se ist ein ent­zücken­des Un­ge­heu­er, das um Gna­de bit­ten wür­de, und ich bin kein Othel­lo!‹ – ›Sie ist wie alle Wei­ber, die wir nicht ha­ben kön­nen‹, un­ter­brach mich Ras­ti­gnac. – ›Ich bin toll!‹ rief ich; ›ich spü­re, wie der Wahn­sinn zu­zei­ten in mei­nem Hirn rast. Mei­ne Ge­dan­ken sind wie geis­ter­haf­te Ge­stal­ten, sie um­gau­keln mich, und ich kann sie nicht fas­sen. Lie­ber will ich tot sein, als so wei­ter­le­ben. Und so su­che ich nur nach dem bes­ten Mit­tel, die­sem Kampf ein Ende zu ma­chen. Es han­delt sich nicht mehr um die le­ben­di­ge Fœ­do­ra des Fau­bourg Saint-Ho­noré, son­dern um mei­ne Fœ­do­ra, um die, die da drin­nen wohnt!‹ rief ich und schlug mit der Hand ge­gen die Stirn. ›Was hältst du vom Opi­um?‹ – ›Gar nichts! Furcht­ba­re Quä­le­rei!‹ er­wi­der­te Ras­ti­gnac.

›Er­sti­cken durch Kohlen­dunst?‹ – ›Pö­bel­haft.‹ – ›Die Sei­ne?‹ – ›Die Net­ze und die Morgue sind sehr schmut­zig.‹ – ›Ein Pis­to­len­schuß?‹ – ›Und wenn du fehlst, bist du für im­mer ent­stellt. Hö­re‹, füg­te er hin­zu, ›ich habe wie alle jun­gen Leu­te über den Selbst­mord nach­ge­dacht. Wer un­ter uns Drei­ßig­jäh­ri­gen hät­te sich nicht zwei- oder drei­mal um­ge­bracht? Ich habe nichts Bes­se­res ge­fun­den, als das Da­sein in Ver­gnü­gun­gen zu ver­schlei­ßen. Stür­ze dich in Aus­schwei­fun­gen, dann geht dei­ne Lei­den­schaft oder du selbst dar­in zu­grun­de. Maß­lo­sig­keit, mein Lie­ber, ist die Kö­ni­gin al­ler Tode. Ge­bie­tet sie nicht über den Schlag­an­fall? Der Schlag­an­fall ist ein Pis­to­len­schuß, der nicht fehl­geht. Or­gi­en ver­schaf­fen uns leib­li­che Won­nen in Fül­le; sind sie nicht Opi­um in klei­nen Do­sen? Wenn wir un­mä­ßig trin­ken, for­dert die Aus­schwei­fung den Wein auf Tod und Le­ben in die Schran­ken. Schmeckt das Faß Mal­va­sier des Duc de Cla­rence41 nicht bes­ser als der Schlamm der Sei­ne? Wenn wir no­bel un­ter den Tisch rol­len, ist das nicht so et­was wie eine pe­ri­odi­sche Gas­ver­gif­tung? Wenn die Pa­trouil­le uns auf­liest und wir in den Wach­stu­ben auf den kal­ten Prit­schen lie­gen, ge­nie­ßen wir da nicht die Freu­den der Morgue,42 ohne die­se häß­lich auf­ge­trie­be­nen Bäu­che und blau-grü­nen Fle­cken, da­für aber im vol­len Be­wußt­sein der Lage? Oh‹, fuhr er fort, ›solch lan­ger Selbst­mord ist et­was an­de­res als der Tod ei­nes bank­rot­ten Krä­mers! Die Kauf­leu­te ha­ben un­se­ren Fluß ge­schän­det; sie stür­zen sich ins Was­ser, um ihre Gläu­bi­ger zu rüh­ren. An dei­ner Stel­le wür­de ich ver­su­chen, mit Ele­ganz zu ster­ben. Willst du eine neue To­des­art schaf­fen, in­dem du sol­cher­art das Le­ben her­aus­for­derst, bin ich dein Se­kun­dant. Ich lang­wei­le mich, ich bin ent­täuscht. Die El­säs­se­rin, die man mir zur Frau vor­ge­schla­gen hat, hat sechs Ze­hen am lin­ken Fuß: ich kann mit kei­ner Frau le­ben, die sechs Ze­hen hat! Das sprä­che sich her­um, und ich wäre lä­cher­lich. Sie hat nur 18 000 Fran­cs Ren­te! zu­we­nig Geld und zu­viel Ze­hen! Zum Teu­fel! Füh­ren wir ein tol­les Le­ben, viel­leicht pa­cken wir per Zu­fall das Glück beim Schop­fe!‹ Ras­ti­gnac riß mich mit. Die­ser Plan war zu ver­füh­re­risch, er ent­zün­de­te aufs neue zu vie­le Hoff­nun­gen, kurz, er hat­te eine zu poe­ti­sche Far­be, als daß ein Dich­ter ihm hät­te wi­der­ste­hen kön­nen. – ›Und das Geld?‹ frag­te ich. – ›Hast du nicht 450 Fran­cs?‹ – ›Ja, aber ich habe Schul­den bei mei­nem Schnei­der, bei mei­ner Wir­tin.‹ – ›Du be­zahlst dei­nen Schnei­der? Aus dir wird nie et­was wer­den, nicht ein­mal ein Mi­nis­ter.‹ – ›A­ber was kön­nen wir mit 20 Louis­dors an­fan­gen?‹ – ›Spie­len ge­hen.‹ Mich über­lief ein Schau­der. ›Oh!‹ rief er, als er mei­ne Scheu be­merk­te, ›du willst dich auf mein Sys­tem des wüs­ten Le­bens, wie ich es nen­ne, wer­fen und fürch­test dich vor ei­nem grü­nen Tuch!‹ – ›Hö­re‹, ant­wor­te­te ich ihm, ›ich habe mei­nem Va­ter ver­spro­chen, nie den Fuß in ein Spiel­haus zu set­zen. Nicht nur, daß das Ver­spre­chen mir hei­lig ist, ich ver­spü­re auch eine un­über­wind­li­che Ab­nei­gung, wenn ich an ei­ner Spiel­höl­le vor­bei­kom­me; nimm mei­ne 100 Ta­ler und geh al­lein hin! Wäh­rend du un­ser Ver­mö­gen ris­kierst, wer­de ich mei­ne An­ge­le­gen­hei­ten in Ord­nung brin­gen und dann in dei­ner Woh­nung auf dich war­ten.‹ So also, mein Lie­ber, rann­te ich in mein Ver­der­ben. Ein jun­ger Mann braucht nur auf eine Frau zu tref­fen, die ihn nicht liebt oder die ihn zu sehr liebt, und schon ist sein gan­zes Le­ben aus den Fu­gen. Das Glück ver­zehrt un­se­re Kräf­te, wie das Un­glück un­se­re Tu­gen­den ver­nich­tet. Als ich ins Ho­tel Saint-Quen­tin zu­rück­ge­kehrt war, be­trach­te­te ich lan­ge die Kam­mer, in der ich das keu­sche Le­ben ei­nes Ge­lehr­ten ge­führt hat­te, ein Le­ben, das viel­leicht lang und eh­ren­voll ge­wor­den wäre und das ich nicht für ein Le­ben der Lei­den­schaft hät­te ver­las­sen sol­len, das mich in den Ab­grund riß. Pau­li­ne kam und fand mich düs­ter da­ho­ckend. – ›Was ist Ih­nen denn?‹ frag­te sie. Ich stand mit erns­ter Mie­ne auf, zähl­te ihr das Geld hin, das ich ih­rer Mut­ter schul­dig war, und füg­te mei­ne Mie­te für ein hal­b­es Jahr hin­zu. Sie sah mich er­schro­cken an. ›Ich ver­las­se Sie, lie­be Pau­li­ne.‹ – ›Ich ahn­te es!‹ rief sie. – ›Hö­ren Sie, mein Kind, ich möch­te nicht völ­lig dar­auf ver­zich­ten, wie­der hier­her­zu­kom­men. Re­ser­vie­ren Sie mir mei­ne Zel­le ein hal­b­es Jahr lang. Bin ich am 15. No­vem­ber nicht zu­rück, so tre­ten Sie mei­ne Erb­schaft an. Die­ses ver­sie­gel­te Ma­nu­skript – da­mit wies ich ihr einen Pa­cken Pa­pie­re – ist die Ab­schrift mei­nes großen Wer­kes über den Wil­len; über­ge­ben Sie es der Kö­nig­li­chen Biblio­thek. Mit al­lem an­de­ren, was ich hier las­se, kön­nen Sie ma­chen, was Sie wol­len.‹ Sie warf mir Bli­cke zu, die mich schwer ins Herz tra­fen. Pau­li­ne stand da wie das leib­haf­ti­ge Ge­wis­sen.

›Ich wer­de kei­ne Stun­den mehr ha­ben?‹ frag­te sie mit ei­nem Blick aufs Kla­vier. Ich ant­wor­te­te nicht. ›Wer­den Sie mir schrei­ben?‹ – ›Le­ben Sie wohl, Pau­li­ne.‹ Ich zog sie sanft an mich und drück­te auf ihre lie­be Stirn, jung­fräu­lich wie Schnee, der die Erde noch nicht be­rührt hat, einen brü­der­li­chen Kuß – den Kuß ei­nes Grei­ses. Sie enteil­te. Ma­da­me Gau­din woll­te ich nicht se­hen. Ich hing mei­nen Schlüs­sel an die ge­wohn­te Stel­le und ging. Als ich die Rue de Cluny ver­ließ, hör­te ich einen leich­ten Frau­en­schritt hin­ter mir. – ›Ich hat­te Ih­nen die­se Bör­se ge­stickt; wol­len Sie die auch nicht mit­neh­men?‹ Ich glaub­te, beim Schein der Stra­ßen­la­ter­ne eine Trä­ne in Pau­li­nes Au­gen schim­mern zu se­hen und seufz­te. Vi­el­leicht von dem glei­chen Ge­dan­ken ge­trie­ben, trenn­ten wir uns so ei­lig, als flüch­te­ten wir vor der Pest. Das wüs­te Le­ben, dem ich mich über­las­sen woll­te, schi­en mir in dem Zim­mer, in dem ich mit ed­ler Un­be­küm­mert­heit auf Ras­ti­gnacs Rück­kehr war­te­te, sei­nen bi­zar­ren Aus­druck zu fin­den. Mit­ten auf dem Ka­min stand eine Pen­du­le, auf der eine Ve­nus auf ei­ner Schild­krö­te hock­te und einen Zi­gar­ren­stum­mel in den Ar­men hielt. Ele­gan­te Mö­bel, Ge­schen­ke der Lie­be, stan­den un­or­dent­lich um­her. Alte So­cken la­gen auf ei­nem üp­pi­gen Di­wan her­um. Der be­que­me Lehn­stuhl, in dem ich ver­sun­ken war, zeig­te Nar­ben wie ein al­ter Sol­dat, stell­te sei­ne zer­ris­se­nen Arme zur Schau und trug auf sei­ner Leh­ne eine Krus­te von Po­ma­de und Haar­öl, ein Ab­druck sämt­li­cher Freun­des­köp­fe. Üp­pig­keit und Elend paar­ten sich un­ge­niert im Bett, an den Wän­den, über­all. Man wur­de an die von Laz­zaro­ni43 um­la­ger­ten Pa­läs­te von Nea­pel er­in­nert. Es war das Zim­mer ei­nes Spie­lers oder Lie­der­jans, des­sen Lu­xus an sei­ne Per­son ge­bun­den ist, der nur mit den Sin­nen lebt und sich um der­lei Di­ver­gen­zen nicht wei­ter schert. Der An­blick war üb­ri­gens nicht ohne Ro­man­tik. Das Le­ben zeig­te sich da mit sei­nen Flit­tern und Lum­pen, wet­ter­wen­disch und un­voll­kom­men, wie es wirk­lich ist, aber leb­haft und far­ben­freu­dig wie im Zelt ei­nes Mar­o­deurs, der al­les zu­sam­men­ge­plün­dert hat, was ihm Freu­de macht. Ein By­ron, aus dem Blät­ter her­aus­ge­ris­sen wa­ren, hat­te dem jun­gen Mann zum Feu­er­an­ma­chen ge­dient, der im Spiel 1000 Fran­cs ris­kiert, aber kein Scheit Holz hat, der im Til­bu­ry fährt, aber kein or­dent­li­ches Hemd am Lei­be trägt. Schon am nächs­ten Tag gibt ihm viel­leicht eine Com­tes­se, eine Schau­spie­le­rin oder das Écar­té44 eine kö­nig­li­che Aus­stat­tung. Hier kleb­te eine Ker­ze in der grü­nen Kap­pe ei­nes Feu­er­zeu­ges; dort lag das Bild­nis ei­ner Frau, das sei­nes gol­de­nen Rah­mens be­raubt wor­den war. Wie soll­te ein jun­ger Mann, des­sen Na­tur nach Er­re­gun­gen dürs­tet, auf die Rei­ze ei­nes Le­bens ver­zich­ten, das so reich an Ge­gen­sät­zen ihm mit­ten im Frie­den die Freu­den des Krie­ges ge­währt? Ich war bei­na­he ein­ge­nickt, als Ras­ti­gnac mit ei­nem Fuß­tritt die Tür auf­s­tieß und rief: ›Tri­umph! jetzt kön­nen wir ster­ben, wie’s uns be­liebt!‹ Er zeig­te mir sei­nen Hut, der vol­ler Gold war, stell­te ihn auf den Tisch, und wir tanz­ten um ihn her­um wie zwei Kan­ni­ba­len um ihr Op­fer, heul­ten, stampf­ten, spran­gen, ver­setz­ten uns Faust­schlä­ge, die ein Rhi­no­ze­ros nie­der­ge­streckt hät­ten, und san­gen lauthals an­ge­sichts al­ler Freu­den der Welt, die für uns in die­sem Hut ent­hal­ten wa­ren.

›27 000 Fran­cs!‹ rief Ras­ti­gnac und warf noch ein paar Schei­ne auf den Gold­hau­fen. ›An­de­ren könn­te die­ses Geld zum Le­ben ge­nü­gen, aber ob es uns zum Ster­ben ge­nug ist? O ja, wir wer­den in ei­nem Gold­bad da­hin­schei­den! Hur­ra!‹ Wir fin­gen von neu­em mit un­sern Bock­sprün­gen an. Dann mach­ten wir uns wie la­chen­de Er­ben ans Tei­len, Stück für Stück; bei den Dop­pel­na­po­le­ons fin­gen wir an, gin­gen von den großen Mün­zen zu den klei­nen über und kos­te­ten un­se­re Freu­de trop­fen­wei­se, in­dem wir im­mer wie­der sag­ten: ›Das dir! Das mir!‹ – ›Heu­te schla­fen wir nicht!‹ rief Ras­ti­gnac. ›Jo­seph, Punsch!‹ Er warf sei­nem treu­en Die­ner Gold zu: ›Da hast du dei­nen An­teil‹, sag­te er, ›be­gra­be dich, wenn du kannst!‹ Am Tag dar­auf kauf­te ich bei Le­sa­ge Mö­bel, mie­te­te die Woh­nung in der Rue Tait­bout, in der du mich ken­nen­ge­lernt hast, und be­auf­trag­te den bes­ten Ta­pe­zie­rer mit der Aus­stat­tung. Ich schaff­te mir Pfer­de an. Ich stürz­te mich in einen Wir­bel von eit­len und von wirk­li­chen Genüs­sen. Ich spiel­te, ge­wann und ver­lor ab­wech­selnd un­ge­heu­re Sum­men, aber auf Fes­ten, bei Freun­den, nie in Spiel­häu­sern, vor de­nen ich mei­ne frü­he­re hei­li­ge Scheu bei­be­hielt. All­mäh­lich fand ich Freun­de. Ich ver­dank­te ihre An­häng­lich­keit klei­nen Strei­tig­kei­ten oder der ver­trau­ens­se­li­gen Leicht­fer­tig­keit, mit der wir uns un­se­re Ge­heim­nis­se an­ver­trau­en und uns ge­mein­sam er­nied­ri­gen; aber viel­leicht sind nur die Las­ter un­ser Bin­de­glied? Ich wag­te mich an ei­ni­ge li­te­ra­ri­sche Ar­bei­ten, die mir Kom­pli­men­te ein­tru­gen. Da die Leuch­ten der Li­te­ra­ten­welt in mir kei­nen ge­fähr­li­chen Kon­kur­ren­ten sa­hen, lob­ten sie mich, ohne Zwei­fel we­ni­ger we­gen mei­nes per­sön­li­chen Ver­diens­tes, als um das ih­rer Kol­le­gen zu schmä­lern. Ich wur­de ein Le­be­mann, um mich die­ses ma­le­ri­schen Aus­drucks zu be­die­nen, den eure Or­gien­spra­che er­fun­den hat. Es war mir eine Ehren­sa­che, mich schnell um­zu­brin­gen, mit mei­nem Schwung und mei­ner Aus­dau­er die hei­ters­ten Kum­pa­ne aus­zu­ste­chen. Ich war im­mer frisch, im­mer ele­gant. Ich galt für geist­voll. Man sah mir das furcht­ba­re Da­sein nicht an, das aus dem Men­schen einen Trich­ter, einen Ver­dau­ungs­ap­pa­rat, ein Lu­xus­pferd macht. Bald er­schi­en mir die Aus­schwei­fung in der gan­zen Ma­je­stät ih­res Grau­ens, und ich ver­stand sie! Kei­ne Fra­ge: die ver­nünf­ti­gen Leu­te aus ge­ord­ne­ten Ver­hält­nis­sen, die Wein­fla­schen für ihre Er­ben eti­ket­tie­ren, kön­nen we­der die Theo­rie die­ses un­er­meß­li­chen Le­bens noch des­sen Nor­mal­zu­stand auch nur an­nä­hernd be­grei­fen; wie soll man Pro­vinz­lern, für die Opi­um und Tee, in de­nen eine sol­che Fül­le von Won­nen schlum­mern, noch im­mer nur Arz­nei­en sind, die Poe­sie die­ses Le­bens bei­brin­gen? Fin­det man nicht selbst in Pa­ris, die­ser Haupt­stadt des Geis­tes, klein­mü­ti­ge Sy­ba­ri­ten?45 Un­fä­hig, das Über­maß des Ge­nus­ses zu ver­tra­gen, schlep­pen sie sich er­mat­tet von ei­ner Or­gie weg, wie die bie­de­ren Bür­ger, die eine neue Oper von Ros­si­ni ge­hört ha­ben und nach­her die Mu­sik ver­dam­men? Ent­sa­gen sie nicht die­sem Le­ben, wie ein maß­vol­ler Mensch kei­ne Pas­te­ten von Ruf­fec mehr es­sen will, weil ihm die ers­te den Ma­gen ver­dor­ben hat? Die Aus­schwei­fung ist si­cher­lich eine Kunst wie die Poe­sie und braucht star­ke See­len. Um ihre Ge­heim­nis­se zu fas­sen, ihre Köst­lich­kei­ten zu schlür­fen, muß man sich ei­ni­ger­ma­ßen gründ­li­chen Stu­di­en hin­ge­ben. Wie alle Wis­sen­schaf­ten ist sie im An­fang ab­schre­ckend und dor­nen­voll.

Un­ge­heu­re Hin­der­nis­se um­ge­ben die großen Freu­den des Men­schen, nicht sei­ne Ver­gnü­gun­gen im ein­zel­nen, son­dern die Sys­te­me, wel­che die sel­tens­ten Emp­fin­dun­gen zur Ge­wohn­heit er­he­ben, ih­nen In­ten­si­tät ver­lei­hen, sie für ihn frucht­bar ma­chen, in­dem sie in sein Le­ben ein dra­ma­ti­sches Ele­ment brin­gen und ihn zu ei­nem un­mä­ßi­gen, schnel­len, ver­schwen­de­ri­schen Ver­brauch sei­ner Kräf­te nö­ti­gen. Der Krieg, die Macht, die Küns­te brin­gen Ver­derbt­hei­ten her­vor, die mensch­li­chem Be­grei­fen eben­so fern­lie­gen wie die Aus­schwei­fung, und zu de­nen der Zu­gang eben­so schwie­rig ist. Aber hat der Mensch erst ein­mal die­se großen Ge­heim­nis­se im Sturm ge­nom­men, schrei­tet er wie in ei­ner neu­en Welt. Ge­nerä­le, Mi­nis­ter, Künst­ler wer­den al­le­samt mehr oder we­ni­ger zur Zü­gel­lo­sig­keit ge­trie­ben, weil sie das Be­dürf­nis ha­ben, ih­rem so weit vom ge­wöhn­li­chen Le­ben ent­fern­ten Da­sein au­ßer­or­dent­li­che Zer­streu­ung ent­ge­gen­zu­set­zen. Letzt­end­lich ist der Krieg die Aus­schwei­fung des Blu­tes, wie die Po­li­tik die Aus­schwei­fung der In­ter­es­sen ist. Alle Ex­zes­se sind Ge­schwis­ter. Die­se so­zia­len Un­ge­heu­er­lich­kei­ten ha­ben die Ge­walt von Ab­grün­den; sie zie­hen uns an, wie Sankt He­le­na Na­po­le­on an sich lock­te; sie ma­chen uns schwind­lig, be­he­xen uns, und wir lech­zen da­nach, ihre letz­ten Tie­fen zu er­grün­den, ohne zu wis­sen, warum. Vi­el­leicht lebt in die­sen Ab­grün­den die Idee des Unend­li­chen; viel­leicht ber­gen sie eine große Hul­di­gung für den Men­schen; dreht sich denn nicht al­les um sei­ne Per­son? Der Künst­ler braucht einen Kon­trast zum Pa­ra­dies sei­ner Ar­beits­stun­den, sei­ner Schöp­fer­won­nen, er ist müde und er­sehnt ent­we­der wie Gott die Sonn­tags­ru­he oder wie der Teu­fel die Lüs­te der Höl­le, um mit der An­span­nung der Sin­ne die An­span­nung sei­ner Fä­hig­kei­ten aus­zu­glei­chen. Lord By­rons Er­ho­lung konn­te nicht das ge­schwät­zi­ge Bo­ston46 sein, das einen Ren­tier ent­zückt; er war ein Dich­ter, er brauch­te Grie­chen­land, um ge­gen Mo­ham­med zu spie­len. Wird der Mensch nicht im Krieg ein Ra­cheen­gel, ein Hen­ker ko­los­sa­len Aus­ma­ßes? Be­darf es nicht ganz au­ßer­or­dent­li­cher Rei­ze, da­mit wir die wil­den Schmer­zen, die Fein­de un­se­rer ge­brech­li­chen Hül­le, er­tra­gen, wel­che die Lei­den­schaf­ten wie mit ei­nem dor­ni­gen Gür­tel um­ge­ben? Hat der Rau­cher, wenn er sich nach über­mä­ßi­gem Ta­bak­ge­nuß in Krämp­fen wälzt und To­des­qua­len aus­steht, nicht in un­be­kann­ten Re­gio­nen wun­der­vol­le Fes­te er­lebt? Hat nicht Eu­ro­pa, ohne sich Zeit zu las­sen, bis sei­ne Füße trock­ne­ten, die bis zum Knö­chel in Blut ge­wa­tet sind, un­auf­hör­lich im­mer wie­der Krieg an­ge­zet­telt? Also er­fährt der Mensch in sei­ner Ge­samt­heit eben­so einen Rausch wie die Na­tur ihre An­wand­lun­gen von Lie­be? Für den Pri­vat­mann, für den Mi­ra­beau, der in ei­ner Zeit des Frie­dens ve­ge­tiert und von Stür­men träumt, birgt Aus­schwei­fung al­les in sich, sie ist für ihn ein un­auf­hör­li­ches Um­schlin­gen des gan­zen Le­bens, oder viel­mehr ein Duell mit ei­ner un­be­kann­ten Macht, mit ei­nem Un­ge­heu­er. Zu­erst er­schreckt ihn das Un­ge­heu­er, man muß es bei den Hör­nern fas­sen, was un­er­hör­te An­stren­gun­gen er­for­dert. Hat die Na­tur euch einen zu en­gen oder trä­gen Ma­gen ge­ge­ben? Zwingt ihn, wei­tet ihn; lernt den Wein ver­tra­gen, zähmt den Rausch, bringt die Näch­te schlaf­los zu und ent­wi­ckelt schließ­lich das Na­tu­rell ei­nes Küras­sier­obers­ten, so er­schafft ihr euch sel­ber ein zwei­tes Mal, wie Gott zum Trotz! Wenn der Mensch sich auf die­se Wei­se ver­wan­delt hat, wenn der Neu­ling – ein al­ter Sol­dat – sei­ne See­le an den Don­ner der Ge­schüt­ze, sei­ne Bei­ne an den Marsch ge­wöhnt hat, ohne noch dem Un­ge­heu­er ver­fal­len zu sein, ohne noch zu wis­sen, wer von bei­den die Ober­hand ge­win­nen wird, dann wäl­zen sie sich wild im Kamp­fe, bald Sie­ger, bald Be­sieg­ter, in ei­ner Sphä­re, wo al­les wun­der­voll ist, wo die See­len­qua­len ein­schlum­mern und nur Trug­bil­der des Geis­tes auf­le­ben. Und schon ist die­ser wil­de Kampf zum Be­dürf­nis ge­wor­den. Da der Aus­schwei­fen­de eine leib­haf­te Ver­kör­pe­rung je­ner Fa­bel­ge­stal­ten ist, die der Le­gen­de nach dem Teu­fel ihre See­le ver­kauft ha­ben, um von ihm die Macht zu er­lan­gen, Bö­ses zu tun, hat er den Tod ge­gen alle Genüs­se des Le­bens ge­tauscht, ge­gen über­schäu­men­de, frucht­ba­re Lust! An­statt ge­mäch­lich zwi­schen zwei ein­tö­ni­gen Ufern da­hin­zu­flie­ßen, in ei­nem Kon­tor oder ei­ner Stu­dier­stu­be, schäumt und spru­delt das Le­ben wie ein Sturz­bach. Kurz, Aus­schwei­fung ist für den Kör­per, was mys­ti­sche Freu­den für die See­le sind. Die Trun­ken­heit taucht den Men­schen in Träu­me, de­ren phan­tas­ti­sche Ge­bil­de so selt­sam sind wie die der Ek­sta­se. Er er­lebt Stun­den, ent­zückend wie die Lau­nen ei­nes jun­gen Mäd­chens, köst­li­che Plau­der­stun­den mit Freun­den, ver­nimmt Wor­te, die ein gan­zes Le­ben aus­drücken, ge­nießt Freu­den frei ohne Hin­ter­ge­dan­ken, reist ohne zu er­mü­den, gan­ze Dich­tun­gen er­ste­hen ihm aus ein paar Sät­zen. Der bru­ta­len Be­frie­di­gung der Bes­tie Mensch, in de­ren In­ne­rem die Wis­sen­schaft eine See­le ge­sucht hat, folgt eine wun­der­ba­re Be­täu­bung, nach der die ih­res Geis­tes über­drüs­si­gen Men­schen sich seh­nen. Ver­spü­ren sie nicht all die Not­wen­dig­keit völ­li­ger Ruhe, und ist die Aus­schwei­fung nicht eine Art Steu­er, die das Ge­nie dem Bö­sen zahlt? Sieh dir all die großen Män­ner an: wenn sie nicht wol­lüs­tig sind, hat die Na­tur ih­nen einen küm­mer­li­chen Kör­per ge­ge­ben. Eine Macht, sei sie nun bos­haft oder ei­fer­süch­tig, verdirbt ih­nen die See­le oder den Kör­per, um ge­gen die Mü­hen ih­res Tal­ents ein Ge­gen­ge­wicht zu schaf­fen. In sol­chen Stun­den des Wein­rau­sches er­schei­nen uns Men­schen und Din­ge in den Ge­wän­dern, die wir selbst ih­nen ge­ben. Als Kö­nig der Schöp­fung wan­deln wir sie nach un­se­rem Ge­fal­len.

In die­sem fort­wäh­ren­den Fie­ber­tau­mel gießt uns das Spiel nach un­se­rem Wil­len sein flüs­si­ges Blei in die Adern. Ei­nes Ta­ges sind wir dem Un­ge­heu­er hö­rig, dann gibt es, wie es mir er­ging, ein fürch­ter­li­ches Er­wa­chen: die Ohn­macht sitzt an un­se­rem Bett. Den al­ten Krie­ger ver­zehrt die Schwind­sucht; eine Her­zer­wei­te­rung hält das Le­ben des Di­plo­ma­ten am sei­de­nen Fa­den; mir sagt viel­leicht bald eine Lun­gen­ent­zün­dung: ’Er­le­digt!’, wie einst­mals zu Raf­fa­el aus Ur­bi­no,47 den sei­ne Aus­schwei­fun­gen in der Lie­be da­hin­ge­rafft ha­ben. Sieh, so habe ich ge­lebt! Ich bin ent­we­der zu früh oder zu spät in das Le­ben die­ser Welt ge­ra­ten; zwei­fel­los wäre mei­ne Kraft ihr ge­fähr­lich ge­wor­den, wenn ich sie nicht auf die­se Art zer­rüt­tet hät­te; wur­de die Welt nicht von Alex­an­der be­freit durch den Her­ku­les­kelch,48 den er am Ende ei­nes Ge­la­ges leer­te? Kurz, ge­wis­se vom Schick­sal be­tro­ge­ne Exis­ten­zen brau­chen den Him­mel oder die Höl­le, die Aus­schwei­fung oder das Ho­spiz auf dem Sankt Bern­hard. Des­we­gen hat­te ich nicht den Mut, die­sen bei­den Ge­schöp­fen«, da­mit wies er auf Eu­phra­sie und Aqui­li­na, »Moral zu pre­di­gen. Wa­ren sie nicht die Ver­kör­pe­rung mei­ner Ge­schich­te, ein Ab­bild mei­nes Le­bens? Ich ver­moch­te sie nicht an­zu­kla­gen, sie er­schie­nen mir wie Rich­ter. Mit­ten in die­sem er­leb­ten Ge­dicht, die­ser be­täu­ben­den Krank­heit hat­te ich aber zwei Kri­sen, die mir eine Fül­le her­ber Schmer­zen be­rei­te­ten. Zu­nächst be­geg­ne­te ich ei­ni­ge Tage, nach­dem ich mich wie Sar­dana­pal49 auf mei­nen Schei­ter­hau­fen ge­wor­fen hat­te, im Foy­er der Bouf­fons Fœ­do­ra. Wir war­te­ten auf un­se­re Wa­gen. – ›Ah, fin­de ich Sie also noch am Le­ben!‹ So etwa konn­te man ihr Lä­cheln und die bos­haf­ten lei­sen Wor­te deu­ten, die sie ih­rem Beglei­ter zu­raun­te, dem sie si­cher­lich mei­ne Ge­schich­te er­zähl­te, wo­bei sie mei­ne Lie­be zu ei­ner ganz ge­wöhn­li­chen Lie­be her­ab­wür­dig­te. Sie be­glück­wünsch­te sich zu ih­rem falschen Scharf­blick. Oh, um ih­ret­wil­len zu ster­ben, sie noch im­mer an­zu­be­ten, sie vor Au­gen zu ha­ben in mei­nen Aus­schwei­fun­gen, im Rausch, im Bett der Kur­ti­sa­nen und Ziel­schei­be ih­res Spot­tes sein! Oh, daß ich nicht mei­ne Brust zer­flei­schen, mei­ne Lie­be her­aus­rei­ßen und ihr zu Fü­ßen wer­fen konn­te. Ich er­schöpf­te mei­nen Schatz na­tür­lich rasch; aber drei Jah­re mä­ßi­gen Le­bens hat­ten mich mit ei­ner über­aus ro­bus­ten Ge­sund­heit ver­se­hen, und an dem Tage, da ich kein Geld mehr hat­te, ging es mir ganz vor­treff­lich. Um mei­nen Selbst­mord fort­set­zen zu kön­nen, un­ter­zeich­ne­te ich kurz­fris­ti­ge Wech­sel, und der Zahl­tag kam her­an. Grau­sa­me Er­re­gun­gen! Wie sie Le­ben in die jun­gen Her­zen brin­gen! Ich war noch nicht zum Al­tern ge­schaf­fen; mei­ne See­le war noch im­mer jung, leb­haft und frisch. Mei­ne ers­ten Schul­den rie­fen alle mei­ne Tu­gen­den wie­der wach; sie nah­ten mit lang­sa­men Schrit­ten und schie­nen ver­zwei­felt. Ich wuß­te mich aber mit ih­nen ab­zu­fin­den wie mit al­ten Tan­ten, die uns an­fäng­lich schel­ten und dann Trä­nen und Geld spen­den. Mei­ne Fan­ta­sie aber war stren­ger; sie hielt mir mei­nen Na­men vor, wie er von Stadt zu Stadt, auf al­len Plät­zen Eu­ro­pas aus­ge­schrie­ben wur­de. – ›Un­ser Name sind wir selbst‹, hat Eusè­be Sal­ver­te50 ge­sagt. Ich sah mich also selbst, wie ich in der Welt her­um­va­ga­bun­dier­te und schließ­lich wie der Dop­pel­gän­ger in der Ge­schich­te ei­nes Deut­schen in mei­ne Woh­nung zu­rück­kam, die ich doch nicht ver­las­sen hat­te, um mich selbst aus dem Schlaf zu schre­cken. Frü­her hat­te ich die­se Bank­men­schen, die­se Ver­tre­ter kom­mer­zi­el­len Ge­wis­sens, stets in Grau ge­klei­det – sie tra­gen die Li­vree ih­res Herrn, der Sil­ber­mün­ze –, gleich­gül­tig in den Stra­ßen von Pa­ris wahr­ge­nom­men; jetzt aber haß­te ich sie im vor­aus. Wür­de nicht ei­nes Mor­gens ei­ner von ih­nen für die elf Wech­sel, die ich ge­krit­zelt hat­te, Be­zah­lung ver­lan­gen? Mei­ne Un­ter­schrift war 3000 Fran­cs wert, ich selbst nicht so viel! Mit ih­ren Mie­nen, gleich­gül­tig ge­gen jede Verzweif­lung, selbst ge­gen den Tod, er­stan­den die Ge­richts­voll­zie­her vor mir wie Hen­ker, die zu ei­nem Ver­ur­teil­ten sa­gen: ›Es hat halb vier Uhr ge­schla­gen.‹ Ihre Schreib­knech­te hat­ten das Recht, sich mei­ner zu be­mäch­ti­gen, mei­nen Na­men zu krit­zeln, ihn zu be­schmut­zen, ihn zu ver­spot­ten. ›Ich schul­de­te.‹ Schul­den ha­ben, heißt das noch sich selbst ge­hö­ren? Konn­ten nicht frem­de Men­schen Re­chen­schaft über mein Le­ben ver­lan­gen? Mich fra­gen, warum ich Pud­dings à la chi­po­la­ta ge­ges­sen hät­te? Wa­rum ich Eis­ge­kühl­tes trän­ke? Wa­rum ich schlie­fe, gin­ge, dach­te, ver­gnügt wäre, ohne sie zu be­zah­len? Mit­ten in ei­nem Ge­dicht, in ei­nem Ge­dan­ken­gang oder beim Früh­stück im Kreis der Freun­de, der Lust, ver­gnüg­ter Scherz­re­den konn­te ich einen Herrn in brau­nem Rock mit ei­nem schä­bi­gen Hut in der Hand ein­tre­ten se­hen. Die­ser Herr wird mei­ne Schuld, wird mein Wech­sel sein, ein Ge­s­penst, das mei­ne Freu­de verdirbt, mich zwingt, vom Ti­sche auf­zu­ste­hen und mit ihm zu spre­chen; er wird mir mei­nen Froh­sinn, mei­ne Ge­lieb­te, wird mir al­les weg­neh­men, bis auf das Bett. Die Reue ist we­ni­ger fürch­ter­lich, sie setzt uns nicht auf die Stra­ße und bringt uns nicht in Schuld­haft, sie taucht uns nicht in die­sen gräß­li­chen Sün­den­pfuhl; sie bringt uns nur auf das Scha­fott, wo der Hen­ker uns adelt: im Au­gen­blick un­se­rer Hin­rich­tung glaubt je­der an un­se­re Un­schuld, wo­hin­ge­gen die Ge­sell­schaft dem Wüst­ling ohne Geld kei­ne Tu­gend lässt. Und zu al­le­dem noch die­se zwei­bei­ni­gen Schul­den, die, in grü­nes Tuch ge­klei­det, blaue Bril­lenglä­ser oder bun­te Re­gen­schir­me tra­gen; die­se fleisch­ge­wor­de­nen Schul­den, de­nen wir just in dem Au­gen­blick, in dem wir eben ver­gnügt lä­cheln, an ei­ner Stra­ßen­e­cke von An­ge­sicht zu An­ge­sicht ge­gen­über­ste­hen, die­se Leu­te, die das gräß­li­che Pri­vi­leg ha­ben, zu sa­gen: – ›M­on­sieur de Va­len­tin schul­det mir Geld und be­zahlt mich nicht. Er ge­hört mir! Daß er mir ja kein un­freund­li­ches Ge­sicht schnei­det!‹ Man muß also sei­ne Gläu­bi­ger grü­ßen, recht freund­lich grü­ßen.

›Wann ge­den­ken Sie mich zu be­zah­len?‹ fra­gen sie. Und wir sind ge­nö­tigt zu lü­gen, einen an­de­ren we­gen Gel­des an­zu­fle­hen, vor ei­nem dum­men Tropf, der auf sei­nem Sä­ckel sitzt, einen Bück­ling zu voll­füh­ren, sei­nen kal­ten Blick, einen Blut­egelblick aus­zu­hal­ten, der schlim­mer ist als eine Ohr­fei­ge, sich sei­ner Re­chen­mo­ral und sei­ner kras­sen Un­wis­sen­heit zu beu­gen. Eine Schuld ist ein Werk der Phan­ta­sie, für das sie kein Ver­ständ­nis ha­ben. Ein Auf­schwung der See­le reißt so man­ches Mal einen Men­schen dazu hin, Schul­den zu ma­chen, und be­herrscht ihn, wäh­rend die, die im Gel­de le­ben und nichts als das Geld ken­nen, von nichts Großem be­herrscht, von nichts Edel­mü­ti­gem ge­lei­tet wer­den. Ich hat­te einen Ab­scheu vor dem Geld. Schließ­lich kann sich der Wech­sel in einen tu­gend­haf­ten Greis ver­wan­deln, einen Fa­mi­li­en­va­ter. Ich war viel­leicht ei­nem le­ben­den Bild von Greu­ze51 Geld schul­dig, ei­nem Ge­lähm­ten mit ei­ner Kin­der­schar oder ei­ner Sol­da­ten­wit­we, die mir alle ihre er­ho­be­nen Hän­de ent­ge­gen­streck­ten. Furcht­ba­re Gläu­bi­ger, mit de­nen wir wei­nen müs­sen und de­nen wir, wenn wir sie be­zahlt ha­ben, auch noch Bei­stand schul­den. Am Abend vor dem Ver­falls­tag hat­te ich mich mit der falschen Ruhe de­rer schla­fen ge­legt, die sich auch vor ih­rer Hin­rich­tung oder vor ei­nem Duell im­mer noch in trü­ge­ri­scher Hoff­nung wie­gen. Aber als ich auf­wach­te, als ich kal­ten Blu­tes über­leg­te, als ich fühl­te, wie mei­ne See­le im Por­te­feuil­le ei­nes Ban­kiers steck­te, mit ro­ter Tin­te auf ei­ner Lis­te vol­ler Zah­len ge­schrie­ben stand, da spran­gen mir mei­ne Schul­den von über­all­her wie Heuschre­cken ent­ge­gen; sie sa­ßen in mei­ner Uhr, mei­nen Ses­seln oder in den Mö­beln, die ich am liebs­ten hat­te. Die­se an­ge­neh­men Skla­ven aus Holz und Stoff soll­ten also den Har­pyi­en des Châte­let52 zur Beu­te fal­len, soll­ten von Büt­teln weg­ge­schleppt und un­ge­rührt ver­stei­gert wer­den. Ach, nur mei­ne Hül­le war noch ich selbst. Die Tür­klin­gel läu­te­te in mei­nem Her­zen, sie traf mich, wo man Kö­ni­ge tref­fen muß, am Kopf. Es war ein Mar­ty­ri­um, aber eins, dem kein Him­mel als Lohn wink­te. Ja­wohl, für einen Men­schen, der ein Herz hat, sind Schul­den die Höl­le, eine Höl­le mit Ge­richts­voll­zie­hern und Hä­schern des Schuld­ge­richts. Eine un­be­zahl­te Schuld ist eine Nie­der­träch­tig­keit, ist der An­fang der Spitz­bü­be­rei und, schlim­mer als all das: ist eine Lüge! Sie ist die Saat der Ver­bre­chen, sie häuft die Bret­ter zum Scha­fott. Mei­ne Wech­sel gin­gen zu Pro­test. Drei Tage spä­ter be­zahl­te ich sie. Das ging so: Ein Spe­ku­lant schlug mir vor, ich soll­te ihm die In­sel ver­kau­fen, die ich in der Loi­re be­saß und auf der das Grab mei­ner Mut­ter stand. Ich wil­lig­te ein. Als ich bei dem No­tar des Käu­fers den Ver­trag un­ter­zeich­ne­te, spür­te ich in dem dunklen Büro einen ei­si­gen Hauch wie aus ei­ner Gruft. Ich schau­der­te, als ich die­sel­be feuch­te Käl­te spür­te, die mich am Rand des Gra­bes er­faßt hat­te, in dem mein Va­ter ruht. Ich nahm die­sen Zu­fall für ein düs­te­res Vor­zei­chen. Mir war, als hör­te ich die Stim­me mei­ner Mut­ter und sähe ih­ren Schat­ten; eine mir un­be­kann­te Macht ließ mei­nen ei­ge­nen Na­men durch Glo­cken­ge­läut hin­durch an mein Ohr drin­gen. Vom Er­lös mei­ner In­sel blie­ben mir nach Be­zah­lung al­ler Schul­den noch 2000 Fran­cs. Ge­wiß hät­te ich nun zu mei­ner fried­li­chen Ge­lehr­tenexis­tenz in mei­ne Man­sar­de zu­rück­keh­ren kön­nen, nach­dem ich das Le­ben er­probt, den Kopf voll wich­ti­ger und rei­cher Beo­b­ach­tun­gen hat­te und schon eine ge­wis­se Berühmt­heit ge­noß. Aber Fœ­do­ra hat­te ihre Beu­te nicht fah­ren­las­sen. Wir wa­ren uns oft be­geg­net. Ich hat­te da­für ge­sorgt, daß ihre Lieb­ha­ber, die über mei­nen Geist, mei­ne Pfer­de, mei­ne Er­fol­ge, mei­ne Equi­pa­gen er­staunt wa­ren, ihr stän­dig mit mei­nem Na­men in den Ohren la­gen. Sie blieb bei al­lem kalt und ge­fühl­los, selbst als Ras­ti­gnac ihr ge­gen­über die schreck­li­che Be­mer­kung mach­te: ›Er rich­tet sich um Ihret­wil­len zu­grun­de!‹ Ich be­auf­trag­te die gan­ze Welt mit mei­ner Ra­che, aber ich war nicht glück­lich. In­dem ich mich so dem Le­ben bis in sei­nen Schlamm hin­ein hin­gab, er­sehn­te ich noch im­mer die Won­nen ei­ner er­wi­der­ten Lie­be, und die­sem Lock­bild jag­te ich in all mei­nen Aus­schwei­fun­gen und Or­gi­en nach. Zu mei­nem Un­glück wur­de ich in mei­nen schö­nen Hoff­nun­gen ge­täuscht, für mei­ne Wohl­ta­ten mit Un­dank be­straft und für mei­ne Feh­ler mit tau­send Genüs­sen be­lohnt! Eine un­se­li­ge Phi­lo­so­phie, für den Wüst­ling aber wahr! Und schließ­lich hat­te Fœ­do­ra mich mit dem Gift ih­rer Ei­tel­keit an­ge­steckt. Als ich mei­ne See­le er­grün­de­te, fand ich sie bran­dig und fau­lig. Der Teu­fel hat­te mir sei­ne Klaue auf die Stirn ge­drückt. Es war mir fort­an un­mög­lich, auf die stän­di­gen Er­re­gun­gen ei­nes in je­dem Mo­ment auf die Waag­scha­le ge­wor­fe­nen Le­bens und auf die fluch­wür­di­gen Raf­fi­nes­sen des Reich­tums zu ver­zich­ten. Wäre ich Mil­lio­när ge­we­sen, hät­te ich un­abläs­sig ge­spielt, ge­schwelgt und mich um­her­ge­trie­ben. Ich woll­te nicht mehr mit mir al­lein blei­ben. Ich brauch­te Mätres­sen, falsche Freun­de, Wein, gu­tes Es­sen, um mich zu be­täu­ben. Fa­mi­li­äre Ban­de wa­ren in mir für im­mer zer­ris­sen. Ein Ga­lee­ren­sträf­ling des Ge­nus­ses, muß­te ich mei­ne Be­stim­mung, mei­nen Selbst­mord bis zu Ende aus­füh­ren. Wäh­rend der letz­ten Tage, an de­nen ich noch Geld be­saß, über­ließ ich mich je­den Abend un­glaub­li­chen Aus­schwei­fun­gen; aber an je­dem Mor­gen warf mich der Tod wie­der ins Le­ben zu­rück. Wie der In­ha­ber ei­ner Lei­b­ren­te hät­te ich ru­hig eine Feu­ers­brunst durch­schrei­ten kön­nen. Zu­letzt fand ich mich mit ei­nem 20-Fran­cs-Stück al­lein, da er­in­ner­te ich mich des Glücks, das Ras­ti­gnac ge­habt hat­te … Hol­la!« rief Ra­pha­el, dem mit ei­nem­mal wie­der sein Ta­lis­man ein­fiel. Er zog ihn aus der Ta­sche.

Ob er nun, von den Kämp­fen die­ses lan­gen Ta­ges er­schöpft, nicht mehr die Kraft be­saß, be­ne­belt von Wein- und Pun­sch­düns­ten, sei­nen Ver­stand zu meis­tern, oder ob er sich, durch den Blick auf sein Le­ben er­regt, un­merk­lich am Strom sei­ner Wor­te be­rauscht hat­te, je­den­falls war Ra­pha­el au­ßer sich und ge­riet in Rage, als hät­te er Sinn und Ver­stand ver­lo­ren. »Zum Teu­fel mit dem Tod!« schrie er und fuch­tel­te mit dem Le­der in der Luft her­um. »Jetzt will ich le­ben! Ich bin reich, ich habe alle Tu­gen­den. Nichts kann mir wi­der­ste­hen. Wer wäre nicht gut, wenn er al­les kann? Hol­la, Heda! Ich habe mir 200 000 Li­vres Jah­res­ein­kom­men ge­wünscht, ich wer­de sie ha­ben. Re­spekt vor mir, ihr Schwei­ne, die ihr euch auf die­sem Tep­pich wälzt, als wäre es ein Mist­hau­fen! Ihr ge­hört mir, seid mein vor­treff­li­cher Be­sitz! Ich bin reich, ich kann euch alle kau­fen, selbst den De­pu­tier­ten, der dort schnarcht. Auf, auf, ihr Lum­pen­ge­sin­del der vor­neh­men Welt, auf die Knie! Ich bin der Papst!«

Ra­phaels Ge­schrei, das bis da­hin im Bas­so con­ti­nuo des all­ge­mei­nen Schnar­ch­kon­zerts un­ter­ge­gan­gen war, fand plötz­lich Ge­hör. Die meis­ten Schlä­fer fuh­ren hoch und stie­ßen lau­te Ver­wün­schun­gen aus; sie er­blick­ten den Stö­ren­fried, der auf un­si­che­ren Bei­nen schwank­te, und über­schüt­te­ten sei­nen lär­men­den Rausch mit ei­nem Kon­zert von Flü­chen.

»Schweigt!« rief Ra­pha­el. »Hun­de, kuscht euch! – Émi­le, ich habe Schät­ze, ich wer­de dir Ha­van­na­zi­gar­ren schen­ken.«

»Ich höre dich«, ant­wor­te­te der Dich­ter, »Fœ­do­ra oder der Tod! Nur im­mer­zu! Die­se Zier­pup­pe Fœ­do­ra hat dich be­tro­gen. Alle Wei­ber sind Eva­stöch­ter. Dei­ne Ge­schich­te ist nicht im min­des­ten dra­ma­tisch.«

»Ah! Du hast ge­schla­fen, du Duck­mäu­ser?«

»Nein … Fœ­do­ra oder der Tod! Ich hab’s be­grif­fen!«

»Wach auf!« rief Ra­pha­el und be­rühr­te Émi­le mit dem Cha­grin­le­der, als wol­le er ein elek­tri­sches Flui­dum auf ihn ein­strö­men las­sen.

»Don­ner­wet­ter!« rief Émi­le, stand auf und pack­te Ra­pha­el mit den Ar­men, »den­ke doch dar­an, Freund­chen, daß du mit an­rü­chi­gen Frau­en­zim­mern zu­sam­men bist.«

»Ich bin Mil­lio­när!«

»Wenn du auch kein Mil­lio­när bist, be­trun­ken bist du tod­si­cher.«

»Trun­ken von Macht! Ich kann dich tö­ten! Schweig, ich bin Nero! Ich bin Ne­bu­kad­ne­zar!«

»Aber Ra­pha­el, wir sind in schlech­ter Ge­sell­schaft, du soll­test end­lich Ruhe ge­ben, aus Ach­tung vor dir selbst.«

»Mein Le­ben ist ein zu lan­ges Schwei­gen ge­we­sen. Jetzt will ich mich an der gan­zen Welt rä­chen. Ich wer­de mich nicht da­mit ver­gnü­gen, elen­de Ta­ler zum Fens­ter hin­aus­zu­wer­fen, ich wer­de mei­ne Zeit nach­ah­men, sie kon­zen­trie­ren und Men­schen­le­ben und Men­schen­geist und Men­schen­see­len ver­pras­sen. Das ist doch ein Lu­xus, der nicht arm­se­lig ist, was? Das ist der Über­fluß der Pest! Ich wer­de mit dem gel­ben, blau­en und grü­nen Fie­ber kämp­fen, mit Ar­meen und Schaf­ot­ten. Ich kann Fœ­do­ra ha­ben. Aber nein, ich will Fœ­do­ra nicht, Fœ­do­ra ist mei­ne Krank­heit, mein Tod! Ich will Fœ­do­ra ver­ges­sen.«

»Wenn du mit dei­nem Ge­schrei nicht auf­hörst, tra­ge ich dich in den Spei­se­saal.«

»Siehst du die­se Haut hier? Das ist das Ver­mächt­nis Sa­lo­mos. Sa­lo­mo ge­hört mir, die­ser lum­pi­ge Pe­dant von ei­nem Kö­nig ge­hört mir! Ara­bi­en und Pe­träa dazu. Das gan­ze Uni­ver­sum ge­hört mir. Du ge­hörst mir, wenn ich will. Du, wenn ich will, nimm dich in acht! Ich kann dei­ne gan­ze Jour­na­lis­ten­bu­de kau­fen, und du wirst mein La­kai. Dann mußt du mir Cou­plets dich­ten und mei­ne Pa­pie­re ord­nen. La­kai! La­kai! – das heißt: ›Es geht ihm gut, weil er an nichts denkt.‹«

Bei die­sen Wor­ten schlepp­te Émi­le Ra­pha­el in den Spei­se­saal.

»Schön, du hast recht, Freund­chen, ich bin dein La­kai. Aber du sollst Che­fre­dak­teur ei­ner Zei­tung wer­den, schweig! Be­nimm dich ge­sit­tet, aus Rück­sicht auf mich. Hast du mich lieb?«

»Ob ich dich lieb­ha­be? Du sollst Ha­van­na­zi­gar­ren ha­ben, durch die­ses Le­der hier. Im­mer das Le­der, Freund­chen, das all­mäch­ti­ge Le­der! Ein vor­treff­li­ches Pflas­ter, ich kann die Hüh­ne­rau­gen mit ihm weg­brin­gen. Hast du Hüh­ne­rau­gen? Ich ent­fer­ne sie dir.«

»Ich habe dich nie so al­bern ge­se­hen.«

»Al­bern, Freund­chen? Nein. Die­ses Le­der wird klei­ner, wenn ich einen Wunsch habe … das ist eine An­ti­no­mie. Der Brah­ma­ne – es steckt ein Brah­ma­ne da­hin­ter! –, der war doch ein rech­ter Spaß­vo­gel, denn siehst du, die Wün­sche, die müs­sen doch grö­ßer ma­chen …«

»Na­tür­lich, ver­steht sich.«

»Ich sage dir …«

»Ja ge­wiß, sehr rich­tig, du hast ganz recht. Der Wunsch macht grö­ßer …«

»Ich sage, das Le­der …«

»Ja, ge­wiß.«

»Du glaubst mir nicht. Ich ken­ne dich, al­ter Freund, du lügst wie ein neu­ge­ba­cke­ner Kö­nig.«

»Ja, ver­langst du denn, ich soll den Un­sinn, den du im Rau­sche da­her­schwatzt, für bare Mün­ze neh­men?«

»Was gilt die Wet­te? Ich kann es dir be­wei­sen. Neh­men wir das Maß …«

»Oh je, wenn er doch schla­fen woll­te!« rief Émi­le, als er sah, wie Ra­pha­el im Spei­se­saal hin und her such­te.

Dank der selt­sa­men Hell­sicht, die bei Trun­ke­nen manch­mal auf­tritt und die et­was ganz an­de­res ist als die stump­fen Vi­sio­nen des Rau­sches, ge­lang es Va­len­tin mit af­fen­ar­ti­ger Be­hen­dig­keit, ein Schreib­zeug und eine Ser­vi­et­te zu be­schaf­fen, wo­bei er un­un­ter­bro­chen wie­der­hol­te: »Wir wol­len Maß neh­men! Wir wol­len Maß neh­men!«

»Schön«, sag­te Émi­le, »wir wol­len Maß neh­men!«

Die bei­den Freun­de ent­fal­te­ten die Ser­vi­et­te und leg­ten das Cha­grin­le­der dar­auf. Émi­le, des­sen Hand si­che­rer schi­en als die Ra­phaels, zog mit der Fe­der die Kon­tu­ren des Ta­lis­mans nach, wäh­rend sein Freund zu ihm sag­te:

»Ich habe mir 200 000 Li­vres Ren­te ge­wünscht, nicht wahr? Wenn ich sie be­kom­me, dann wirst du se­hen, wie mein Le­der klei­ner ge­wor­den ist.«

»Ja. Schlaf jetzt. Soll ich dich auf das Sofa le­gen? Liegst du gut?«

»Ja­wohl, du Pres­se­ba­by! Du sollst mein Spaß­ma­cher wer­den, du sollst mir die Flie­gen weg­ja­gen. Der Freund im Un­glück hat ein Recht, der Freund der Mäch­ti­gen zu wer­den. Und ich wer­de dir – gar – ren, Ha – van …«

»Nun, nun, schlaf nur dein Rausch­gold aus, Mil­lio­när!«

»Und du dei­ne Ar­ti­kel. Gute Nacht! Willst du wohl Ne­bu­kad­ne­zar gute Nacht sa­gen! Lie­be! Zu trin­ken! Frank­reich … Ruhm und reich … reich …«

Bald ver­ei­nig­te sich das Schnar­chen der bei­den Freun­de mit der Mu­sik, die aus den Sa­lons er­scholl. Ein Kon­zert, das nie­mand hör­te! Die Ker­zen er­lo­schen eine nach der an­de­ren und zer­spreng­ten ihre kris­tal­le­nen Man­schet­ten. Die Nacht hüll­te ih­ren Schlei­er über die­se end­lo­se Or­gie, in der Ra­phaels Er­zäh­lung wie eine Or­gie von Wor­ten ge­we­sen war, von Wor­ten ohne Ide­en, und von Ide­en, de­nen oft der rech­te Aus­druck fehl­te.

Am nächs­ten Tag ge­gen Mit­tag stand die schö­ne Aqui­li­na gäh­nend und müde auf; die Wan­gen vom Ab­druck der Samt­pols­ter mar­mo­riert, auf de­nen ihr Kopf ge­le­gen hat­te. Eu­phra­sie, die von den Be­we­gun­gen ih­rer Ge­fähr­tin ge­weckt wur­de, fuhr mit ei­nem hei­se­ren Schrei auf; ihr hüb­sches Ge­sicht, das am Abend zu­vor so frisch und weiß ge­we­sen, war gelb und fahl wie das ei­ner Dir­ne, die ins Spi­tal muß. All­mäh­lich reg­ten sich auch die an­de­ren Gäs­te un­ter dump­fen Seuf­zern, ihre Arme und Bei­ne wa­ren steif, tau­send Pla­gen drück­ten sie beim Er­wa­chen nie­der. Ein Die­ner zog die Gar­di­nen hoch und öff­ne­te die Fens­ter der Sa­lons. Die Ge­sell­schaft fand sich wie­der auf den Bei­nen, die war­men Son­nen­strah­len, die auf die Ge­sich­ter der Schlä­fer fie­len, be­leb­ten sie. Der un­ru­hi­ge Schlaf hat­te die ele­gan­ten Fri­su­ren zer­stört und die Klei­der zer­knit­tert, so bo­ten die Frau­en im hel­len Ta­ges­licht einen ab­sto­ßen­den An­blick: ihre Haa­re hin­gen wirr her­un­ter, der Aus­druck ih­rer Züge hat­te sich ver­än­dert, ihre strah­len­den Au­gen wa­ren vor Über­mü­dung trü­be ge­wor­den. Die gel­be Haut, die bei Ker­zen­schein schim­mer­te, war ab­scheu­er­re­gend; die blut­lee­ren Ge­sich­ter, so zart und weich, als sie aus­ge­ruht wa­ren, sa­hen nun grün aus; die sonst lieb­li­chen ro­ten Mün­der wa­ren jetzt tro­cken und blaß und wie­sen die schmäh­li­chen Spu­ren der Trun­ken­heit auf. Die Män­ner wi­chen vor den nächt­li­chen Ge­lieb­ten zu­rück, die sie so al­len Glan­zes le­dig sa­hen, lei­chen­haft, gleich zer­tre­te­nen Blu­men, die nach ei­ner Pro­zes­si­on auf der Stra­ße lie­gen. Die­se hoch­mü­ti­gen Män­ner je­doch wa­ren noch schreck­li­cher an­zu­se­hen. Die­se mensch­li­chen Ge­sich­ter hät­ten sie zu­rück­schau­dern las­sen mit ih­ren hoh­len schwarz um­rän­der­ten Au­gen, die vom Wein um­ne­belt und durch einen üb­len Schlaf, der mehr er­mü­dend als er­fri­schend war, ge­trübt, nichts wahr­zu­neh­men schie­nen. Die­se über­näch­tig­ten Ge­sich­ter, auf de­nen die phy­si­schen Trie­be nackt zu­ta­ge tra­ten, ohne die Poe­sie, mit der un­se­re See­le sie schmückt, hat­ten et­was grau­en­haft Wil­des und Bes­tia­li­sches an sich. Die­ses Er­wa­chen des hül­len­lo­sen un­ge­schmink­ten Las­ters, die­ses ent­blö­ßten, kal­ten, hoh­len Ge­rip­pes des Bö­sen, das, der So­phis­men des Geis­tes oder der Ver­zau­be­run­gen des Lu­xus be­raubt, die­se un­ver­zag­ten Strei­ter ent­setz­te, so sehr sie auch den Kampf mit der Aus­schwei­fung ge­wöhnt wa­ren. Künst­ler und Kur­ti­sa­nen blie­ben stumm und sa­hen ver­stört auf die Un­ord­nung in den Räu­men, wo das Feu­er der Lei­den­schaft al­les ver­heert und ver­wüs­tet hat­te. Ein in­fer­na­li­sches Ge­läch­ter er­hob sich mit ei­nem Male, als Tail­le­fer auf das dump­fe Rö­cheln sei­ner Gäs­te hin sich zur Be­grü­ßung eine Gri­mas­se ab­quä­len woll­te; sein rot auf­ge­dun­se­nes, vor Schweiß trie­fen­des Ge­sicht ließ über die­ser höl­li­schen Sze­ne das Bild des Ver­bre­chens ohne Reue schwe­ben. Die Sze­ne­rie war voll­stän­dig. Das war schmut­zi­ge Voll­kom­men­heit mit­ten im Lu­xus, eine grau­si­ge Mi­schung aus mensch­li­chem Glanz und Elend, das Er­wa­chen der Aus­schwei­fung, wenn sie mit ih­ren star­ken Hän­den alle Früch­te des Le­bens aus­ge­preßt hat und nichts um sich läßt als schmach­vol­le Trüm­mer und Lü­gen, an die sie nicht mehr glaubt. Das Bild er­in­ner­te an den grin­sen­den Tod mit­ten in ei­ner pest­kran­ken Fa­mi­lie: kei­ne be­täu­ben­den Düf­te und Lich­ter mehr; kei­ne Hei­ter­keit und kein Ver­lan­gen; da­für der Über­druß mit sei­nen eklen Gerü­chen und sei­ner ät­zen­den Phi­lo­so­phie; die Son­ne, strah­lend hell wie die Wahr­heit, eine Luft, rein wie die Tu­gend, im Ge­gen­satz zu der schwü­len At­mo­sphä­re, die mit wid­ri­gen Düns­ten, mit dem Pest­hauch ei­ner Or­gie ge­schwän­gert war! Das eine oder an­de­re Mäd­chen, ob­wohl sie das Las­ter ge­wohnt wa­ren, dach­te wohl an ihr Er­wa­chen von ehe­mals, wo sie un­schul­dig und rein durch ihre länd­li­chen Fens­ter, an de­nen Geiß­blatt und Ro­sen rank­ten, eine mor­gen­fri­sche Land­schaft im tau­schim­mern­den Dunst­kleid der auf­ge­hen­den Son­ne schau­ten, die das freu­di­ge Schmet­tern der Ler­che ver­zau­ber­te. An­de­re mal­ten sich das Früh­stück in der Fa­mi­lie aus, den Tisch, um den in un­schul­di­ger Freu­de die Kin­der und der Va­ter sa­ßen, wo um al­les ein un­be­schreib­li­cher Zau­ber lag und die Ge­rich­te ein­fach wa­ren wie die Her­zen. Ein Künst­ler dach­te an den Frie­den sei­nes Ate­liers, an sei­ne keu­sche Sta­tue, an das gra­zi­öse Mo­dell, das ihn er­war­te­te. Ein jun­ger Mann er­in­ner­te sich an den Pro­zeß, von dem das Schick­sal ei­ner Fa­mi­lie ab­hing, und eine wich­ti­ge Ver­hand­lung fiel ihm ein, bei der sei­ne Ge­gen­wart un­er­läß­lich war. Der Ge­lehr­te dach­te mit Be­dau­ern an sein stil­les Ar­beits­zim­mer, wo­hin ihn ein ed­les Werk rief. Fast alle wa­ren mit sich un­zu­frie­den. In die­sem Au­gen­blick er­schi­en Émi­le, frisch und ro­sig, wie der schmucks­te La­den­die­ner ei­nes flo­rie­ren­den Ge­schäfts, und lach­te.

»Ihr seid häß­li­cher als Ge­richts­büt­tel!« rief er. »Heu­te könnt Ihr doch nichts tun, der Tag ist ver­lo­ren; ich mei­ne, wir set­zen uns zum Früh­stück.«

Nach die­sen Wor­ten ging Tail­le­fer hin­aus, um das Nö­ti­ge an­zu­ord­nen. Müde und miß­mu­tig brach­ten die Frau­en vor den Spie­geln ihre Toi­let­ten in Ord­nung. Alle schüt­tel­ten sich. Die Ver­derb­tes­ten pre­dig­ten den Maß­volls­ten Moral. Die Kur­ti­sa­nen spöt­tel­ten über jene, die nicht die Kraft zu fin­den schie­nen, die­ses wil­de Ge­la­ge fort­zu­set­zen. Nach ei­ner Wei­le kam neu­es Le­ben in die­se Ge­s­pens­ter, sie bil­de­ten Grup­pen, plau­der­ten und lach­ten. Ei­ni­ge Be­dien­te stell­ten ge­schickt und flink die Mö­bel und üb­ri­gen Din­ge wie­der auf ih­ren Platz. Ein üp­pi­ges Früh­stück wur­de auf­ge­tra­gen. Die Ge­sell­schaft stürz­te in den Spei­se­saal. Wenn­gleich auch dort al­les den un­tilg­ba­ren Stem­pel der nächt­li­chen Aus­schwei­fun­gen trug, gab es dar­in doch we­nigs­tens noch eine Spur von Le­ben und Den­ken, wie in den letz­ten Zu­ckun­gen ei­nes Ster­ben­den. Wie bei dem Fast­nachts­zug wur­de die Sa­tur­na­lie von Mas­ken be­er­digt, die, ih­rer Tän­ze müde, ih­ren Rausch satt hat­ten und nun al­les Ver­gnü­gen fad fan­den, um sich die ei­ge­ne Ohn­macht nicht ein­ge­ste­hen zu müs­sen. In dem Au­gen­blick, wo die­se un­ver­zag­te Ge­sell­schaft sich um die Ta­fel des Ka­pi­ta­lis­ten schar­te, tauch­te das sanft lä­cheln­de Be­am­ten­ge­sicht Car­dots auf, der sich am Abend vor­her klüg­lich nach dem Di­ner ver­drückt hat­te, um sei­ne Or­gie im Ehe­bett zu be­schlie­ßen. Er mach­te eine wich­ti­ge Mie­ne. Er schi­en ge­ahnt zu ha­ben, daß es eine Nach­fol­ge, einen Nach­laß zu tei­len, zu in­ven­ta­ri­sie­ren, ur­kund­lich fest­zu­hal­ten gäl­te, einen Nach­laß mit vie­len Ak­ten­stücken und fet­ten Ho­no­ra­ren, so saf­tig wie das zit­tern­de Fi­let, in das der Gast­ge­ber ge­ra­de sein Mes­ser stach.

»Oh, oh! wir sol­len im Bei­sein des No­tars früh­stücken!« rief Mon­sieur de Cur­sy.

»Sie kom­men ge­ra­de zu­recht, um all die­se Stücke zu ru­bri­zie­ren und zu pa­ra­gra­phie­ren«, sag­te der Ban­kier zu ihm und wies auf das präch­ti­ge Früh­stück.

»Es ist kein Te­sta­ment zu ma­chen, aber viel­leicht Ehe­ver­trä­ge«, mein­te der Ge­lehr­te, der seit ei­nem Jahr glück­lich ver­hei­ra­tet war.

»Oho!«

»Aha!«

»Ei­nen Au­gen­blick«, er­wi­der­te Car­dot, den ein gan­zer Chor von schlech­ten Wit­zen nie­der­schrie, »ich kom­me in ei­ner erns­ten Sa­che. Ich brin­ge ei­nem von Ih­nen sechs Mil­lio­nen.« (Tie­fes Schwei­gen). »Mon­sieur«, wand­te er sich an Ra­pha­el, der eben da­mit be­schäf­tigt war, sich ohne viel Um­stän­de mit ei­nem Zip­fel sei­ner Ser­vi­et­te die Au­gen aus­zu­wi­schen, »war Ihre Frau Mut­ter nicht eine ge­bo­re­ne O’Fla­har­ty?«

»Ja­wohl«, ant­wor­te­te Ra­pha­el me­cha­nisch, »Bar­be-Ma­rie.«

»Ha­ben Sie«, fuhr Car­dot fort, »Ihren Ge­burts­schein und den der Ma­da­me de Va­len­tin bei sich?«

»Ich glau­be.«

»Also, Mon­sieur, Sie sind der ein­zi­ge und aus­schließ­li­che Erbe des Ma­jors O’Fla­har­ty, der im Au­gust 1828 in Kal­kut­ta ge­stor­ben ist.«

»Das ist ja ein Ver­mö­gen, das nicht zu ›kal­kut­tie­ren‹ ist!« rief der Nörg­ler.

»Der Ma­jor hat­te tes­ta­men­ta­risch meh­re­re Le­ga­te für öf­fent­li­che An­stal­ten aus­ge­setzt, und nun hat die fran­zö­si­sche Re­gie­rung bei der In­di­schen Han­dels­ge­sell­schaft den Nach­laß ein­ge­for­dert«, fuhr der No­tar fort; »die Erb­schaft ist in die­sem Au­gen­blick flüs­sig und kann an­ge­tre­ten wer­den. Seit vier­zehn Ta­gen such­te ich ver­ge­bens die Rechts­nach­fol­ger der De­moi­sel­le Bar­be-Ma­rie O’Fla­har­ty, bis ges­tern bei Tisch …«

In die­sem Au­gen­blick sprang Ra­pha­el plötz­lich mit ei­ner hef­ti­gen Be­we­gung auf wie je­mand, der eine Wun­de emp­fängt. Es ging wie ein schwei­gen­der Zu­ruf durch den Raum; die ers­te Re­gung der Gäs­te wur­de von dump­fem Neid dik­tiert; alle Bli­cke rich­te­ten sich wie ste­chen­de Flam­men auf ihn. Dann be­gann ein Mur­meln, ähn­lich dem Mur­ren ei­nes un­zu­frie­de­nen Thea­ter­pu­bli­kums; eine re­bel­li­sche Stim­mung kam auf und wuchs, und je­der sag­te ein Wört­chen, mit dem er das un­ge­heu­re Ver­mö­gen, das der No­tar ge­bracht hat­te, be­grüß­te. Ra­pha­el, durch den promp­ten Ge­hor­sam des Schick­sals wie­der völ­lig bei Sin­nen, leg­te so­fort die Ser­vi­et­te auf den Tisch, an der er vor we­ni­gen Stun­den das Cha­grin­le­der ge­mes­sen hat­te. Er hör­te auf kei­ne der Be­mer­kun­gen, leg­te den Ta­lis­man dar­auf, und ein Schau­der über­lief ihn, denn er be­merk­te zwi­schen der auf das Lei­nen ge­zo­ge­nen Kon­tur und der des Le­ders einen klei­nen Ab­stand.

»Nun, was hat er denn?« rief Tail­le­fer, »er ist wohl­feil zu sei­nem Ver­mö­gen ge­kom­men.«

»Steh ihm bei, Châtil­lon!« zi­tier­te Bi­xiou, zu Émi­le ge­wandt, »die Freu­de wird ihn tö­ten!«

Eine furcht­ba­re Bläs­se ließ je­den Mus­kel in dem wel­ken Ge­sicht die­ses Er­ben her­vor­tre­ten, sei­ne Züge ver­krampf­ten sich, die vor­sprin­gen­den Par­ti­en sei­nes Ge­sich­tes wur­den krei­de­bleich, die Höh­lun­gen tief­schwarz, eine fah­le Mas­ke, die Au­gen starr­ten. Er sah den TOD. Die­ser üp­pi­ge Ban­kier im Krei­se der ver­welk­ten Kur­ti­sa­nen, die­se über­sät­tig­ten Ge­sich­ter, die­ser To­des­kampf des Ge­nus­ses wa­ren ein leib­haf­tes Ab­bild sei­nes Le­bens. Drei­mal sah Ra­pha­el sei­nen Ta­lis­man an, der zwi­schen den un­barm­her­zi­gen Li­ni­en auf der Ser­vi­et­te Spiel­raum hat­te, er ver­such­te zu zwei­feln, aber ein kla­res Vor­ge­fühl mach­te sei­nen Un­glau­ben zu­nich­te. Die Welt ge­hör­te ihm, er konn­te al­les und woll­te nichts mehr. Wie ein Rei­sen­der in der Wüs­te hat­te er ein klei­nes Quan­tum Was­ser ge­gen den Durst und muß­te sein Le­ben nach der Zahl der Schlu­cke be­mes­sen. Er sah, daß je­der Wunsch ihm Tage sei­nes Le­bens kos­ten wür­de. Nun glaub­te er an das Cha­grin­le­der, er lausch­te auf sei­nen Atem, fühl­te sich schon krank, frag­te sich: »Bin ich nicht schwind­süch­tig? Ist nicht mei­ne Mut­ter an ei­nem Lun­gen­lei­den ge­stor­ben?«

»Oh, Ra­pha­el«, rief Aqui­li­na, »jetzt wer­den Sie in Saus und Braus le­ben! Was schen­ken Sie mir?«

»Trin­ken wir auf den Tod sei­nes On­kels, des Ma­jors O’Fla­har­ty! Das war ein Mann!«

»Er wird Pair von Frank­reich wer­den.«

»Bah! was ist nach der Ju­li­re­vo­lu­ti­on ein Pair von Frank­reich!« mein­te der Nörg­ler.

»Wirst du dir eine Loge in den Bouf­fons neh­men?«

»Ich hof­fe, Sie wer­den uns alle frei­hal­ten!« sag­te Bi­xiou.

»Ein Mann wie er wird al­les in großem Stil er­le­di­gen«, mein­te Émi­le.

Das Hur­ra die­ser la­chen­den Ge­sell­schaft scholl Va­len­tin in den Ohren, ohne daß er den Sinn ei­nes ein­zi­gen Wor­tes zu fas­sen ver­moch­te; un­be­stimmt ge­dach­te er des ein­tö­ni­gen, wunsch­lo­sen Le­bens ei­nes bre­to­ni­schen Bau­ern, der eine Her­de Kin­der hat, sein Feld be­stellt, Buch­wei­zen ißt, Ap­fel­wein aus dem Krug trinkt, an die Jung­frau Ma­ria und den Kö­nig glaubt, am Os­ter­fest zur hei­li­gen Kom­mu­ni­on geht, am Sonn­tag auf dem grü­nen Ra­sen tanzt und von der Pre­digt sei­nes Pfar­rers kein Wort ver­steht. Das Schau­spiel, das sich in die­sem Au­gen­blick sei­nen Bli­cken dar­bot, die­ses ver­gol­de­te Ta­fel­werk, die­se Kur­ti­sa­nen, die­ses Ge­la­ge, die­ser Lu­xus, all das würg­te ihn in der Keh­le, er muß­te hus­ten.

»Wün­schen Sie Spar­gel?« rief ihm der Ban­kier zu.

»Ich wün­sche nichts!« fuhr ihn Ra­pha­el mit Don­ner­stim­me an.

»Bra­vo!« gab Tail­le­fer zu­rück. »Sie ver­ste­hen, was es hei­ßen will, reich zu sein. Es ist ein Frei­brief für die Un­ver­schämt­heit. Sie sind ei­ner der Un­sern! Mes­sieurs, trin­ken wir auf die Macht des Gol­des. Mon­sieur de Va­len­tin ist sechs­fa­cher Mil­lio­när und da­mit eine Macht ge­wor­den. Er ist Kö­nig, er kann al­les, er steht über al­lem, wie alle Rei­chen. Für ihn ist von jetzt ab der Satz »alle Fran­zo­sen sind vor dem Ge­setz gleich!« eine an der Spit­ze der Char­ta ste­hen­de Lüge. Nicht er wird den Ge­set­zen, son­dern die Ge­set­ze wer­den ihm ge­hor­chen. Für Mil­lio­näre gibt es kein Scha­fott und kei­ne Hen­ker!«

»Rich­tig«, er­wi­der­te Ra­pha­el, »sie sind ihre ei­ge­nen Hen­ker!«

»Noch ein Vor­ur­teil!« rief der Ban­kier.

»Trin­ken wir!« rief Ra­pha­el und steck­te den Ta­lis­man in die Ta­sche.

»Was machst du da?« fra­ge Émi­le und hielt sei­ne Hand fest. »Mes­sieurs!« da­mit wand­te er sich an die Ge­sell­schaft, die über das Be­neh­men Ra­phaels recht ver­blüfft war, »Sie müs­sen wis­sen, daß un­ser Freund, was sage ich, M­on­sieur le Mar­quis de Va­len­tin, ein Ge­heim­nis be­sitzt, um reich zu wer­den. Sei­ne Wün­sche er­fül­len sich in dem Au­gen­blick, wo er sie hegt. Wenn er nicht als ge­mein und herz­los gel­ten will, wird er uns alle reich ma­chen.«

»Ach, lie­ber klei­ner Ra­pha­el«, rief Eu­phra­sie, »ich möch­te ein Per­len­kol­lier.«

»Wenn er dank­bar ist, schenkt er mir zwei Equi­pa­gen mit ed­len, flin­ken Pfer­den da­vor«, bet­tel­te Aqui­li­na.

»Wün­schen Sie für mich 100 000 Li­vres Ren­te!«

»Mir Kasch­mir!«

»Be­zah­len Sie mei­ne Schul­den!«

»Schi­cke mei­nem Oheim, dem zä­hen Kerl, einen Schlag!«

»Ra­pha­el, 10 000 Li­vres Ren­te, und ich bin dir ewig dank­bar!«

»Das sind viel­leicht Schen­kun­gen!« rief der No­tar. »Mich müß­te er von der Gicht hei­len.«

»Las­sen Sie den Ren­ten­kurs sin­ken!« rief der Ban­kier.

Alle die­se Rufe schos­sen in die Höhe wie die Feu­ergar­ben am Schluß ei­nes Feu­er­werks. Die­se hit­zi­gen Wün­sche wa­ren viel­leicht mehr ernst als scherz­haft ge­meint.

»Lie­ber Freund«, sag­te Émi­le mit erns­ter Mie­ne, »ich wer­de mich mit 200 000 Li­vres Ren­te be­gnü­gen; sei so nett und be­sor­ge das!«

»Émi­le«, er­wi­der­te Ra­pha­el, »weißt du nicht, was mich das kos­tet?«

»Eine schö­ne Ent­schul­di­gung!« rief der Dich­ter. »Müs­sen wir uns nicht für un­se­re Freun­de op­fern?«

»Ich hät­te fast Lust, euch al­len den Tod zu wün­schen«, sag­te Va­len­tin und warf einen tie­fen, düs­te­ren Blick auf die An­we­sen­den.

»Ster­ben­de sind gräß­lich grau­sam«, ver­setz­te Émi­le la­chend.

»Du bist nun reich«, füg­te er ernst­haft hin­zu, »kei­ne zwei Mo­na­te geb ich dir, dann bist du ein ganz schmut­zi­ger Ego­ist. Dumm bist du schon, ver­stehst kei­nen Spaß mehr. Jetzt fehlt nur noch, daß du an dein Cha­grin­le­der glaubst.«

Ra­pha­el, der die Spott­re­den die­ser Ge­sell­schaft fürch­te­te, blieb still, trank über die Ma­ßen und be­rausch­te sich, um für einen Au­gen­blick die un­heim­li­che Macht, die er be­saß, zu ver­ges­sen.

Véry: das ›Café Véry‹, ein Pa­ri­ser Re­stau­rant im Palais-Roy­al, das von 1805-1845 der Fa­mi­lie Véry ge­hör­te <<<

Au­ver­gne: ehe­ma­li­ge Pro­vinz; waldar­mes Hoch­land im Sü­den Frank­reichs <<<

Re­stau­ra­ti­on: Pe­ri­ode in der fran­zö­si­schen Ge­schich­te, in der die Bour­bo­nen­herr­schaft er­neu­ert wur­de (1814, 1815-1830) <<<

Villèle, Jean-Bap­tis­te, Com­te de (1773-1854): Füh­rer der Ul­tra-Roya­lis­ten un­ter der Re­stau­ra­ti­on. Er setz­te die re­ak­tio­nären Ge­set­ze zur po­li­ti­schen, mi­li­tä­ri­schen und so­zia­len Re­or­ga­ni­sa­ti­on durch. <<<

Mar­ce­li­ne: Mut­ter des Fi­ga­ro aus »Die Hoch­zeit des Fi­ga­ro« (1784) von Beaumar­chais (1732-1799) <<<

An­dré de Ché­nier (1762-1794): fran­zö­si­scher Dich­ter, der die an­ti­ke grie­chi­sche Ly­rik zum Vor­bild nahm; wand­te sich ge­gen den Ter­ror der Ja­ko­bi­ner, 1794 hin­ge­rich­tet <<<

Blei­kam­mern von Ve­ne­dig: das seit 1561 un­ter dem mit Blei­plat­ten ge­deck­ten Dach des Do­gen­pa­las­tes ein­ge­rich­te­te, be­rüch­tig­te Ge­fäng­nis <<<

8 ›Theo­rie des Wil­lens‹: Vgl. Balzacs »Louis Lam­bert« <<<

Mes­mer, Franz (1734-1815): deut­scher Arzt, be­grün­de­te die Leh­re vom tie­ri­schen Ma­gne­tis­mus (Mes­me­ris­mus), wo­nach elek­tro­ma­gne­ti­sche Kräf­te vom le­ben­di­gen Or­ga­nis­mus aus­ge­hen sol­len <<<

10 La­va­ter, Jo­hann Kas­par (1741-1801): Schwei­zer Schrift­stel­ler und pro­tes­tan­ti­scher Geist­li­cher; Be­grün­der der Phy­sio­gno­mik (»Phy­sio­gno­mi­sche Frag­men­te«), in der eine Men­sche­ner­kennt­nis aus den Ge­sichts­zü­gen oder Kör­per­for­men ge­won­nen wird <<<

11 Gall, Franz Jo­seph (1758-1828): deut­scher Arzt und Be­grün­der der Schä­del­leh­re, wo­nach be­son­de­re mensch­li­che An­la­gen und Fä­hig­kei­ten durch Schä­del­wöl­bun­gen kennt­lich sei­en. Wäh­rend Gall in Deutsch­land mit sei­ner Leh­re nur Ge­läch­ter ern­te­te, hat­te er seit 1807 in den Pa­ri­ser Sa­lons großen ge­sell­schaft­li­chen Er­folg <<<

12 Dio­ge­nes von Si­no­pe (412-323 v. Chr.): grie­chi­scher Phi­lo­soph, Zy­ni­ker; be­kun­de­te sei­ne Ver­ach­tung ge­gen­über Reich­tum und so­zia­len Kon­ven­tio­nen da­durch, daß er in ei­ner Ton­ne leb­te <<<

13 Ari­el: Luft­geist aus Sha­ke­s­pea­res Dra­ma ›Der Stur­m‹ (1611) <<<

14 Syl­phe: grch., Luft­geist <<<

15 Ü­ber­gang über die Be­re­si­na: Auf ih­rem Rück­zug von Mos­kau über­quer­ten die Fran­zo­sen die Be­re­si­na (26.-28. No­vem­ber 1812), wo­bei Na­po­le­on mehr als die Hälf­te der ihm noch ver­blie­be­nen Sol­da­ten ver­lor <<<

16 Fürs­tin Bor­ghe­se: Pau­li­ne Bo­na­par­te (1780-1825), hei­ra­te­te 1803 den Fürs­ten Ca­mil­lo Bor­ghe­se und wur­de 1806 Her­zo­gin von Gua­stal­la <<<

17 Pyg­ma­li­on: le­gen­därer Bild­hau­er, der sich in eine von ihm selbst ge­schaf­fe­ne weib­li­che Sta­tue ver­liebt, die Aphro­di­te auf sei­ne Bit­ten le­ben­dig wer­den läßt <<<

18 S­tyx: in der grie­chi­schen Sage Grenz­fluß zum To­ten­reich <<<

19 Car­lo Dol­ci (1616-1686): be­rühm­ter flo­ren­ti­ni­scher Ma­ler <<<

20 Chry­so­sto­mus: der hei­li­ge Jo­han­nes Chry­so­sto­mus (um 347-407); Pa­tri­arch von Kon­stan­ti­no­pel, ei­ner der be­deu­tends­ten Kir­chen­vä­ter und Red­ner, ge­nannt ›Gold­mun­d‹ <<<

21 Bois: Ge­meint ist der Bois de Bou­lo­gne, eine wald­rei­che Pro­me­na­de der vor­neh­men Welt von Pa­ris, im Wes­ten der Haupt­stadt ge­le­gen <<<

22 Pair: Mit­glied der Pairs­kam­mer, die von 1814 bis 1848 mit der Ab­ge­ord­ne­ten­kam­mer und dem Kö­nig die ge­setz­ge­ben­de Ge­walt bil­de­te. Nach der Ju­li­re­vo­lu­ti­on wur­de durch eine Re­vi­si­on der Ver­fas­sung am 7. Au­gust 1830 die Erb­lich­keit der Pairs­wür­de ab­ge­schafft <<<

23 Di­de­rot, De­nis (1713-1784): fran­zö­si­scher Phi­lo­soph der Auf­klä­rung, In­spi­ra­tor und Her­aus­ge­ber der En­cy­clopé­die (1751), Essayist, Ro­man­cier, Kunst- und Li­te­ra­tur­kri­ti­ker, Pro­pa­gan­dist der fran­zö­si­schen Auf­klä­rungs­phi­lo­so­phie <<<

24 Fau­bourg Saint-Ho­noré: im 19. Jahr­hun­dert vom Adel be­wohn­tes Stadt­vier­tel von Pa­ris <<<

25 … es gibt Lau­zuns: An­spie­lung auf Ar­mand-Louis de Gon­taut, Duc de Bi­ron und Lau­zun (1747-1793), der in sei­ner Ju­gend für sei­ne ga­lan­ten Aben­teu­er be­rühmt war <<<

26 Til­bu­ry: zwei­sit­zi­ger, zwei­räd­ri­ger leich­ter Wa­gen mit Klapp­ver­deck <<<

27 Soul­t, Ni­co­las, Duc de Dal­ma­tie (1769-1815): Mar­schall von Frank­reich, ent­schied die Schlacht von Aus­ter­litz und zeich­ne­te sich in Spa­ni­en aus; Kriegs­mi­nis­ter (1830-1832) und mehr­mals Pre­mier­mi­nis­ter wäh­rend der Ju­li­mon­ar­chie. Soult be­saß eine der um­fang­reichs­ten Samm­lun­gen spa­ni­scher Ma­le­rei, zu der die »Un­be­fleck­te Emp­fäng­nis der Hei­li­gen Jung­frau« von Mu­ril­lo ge­hör­te, auf die Balzac zwei­fel­los an­spielt <<<

28 die Brie­fe der Les­com­bat: Lie­bes­brie­fe der Ma­rie-Ca­the­ri­ne Les­com­bat (1725-1755), in de­nen sie ih­ren Ge­lieb­ten zum Mord an ih­rem Gat­ten an­stif­tet; bei­de wur­den nach Auf­de­ckung des Ver­bre­chens hin­ge­rich­tet <<<

29 Fa­b­li­aux: fran­zö­si­sche volks­tüm­li­che Ver­ser­zäh­lun­gen des 12./13. Jahr­hun­derts <<<

30 »Cla­ris­sa Har­lo­we«: 1747/48 er­schie­ne­ner Ro­man von Sa­mu­el Richard­son (1689-1761). Lo­ve­lace ist die Ge­stalt des skru­pel­lo­sen Ver­füh­rers <<<

31 Ar­si­noë: Ge­stalt aus der Ko­mö­die »Der Mi­san­throp« (1666) von Mo­liè­re (1622-1673) <<<

32 Ara­min­te: Ge­stalt aus der Ko­mö­die »Die falschen Ge­ständ­nis­se« (1737) von Pier­re Ma­ri­vaux (1688-1763) <<<

33 Érard, Sé­bas­ti­en (1752-1831): fran­zö­si­scher Mu­sik­in­stru­men­ten­bau­er, der mit sei­nen me­cha­ni­schen In­stru­men­ten großen Er­folg hat­te <<<

34 Hals­ban­daf­fä­re: ein Skan­dal am fran­zö­si­schen Hof 1785. Die Com­tes­se Lam­bo­the be­trog den Kar­di­nal Rohan mit ei­nem an­geb­lich für die Kö­ni­gin Ma­rie An­to­i­net­te be­stimm­ten Dia­man­ten­kol­lier, wo­durch das An­se­hen der Kö­ni­gin und des Ho­fes kom­pro­mit­tiert wur­de <<<

35 Jar­din des Plan­tes: 1640 er­öff­ne­ter bo­ta­ni­scher Gar­ten von Pa­ris <<<

36 Ci­ma­ro­sa, Do­me­ni­co (1749-1801): ita­lie­ni­scher Opern­kom­po­nist <<<

37 Zin­ga­rel­li, Ni­co­la An­to­nio (1752-1837): nea­po­li­ta­ni­scher Opern­kom­po­nist <<<

38 La­dy De­la­cour: Ge­stalt aus dem Ro­man »Be­lin­da« (1801) der eng­li­schen Schrift­stel­le­rin Ma­ria Ed­ge­worth (1767-1849) <<<

39 Pria che spun­ti: Arie aus der Oper »Die heim­li­che Ehe« (1792) von Ci­ma­ro­sa <<<

40 Gym­na­se: das ›Gym­na­se dra­ma­ti­que‹, ein un­ter der Schirm­herr­schaft der Du­ches­se de Ber­ry 1820 ge­grün­de­tes Vau­de­ville- und Ko­mö­dien­thea­ter in Pa­ris <<<

41 das Faß Mal­va­sier des Duc de Cla­rence: Der Her­zog von Cla­rence (1449-1478), der ge­gen sei­nen Bru­der Kö­nig Eduard IV. kon­spi­rier­te, wur­de zum Tode ver­ur­teilt und bat, in ei­nem Faß Wein er­tränkt zu wer­den <<<

42 Morgue: Pa­ri­ser Lei­chen­schau­haus <<<

43 Laz­zaro­ni: her­um­lun­gern­de Arme in Nea­pel <<<

44 É­car­té: fran­zö­si­sches Kar­ten­spiel (32 Blatt), zwi­schen zwei Spie­lern ge­spielt <<<

45 Sy­ba­ri­ten: Be­woh­ner der an­ti­ken ita­lie­ni­schen Stadt Sy­ba­ris, de­ren schwel­ge­ri­sches Wohl­le­ben im Al­ter­tum sprich­wört­lich war. <<<

46 Bo­ston: Kar­ten­spiel zu viert mit fran­zö­si­schen Whist­kar­ten, das wäh­rend des ame­ri­ka­ni­schen Frei­heits­kamp­fes er­fun­den wur­de und des­sen Aus­drücke aus dem po­li­ti­schen Wort­schatz die­ser Zeit stamm­ten <<<

47 Raf­fa­el aus Ur­bi­no: Raf­fa­el (1483-1520), Haupt­meis­ter der Re­naissance, des­sen Ge­burts­ort Ur­bi­no ist. Die An­spie­lung Balzacs auf die To­des­ur­sa­che Raf­faels ba­siert auf ei­nem Gerücht <<<

48 … wur­de die Welt nicht von Alex­an­der be­freit durch den Her­ku­les­kelch: nach dem grie­chi­schen Ge­schichts­schrei­ber Dio­do­rus, gen. Si­cu­lus (1. Jh. v. Chr.), fand Alex­an­der der Gro­ße (um 356-323 v. Chr.) den Tod, als er nach ei­nem Gast­mahl einen ge­wal­ti­gen Kelch Wein mit ei­nem Zuge leer­te <<<

49 Sar­dana­pal (um 650 v. Chr.): letz­ter as­sy­ri­scher Kö­nig, galt un­ter den Grie­chen als Ur­bild des Schwel­gers <<<

50 Eusè­be Sal­ver­te, Pier­re-Jo­seph-Eusè­be Ba­con­niè­re de Sal­ver­te (1771-1839): fran­zö­si­scher Phi­lo­soph und Po­li­ti­ker, ver­faß­te einen ›His­to­ri­schen und Phi­lo­so­phi­schen Essay über die Na­men von Män­nern, Völ­kern und Or­ten‹ (1823) <<<

51 Greu­ze, Jean-Bap­tis­te (1725-1805): fran­zö­si­scher Ma­ler vor al­lem idyl­li­scher Fa­mi­li­ens­ze­nen <<<

52 Châte­let: Fes­tung in Pa­ris, Sitz des Kri­mi­nal­ge­richts <<<

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke

Подняться наверх