Читать книгу Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Оноре де'Бальзак, Honoré de Balzac, Balzac - Страница 49

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Ihr wißt, wie dünn die Schei­de­wän­de sind, die in den vor­neh­men Pa­ri­ser Spei­se­lo­ka­len die klei­nen Ein­zel­räu­me von­ein­an­der tren­nen. Bei Véry zum Bei­spiel be­fin­det sich mit­ten im großen Saal eine Schei­de­wand, die je nach Be­darf ent­fernt und wie­der ein­ge­setzt wer­den kann. Nicht hier war der Schau­platz des­sen, was ich be­rich­ten will, son­dern an ei­nem an­dern schö­nen Ort, den ich je­doch nicht nen­nen mag. Wir wa­ren zu zweit, und ich sage da­her mit Hen­ry Mon­niers Prud­hom­me: ›Ich möch­te sie nicht kom­pro­mit­tie­ren.‹ In so ei­nem be­hag­li­chen klei­nen Sa­lon sa­ßen wir und lie­ßen uns die präch­ti­gen Le­cke­rei­en ei­nes vor­züg­li­chen Mah­les schme­cken, wo­bei wir uns, da wir uns über die ge­rin­ge Stär­ke der Wän­de ver­ge­wis­sert hat­ten, nur mit lei­ser Stim­me un­ter­hiel­ten. Schon wa­ren wir beim Bra­ten an­ge­langt, und noch im­mer war das Nach­bar­zim­mer leer, nur das Knis­tern des Ka­min­feu­ers drang zu uns her­über. Als es aber acht Uhr schlug, wur­de es drü­ben laut; man hör­te spre­chen und Füße schar­ren; die Kell­ner schie­nen Ker­zen her­bei­ge­bracht zu ha­ben, und es war klar: der Sa­lon ne­ben­an war be­setzt wor­den. Als ich die Stim­men ver­nahm, er­kann­te ich, mit wel­chen Leu­ten wir es zu tun hat­ten. Es wa­ren vier der kecks­ten Kor­mo­ra­ne, die sich je auf den ewig wech­seln­den Flu­ten der Ge­gen­wart ge­schau­kelt, lie­bens­wür­di­ge jun­ge Leu­te, de­ren Le­bens­weg recht un­ge­wiß, de­ren Ver­mö­gen und Be­sitz­tum man nicht kennt, und die sich den­noch nichts ab­ge­hen las­sen. Die­se geis­ti­gen Kon­dot­tie­ri des heu­ti­gen Kamp­fes ums Da­sein, der grau­sa­mer ist als alle an­dern Krie­ge, über­las­sen die Sor­gen ih­ren Gläu­bi­gern, be­hal­ten für sich das Ver­gnü­gen und küm­mern sich um nichts als ihre Klei­dung. Üb­ri­gens sind sie tap­fer ge­nug, wie Jean Bart auf ei­nem Pul­ver­faß ihre Zi­gar­re zu rau­chen – viel­leicht al­ler­dings nur, um nicht aus der Rol­le zu fal­len. Sie sind spöt­ti­scher als die bos­haf­tes­te klei­ne Ta­ges­zei­tung: Spöt­ter, die sich selbst ver­spot­ten! Ungläu­big und scharf­sin­nig, ver­ste­hen sie sich dar­auf, stets et­was Ge­winn­brin­gen­des auf­zu­spü­ren, sind be­gehr­lich und ver­schwen­de­risch, nei­disch auf an­de­re, aber mit sich zu­frie­den; au­gen­schein­lich große Po­li­ti­ker, die al­les zer­glie­dern, al­les er­ra­ten, ist es ih­nen doch noch nicht ge­lun­gen, sich einen Weg in jene Welt zu bah­nen, in der sie zu glän­zen be­ab­sich­ti­gen. Ein ein­zi­ger von den vie­ren hat sich em­por­ge­schwun­gen, aber nur bis an den Fuß der Lei­ter. Bei sol­chem Hin­auf­kom­men ist Geld das we­nigs­te, und so ein Stre­ber weiß erst nach sechs Mo­na­ten der Krie­che­rei und Spei­chel­le­cke­rei, was al­les ihm zum Wei­ter­kom­men fehlt. Je­ner eine Em­por­kömm­ling, na­mens An­do­che Fi­not, brach­te es fer­tig, vor de­nen, die ihm nütz­lich sein konn­ten, auf dem Bauch zu lie­gen und zu de­nen, die er nicht mehr nö­tig hat­te, un­ver­schämt zu sein. Ähn­lich den Gro­teskge­stal­ten im Bal­lett von Gu­sta­ve ist er Mar­quis von hin­ten und Schur­ke von vorn. Die­ser Ge­schäftsprä­lat hat einen Schlep­pen­trä­ger: Emi­le Blon­det, Zei­tungs­re­dak­teur, ein Mann von Geist, doch flat­ter­haft, be­gabt und faul, kurz, ein Blen­der. Er läßt sich ge­hen und läßt sich aus­nut­zen, ist bald nichts­wür­dig, bald red­lich – aus Lau­ne; ein Mann, den man gern hat, aber nicht ach­ten kann. Zier­lich und an­schmie­gend wie eine Tän­ze­rin, ist Emi­le un­fä­hig, sei­ne Fe­der oder sein Herz dem zu ver­wei­gern, der eins von bei­den er­bä­te; er ist der be­zau­b­erns­te je­ner Weib­män­ner, von de­nen ein geist­vol­ler und phan­tas­ti­scher Kopf ge­sagt hat: ›Ich lie­be sie mehr in Sei­den­schu­hen als in Stie­feln.‹ Der drit­te, Cou­ture, lebt von der Spe­ku­la­ti­on. Er pfropft Ge­schäft auf Ge­schäft, der Er­folg des einen deckt den Mi­ßer­folg des an­dern; er lebt von heu­te auf mor­gen, vom Spiel oder ir­gend­ei­nem ge­schäft­li­chen Ge­walt­streich; er schwimmt hier­hin und dort­hin, um im end­lo­sen Meer der Pa­ri­ser Ge­schäfts­welt eine In­sel zu fin­den, um­strit­ten ge­nug, um es wa­gen zu kön­nen, von ihr Be­sitz zu er­grei­fen. Au­gen­schein­lich hat er sei­nen rech­ten Platz noch nicht ge­fun­den. Was den letz­ten, den bos­haf­tes­ten der vier, an­langt, so ge­nügt sein Name: Bi­xiou! Ach, es ist nicht mehr der Bi­xiou von 1825, son­dern je­ner von 1836, der men­schen­feind­li­che Spaß­ma­cher voll Be­geis­te­rung und Bos­heit; ein Teu­fel, voll Wut, sich un­wür­dig ver­schwen­det zu ha­ben, voll Wut, aus der letz­ten Re­vo­lu­ti­on ohne Beu­te her­vor­ge­gan­gen zu sein; ein wah­rer ›Pier­rot des Fu­n­am­bu­les‹, der sei­ne Zeit und ihre Skan­dal­ge­schich­ten wie kein zwei­ter kennt und sie mit spa­ßi­gen Ein­fäl­len aus­schmückt; ein Clown, der den an­dern auf die Schul­tern springt, um ih­nen ein Hen­kers­zei­chen zu hin­ter­las­sen.

Der ers­te Hun­ger schi­en ge­stillt, und un­se­re Nach­barn ge­lang­ten in ih­rer Mahl­zeit gleich uns zum Des­sert; dank un­sers ru­hi­gen Ver­hal­tens glaub­ten sie sich al­lein. Bei Cham­pa­gner, Zi­gar­ren und ga­stro­no­mi­schen Genüs­sen ent­spann sich als­bald eine ver­trau­li­che Un­ter­hal­tung. Die­ses Ge­spräch, das kalt und geist­voll jede Ge­fühls­re­gung un­ter­drück­te und dem Ge­läch­ter einen schril­len Ton her­ber Iro­nie bei­meng­te, ge­fiel sich in An­kla­gen ge­gen alle, de­ren Le­ben dem Ei­gen­nutz ge­dient. Je­nes Pam­phlet, das Di­de­rot nicht zu ver­öf­fent­li­chen wag­te, ›Ra­me­aus Nef­fe‹, ein­zig die­ses Buch, das nur ge­schrie­ben wur­de, um Wun­den zu ent­blö­ßen, kann zum Ver­gleich mit die­ser rück­sichts­lo­sen Rede her­an­ge­zo­gen wer­den, die ich er­lausch­te. Es war eine Rede, bei der das Wort nicht ein­mal das ver­schon­te, was der Ge­dan­ke noch in Zwei­fel zog; sie bau­te auf Trüm­mern Be­wei­se auf, ver­nein­te al­les und be­wun­der­te nur das, was der Skep­ti­zis­mus an­er­kennt: des Gol­des All­wis­sen­heit und All­macht. Nach­dem die üble Nach­re­de zu­nächst den wei­te­ren Be­kann­ten­kreis an­ge­grif­fen, be­gann sie die na­hen Freun­de aufs Korn zu neh­men. Eine Hand­be­we­gung von mir ge­nüg­te zum Zei­chen, daß ich noch zu blei­ben ver­lang­te, denn Bi­xiou er­griff das Wort. Wir hör­ten nun eine je­ner bos­haf­ten Im­pro­vi­sa­tio­nen, die die­sem Künst­ler sei­nen Ruf als über­le­ge­nen Geist ver­schaff­ten. Trotz­dem der Vor­trag oft un­ter­bro­chen, fal­len ge­las­sen und wie­der auf­ge­nom­men wur­de, hat mein Ge­dächt­nis ihn fest­ge­hal­ten. Ich gebe hier in In­halt und Form ge­nau wie­der, was ich hör­te; mag es auch li­te­ra­ri­schen An­for­de­run­gen nicht ge­nü­gen, so gibt die­ses Pot­pour­ri doch ein ge­treu­es Bild der dunklen Far­ben un­se­rer Zeit, und die Verant­wort­lich­keit muß ich dem Red­ner selbst zu­schie­ben. Mie­nen­spiel und Ges­ten schie­nen präch­tig mit dem je­wei­li­gen Ton­fall über­ein­zu­stim­men, mit dem Bi­xiou die vor­ge­führ­ten Per­so­nen zeich­ne­te, denn sei­ne drei Zu­hö­rer lie­ßen des öf­te­ren Bei­falls­ru­fe er­tö­nen.

»Und Ras­ti­gnac hat dich zu­rück­ge­wie­sen?« sag­te Blon­det zu Fi­not. »Glatt.«

»Hast du ihm auch mit den Zei­tun­gen ge­droht?« frag­te Bi­xiou. »Er hat ge­lacht,« er­wi­der­te Fi­not. »Ras­ti­gnac ist der di­rek­te Erbe des se­li­gen de Mar­say, er wird po­li­tisch wie ge­sell­schaft­lich sei­nen Weg ma­chen,« sag­te Blon­det. »Doch wie ist er zu sei­nem Ver­mö­gen ge­kom­men?« frag­te Cou­ture. »1819 war er noch, ge­mein­sam mit dem be­rühm­ten Bian­chon, in ei­ner elen­den Pen­si­on des Quar­tier la­tin; sei­ne Fa­mi­lie nähr­te sich von ge­rös­te­ten Mai­kä­fern und trank bil­li­gen Land­wein, um ihm hun­dert Fran­ken im Mo­nat sen­den zu kön­nen; das Gut sei­nes Va­ters war kei­ne tau­send Ta­ler wert; über­dies hat­te er noch zwei Schwes­tern und einen Bru­der, und jetzt …«

»Und jetzt hat er jähr­lich eine Ren­te von vier­zig­tau­send Fran­ken,« sag­te Fi­not; »jede sei­ner Schwes­tern hat sich gut ver­hei­ra­tet und eine rei­che Mit­gift be­kom­men, und die Nutz­nie­ßung des vä­ter­li­chen Gu­tes hat er sei­ner Mut­ter über­las­sen …«

»Im Jah­re 1827 sah ich ihn noch ohne einen Sou,« sag­te Blon­det. »Im Jah­re 1827!« sag­te Bi­xiou. »Nun,« er­wi­der­te Fi­not, »heu­te se­hen wir ihn auf dem bes­ten Wege, Mi­nis­ter, Pair von Frank­reich oder sonst ir­gend et­was Gro­ßes zu wer­den! Seit drei Jah­ren hat er sei­ne Be­zie­hun­gen zu Del­phi­ne güt­lich ge­löst, er wird sich nur un­ter gu­ten Aus­sich­ten ver­hei­ra­ten, und er kann un­ter den edels­ten Töch­tern des Lan­des wäh­len. Der Bur­sche hat­te Ver­stand ge­nug, sich an eine rei­che Frau zu hal­ten.«

»Mei­ne Freun­de, hal­tet ihm mil­dern­de Um­stän­de zu­gu­te,« sag­te Blon­det; »kaum daß er den Kral­len des Elends ent­ron­nen, fiel er in die Hän­de ei­nes ge­rie­be­nen Schlau­ber­gers.«

»Du scheinst Nu­cin­gen gut zu ken­nen,« sag­te Bi­xiou; »in der ers­ten Zeit fan­den Del­phi­ne und Ras­ti­gnac ihn sehr ›lenk­bar‹, für ihn schi­en die Frau ein Spiel­zeug, ein Schmuck sei­nes Hau­ses zu sein. Und das ist es, was den Mann in mei­nen Au­gen hebt: Nu­cin­gen scheut sich nicht, aus­zu­spre­chen, daß sei­ne Frau ge­wis­ser­ma­ßen die Re­prä­sen­tan­tin sei­nes Ver­mö­gens ist, eine un­ver­äu­ßer­li­che, aber un­ter­ge­ord­ne­te Sa­che im Le­ben der Po­li­ti­ker und Finanz­män­ner, die mit Hoch­druck ar­bei­ten. Ich selbst habe ihn sa­gen hö­ren, Bo­na­par­te sei da­mals, als er mit Jo­se­phi­ne an­knüpf­te, dumm ge­we­sen wie ein Spieß­bür­ger und habe sich dann, als er den Mut ge­habt, sie als Sprung­brett zu be­nut­zen, da­durch lä­cher­lich ge­macht, daß er sie zu sei­nem Ka­me­ra­den zu ma­chen such­te.«

»Je­der hö­he­re Mensch soll­te über die Frau die An­schau­un­gen des Ori­en­ta­len ha­ben,« sag­te Blon­det. »Der Baron hat die An­schau­un­gen des Mor­gen- und Abend­län­ders in reiz­vol­les Pa­ri­se­risch über­tra­gen. Mar­say, der nicht lenk­bar war, war ihm un­er­träg­lich, aber Ras­ti­gnac hat ihm sehr ge­fal­len, und er hat ihn aus­ge­nutzt, ohne daß die­ser es ahn­te. Alle Las­ten sei­ner Ehe bür­de­te er ihm auf. Ras­ti­gnac muß­te die Lau­nen Del­phi­nes auf sich neh­men, er führ­te sie ins Bois, er be­glei­te­te sie ins Thea­ter. Die­ser klei­ne Groß­po­li­ti­ker von heu­te hat lan­ge Zeit sein Le­ben da­mit ver­bracht, Bil­let­doux zu schrei­ben und zu le­sen. An­fäng­lich wur­de Eu­gen we­gen ei­nes Nichts ge­schol­ten; er freu­te sich mit Del­phi­ne, wenn sie hei­ter war, be­küm­mer­te sich, wenn sie trau­rig war, er trug die Las­ten ih­rer Mi­grä­nen, ih­rer Be­kennt­nis­se; er schenk­te ihr sei­ne gan­ze Zeit, sei­ne kost­ba­re Ju­gend, um die Hohl­heit, den Mü­ßig­gang die­ser Pa­ri­se­rin aus­zu­fül­len. Del­phi­ne und er hiel­ten große Be­ra­tun­gen über Klei­der und Schmuck, er er­trug das Feu­er ih­res Zor­nes und den Über­mut ih­rer Lau­ne, wäh­rend sie – ge­wis­ser­ma­ßen als Aus­gleich – sich für den Baron be­zau­bernd mach­te. Der Baron sei­ner­seits lach­te sich ins Fäust­chen, dann, als er sah, daß Ras­ti­gnac un­ter dem Ge­wicht sei­ner Las­ten zu­sam­men­brach, gab er sich den An­schein, Ver­dacht zu schöp­fen, und ver­band die bei­den Lie­ben­den durch ihre ge­mein­sa­me Angst von neu­em.«

»Ich gebe zu, daß eine rei­che Frau in der Lage ist, Ras­ti­gnac an­stän­dig aus­zu­stat­ten, aber wo­her hat er sein Ver­mö­gen ge­nom­men?« frag­te Cou­ture. »Ein so großes Ver­mö­gen wie das sei­ne muß ir­gend­wo­her kom­men, und nie­mand hat ihn je­mals ver­däch­tigt, auf ein gu­tes Ge­schäft ge­ra­ten zu sein?«

»Er hat ge­erbt,« sag­te Fi­not. »Von wem?« frag­te Emi­le Blon­det. »Von Dumm­köp­fen am Wege,« ent­geg­ne­te Cou­ture. »Er hat nicht al­les ge­nom­men, lie­be Jun­gen,« sag­te Bi­xiou:

»… ›Be­ru­higt euch über den falschen Alarm,

Ein je­der reicht heu­te dem Schwin­del den Arm.‹

Ich will euch den Ur­sprung sei­nes Ver­mö­gens be­rich­ten. Zu­nächst ist un­ser Freund kein Bur­sche, wie Fi­not ge­sagt hat, son­dern ein Gent­le­man, der das Spiel und die Kar­ten kennt und den die Ga­le­rie ach­tet. Ras­ti­gnac hat all den Ver­stand, den man ha­ben muß, um im ge­ge­be­nen Au­gen­blick zu han­deln, er ist wie ein Söld­ner, der sei­nen Mut nur ge­gen drei Un­ter­schrif­ten und sons­ti­ge Si­cher­heit ver­kauft. Er scheint ge­dan­ken­los, schwatz­haft, leicht­fer­tig, un­be­stän­dig, ohne fes­te An­schau­un­gen; so­bald sich ihm aber et­was Erns­tes bie­tet, ein Plan, eine Be­rech­nung, so wird er sich nicht ver­zet­teln, wie Blon­det da, der sich auf Kos­ten des lie­ben Nach­barn strei­tet. Ras­ti­gnac rafft sich auf, kon­zen­triert sich, prüft den Punkt, an dem der An­griff ein­zu­set­zen hat, und greift dann mit al­len Mit­teln an. Mit der Tap­fer­keit ei­nes Mu­rat sprengt er den Block, die Ak­tio­näre, die Grün­der, kurz­um den gan­zen Hau­fen aus­ein­an­der; hat der An­griff sei­ne Wir­kung ge­tan, so kehrt er zu sei­nem be­hag­li­chen, sorg­lo­sen Le­ben zu­rück und wird wie­der der schwel­ge­ri­sche Süd­fran­zo­se, der nichts­sa­gen­de, ta­ten­lo­se Ras­ti­gnac, der sich erst mit­tags zu er­he­ben braucht, weil er im ge­ge­be­nen Au­gen­blick wach zu sein ver­stand.«

»Sehr schön, aber komm end­lich zu sei­nem Ver­mö­gen!« be­merk­te Fi­not. »Bi­xiou wird uns nur das eine sa­gen,« ent­geg­ne­te Blon­det, »Ras­ti­gnacs Ver­mö­gen – das ist Del­phi­ne von Nu­cin­gen, eine be­ach­tens­wer­te Frau, die Ehr­geiz und Vor­sicht ver­eint.«

»Hat sie dir Geld ge­lie­hen?« frag­te Bi­xiou. All­ge­mei­nes Ge­läch­ter. »Du täuschst dich in ihr,« sag­te Cou­ture zu Blon­det; »ihr gan­zer Geist be­steht dar­in, mehr oder we­ni­ger pi­kan­te Din­ge zu sa­gen und Ras­ti­gnac mit ganz un­be­que­mer Treue zu lie­ben und ihm blind zu ge­hor­chen; sie ist in ih­ren In­stink­ten durch­aus Ita­li­e­ne­rin.«

»Geld bei­sei­te« sag­te An­do­che Fi­not bit­ter. »Still, still« er­wi­der­te Bi­xiou mit schmei­cheln­der Stim­me, »könnt ihr es nach al­le­dem, was wir er­ör­tert ha­ben, noch wa­gen, den ar­men Ras­ti­gnac zu be­schul­di­gen, auf Kos­ten des Hau­ses Nu­cin­gen ge­lebt zu ha­ben? Wagt ihr es, zu be­haup­ten, man habe ihm eine Woh­nung ge­sucht und ein­ge­rich­tet und ihn da hin­ein­ge­setzt, wie sei­ner­zeit un­ser Freund des Lu­peaulx die Tor­pil­le? Üb­ri­gens kann die Sa­che – ab­strakt ge­spro­chen, wie Roy­er-Col­lard sa­gen wür­de – vor der Kri­tik der rei­nen Ver­nunft be­ste­hen; was al­ler­dings die­je­ni­ge der un­rei­nen Ver­nunft an­lang­t…«

»Aber ja,« rief Blon­det, »er hat recht! Die Fra­ge ist ur­alt. Sie war die Ver­an­las­sung zu dem be­rühm­ten Zwei­kampf zwi­schen la Châtaig­ne­raie und Jar­nac, dem wir den be­kann­ten Auss­pruch ›Coup de Jar­nac‹ ver­dan­ken. Jar­nac wur­de be­schul­digt, mit sei­ner Schwie­ger­mut­ter all­zu gute Be­zie­hun­gen zu un­ter­hal­ten. Wenn eine Tat­sa­che so wahr ist, darf sie nicht aus­ge­spro­chen wer­den. Aus Er­ge­ben­heit für Kö­nig Hein­rich II., der sich die­se Bos­heit ge­stat­tet hat­te, nahm la Châtaig­ne­raie den Auss­pruch auf sich, und es kam zu dem Duell, das die fran­zö­si­sche Spra­che um die be­kann­te Be­zeich­nung be­rei­cher­te.«

»Ach! von so weit her kommt die Be­zeich­nung,« sag­te Fi­not; »da ist sie ja ge­ra­de­zu vor­nehm.«

»Es gibt Frau­en,« fuhr Bi­xiou ernst­haft fort, »es gibt auch Män­ner, die es ver­ste­hen, sich zu tei­len und nur teil­wei­se zu ver­schen­ken. Sol­che Leu­te wer­den stets ihre ma­te­ri­el­len In­ter­es­sen von ih­rem Ge­fühls­le­ben tren­nen. Sie schen­ken ei­ner Frau ihre gan­ze Zeit und ihre Ehre. Als Ge­gen­leis­tung neh­men sie aber von der Frau nichts an. Ja, es ist un­eh­ren­haft, nicht nur die See­len, son­dern auch Geld und Gut zu ver­schmel­zen. Die­se Leh­re wird oft ge­nug vor­ge­tra­gen, aber sel­ten an­ge­wen­det …«

»Ach, was für Lap­pa­li­en!« sag­te Blon­det. »Der Mar­schall von Ri­che­lieu, ein Ken­ner in Sa­chen der Galan­te­rie, setz­te Frau de la Po­pe­li­niè­re eine Pen­si­on von tau­send Louis aus. Ag­nes So­rel brach­te mit kind­li­cher Selbst­ver­ständ­lich­keit Kö­nig Karl VII. ihr Ver­mö­gen, und der Kö­nig nahm es an. Jac­ques Coeur hat für den Un­ter­halt der Kro­ne Frank­reichs ge­sorgt, und sie nahm es – mit echt weib­li­cher Un­dank­bar­keit – hin.«

»Mei­ne Her­ren,« sag­te Bi­xiou, »die Lie­be, die nicht auch in­ni­ge Freund­schaft ist, scheint mir nichts wei­ter als mo­men­ta­ne Aus­schwei­fung. Was ist eine Hin­ga­be, bei der man doch et­was für sich zu­rück­be­hält? Zwi­schen die­sen bei­den glei­cher­ma­ßen un­mo­ra­li­schen und ein­an­der den­noch ganz ent­ge­gen­ge­setz­ten Be­grif­fen ist kei­ne Ver­söh­nung mög­lich. Nach mei­ner An­sicht ha­ben alle, die einen rück­halt­lo­sen Lie­bes­bund scheu­en, ein­fach Angst, er kön­ne ein Ende neh­men, er sei nur flüch­ti­ger Rausch! Die Lei­den­schaft, die dem von ihr Be­fal­le­nen nicht ewig scheint, ist ab­scheu­lich. (Der Auss­pruch ist üb­ri­gens Fé­ne­lon von reins­tem Was­ser.) Wer die Welt kennt und be­ob­ach­tet, zum Bei­spiel alle jene, die sich zu klei­den wis­sen, und jene, die ohne Er­rö­ten eine Geld­hei­rat ein­ge­hen, hält eine tat­säch­li­che Tren­nung von ma­te­ri­el­len In­ter­es­sen und Ge­fühls­le­ben für un­be­dingt not­wen­dig. Die an­dern sind ver­lieb­te Nar­ren, die mei­nen, sie und ihre Ge­lieb­te sei­en al­lein auf der Welt! Ih­nen sind die Mil­lio­nen nichts, aber den Hand­schuh, die Ka­me­lie, die ihre An­ge­be­te­te ge­tra­gen, be­wer­ten sie nach Mil­lio­nen! Wenn ihr bei ih­nen auch das ver­ächt­li­che Geld nicht fin­det, so fin­det ihr doch, sorg­sam in Ze­dern­holz­schach­teln auf­ge­bahrt, die Lei­chen wel­ker Blu­men! Alle glei­chen sie ein­an­der: sie alle ha­ben kein ›Ich‹ mehr. ›Du‹, das ist ihr Gott. Was ist da zu tun? Könnt ihr die­se Er­kran­kung des Her­zens ver­hin­dern? Es gibt Nar­ren, die ohne jede Be­rech­nung lie­ben, und es gibt Wei­se, de­ren gan­ze Lie­be Be­rech­nung ist.«

»Bi­xiou, du bist groß­ar­tig!« schrie Blon­det. »Was sagt Fi­not?«

»An an­derm Ort«, er­wi­der­te Fi­not mit Wür­de, »wäre ich ei­ner Mei­nung mit den Gent­le­men; hier je­doch den­ke ich …«

»Eben­so wie die schlech­ten Sub­jek­te, in de­ren Ge­sell­schaft ich mich be­fin­de,« ent­geg­ne­te Bi­xiou. »Wahr­haf­tig ja,« sag­te Fi­not. »Und du?« wand­te sich Bi­xiou an Cou­ture. »Dumm­hei­ten!« rief Cou­ture. »Eine Frau, die ih­ren Kör­per nicht zum Sprung­brett macht, um den Mann, den sie aus­zeich­net, em­por­kom­men zu las­sen, ist eine herz­lo­se, selbst­süch­ti­ge Frau.«

»Und du, Blon­det?«

»Ich, ich er­pro­be die Sa­che prak­tisch.«

»Nun,« fuhr Bi­xiou mit bos­haf­ter Stim­me fort, »Ras­ti­gnac war nicht eu­rer An­sicht. Neh­men und nicht wie­der­ge­ben ist schreck­lich und so­gar leicht­sin­nig; aber neh­men, um sich das Recht zu er­wir­ken, gött­lich, hun­dert­fach zu­rück­zu­ge­ben – das ist eine rit­ter­li­che Tat! So dach­te Ras­ti­gnac. Ras­ti­gnac fühl­te sich tief ge­de­mü­tigt, daß er von Del­phi­ne von Nu­cin­gen Geld an­neh­men muß­te, ich weiß da­von zu re­den, ich sah, wie er mit Trä­nen in den Au­gen die­sen Zu­stand be­klag­te. Ja, er wein­te in der Tat … nach Tisch! Na, nach un­se­rer An­sicht …«

»Höre mal, du machst dich über uns lus­tig,« sag­te Fi­not. »Kei­ne Spur. Es han­delt sich um Ras­ti­gnac, des­sen Kum­mer nach eu­rer An­sicht ein Be­weis sei­ner Ver­dor­ben­heit ist; denn da­mals lieb­te er Del­phi­ne viel we­ni­ger. Aber was ist da zu ma­chen! Der arme Jun­ge hat­te die­ses Schwert im Her­zen. Er ist eben ein ent­ar­te­ter Edel­mann, seht ihr, und wir sind tu­gend­sa­me Künst­ler. Also, Ras­ti­gnac woll­te Del­phi­ne be­rei­chern – er, der Arme, sie, die Rei­che! Wollt ihr es glau­ben? Er ist ans Ziel ge­kom­men. Ras­ti­gnac, der sich ge­schla­gen hät­te wie ein Jar­nac, mach­te sich von nun an den Auss­pruch Hein­richs II. zu ei­gen: ›Es gibt kei­ne ab­so­lu­te Tu­gend, nur Ge­le­gen­hei­ten und Um­stän­de.‹ Da­mit leg­te er den Grund­stein zu sei­nem Reich­tum.«

»Du soll­test lie­ber mit dei­ner Ge­schich­te be­gin­nen, an­statt uns zur Selb­st­an­kla­ge zu ver­lei­ten,« sag­te Blon­det mit lie­bens­wür­di­ger Gut­mü­tig­keit. »Ah, mein Klei­ner,« sag­te Bi­xiou und gab ihm einen wohl­wol­len­den Klaps auf den Hin­ter­kopf, »du wirst dich beim Cham­pa­gner wie­der­fin­den.«

»Bei Sei­ner Hei­lig­keit dem Ak­tio­när,« sag­te Cou­ture, »er­zäh­le uns dei­ne Ge­schich­te!«

»Ich war ge­ra­de an ei­nem Kno­ten,« gab Bi­xiou zu­rück, »aber mit dei­nem Fluch gibst du mir die Auf­lö­sung.«

»Es gibt also Ak­tio­näre bei der Ge­schich­te?« frag­te Fi­not. »Stein­rei­che, so wie dei­ner,« er­wi­der­te Bi­xiou. »Es scheint mir,« sag­te Fi­not, »daß du ei­nem gu­ten Kin­de, bei dem du ge­le­gent­lich eine Fünf­hun­dert­fran­ken­no­te fin­dest, Rück­sich­ten schul­dig bist …«

»Kell­ner!« rief Bi­xiou. »Was willst du von ihm?« frag­te ihn Blon­det. »Fünf­hun­dert Fran­ken für Fi­not, um mei­ne Zun­ge zu lö­sen und mich von der Ver­pflich­tung der Dank­bar­keit zu ent­bin­den.«

»Er­zäh­le dei­ne Ge­schich­te!« er­wi­der­te Fi­not la­chend. »Ihr seid Zeu­gen,« sag­te Bi­xiou, »daß ich nichts mit die­sem Un­ver­schäm­ten zu tun habe, der da glaubt, mein Schwei­gen sei nicht mehr als fünf­hun­dert Fran­ken wert! Wenn du die Ge­wis­sen nicht bes­ser ein­zu­schät­zen weißt, wirst du nie­mals Mi­nis­ter wer­den. Also gut!« sag­te er mit schmun­zeln­der Stim­me, »mein lie­ber Fi­not, ich wer­de die Ge­schich­te er­zäh­len, ohne Na­men zu nen­nen, und wir sind quitt.«

»Er wird uns be­wei­sen,« sag­te Cou­ture lä­chelnd, »daß Nu­cin­gen den Ras­ti­gnac reich ge­macht hat.«

»Du bist gar nicht so weit vom Schuß, als du denkst,« er­wi­der­te Bi­xiou. »Ihr wißt nicht, was Nu­cin­gen als Geld­mann ist.«

»Nur weißt du wohl lei­der nicht das ge­rings­te über sein ers­tes Auf­tre­ten?« frag­te Blon­det. »Ich habe ihn al­ler­dings nur in sei­nem ei­ge­nen Hau­se ge­se­hen,« sag­te Bi­xiou; »aber es ist ja nicht un­mög­lich, daß wir ein­an­der frü­her ein­mal über den Weg ge­lau­fen sind.«

»Das Auf­blü­hen des Hau­ses Nu­cin­gen ist eins der größ­ten Wun­der un­se­rer Zelt,« be­merk­te Blon­det. »Im Jah­re 1804 war Nu­cin­gen we­nig be­kannt, die Ban­ken von da­mals hät­ten ge­zit­tert, hun­dert­tau­send Ta­ler sei­ner Ak­zep­te am Plat­ze zu wis­sen. Aber der große Geld­mann war sich sei­ner Min­der­wer­tig­keit be­wußt. Wie sich be­kannt ma­chen? Er stellt sei­ne Zah­lun­gen ein. Schön! Sein bis­her nur in Straß­burg und im Quar­tier Pois­son­niè­re be­kann­ter Name er­tönt al­ler­or­ten! Er ent­schä­digt sei­ne Leu­te mit lee­ren Wor­ten und nimmt sei­ne Zah­lun­gen wie­der auf: als­bald ge­hen sei­ne Pa­pie­re in ganz Frank­reich. Durch einen un­er­hör­ten Zu­fall stei­gen die Pa­pie­re, fin­den An­klang und Ab­satz. Nu­cin­gens sind sehr ge­sucht. Das Jahr 1815 kommt, der Mann rafft sei­ne Gel­der zu­sam­men, kauft vor der Schlacht bei Wa­ter­loo Staats­pa­pie­re, stellt im Mo­ment der Kri­se sei­ne Zah­lun­gen ein und li­qui­diert mit Wort­schi­ner Mi­nen­ak­ti­en, die er sich zwan­zig Pro­zent un­ter dem Wert be­schafft hat­te, zu dem er selbst sie emit­tier­te! Ja, mei­ne Her­ren, er kauft bei Gran­det hun­dert­fünf­zig­tau­send Fla­schen Cham­pa­gner, um sich zu de­cken, denn er sah den Fall die­ses ehr­sa­men Va­ters des be­kann­ten Gra­fen d’Au­bri­on vor­aus, und eben­so­viel Fla­schen Bor­deaux­wein bei Du­berg­he. Die drei­hun­dert­tau­send Fla­schen, zu drei­ßig Sous das Stück ge­kauft, gibt er den Ver­bün­de­ten von 1817 bis 1819 im Palais Roy­al zu trin­ken – zu sechs Fran­ken die Fla­sche. Die Pa­pie­re des Hau­ses Nu­cin­gen und sein Name be­kom­men eu­ro­päi­schen Ruf. Die­ser all­mäch­ti­ge Baron hat sich über den Ab­grund er­ho­ben, in dem je­der an­de­re zu­grun­de ge­gan­gen wäre. Zwei­mal brach­te sei­ne Li­qui­da­ti­on sei­nen Gläu­bi­gern un­er­hör­te Vor­tei­le; er woll­te sie um­brin­gen – un­mög­lich! Er gilt als der eh­ren­haf­tes­te Mann von der Welt. Bei der drit­ten Zah­lungs­ein­stel­lung wer­den die Pa­pie­re des Hau­ses Nu­cin­gen so­gar in Asi­en, in Me­xi­ko, in Aus­tra­li­en, ja bei den Wil­den ge­hen. Ouvrard ist der ein­zi­ge, der die­sen El­säs­ser, den Sohn ei­nes aus Stre­ber­tum ge­tauf­ten Ju­den, durch­schaut hat: ›Wenn Nu­cin­gen sein Gold fah­ren läßt,‹ sag­te er, ›so könnt ihr glau­ben, daß er da­für Dia­man­ten ein­heimst!‹«

»Sein Ge­nos­se du Til­let paßt gut zu ihm,« sag­te Fi­not. »Denkt nur, die­ser du Til­let ist ein Mann, der von Haus aus nur das Nö­tigs­te zum Le­ben hat; und die­ser Kerl, der 1814 kei­nen Hel­ler be­saß, hat sich zu dem em­por­ge­schwun­gen, was er jetzt ist. Aber was kei­ner von uns – dich neh­me ich aus, Cou­ture – fer­tig­ge­bracht hat: er wuß­te sich an­statt der Fein­de Freun­de zu schaf­fen. Kurz, er wuß­te sein Vor­le­ben so gut zu ver­ber­gen, daß man einen gan­zen Sumpf durch­for­schen muß­te, um da­hin­ter­zu­kom­men, daß er noch 1814 Hand­lungs­die­ner bei ei­nem Par­fü­me­rie­händ­ler der Rue Saint-Ho­noré ge­we­sen ist.«

»Ta ta ta!« er­wi­der­te Bi­xiou, »wie könnt ihr einen Ver­gleich zie­hen zwi­schen Nu­cin­gen und die­sem jäm­mer­li­chen Schwind­ler du Til­let, die­sem Scha­kal, der von sei­ner Schnüf­fel­na­se lebt, der die Ka­da­ver riecht und als Ers­ter her­bei­ge­lau­fen kommt, um sich den größ­ten Kno­chen zu si­chern. Stellt euch nur ein­mal bei­de Män­ner vor: der eine hat einen spit­zen Kat­zen­kopf, er ist ma­ger, ge­wandt; der an­de­re ist mas­sig und fett, plump wie ein Sack, be­harr­lich wie ein Di­plo­mat. Nu­cin­gen hat eine schwe­re Hand und den to­ten Blick des Bör­sen­spe­ku­lan­ten; sei­ne Kampf­me­tho­de ist nicht ein Drauf­ge­hen, son­dern ein stil­les Über­lis­ten; er ist nie zu durch­schau­en, man weiß nichts von sei­nem Kom­men, wäh­rend die Schlau­heit je­nes du Til­let nur zu ver­glei­chen ist mit ei­nem zu dün­nen Fa­den: er reißt, wie Na­po­le­on ein­mal von ir­gend­wem ge­sagt hat.«

»Ich sehe ei­gent­lich kei­ne an­de­re Über­le­gen­heit Nu­cin­gens über du Til­let, als die, her­aus­ge­fun­den zu ha­ben, daß ein Finanz­mann nur Baron zu sein braucht, wäh­rend du Til­let sich in Ita­li­en zum Gra­fen er­he­ben las­sen will,« sag­te Blon­det. »Blon­det … ein Wort, mein Jun­ge,« sag­te Cou­ture. »Zu­nächst hat Nu­cin­gen aus­zu­spre­chen ge­wagt, daß es nur schein­bar Ehren­män­ner gibt; fer­ner muß man, um ihn gut zu ken­nen, mit sei­nen Ge­schäf­ten ver­traut sein. Die Bank ist bei ihm das we­nigs­te. Er hat die Lie­fe­run­gen für die Re­gie­rung, die Wei­ne, die Wä­sche, den In­di­go, kurz­um al­les, was ir­gend­ei­nen Ge­winn ab­wirft. Al­les, was ihm Vor­teil bringt, weiß er sich zu ver­schaf­fen. Die­ser Finanz­rie­se wür­de dem Mi­nis­te­ri­um De­pu­tier­te ver­kau­fen und den Tür­ken die Grie­chen. ›Der Han­del ist für ihn‹, wür­de Cou­sin sa­gen, ›die Ge­samt­heit der Ein­zel­hei­ten, die Ein­heit der Viel­hei­ten.‹ Wenn man die Bank aus die­sem Ge­sichts­punkt be­trach­tet, so wird sie ein gan­zes Staats­we­sen, sie ver­langt einen über­le­ge­nen Kopf und kann einen Mann wohl dazu brin­gen, sich über die Ge­set­ze der Red­lich­keit, die ihn be­en­gen, zu er­he­ben.«

»Du hast recht, mein Sohn,« sag­te Blon­det. »Aber wir al­lein sind es, die be­grei­fen, daß das der Krieg ist. Der Ban­kier ist ein Ero­be­rer, der sei­ne Hee­res­mas­sen op­fert, um ver­bor­ge­ne Zwe­cke zu er­rei­chen; sei­ne Sol­da­ten – das sind die An­tei­le des Ein­zel­nen. Er hat sei­ne Schlacht­ord­nung zu ent­wer­fen, Hin­ter­hal­te zu le­gen, An­füh­rer zu wäh­len, Städ­te ein­zu­neh­men. Die meis­ten die­ser Män­ner ha­ben so viel mit Po­li­tik zu tun, daß sie schließ­lich auch hier mit­re­den wol­len und ihr Ver­mö­gen da­bei ver­lie­ren. Auf sol­che Wei­se ist das Haus Ne­cker zu­grun­de ge­gan­gen, und der be­kann­te Sa­mu­el Ber­nard ist fast dar­über zu­sam­men­ge­bro­chen. Fast je­des Jahr­hun­dert hat sei­nen un­ge­heu­er rei­chen Ban­kier, der schließ­lich we­der Geld noch Er­ben hin­ter­läßt. Die Brü­der Pâris, die dazu bei­tru­gen, Law zu stür­zen, und Law sel­ber, ne­ben de­nen alle an­dern Pyg­mä­en sind, Bou­ret und Beau­jon – alle sind da­hin, ohne Fa­mi­lie zu hin­ter­las­sen. Wie die Zeit, so frißt auch die Bank ihre Kin­der. Um be­ste­hen zu kön­nen, müs­sen die Ban­kiers ad­lig wer­den, eine Dy­nas­tie be­grün­den, wie die Gläu­bi­ger Karls V., die Fug­ger, die zu Fürs­ten von Ba­ben­hau­sen er­nannt wur­den und die noch im­mer be­ste­hen … im Go­tha­er Al­ma­nach. Die Bank sucht le­dig­lich aus Er­hal­tungs­trieb und viel­leicht so­gar ohne es zu wis­sen, nach dem Adels­ti­tel. Jac­ques Coeur hat ein großes Adels­ge­schlecht be­grün­det, das Ge­schlecht der Noirm­ou­tier, das un­ter Lud­wig XIII. er­losch. Welch eine Ener­gie be­wies der Mann, der sich zu­grun­de rich­te­te, um einen recht­mä­ßi­gen Kö­nig zu schaf­fen! Er starb als Be­herr­scher ir­gend­ei­ner In­sel im Archi­pel, wo er eine herr­li­che Ka­the­dra­le er­bau­te.«

»Ja, wenn ihr auf ge­schicht­li­che Er­eig­nis­se zu­rück­greift, so ver­lie­ren wir uns aus der Ge­gen­wart; in un­se­rer Zeit ist die Kro­ne des Rech­tes be­raubt, den Adels­ti­tel zu er­tei­len, und man macht die Gra­fen und Baro­ne nur bei ge­schlos­se­nen Tü­ren, wie scha­de!« sag­te Fi­not. »Du hast ganz recht, wenn es dir leid tut, daß man den Adels­ti­tel nicht ver­kau­fen kann,« sag­te Bi­xiou. »Ich kom­me auf un­se­re Leu­te zu­rück. Kennt ihr Beau­den­ord? Nein? Gut! So hört, wie al­les zu­ging! Der arme Jun­ge war vor zehn Jah­ren die Blü­te des Dan­dy­tums. Aber er ist so gründ­lich un­ter­ge­gan­gen, daß ihr ihn eben­so­we­nig kennt, wie Fi­not jetzt den Ur­sprung des ›Coup de Jar­nac‹ kennt. (Das ist als Re­dens­art ge­meint und nicht, um dich zu fop­pen, Fi­not!) Tat­säch­lich, er ge­hör­te zum Fau­bourg Saint-Ger­main. Also Beau­den­ord ist der ers­te Ham­mel, den ich euch vor­füh­ren will. Zu­nächst müßt ihr wis­sen, daß er sich Go­de­fro­id von Beau­den­ord nann­te. We­der Fi­not noch Blon­det noch Cou­ture noch ich wür­den einen sol­chen Vor­teil nicht zu schät­zen wis­sen. Es schmei­chel­te der Ei­gen­lie­be des Bur­schen nicht we­nig, wenn nach ei­nem Ball sei­ne Die­ner nach sei­nem Wa­gen rie­fen und drei­ßig schö­ne, von ih­ren Gat­ten und An­be­tern um­ring­te Frau­en den stol­zen Na­men hör­ten. Fer­ner er­freu­te er sich al­ler gu­ten Ga­ben, mit de­nen Gott den Men­schen aus­ge­stat­tet: er war ge­sund und kräf­tig, hat­te we­der ein kran­kes Auge noch einen falschen Schopf oder falsche Wa­den; er war we­der x- noch o-bei­nig, hat­te kei­ne her­vor­tre­ten­den Knie, ein ge­ra­des Rück­grat, eine schlan­ke Ge­stalt, hüb­sche wei­ße Hän­de und schwar­ze Haa­re; sei­ne Ge­sichts­far­be war we­der zu ro­sig wie bei ei­nem Dro­gis­ten, noch zu braun wie bei ei­nem Kala­bre­ser. Also die Haupt­sa­che: Beau­den­ord war nicht all­zu hübsch, war kei­ner von de­nen, die aus­se­hen, als sei ihre Schön­heit ihr ein­zi­ges Gut; aber las­sen wir das, es ist schon ab­ge­spro­chen! Er wuß­te eine Pis­to­le zu hand­ha­ben und ein Pferd zu rei­ten, er hat­te sich we­gen ei­ner un­be­deu­ten­den Sa­che ge­schla­gen und sei­nen Geg­ner nicht ge­tö­tet. Wißt ihr auch, daß man, um zu wis­sen, was im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert in Pa­ris das Glück ei­nes Sechs­und­zwan­zig­jäh­ri­gen aus­macht, alle die un­zäh­li­gen Klei­nig­kei­ten und Ne­ben­säch­lich­kei­ten ken­nen muß, aus de­nen das Le­ben sich zu­sam­men­setzt? Der Schuh­ma­cher, der Beau­den­ords Fuß er­wi­scht hat­te, fer­tig­te ihm gut­sit­zen­de Schu­he, sein Schnei­der freu­te sich, ihm schö­ne An­zü­ge zu ma­chen. Go­de­fro­id setz­te kein über­flüs­si­ges Fett an, er prahl­te nicht und sprach kei­nen un­an­ge­neh­men Dia­lekt, son­dern re­de­te rein und feh­ler­frei und trug sei­ne Kra­wat­te so hübsch ge­bun­den wie Fi­not. Er hat­te fer­ner das Glück, dop­pelt ver­waist und der Vet­ter sei­nes Vor­mun­des, des Mar­quis d’Ai­gle­mont, zu sein; er ging bei den Finanz­leu­ten ein und aus, ohne daß der Fau­bourg Saint-Ger­main dar­über spöt­tel­te, denn glück­li­cher­wei­se hat ein jun­ger Mann das Recht, das Ver­gnü­gen zu sei­nem ein­zi­gen Ge­setz zu ma­chen, dort hin­zu­lau­fen, wo man die Freu­de liebt, und die düs­tern Win­kel zu flie­hen, in de­nen Sor­ge und Gram er­blü­hen. Trotz al­ler die­ser Ga­ben hät­te er sich recht un­glück­lich füh­len kön­nen. Ach, lei­der hat das Glück das Un­glück, als et­was Un­be­ding­tes zu er­schei­nen, was so vie­le Nar­ren zu der Fra­ge ver­an­laßt: ›Was ist das Glück?‹ Eine sehr geist­vol­le Frau sag­te ein­mal: ›Das Glück ist da, wo man es hin­träg­t‹.«

»Da sprach sie eine trau­ri­ge Wahr­heit aus,« sag­te Blon­det. »Und eine sehr ab­strak­te,« füg­te Fi­not hin­zu. »Er­z­ab­strakt! Das Glück, die Tu­gend, das Böse – das sind al­les ganz re­la­ti­ve Be­grif­fe,« er­wi­der­te Blon­det. »So konn­te La­fon­taine zum Bei­spiel hof­fen, daß die Ver­damm­ten sich mit der Zeit an ih­ren Zu­stand ge­wöh­nen und schließ­lich da­hin kom­men wür­den, sich in der Höl­le so wohl­zu­füh­len wie ein Fisch im Was­ser.«

»Je­der Phi­lis­ter zi­tiert La­fon­taine!« sag­te Bi­xiou. »Das Glück ei­nes Sechs­und­zwan­zig­jäh­ri­gen in Pa­ris ist noch lan­ge nicht das Glück ei­nes Sechs­und­zwan­zig­jäh­ri­gen in Blois,« sag­te Blon­det, ohne den Ein­wurf zu be­ach­ten. »Wer da­von aus­geht, um ge­gen die Un­be­stän­dig­keit der Mei­nun­gen los­zu­zie­hen, ist ein Dumm­kopf oder Be­trü­ger. Die heu­ti­ge Heil­kun­de, de­ren größ­te Ruh­me­stat es ist, von 1799 bis 1837 sich aus ih­rer Stel­lung der Mut­ma­ßung, der Hy­po­the­se, zu ei­ner po­si­ti­ven Wis­sen­schaft ent­wi­ckelt zu ha­ben – und dies durch den Ein­fluß der großen Schu­le der Ana­ly­ti­ker in Pa­ris –, hat be­wie­sen, daß der Mensch sich nach Ablauf ei­nes be­stimm­ten Zeit­laufs ver­än­dert, er­neu­ert …«

»Es ist das glei­che wie mit Häns­chens Mes­ser«1 er­wi­der­te Bi­xiou. »So hat also das Har­le­kin­ge­wand, das wir ›Glück‹ nen­nen, gar ver­schie­de­ne bun­te Lap­pen; nun, das Kleid mei­nes Go­de­fro­id hat­te we­der Lö­cher noch Fle­cken. Ein jun­ger Mann von sechs­und­zwan­zig Jah­ren, der Glück in der Lie­be hät­te –, nicht in­fol­ge sei­ner blü­hen­den Ju­gend, sei­nes Geis­tes, sei­ner schö­nen Ge­stalt, son­dern aus un­wi­der­steh­li­cher An­zie­hungs­kraft – be­sag­ter jun­ger Mann könn­te ganz gut kei­nen Hel­ler in der Bör­se ha­ben, die sei­ne An­be­te­rin ihm ge­stickt, er könn­te sei­nem Haus­herrn die Mie­te, sei­nem vor­ge­nann­ten Schus­ter die Schu­he, sei­nem Schnei­der den An­zug schul­dig sein, kurz, er könn­te arm sein. Das Elend wird das Glück ei­nes jun­gen Man­nes trü­ben, der un­se­re er­ha­be­ne An­sicht über die Ver­schmel­zung des bei­der­sei­ti­gen Geld­be­sit­zes nicht teilt. Ich ken­ne nichts Quä­len­de­res, als see­lisch über­glück­lich, ma­te­ri­ell hin­ge­gen un­glück­lich zu sein. Heißt das nicht, wie hier, nach der Sei­te der Tür zu ein er­fro­re­nes und nach der Sei­te des Ka­mins hin ein ge­rös­te­tes Bein ha­ben? Ich hof­fe, man ver­steht mich; fühlst du nicht in dei­ner Wes­ten­ta­sche ein Echo mei­ner Wor­te, Blon­det? Un­ter uns: las­sen wir die Lie­be bei­sei­te, sie verdirbt den Ver­stand. Also wei­ter! Go­de­fro­id von Beau­den­ord ge­noß die Ach­tung sei­ner Lie­fe­ran­ten, denn sie be­ka­men ziem­lich re­gel­mä­ßig Geld zu se­hen. Jene geist­vol­le Frau, die ich vor­hin zi­tier­te, die man aber nicht nen­nen darf …«

»Wer ist es?«

»Die Mar­qui­se d’Espard! Sie sag­te, ein jun­ger Mann müs­se im Erd­ge­schoß woh­nen, dür­fe nichts ha­ben, was etwa ei­nem Haus­halt glei­che, also we­der Kü­che noch Kö­chin, son­dern nur einen al­ten Die­ner, und dür­fe kei­nen An­spruch auf einen dau­ern­den Wohn­sitz er­he­ben. Al­les an­de­re ist nach ih­rer An­sicht eine Ge­schmack­lo­sig­keit. Go­de­fro­id von Beau­den­ord wohn­te, ge­treu die­sem Pro­gramm, am Quai Malaquais im Erd­ge­schoß. Den­noch war er ge­zwun­gen, in ei­nem Punk­te die Ehe­leu­te nach­zuah­men: er hat­te ein Bett in sei­nem Zim­mer, aber ein so schma­les, daß er sich we­nig dar­in auf­hielt. Eine Eng­län­de­rin, die zu­fäl­lig bei ihm ein­ge­tre­ten wäre, hät­te nichts fin­den kön­nen, das ›im­pro­per‹ ge­we­sen wäre. Fi­not, laß dir das große Ge­setz des Un­pas­sen­den er­klä­ren, das Eng­land be­herrscht! Da ein Tau­send­fran­ken­schein uns bei­de ver­bin­det, so will ich dir eine Vor­stel­lung da­von ge­ben. Ich selbst bin ja in Eng­land ge­we­sen. (Blon­det ins Ohr: ›Ich gebe ihm für mehr als zwei­tau­send Fran­ken von mei­nem Geist.‹) Also in Eng­land, Fi­not, trittst du in ei­ner Nacht, beim Ball oder sonst­wo, ei­ner Frau in­nig nahe, du be­geg­nest ihr an­dern Tags auf der Stra­ße und zeigst, daß du sie wie­der­er­kennst: ›un­pas­send!‹ Du fin­dest beim Di­ner im Frack dei­nes Nach­barn zur Lin­ken einen präch­ti­gen geist­vol­len Mann, der frei und of­fen und gar nicht dün­kel­haft ist; er hat nichts von ei­nem Eng­län­der. Nach al­ter fran­zö­si­scher Sit­te, die so höf­lich, so lie­bens­wür­dig ist, sprichst du ihn an: ›un­pas­send!‹ Du holst dir auf dem Ball eine dir un­be­kann­te hüb­sche Frau zum Tanz: ›un­pas­send!‹ Du er­ei­ferst dich, du re­dest, du lachst, du schüt­test dein Herz, dei­ne See­le, dei­nen Geist aus; du be­kun­dest in dei­ner Un­ter­hal­tung Ge­fühl; du spielst beim Spiel und plau­derst beim Plau­dern und ißt beim Es­sen: ›un­pas­send! un­pas­send! un­pas­send!‹ Ei­ner der geist­reichs­ten und tief­grün­digs­ten Män­ner un­se­rer Zelt, Stendhal, hat die­ses ›Un­pas­sen­d‹ des Eng­län­ders köst­lich cha­rak­te­ri­siert, in­dem er von ei­nem Bri­ten sagt, daß er, selbst wenn er al­lein am Ka­min­feu­er sitzt, nicht wagt, die Bei­ne zu kreu­zen – aus Furcht, daß es ›un­pas­sen­d‹ sei. Dank die­ser Angst, ›un­pas­sen­d‹ zu er­schei­nen, wird man ei­nes Ta­ges Lon­don und sei­ne Be­woh­ner ver­stei­nert fin­den.«

»Wenn man be­denkt, daß es in Frank­reich Nar­ren gibt, die auch hier das al­bern fei­er­li­che, ge­schraub­te We­sen des Eng­län­ders ein­füh­ren wol­len,« sag­te Blon­det, »so schau­dert wohl ein je­der, der je­mals in Eng­land ge­we­sen und un­se­re an­mut­vol­len fran­zö­si­schen Sit­ten kennt. Wal­ter Scott, der es nicht wag­te, die Frau­en so zu zeich­nen, wie sie wirk­lich sind, aus Furcht, ›un­pas­sen­d‹ zu sein, be­reu­te es so­gar, in ›Pri­son d’E­din­bour­gh‹ die schö­ne Ge­stalt der ›Ef­fin‹ ge­schaf­fen zu ha­ben.«

»Falls du es ver­mei­den möch­test, in Eng­land ›un­pas­sen­d‹ zu er­schei­nen …« sag­te Bi­xiou zu Fi­not.

»Nun?« frag­te Fi­not. »So geh in die Tui­le­ri­en und sieh dir den Feu­er­wehr­mann aus Mar­mor an, eine Fi­gur, der ihr Schöp­fer al­ler­dings den Na­men The­mi­sto­kles ge­ge­ben hat, und ver­su­che eine ähn­li­che Hal­tung ein­zu­neh­men, so wirst du nie­mals ›un­pas­sen­d‹ sein. Go­de­fro­id je­den­falls ver­dank­te sein Glück der sorg­fäl­ti­gen Ver­mei­dung al­les des­sen, was un­pas­send hät­te sein kön­nen; hier die Ge­schich­te. Er hat­te einen Reit­knecht, einen ›Ti­gre‹, und nicht einen Groom, wie un­ge­bil­de­te Leu­te sa­gen. Sein Ti­ger war ein klei­ner Ir­län­der, ge­nannt Pad­dy, Joby, Toby – wie ihr wollt –, drei Fuß hoch, zwan­zig Zoll breit, Ge­stalt wie ein Wie­sel, Ner­ven von Stahl, be­hen­de wie ein Eich­hörn­chen; er kut­schier­te einen Lan­dau­er so­wohl in Lon­don als auch in Pa­ris mit nie feh­len­der Si­cher­heit, hat­te gleich mir ein ei­dech­sen­schar­fes Auge, saß zu Pfer­de wie der alte Fran­co­ni, hat­te die blon­den Lo­cken ei­ner Ru­bens­schen Jung­frau, die zar­ten Wan­gen ei­nes jun­gen Prin­zen und die Schlau­heit ei­nes al­ten Ad­vo­ka­ten; da­bei war er nicht äl­ter als zehn Jah­re und ein wah­res Wun­der an Ver­derbt­heit: er spiel­te und fluch­te, lieb­te die Sü­ßig­kei­ten und den Punsch, wuß­te zu be­lei­di­gen wie ein Jour­na­list und zu steh­len wie ein Pa­ri­ser Gas­sen­jun­ge. Er war der Stolz und die Ein­nah­me­quel­le ei­nes Lords, dem er bei den Ren­nen schon sie­ben­hun­dert­tau­send Fran­ken ein­ge­bracht hat­te. Der Lord lieb­te das Kind sehr; sein Ti­ger war ge­ra­de­zu eine Ku­rio­si­tät; kein Mensch in ganz Lon­don hat­te einen so klei­nen Ti­ger. Wenn Joby auf ei­nem Renn­pfer­de saß, so glich er ei­nem Fal­ken. Also der Lord entließ Toby, nicht etwa we­gen Ge­frä­ßig­keit oder Dieb­stahl oder Mord oder fre­cher Re­dens­ar­ten oder Re­spekt­lo­sig­keit ge­gen Myla­dy – auch nicht, weil er der Kam­mer­frau Myla­dys Lö­cher in die Ta­schen schnitt, oder weil die Rat­ge­ber Myl­ords bei den je­wei­li­gen Ren­nen den Jun­gen ver­dor­ben, oder weil er des Sonn­tags sei­nem Ver­gnü­gen nach­ging – kurz­um, aus kei­nem stich­hal­ti­gen Grun­de. Toby hät­te alle die­se Din­ge be­ge­hen kön­nen, er hät­te so­gar die Dreis­tig­keit ha­ben kön­nen, Myl­ord un­ge­fragt an­zu­re­den, Myl­ord hät­te ihm selbst das ver­zie­hen. Myl­ord hät­te vie­les von Toby er­tra­gen, so große Stücke hielt er auf ihn. Sein Ti­ger lenk­te zwei vor­ein­an­der ge­spann­te Pfer­de vor ei­nem zwei­räd­ri­gen Wa­gen, in­dem er sel­ber auf dem Hin­ter­pfer­de saß, ohne daß sei­ne Bei­ne über die Sat­tel­bäu­me hin­aus­rag­ten; er glich wirk­lich ei­nem die­ser En­gels­köp­fe, wie sie die ita­lie­ni­schen Ma­ler auf ih­ren Hei­li­gen­bil­dern aus­zu­sä­en lie­ben, Ein eng­li­scher Jour­na­list gab eine ent­zücken­de Be­schrei­bung die­ses klei­nen En­gels, er fand ihn zu hübsch für einen ›Ti­gre‹ und woll­te wet­ten, daß Pad­dy eine ge­zähm­te ›Ti­gres­se‹2 sei. Die­se Äu­ße­rung sprach sich her­um, und Myl­ord emp­fand sie als ›un­pas­sen­d‹. Myla­dy lob­te Myl­ord we­gen sei­ner Um­sicht. Nach­dem man ihm so sei­nen Rang in der Zoo­lo­gie Bri­tan­ni­ens strei­tig ge­macht, konn­te Toby kei­ne Stel­lung mehr fin­den. Da­mals be­glück­te Go­de­fro­id ge­ra­de die fran­zö­si­sche Ge­sandt­schaft in Lon­don, wo er die Ge­schich­te von Toby, Joby, Pad­dy hör­te. Go­de­fro­id be­mäch­tig­te sich des Ti­gers, den er wei­nend ne­ben dem Mar­me­la­den­topf fand, denn das Kind hat­te schon die Gui­ne­en ver­lo­ren, mit de­nen Myl­ord sein Leid ver­gol­det hat­te. Bei sei­ner Rück­kehr also brach­te Go­de­fro­id von Beau­den­ord den rei­zends­ten Ti­ger Eng­lands mit; er wur­de we­gen sei­nes Ti­gers be­rühmt, wie Cou­ture we­gen sei­ner Wes­ten. Nach­dem er dem Di­plo­ma­ten­be­ruf ent­sagt, be­wies er kei­nen be­un­ru­hi­gen­den Ehr­geiz mehr, sein Geist war nicht ge­fähr­lich, und alle Welt sah ihn gern. Uns an­de­re wür­de es in un­se­rer Selbst­ge­fäl­lig­keit be­lei­di­gen, nur la­chen­den Ge­sich­tern zu be­geg­nen. Wir lie­ben bei an­dern den bit­tern Zug des Nei­des. Go­de­fro­id lieb­te es nicht, ge­haßt zu wer­den. Je­der nach sei­nem Ge­schmack! Doch wir wol­len fes­ten Bo­den be­tre­ten und uns mit sei­nem äu­ßern Le­ben be­fas­sen! Sein Jung­ge­sel­len­heim, in dem ich mir mehr als eine Mahl­zeit mun­den ließ, zeich­ne­te sich durch ein ge­heim­nis­vol­les, schön aus­ge­stal­te­tes Toi­let­te­zim­mer aus; es hat­te ein Bad, einen Ka­min, be­que­me Ru­he­sit­ze; es hat­te einen Aus­gang zur Trep­pe, selbst­schlie­ßen­de laut­lo­se Tü­ren mit gut­ge­öl­ten Sch­lös­sern und An­geln, Fens­ter aus mat­tem Glas und un­durch­sich­ti­ge Vor­hän­ge. Wenn das Wohn­zim­mer die schöns­te Un­ord­nung bot, wie sie nur der an­spruchs­volls­te Aqua­rell­ma­ler wün­schen könn­te, wenn al­les hier vom Zi­geu­ner­le­ben ei­nes vor­neh­men jun­gen Man­nes zeug­te, so war das Toi­let­te­zim­mer da­ge­gen ein Hei­lig­tum: weiß, rein, auf­ge­räumt, warm, kei­ne Zug­luft, wei­che Tep­pi­che – al­les wie ge­schaf­fen für den, der sich im Hemd, mit nack­ten Fü­ßen hier ver­ber­gen woll­te. Hier ist es, wo der Jung­ge­sel­le sich als Herr der Si­tua­ti­on, als Le­bens­künst­ler er­weist! Denn hier gibt es Mi­nu­ten und Er­eig­nis­se, in de­nen der Mensch sein We­sen of­fen­bart und sich als Herr­scher oder Töl­pel zeigt. Die schon er­wähn­te Mar­qui­se – nein, es war die Mar­qui­se von Ro­che­fi­de – ver­ließ voll Zorn die­ses Toi­let­te­zim­mer und woll­te es nie wie­der be­tre­ten – sie hat­te dort nichts ›Un­pas­sen­des‹ ent­de­cken kön­nen. Go­de­fro­id hat­te dar­in ein Schränk­chen vol­ler …«

»Hem­den?« frag­te Fi­not. »Da­ne­ben ge­ra­ten, al­ter Tür­ke! (Ich wer­de ihm nie Er­zie­hung bei­brin­gen!) Nein doch, Ku­chen, Früch­te, hüb­sche Fläsch­chen mit Mala­ga, Li­kö­re – kurz­um al­les das, was einen zar­ten und ver­wöhn­ten Gau­men er­freu­en mag. Ein al­ter schlau­er Die­ner, der gut mit Tie­ren um­zu­ge­hen wuß­te, pfleg­te die Pfer­de Go­de­fro­ids; er hat­te be­reits dem se­li­gen Herrn Beau­den­ord ge­dient und brach­te Go­de­fro­id eine große Zu­nei­gung ent­ge­gen, eine Krank­heit des Her­zens. Al­les ir­di­sche Glück be­ruht auf Zah­len. Ihr, die ihr das Pa­ri­ser Le­ben in al­len sei­nen Hö­hen und Tie­fen kennt, ihr wer­det euch den­ken kön­nen, daß Go­de­fro­id eine Ren­te von etwa sieb­zehn­tau­send Li­vres nö­tig hat­te, da er für sieb­zehn­tau­send Fran­ken Ab­ga­ben zu zah­len und für tau­send Ta­ler aben­teu­er­li­che Lau­nen hat­te. Nun also, Kin­der, am sel­ben Tage, als er mün­dig wur­de, leg­te ihm der Mar­quis d’Ai­gle­mont eine Vor­mund­schafts­ab­rech­nung vor, wie wir sie dem­nächst un­sern Nef­fen nicht vor­le­gen könn­ten, und übergab ihm Pa­pie­re auf acht­zehn­tau­send Fran­ken Staats­ren­te, der Rest des von der Re­pu­blik be­trächt­lich ge­kürz­ten und von den Schul­den des Kai­ser­reichs arg mit­ge­nom­me­nen vä­ter­li­chen Ver­mö­gens. Die­ser präch­ti­ge Vor­mund mach­te sein Mün­del zum Herrn von ei­ni­gen drei­ßig­tau­send Fran­ken Er­spar­nis­sen, die beim Hau­se Nu­cin­gen an­ge­legt wa­ren, und sag­te ihm voll lie­bens­wür­di­ger An­mut, daß er ihm die­se Sum­me aus­ge­setzt habe, da­mit er sich zu­nächst ein­mal, wie je­der jun­ge Mann, aus­to­ben kön­ne. ›Wenn du mir folgst, Go­de­fro­i­d‹ sag­te er zu ihm, ›so ver­schwen­dest du das Geld nicht, gleich so vie­len an­dern, un­nütz, son­dern machst nütz­li­che Dumm­hei­ten. Nimm in Tu­rin einen Ge­sandt­schafts­pos­ten an, geh dann von dort nach Nea­pel, von Nea­pel nach Lon­don – und du wirst dich für dein Geld un­ter­hal­ten und ge­bil­det ha­ben. Willst du spä­ter­hin einen Be­ruf er­grei­fen, so hast du we­der Zeit noch Geld ver­lo­ren.‹ Der se­li­ge d’Ai­gle­mont war bes­ser als sein Ruf – was man von uns nicht sa­gen kann.«

»Ein jun­ger Mann, der mit ein­und­zwan­zig Jah­ren mit acht­zehn­tau­send Li­vres Ren­te ins Le­ben tritt, ist rui­niert,« sag­te Cou­ture. »Falls er nicht gei­zig oder sonst her­vor­ra­gend be­gabt ist,« sag­te Blon­det. »Go­de­fro­id weil­te in den vier Haupt­städ­ten Ita­li­ens,« fuhr Bi­xiou fort. »Er sah Deutsch­land und Eng­land, auch St. Pe­ters­burg, und be­reis­te Hol­land; aber er ent­äu­ßer­te sich der be­sag­ten drei­ßig­tau­send Fran­ken, als sei­en sie nichts als eine Jah­res­ren­te. Er fand über­all ›le su­prê­me de vo­lail­le, l’a­spic et les vins de Fran­ce‹, hör­te über­all Fran­zö­sisch spre­chen – kurz­um, er war im­mer wie in Pa­ris. Er hät­te gern sein Herz ver­här­tet, ge­pan­zert, sei­ne Il­lu­sio­nen ver­lo­ren, hät­te gern ge­lernt, al­les an­zu­hö­ren, ohne zu er­rö­ten, zu spre­chen, ohne et­was zu sa­gen, hät­te gern die ge­hei­me Stu­fen­lei­ter zur Macht be­tre­ten … Pah! er hat­te Mühe ge­nug, sich mit vier Spra­chen aus­zu­stat­ten, das heißt, sich mit vier Wor­ten ge­gen einen Ge­dan­ken zu weh­ren. Er kam zu­rück als ein schüch­ter­ner, ziem­lich un­ge­schlif­fe­ner, ver­trau­en­der gu­ter Jun­ge – ein Mensch, der von de­nen, die ihm die Ehre er­wie­sen, ihn zu emp­fan­gen, nichts Übles re­den konn­te, der zum Di­plo­ma­ten viel zu ver­trau­ens­se­lig war – nichts wei­ter also als ein gu­ter Jun­ge.«

»Kurz, ein Esel, der sei­ne acht­zehn­tau­send Li­vres Ren­te in klei­nen Un­ter­neh­mun­gen ver­zet­tel­te,« sag­te Cou­ture. »Die­ser ver­teu­fel­te Cou­ture ist der­ma­ßen ge­wöhnt, die Di­vi­den­den vor­weg­zu­neh­men, daß er mir so­gar die Ent­wick­lung mei­ner Ge­schich­te vor­weg­nimmt. Wo war ich denn? Bei der Rück­kehr Beau­den­ords! Als er im Quai Malaquais un­ter­ge­bracht war, stell­te es sich her­aus, daß die tau­send Fran­ken Über­schuß, die ihm jähr­lich blie­ben, nicht ge­nüg­ten, um sich an ei­ner Loge in den ›Ita­li­ens‹ oder der Oper zu be­tei­li­gen. Wenn er beim Spiel oder bei ei­ner Wet­te fünf­und­zwan­zig bis drei­ßig Louis ver­lor, be­zahl­te er sie na­tür­lich; ge­wann er aber, so gab er das Geld gleich wie­der aus – was wir ge­ra­de so ma­chen wür­den, wä­ren wir dumm ge­nug, uns in Wet­ten ein­zu­las­sen. Beau­den­ord, der also mit sei­nen acht­zehn­tau­send Li­vres Ren­te nicht aus­kam, fühl­te die Not­wen­dig­keit, sei­ne lau­fen­den Ein­nah­men zu ver­grö­ßern – um mit sei­nen Aus­ga­ben ein glei­ches tun zu kön­nen. Er leg­te großen Wert dar­auf, sich an­stän­dig über Was­ser zu hal­ten. Er hol­te sich bei sei­nem Vor­mund Rat: ›Mein lie­ber Jun­ge,‹ sag­te d’Ai­gle­mont zu ihm, ›Staats­ren­ten ste­hen auf pari; ver­kau­fe dei­ne Pa­pie­re; die mei­ni­gen und auch die­je­ni­gen mei­ner Frau habe ich be­reits ver­kauft. Nu­cin­gen hat mein gan­zes Geld und gibt mir sechs Pro­zent da­für; mach es wie ich, so wirst du ein Pro­zent mehr ha­ben als bis­her, und die­ses eine Pro­zent wird ge­nü­gen, um dir die er­wünsch­te Be­we­gungs­frei­heit zu schaf­fen.‹ Drei Tage dar­auf hat­te Go­de­fro­id sei­ne Be­we­gungs­frei­heit und fühl­te sich in ma­te­ri­el­ler Hin­sicht glück­lich. Wenn es mög­lich wäre, al­len jun­gen Män­nern von Pa­ris gleich­zei­tig die Fra­ge zu stel­len, ob nicht das Glück ei­nes Sechs­und­zwan­zig­jäh­ri­gen dar­in be­ste­he, ein Ka­brio­lett zu kut­schie­ren, auf dem ein kaum faust­großer Toby, Joby oder Pad­dy hin­ten auf­sitzt – am Abend für zwölf Fran­ken eine be­que­me Miet­kut­sche zur Ver­fü­gung zu ha­ben – sich ganz nach den Ge­set­zen der Mode täg­lich vier­mal um­klei­den zu kön­nen – bei al­len Ge­sandt­schaf­ten wohl­ge­lit­ten zu sein und dort die zar­ten Blü­ten eben­so kos­mo­po­li­ti­scher wie flüch­ti­ger Freund­schaf­ten zu pflücken – er­träg­lich hübsch zu sein und sei­nen Na­men, sei­nen An­zug, sei­nen Kopf mit An­stand zu tra­gen – eine ent­zücken­de klei­ne En­tre­sol­woh­nung, ähn­lich je­ner am Quai Malaquais, zu be­sit­zen – sei­ne Ka­me­ra­den nach dem ›Ro­cher de Can­ca­le‹ ein­zu­la­den, ohne vor­her erst den Geld­beu­tel be­fra­gen zu müs­sen – sich ge­hen las­sen zu kön­nen, ohne von dem ver­nünf­ti­gen Ge­dan­ken: ›Nun, und das Geld?‹ auf­ge­hal­ten zu wer­den – die Ro­set­ten, den Ohr­schmuck un­se­rer Voll­blut­pfer­de, wie das Band an un­serm Hute recht­zei­tig er­neu­ern zu kön­nen? Alle – selbst wir hö­he­ren Men­schen – wür­den ant­wor­ten, ein sol­ches Glück sei un­voll­kom­men, es sei die Göt­tin ohne Al­tar, denn eins sei die Haupt­sa­che: lie­ben und ge­liebt wer­den, oder lie­ben, ohne ge­liebt zu wer­den, oder ge­liebt wer­den, ohne wie­der zu lie­ben! Be­fas­sen wir uns also mit sei­nem in­nern Glück. Als er im Ja­nu­ar 1823 sei­ne Ein­künf­te ge­re­gelt sah und in den ver­schie­de­nen Krei­sen der Pa­ri­ser Ge­sell­schaft Fuß ge­faßt hat­te, fühl­te er die Not­wen­dig­keit, sich in den Schutz ei­nes Son­nen­schir­mes zu be­ge­ben, sich über eine Frau be­kla­gen zu kön­nen und nicht am Stiel ei­ner für zehn Sous bei Frau Pre­vost ge­kauf­ten Rose kau­en zu müs­sen – nach Art der arm­se­li­gen Jüng­lin­ge, die im Foy­er der Oper her­um­gluck­sen wie Hüh­ner im Mast­kä­fig. Kurzum, er be­schloß, sei­ne Ge­füh­le, sei­ne Ge­dan­ken, sei­ne Nei­gun­gen ei­nem Wei­be dar­zu­brin­gen, ei­nem Wei­be! Dem Wei­be! Ah! … Er heg­te zu­nächst den lä­cher­li­chen Ge­dan­ken ei­ner un­glück­li­chen Lie­be, er um­warb eine Zeit­lang sei­ne schö­ne Cou­si­ne, Frau d’Ai­gle­mont, ohne ge­wahr zu wer­den, daß be­reits ein ge­wis­ser Di­plo­mat den Faust­wal­zer mit ihr ge­tanzt. Das Jahr 1825 ging hin in Su­chen, Er­pro­ben und nutz­lo­sem Ko­ket­tie­ren. Die be­gehr­te lie­ben­de See­le fand sich nicht. Die großen Lei­den­schaf­ten sind sel­ten. Zu je­ner Zeit gab es in Lie­bes­din­gen eben­so vie­le Bar­ri­ka­den, wie in den Stra­ßen. In Wahr­heit, mei­ne Brü­der, das ›Un­pas­sen­de‹ zieht uns an! Da man uns den Vor­wurf ge­macht hat, den Por­trät­ma­lern, den Ta­xa­to­ren und Mo­de­händ­lern ins Hand­werk zu pfu­schen, so soll euch denn auch die Be­schrei­bung der Be­tref­fen­den, in der Go­de­fro­id sei­ne Ge­fähr­tin zu fin­den mein­te, nicht er­spart blei­ben: Al­ter neun­zehn Jah­re, Grö­ße ein Me­ter fünf­zig, Haa­re blond, Brau­en eben­so, Au­gen blau, Stirn mit­tel, Nase ge­bo­gen, Mund klein, Kinn schmal, Ge­sichts­form oval, be­son­de­re Kenn­zei­chen kei­ne. Das also ist der Steck­brief des ge­lieb­ten Ge­gen­stan­des. Ihr dürft nicht an­spruchs­vol­ler sein als die Po­li­zei, die Her­ren Orts­vor­ste­her und an­de­re an­er­kann­te Au­to­ri­tä­ten. Das Ge­sag­te wür­de üb­ri­gens auch auf die Ve­nus von Me­di­ci pas­sen. Als Go­de­fro­id das ers­te­mal einen je­ner Bäl­le be­such­te, durch die Frau von Nu­cin­gen eine ge­wis­se Berühmt­heit er­lang­te, er­späh­te er bei ei­ner Qua­dril­le den zu­künf­ti­gen Ge­gen­stand sei­ner Lie­be und ent­zück­te sich an die­ser Ge­stalt von ein Me­ter fünf­zig. Die blon­den Haa­re um­ström­ten in brau­sen­den Kas­ka­den ein klei­nes harm­lo­ses Ge­sicht, das frisch war wie das Ant­litz ei­ner Na­ja­de, die die Nase ans kris­tal­le­ne Fens­ter ih­rer Quel­le preßt, um die Früh­lings­blu­men zu se­hen. (Dies ist neues­ter Stil, bei dem die Phra­sen Fä­den zie­hen wie Mak­ka­ro­ni.) Ihr kennt die Wir­kung blon­der Haa­re und blau­er Au­gen in Ver­bin­dung mit ei­nem wei­chen, wol­lüs­ti­gen und sitt­sa­men Tanz? Solch ein jun­ges Mäd­chen gleicht nicht den ehr­gei­zi­gen Brü­net­ten, de­ren Bli­cke zu sa­gen schei­nen: ›Geld oder Le­ben! Fünf Fran­ken, oder ich ver­ach­te dich!‹ Die­se über­mü­ti­gen – und nicht ganz un­ge­fähr­li­chen – Schön­hei­ten mö­gen vie­len Män­nern ge­fal­len; nach mei­ner An­sicht aber hat die Blon­de, die das Glück hat, ganz be­son­ders zärt­lich und lie­bens­wür­dig zu er­schei­nen, ohne doch ihre Rech­te der Zu­rück­hal­tung, der Ne­cke­rei, des net­ten Plau­derns, der Ei­fer­süch­te­lei und al­les des­sen, was eine Frau an­be­tungs­wür­dig macht, ein­zu­bü­ßen, weit mehr Aus­sich­ten, sich zu ver­hei­ra­ten, als die feu­ri­ge Brü­net­te. Das Holz ist teu­er. Isau­re – sie war weiß und zart wie eine El­säs­se­rin – war in Straß­burg ge­bo­ren und sprach das Deut­sche mit ei­nem sehr an­mu­ti­gen fran­zö­si­schen Ak­zent und tanz­te wun­der­bar. Ihre Füße, die der Po­li­zei­be­am­te nicht er­wähnt hat­te und die den­noch ih­ren Platz in der Ru­brik ›Be­son­de­re Kenn­zei­chen‹ ver­dien­ten, wa­ren be­mer­kens­wert durch ihre Klein­heit und ihre ei­gen­ar­ti­ge Spra­che, die die Al­ten ›f­lic flac3 ge­nannt ha­ben. Die Füße Isau­res plau­der­ten mit ei­ner Si­cher­heit, Leich­tig­keit und Schnel­lig­keit, die in Her­zens­din­gen von gu­ter Vor­be­deu­tung sein muß­te. ›Sie hat f­lic flac!‹ war das er­ha­bens­te Lob, das Mar­cel spen­de­te, Mar­cel, der ein­zi­ge Tanz­meis­ter, der den Na­men ›der Gro­ße‹ ver­dien­te. Man sag­te ›der große Mar­cel‹, wie man ›der große Fried­rich‹ sag­te – da­mals, zur Zeit Fried­richs des Gro­ßen.«

»Er hat wohl auch Bal­let­te kom­po­niert?« frag­te Fi­not. »Ja, der­glei­chen wie ›Die vier Ele­men­te‹, ›Eu­ro­pa in Lie­be.‹«

»Welch eine Zeit,« sag­te Fi­not, »als noch die Her­ren von Adel den Tän­ze­rin­nen Klei­der schenk­ten!«

»Un­pas­send!« er­wi­der­te Bi­xiou. »Isau­re tanz­te nicht auf Ze­hen­spit­zen; sie fuß­te fest am Bo­den, wieg­te sich, ohne zu hüp­fen, nicht mehr und nicht we­ni­ger ver­füh­re­risch, als ein jun­ges Mäd­chen sich eben wie­gen darf. Mar­cel mein­te üb­ri­gens voll ab­grün­di­ger Er­kennt­nis, je­der Stand habe sei­ne be­son­de­re Tan­z­wei­se: eine ver­hei­ra­te­te Frau müs­se an­ders tan­zen als ein jun­ges Mäd­chen, ein Rauf­bold an­ders als ein Finanz­mann, ein Mi­li­tär an­ders als ein Edel­kna­be; er ging so­gar so weit, zu be­haup­ten, ein In­fan­te­rist müs­se an­ders tan­zen als ein Ka­val­le­rist – und hieran an­schlie­ßend mach­te er sei­ne Be­trach­tun­gen über alle Ge­sell­schafts­klas­sen. Wie weit sind wir doch heu­te von al­le­dem ent­fernt!«

»Höre,« sag­te Blon­det, »du legst da den Fin­ger in eine große Wun­de. Hät­te man Mar­cel rich­tig ver­stan­den, so wäre es nicht zur Re­vo­lu­ti­on ge­kom­men.«

»Go­de­fro­id«, fuhr Bi­xiou fort, »konn­te auf sei­nen Rei­sen durch Eu­ro­pa nicht um­hin, die fremd­län­di­schen Tän­ze ken­nen zu ler­nen. Hät­te er nicht so viel von der Tanz­kunst ver­stan­den – viel­leicht hät­te er sich nie­mals in das jun­ge Mäd­chen ver­liebt; so aber war er von den drei­hun­dert Ge­la­de­nen, die sich durch die schö­nen Sa­lons der Rue Saint-La­za­re dräng­ten, der ein­zi­ge, der die un­ge­schrie­be­nen Lie­bes­wor­te ver­stand, die die­ser ge­schwät­zi­ge Tanz aus­plau­der­te. Man be­merk­te wohl die An­mut Isau­re d’Ald­rig­gers; aber in ei­nem Jahr­hun­dert, wo man den Aus­ruf lieb­te: ›Vor­wärts, hal­ten wir uns nicht auf!‹ hieß es in die­sem Fal­le nur: ›Sieh da, dies jun­ge Mäd­chen tanzt fa­mos‹ (dies sag­te ein Schrei­ber), oder: ›Das jun­ge Mäd­chen da tanzt ent­zücken­d‹ (eine Dame mit Tur­ban), oder (wie eine Frau von drei­ßig Jah­ren sag­te): ›Das jun­ge Mäd­chen dort drü­ben tanzt nicht schlecht!‹ Kom­men wir auf den großen Mar­cel zu­rück und zi­tie­ren wir sei­nen be­rühm­ten Auss­pruch: ›Was liegt nicht al­les im Avant-deux!‹«4 »Und be­ei­len wir uns ein we­nig!« sag­te Blon­det, »sprich nicht so schwüls­tig.«

»Isau­re«, fuhr Bi­xiou mit ei­nem schie­fen Blick auf Blon­det fort, »trug ein schlich­tes Kleid aus weißem Krepp, das mit grü­nem Band ge­ziert war, eine Ka­me­lie im Haar, eine Ka­me­lie im Gür­tel, eine an­de­re am Saum des Klei­des und eine Ka­me­lie …«

»Du willst uns wohl die drei­hun­dert Zie­gen des San­cho auf­zäh­len?«

»Ich bin eben li­te­ra­risch, mein Lie­ber! ›Cla­ris­se‹ ist eins der größ­ten Meis­ter­wer­ke und um­faßt vier­zehn Bän­de, der stumpf­sin­nigs­te Vau­de­vil­le­dich­ter aber wird es dir in ei­nem Akt her­un­ter­er­zäh­len. Vor­aus­ge­setzt, daß ich dich un­ter­hal­te, sehe ich nicht ein, wes­halb du dich be­klagst? – Die­se Toi­let­te war von köst­li­cher Wir­kung. Liebst du die Ka­me­li­en nicht? Möch­test du lie­ber Dah­li­en? Nein? Dann also eine Kas­ta­nie, da!« sag­te Bi­xiou, der bei die­sen Wor­ten Blon­det eine Kas­ta­nie zu­ge­wor­fen ha­ben muß­te, denn wir hör­ten das Auf­schla­gen auf den Tel­ler.

»Schön, ich hat­te un­recht; fah­re nur fort!« sag­te Blon­det. »Also wei­ter,« sag­te Bi­xiou. »›Ist sie nicht wie ge­macht zum Hei­ra­ten?‹ wand­te sich Ras­ti­gnac an Beau­den­ord, in­dem er auf die Klei­ne mit den wei­ßen rei­nen Ka­me­li­en wies, an de­nen kein Blätt­chen fehl­te. Ras­ti­gnac war ein na­her Freund Go­de­fro­ids. ›Ja, das hat­te ich ge­ra­de ge­dacht,‹ er­wi­der­te Go­de­fro­id lei­se. ›Ich sag­te mir so­eben, daß es bes­ser sei, sich der von Jean Jac­ques Rous­seau er­sehn­ten Lei­den­schaft hin­zu­ge­ben und ehr­lich und treu ein jun­ges Mäd­chen wie Isau­re zu lie­ben, mit dem Ge­dan­ken, sie spä­ter­hin, wenn die See­len ein­an­der ken­nen und schät­zen, zur Frau zu neh­men – kurz­um, ein be­glück­ter Wer­ther zu sein, an­statt fort­wäh­rend um sein Glück zu zit­tern, un­auf­merk­sa­men Ohren mit Mühe ein paar Wor­te zu­zu­rau­nen, im Thea­ter nach­zu­spä­hen, ob die be­tref­fen­de Fri­sur eine rote oder wei­ße Blu­me trägt, und im Bois, ob auf dem be­tref­fen­den Wa­gen­schlag eine be­hand­schuh­te Hand sich zeigt, wie das in Mai­land beim Kor­so üb­lich ist; an­statt hin­ter ir­gend­ei­ner Tür einen has­ti­gen Kuß zu steh­len, wie der Be­diens­te­te den Schluck aus der Fla­sche; an­statt sei­nen Geist dar­auf zu ver­wen­den, gleich ei­nem Post­bo­ten Brie­fe ab­zu­ho­len und fort­zu­tra­gen; an­statt heu­te fünf Bän­de Fo­lio und mor­gen zwei klei­ne Sel­ten le­sen zu müs­sen, was al­les sehr er­mü­dend ist!‹ ›Nun,‹ sag­te Ras­ti­gnac, ›wenn ich an dei­ner Stel­le wäre, so wür­de ich mich viel­leicht in die­se As­ke­se stür­zen, sie ist neu, ei­gen­ar­tig und we­nig kost­spie­lig. Dei­ne Mona Lisa ist lieb­lich, aber dumm wie eine Bal­lett­mu­sik, das sage ich dir gleich.‹ Die Art, wie Ras­ti­gnac die­se letz­te Be­mer­kung mach­te, ließ Beau­den­ord glau­ben, sein Freund habe ein In­ter­es­se dar­an, ihn zu er­nüch­tern; als ehe­ma­li­ger Di­plo­mat ver­mu­te­te er in dem an­dern den Ri­va­len. Ein ver­fehl­ter Be­ruf ver­folgt uns durchs gan­ze Le­ben. Go­de­fro­id ver­lieb­te sich so gründ­lich in Fräu­lein Isau­re d’Ald­rig­ger, daß Ras­ti­gnac an ein im Spiel­sa­lon plau­dern­des großes Mäd­chen her­an­trat und ihr zu­flüs­ter­te: ›Mal­vi­na, Ihre Schwes­ter hat einen Fisch im Net­ze zap­peln, der acht­zehn­tau­send Li­vres Ren­te wiegt, er hat einen Na­men, ein ge­wis­ses An­se­hen in der Ge­sell­schaft und weiß sich Hal­tung zu ge­ben, ha­ben Sie acht auf die bei­den! Wird es eine erns­te Lie­be, so ver­su­chen Sie, Isau­res Ver­trau­en zu ge­win­nen, da­mit sie kei­ne un­über­leg­te Ant­wort gibt.‹ Ge­gen zwei Uhr mor­gens er­schi­en der Kam­mer­die­ner bei ei­ner klei­nen Sen­ne­rin von vier­zig Jah­ren, an de­ren Sei­te Isau­re weil­te, und sag­te: ›Der Wa­gen der Frau Baro­nin ist vor­ge­fah­ren.‹ Go­de­fro­id sah dar­auf­hin, wie sei­ne Bal­la­den­schön­heit ihre aben­teu­er­li­che Mut­ter in das Vor­zim­mer führ­te, wo Mal­vi­na sich ih­nen zu­ge­sell­te. Go­de­fro­id, der (welch ein Kind!) vor­gab, nach­se­hen zu wol­len, in wel­chen Ein­machtöp­fen Joby er­trun­ken sei, hat­te das Glück, zu se­hen, wie Isau­re und Mal­vi­na ih­rer leb­haf­ten klei­nen Mut­ter in den Pelz hal­fen und ein­an­der bei­stan­den, sich für die nächt­li­che Fahrt durch Pa­ris vor­zu­be­rei­ten. Die bei­den Schwes­tern be­ob­ach­te­ten ihn von der Sei­te, gleich klu­gen Kätz­chen, die ein Mäus­lein be­lau­ern, wäh­rend sie es schein­bar gar nicht be­ach­ten. Er be­merk­te mit Ge­nug­tu­ung das wohl­er­zo­ge­ne Be­neh­men und die schö­ne Li­vree des weiß­be­hand­schuh­ten El­säs­sers, der sei­nen drei Ge­bie­te­rin­nen große Pelz­schu­he brach­te. Sel­ten wa­ren zwei Schwes­tern ein­an­der un­ähn­li­cher als Isau­re und Mal­vi­na. Die Äl­te­re groß und brü­nett, Isau­re klein und blond; die­se hier zier­lich mit zar­ten Ge­sichts­zü­gen, jene von küh­nen, kräf­ti­gen For­men; Isau­re war das Weib, das durch sei­nen Man­gel an Kraft den Mann be­herrscht und das zu be­schüt­zen so­gar ein Gym­na­si­ast sich be­ru­fen fühlt, ne­ben ih­rer Schwes­ter er­schi­en Isau­re wie ein Mi­nia­tur­por­trät ne­ben ei­nem Öl­ge­mäl­de. ›Sie ist reich!‹ sag­te Go­de­fro­id zu Ras­ti­gnac, als er wie­der in den Ball­saal trat. ›Wer?‹ ›Die­ses jun­ge Mäd­chen.‹ ›Ah! Isau­re d’Ald­rig­ger? Ja frei­lich. Die Mut­ter ist Wit­we; ihr Gat­te hat­te in Straß­burg sei­ner­zeit auch Nu­cin­gen an­ge­stellt. Willst du sie wie­der­se­hen, so er­wei­se dich Frau von Re­staud lie­bens­wür­dig; sie gibt über­mor­gen einen Ball, auf dem auch die Baro­nin d’Ald­rig­ger mit ih­ren bei­den Töch­tern er­scheint, du wirst ein­ge­la­den wer­den!‹ Drei Tage lang er­blick­te Go­de­fro­id in der Dun­kel­kam­mer sei­nes Ge­hirns sei­ne Isau­re und die wei­ßen Ka­me­li­en, wie wir einen hell­be­leuch­te­ten Ge­gen­stand, den wir lan­ge an­ge­blickt, mit ge­schlos­se­nen Au­gen bunt und strah­lend durchs Dun­kel tan­zen se­hen.«

»Bi­xiou, du ver­lierst dich ins Wun­der­sa­me, stel­le uns lie­ber Bil­der auf!« sag­te Cou­ture. »Hier!« er­wi­der­te Bi­xiou und nahm an­schei­nend die Hal­tung ei­nes dienst­be­flis­se­nen Kell­ners an, »hier, mei­ne Her­ren, das ge­wünsch­te Bild! Ach­tung, Fi­not! Man muß dir über den Mund fah­ren, wie der Drosch­ken­kut­scher sei­ner Schind­mäh­re! Frau Theo­do­ra Mar­gue­ri­te Wil­hel­mi­ne Adol­phus (aus dem Hau­se Adol­phus & Cie., Mann­heim), Wit­we des Barons d’Ald­rig­ger, war kei­ne gute di­cke Deut­sche, die, blond und be­däch­tig, eine Ge­sichts­far­be hat wie der Schaum auf dem Bier, und mit al­len ehr­wür­di­gen Tu­gen­den ge­seg­net ist, die Ger­ma­ni­en auf­zu­wei­sen hat. Ihre Wan­gen wa­ren noch frisch und rot­bä­ckig, wie bei ei­ner Nürn­ber­ger Pup­pe, rei­che Kork­zie­her­lo­cken, ver­füh­re­ri­sche Au­gen, kein ein­zi­ges wei­ßes Haar, eine zier­li­che Ge­stalt, de­ren Vor­zü­ge ein gut­sit­zen­des Mie­der noch er­höh­te. Sie hat­te auf der Stirn und an den Schlä­fen ein paar un­er­wünsch­te Fal­ten, die sie, gleich Ni­non, lie­ber an den Fü­ßen ge­habt hät­te, aber die Fal­ten fuh­ren fort, an den sicht­bars­ten Stel­len ihr Zick­zack ein­zu­gra­ben. Die Na­sen­spit­ze rö­te­te sich, was um so un­an­ge­neh­mer war, als die Nase nun mit der Far­be der Wan­gen har­mo­nier­te. Als ein­zi­ges Kind von ih­ren El­tern ver­wöhnt, ver­wöhnt von ih­rem Gat­ten und von ganz Straß­burg, ver­wöhnt auch von ih­ren bei­den Töch­tern, die sie an­be­te­ten, ge­stat­te­te sich die Baro­nin, Rot auf­zu­le­gen, ge­stat­te­te sich den kur­z­en Rock und die Schlei­fe am Tail­len­schluß. Be­geg­net ein Pa­ri­ser der Baro­nin auf dem Bou­le­vard, so lä­chelt er und ver­ur­teilt sie, ohne ir­gend­wel­che mil­dern­de Um­stän­de gel­ten zu las­sen. Der Spöt­ter ist stets ein ober­fläch­li­cher und dar­um grau­sa­mer Mensch; der Narr be­denkt nicht, daß die Ge­sell­schaft selbst zum großen Teil das Lä­cher­li­che ge­schaf­fen hat, das er be­lacht, denn die Na­tur setzt le­dig­lich Ge­schöp­fe in die Welt, die Dum­men und Hans­nar­ren ver­dan­ken wir dem so­zia­len Staat.«

»Was mir an Bi­xiou ge­fällt,« sag­te Blon­det, »ist, daß er bei der Stan­ge bleibt: so­bald er nicht die an­dern ver­spot­tet, lacht er we­nigs­tens über sich selbst.«

»Blon­det, ich wer­de dir das ver­gel­ten,« sag­te Bi­xiou be­deu­tungs­voll. »War die Baro­nin leicht­sin­nig, sorg­los, selbst­süch­tig und ohne jede Re­chen­ga­be, so traf die Verant­wort­lich­keit für die­se Feh­ler das Haus Adol­phus & Cie. in Mann­helm und die blin­de Lie­be des Barons d’Ald­rig­ger. Sanft wie ein Lamm, hat­te die Baro­nin ein zärt­li­ches, leicht ent­flamm­tes Herz; un­glück­li­cher­wei­se aber dau­er­te die Glut nie lan­ge und wur­de dar­um oft er­neu­ert. Als der Baron starb, wäre un­se­re Sen­ne­rin ihm am liebs­ten ge­folgt, so hef­tig und auf­rich­tig war ihr Schmerz; aber am an­dern Mor­gen, beim Früh­stück, trug man ihr jun­ge grü­ne Erb­sen auf, ein Ge­richt, das sie sehr lieb­te, und die­se köst­li­chen jun­gen Erb­sen lin­der­ten ihr Leid. Sie wur­de von ih­ren Töch­tern und Dienst­bo­ten so ab­göt­tisch ver­ehrt, daß das gan­ze Haus dem Um­stand dank­bar war, der ih­nen ge­stat­te­te, der Baro­nin den schmerz­li­chen An­blick des Trau­er­zu­ges zu ent­zie­hen. Isau­re und Mal­vi­na ver­bar­gen der an­ge­be­te­ten Mut­ter ihre Trä­nen und be­schäf­tig­ten sie mit An­pro­bie­ren und Aus­wahl der Trau­er­klei­der – wäh­rend man drau­ßen das Re­quiem sang. Wenn auf dem großen schwarz­wei­ßen Ka­ta­falk mit den un­zäh­li­gen Wach­s­trop­fen, der erst drei­tau­send Lei­chen ge­dient ha­ben muß, ehe er auf­ge­frischt wird – so sag­te mir ein Phi­lo­soph, den ich bei ei­nem Gla­se Wein über die­sen Punkt be­frag­te –, wie­der mal ein Sarg nie­der­ge­stellt ist; wenn ein höchst gleich­gül­ti­ger nie­de­rer Geist­li­cher das ›Dies irae‹ grölt und ein eben­so gleich­gül­ti­ger, doch ho­her Geist­li­cher die To­ten­mes­se liest – wißt ihr, was da die schwarz­ge­klei­de­ten Freun­de des Ver­stor­be­nen sa­gen, die dort in der Kir­che her­um­sit­zen oder ste­hen? Hier das ge­wünsch­te Bild: Also, seht ihr sie? ›Wie­viel glau­ben Sie, daß der Papa d’Ald­rig­ger hin­ter­läßt?‹ sag­te Des­ro­ches zu Tail­le­fer, der uns vor sei­nem Tode das herr­li­che Fest ge­ge­ben …«

»War Des­ro­ches da­mals Ad­vo­kat?«

»Er prak­ti­zier­te 1822,« sag­te Cou­ture. »Und das war kühn von dem Sohn ei­nes ar­men Be­am­ten, der nie mehr als acht­zehn­hun­dert Fran­ken be­kam, kühn von ei­nem jun­gen Mann, des­sen Mut­ter mit Stem­pel­pa­pie­ren han­del­te. Aber er ar­bei­te­te auch an­ge­strengt von 1818 bis 1822. Als vier­ter Schrei­ber war er bei Der­ville ein­ge­tre­ten und 1819 schon zum zwei­ten auf­ge­rückt!«

»Des­ro­ches?«

»Ja,« sag­te Bi­xiou. »Des­ro­ches war sei­ner­zeit, ge­ra­de wie wir, arm wie Hiob. Er hat­te es satt, in aus­ge­wach­se­nen Klei­dern her­um­zu­lau­fen, da gab er sich aus Verzweif­lung dem Rechts­stu­di­um hin und kauf­te sich den Rechts­ti­tel. Nun war er Ad­vo­kat ohne einen Sou, ohne Kli­en­tel, ohne an­de­re Freun­de als uns, und hat­te für Amt und Bürg­schaft die Zin­sen zu zah­len.«

»Er kam mir da­mals vor wie ein ent­sprun­ge­ner Ti­ger,« sag­te Cou­ture. »Ma­ger, mit ro­tem Haar und ta­bak­brau­nen Au­gen, kal­ter und gleich­gül­ti­ger Mie­ne, aber ein schar­fer Ar­bei­ter, der Schre­cken sei­ner Schrei­ber, die nicht mü­ßig sein durf­ten, klug und ge­rie­ben, von ho­nig­sü­ßer Be­red­sam­keit, sich nie hin­rei­ßen las­send …«

»Und er hat gute Sei­ten,« rief Fi­not. »Er ist sei­nen Ka­me­ra­den ein treu­er Freund, und sei­ne ers­te Sor­ge war, Go­de­schal, den Bru­der Ma­ri­et­tas, zum Schrei­ber zu neh­men.«

»In Pa­ris«, sag­te Blon­det, »gibt es nur zwei Ar­ten von Ad­vo­ka­ten: den Ad­vo­ka­ten, der Ehren­mann ist, der sich in den Gren­zen des Ge­set­zes hält, Pro­zes­se führt, die Din­ge nie über­eilt, nicht ver­nach­läs­sigt, sei­nen Kli­en­ten red­li­chen Rat er­teilt, in­dem er in zwei­fel­haf­ten Fäl­len zu ei­nem Ver­glei­che rät, kurz­um ein Der­ville. Der an­de­re ist der Hun­ge­r­ad­vo­kat, dem al­les recht ist, vor­aus­ge­setzt, daß es si­chern Ge­winn bringt; der kei­ne Ber­ge ver­setzt, denn er ver­kauft sie, aber der die Ster­ne vom Him­mel her­un­ter­holt; der sich an­hei­schig macht, einen Schur­ken über einen Ehren­mann tri­um­phie­ren zu las­sen, wenn der Ehren­mann zu­fäl­lig nicht bei Kas­se ist. Wenn ei­ner die­ser Ad­vo­ka­ten einen gar zu grau­en­haf­ten Streich spielt, so zwingt ihn die Kam­mer, sei­nen Be­ruf auf­zu­ge­ben. Des­ro­ches, un­ser Freund Des­ro­ches, hat die­sen an ar­men Schlu­ckern be­trie­be­nen Be­ruf gut ver­stan­den: er hat Leu­ten, die fürch­te­ten, ihre Sa­che zu ver­lie­ren, ih­ren Pro­zeß ab­ge­kauft, er stürz­te sich in Bos­hei­ten und Knif­fe, denn er war ent­schlos­sen, sich aus dem Elend her­aus­zu­ar­bei­ten. Er hat­te recht, er hat ehr­lich sei­nen Weg ge­macht! Po­li­ti­ker, de­nen er aus un­an­ge­neh­men Wir­ren her­aus­ge­hol­fen, wur­den sei­ne För­de­rer, wie zum Bei­spiel un­ser lie­ber des Lu­peaulx, des­sen Lage so be­denk­lich war. Er muß­te das, um sich her­aus­zu­zie­hen, denn Des­ro­ches war an­fäng­lich beim Ge­richt un­be­liebt, er, der sich sol­che Mühe gab, die Feh­ler sei­ner Kli­en­ten wie­der gutz­u­ma­chen! … Nun, Bi­xiou, er­zäh­le wei­ter … wes­halb war Des­ro­ches in der Kir­che?«

»›D’Ald­rig­ger hin­ter­läßt sie­ben- oder acht­hun­dert­tau­send Fran­ken!‹ be­kam Des­ro­ches von Tail­le­fer zur Ant­wort. ›Na na! Es gibt nur einen, der sein Ver­mö­gen kennt,‹ sag­te Wer­brust, ein Freund des Ver­stor­be­nen. ›Wer?‹ ›Der alte Schlau­kopf Nu­cin­gen; er wird bis zum Kirch­hof mit­ge­hen. D’Ald­rig­ger ist sein Gön­ner ge­we­sen, und zum Dank ließ er das Ver­mö­gen des Bie­der­man­nes heim­lich ab­schät­zen.‹ ›Sei­ne Wit­we wird einen großen Un­ter­schied wahr­neh­men!‹ ›Wie mei­nen Sie das?‹ ›Nun, d’Ald­rig­ger lieb­te sei­ne Frau sehr! La­chen Sie nicht, man sieht her.‹ ›Halt, da ist ja auch du Til­let, er hat sich recht ver­spä­tet, es wird schon die Epis­tel ver­le­sen.‹ ›Er wird wahr­schein­lich die Äl­tes­te hei­ra­ten.‹ ›Ist es mög­lich?‹ sag­te Des­ro­ches, ›er steht mehr denn je mit Frau Ro­guin in Be­zie­hun­gen.‹ ›Er, in Be­zie­hun­gen? … Sie ken­nen ihn nicht!‹ ›Wie ist ei­gent­lich die Po­si­ti­on von Nu­cin­gen und du Til­let?‹ frag­te Des­ro­ches. ›Sie ist die,‹ sag­te Tail­le­fer: ›Nu­cin­gen ist der Mann, das Ver­mö­gen sei­nes al­ten Gön­ners an sich zu rei­ßen und es ihm wie­der zu­rück­zu­er­stat­ten.‹ Wer­brust hus­te­te. ›Es ist ver­teu­felt kalt in der Kir­che!‹ Er hus­te­te wie­der. ›Wie­so zu­rück­zu­er­stat­ten?‹ ›Nun, Nu­cin­gen weiß, daß du Til­let ein großes Ver­mö­gen be­sitzt, und will ihn mit Mal­vi­na ver­hei­ra­ten; aber du Til­let miß­traut Nu­cin­gen. Wer dem Spiel zu­sieht, hat sei­ne Freu­de dar­an.‹ ›Wie?‹ sag­te Wer­brust, ›schon hei­rats­fä­hig? … Wie schnell man alt wird!‹ ›Mal­vi­na d’Ald­rig­ger ist über zwan­zig Jah­re, mein Lie­ber. Der gute d’Ald­rig­ger hat 1800 ge­hei­ra­tet, Er gab uns da­mals in Straß­burg bei sei­ner Hoch­zeit und bei der Ge­burt Mal­vinas ein paar herr­li­che Fes­te. Mal­vi­na ist 1801, dem Jahr des Frie­dens von Amiens, ge­bo­ren, und jetzt ha­ben wir 1823, Papa Wer­brust. Da­mals os­sia­ni­sier­te man al­les, da­her nann­te er sei­ne Toch­ter Mal­vi­na. Sechs Jah­re spä­ter, un­term Kai­ser­reich, war er eine Zeit­lang für al­les Rit­ter­li­che be­geis­tert; so nann­te er sei­ne zwei­te Toch­ter Isau­re, sie ist sieb­zehn. Sind also zwei hei­rats­fä­hi­ge Töch­ter.‹ ›In zehn Jah­ren ha­ben die Mäd­chen kei­nen Sou mehr,‹ sag­te Wer­brust ver­trau­lich zu Des­ro­ches. ›Der Alte, der dort an der Kir­chen­tür steht und tap­fer mit­brüllt, ist der Kam­mer­die­ner von d’Ald­rig­ger; die bei­den jun­gen Mäd­chen sind un­ter sei­nen Au­gen groß ge­wor­den, er ist zu al­lem fä­hig, wenn es gilt, ihr Le­ben an­ge­nehm zu ge­stal­ten.‹ Die Vor­sän­ger: ›Dies irae!‹ Die Chor­kna­ben: ›Dies illa!‹ Tail­le­fer: ›A­dieu, Wer­brust; wenn ich das Dies irae höre, wer­de ich zu sehr an mei­nen ar­men Sohn er­in­nert.‹ ›Ich gehe auch; es ist zu feucht hier,‹ sag­te Wer­brust. (›In fa­vil­la.‹) Die Ar­men an der Tür: ›Lie­be Her­ren, schen­ken Sie uns ein paar Sous!‹ Der Schwei­zer: ›Pang! pang! Gebt für die Kir­che! Gebt für die Kir­che!‹ Die Vor­sän­ger: ›A­men!‹ Ein Be­kann­ter: ›Woran ist er ge­stor­ben?‹ Ein neu­gie­ri­ger Witz­bold: ›An ei­nem Schiff, das auf den Grund ge­lau­fen ist.‹ Ein Passant: ›Wis­sen Sie, wer es ist, der hier ver­stor­ben ist?‹ Ein Ver­wand­ter: ›Der Prä­si­dent von Mon­tes­quieu.‹ Der Sa­kris­tan zu den Ar­men: ›Macht euch fort, man hat uns schon für euch et­was ge­ge­ben; ihr dürft nichts mehr for­dern!‹«

»Groß­ar­tig!« sag­te Cou­ture.

Und wirk­lich, man sah das gan­ze Le­ben und Trei­ben in der Kir­che vor Au­gen. Bi­xiou ver­gaß nichts; so­gar das Geräusch, mit dem die Lei­chen­trä­ger den Sarg auf­ho­ben und da­v­on­schrit­ten, ahm­te er, mit den Fü­ßen auf dem Fuß­bo­den schar­rend, nach.

»Es gibt Dich­ter und Ro­man­schrift­stel­ler, die über Pa­ri­ser Sit­ten und Ge­bräu­che vie­le schö­ne Din­ge sa­gen,« fuhr Bi­xiou fort; »hier aber habt ihr die Wahr­heit über eine Be­gräb­nis­fei­er. Auf hun­dert Leu­te, die so ei­nem Kerl von To­ten den letz­ten Dienst er­wei­sen, kom­men neun­und­neun­zig, die ganz öf­fent­lich in der Kir­che von Ge­schäft und Ver­gnü­gen spre­chen. Es ge­hört ein ganz un­glaub­li­cher Zu­fall dazu, um wirk­lich mal ein we­nig wah­res Leid auf­zu­spü­ren. Über­haupt: gibt es denn ein Leid, das nicht im Grun­de Ego­is­mus wäre? … Als die Mes­se be­en­det, be­glei­te­ten Nu­cin­gen und du Til­let den Trau­er­zug zum Kirch­hof. Der alte Kam­mer­die­ner ging zu Fuß. Der Kut­scher lenk­te den Wa­gen hin­ter den der Geist­lich­keit. ›Nun, main ku­ter Fraind,‹ sag­te Nu­cin­gen zu du Til­let, als der Wa­gen den Bou­le­vard ent­lang fuhr, ›die Ke­le­gen­hait ist gins­tig, hai­ra­ten Se Mal­fi­na, ma­chen Se sich ßum Pe­schit­zer die­ser ar­men wai­nen­den Fa­mil­sche; dann wer­den Se ha­ben aine Fa­mil­sche, ain Haim. Se wer­den sich in ain ke­mach­tes Pett set­zen, und Mal­fi­na ist ain Ke­müt, ain wah­rer Schatz, sak ich Ih­nen‹.«

»Man meint wirk­lich den al­ten Ro­bert Ma­caire von Nu­cin­gen zu hö­ren!« sag­te Fi­not. »›Ein rei­zen­des Mäd­chen,‹ sag­te Fer­di­nand du Til­let feu­rig und doch gleich­mü­tig,« er­zähl­te Bi­xiou wei­ter. »Der gan­ze du Til­let!« rief Cou­ture. »›De­nen, die sie nicht ken­nen, mag sie häß­lich er­schei­nen,‹ sag­te du Til­let, ›a­ber ich gebe zu, sie hat See­le.‹ ›Und ain Ke­müt, das ist das Kute an der Sa­che, main Lie­ber! Se ist klug und un­ter­wür­fig. In un­serm Pe­ruf waiß man nie, wie’s kommt und keht; es ist ain kro­ßes Klick, wenn man sich dem Her­zen sai­ner Frau kann an­verdrau­en. Was ist Tel­fi­ne, die mir, wie Se wis­sen, mehr als aine Mil­li­on mit­ke­pracht hat, ke­gen­über Mal­fi­na, die kai­ne so kro­ße Mit­kift hat.‹ ›A­ber wie­viel hat sie denn?‹ ›Ich waiß nicht kenau, aber es ist schon al­ler­hand.‹ ›Sie hat eine Mut­ter, die das Schmin­ken liebt!‹ sag­te du Til­let. Die­ses Wort schnitt dem Ver­su­cher die wei­te­re Rede ab. Nach dem Di­ner teil­te der Baron der Wil­hel­mi­ne Adol­phus mit, daß sie nur noch knapp vier­hun­dert­tau­send Fran­ken bei ihm lie­gen habe. Die Toch­ter der Fir­ma Adol­phus aus Mann­heim, die sich nun­mehr auf vier­und­zwan­zig­tau­send Li­vres Ren­te be­schränkt sah, ver­lor sich in Be­trach­tun­gen, die ihr den Kopf ver­wirr­ten. ›Wie?‹ sag­te sie zu Mal­vi­na. ›Wie? Ich habe für uns stets sechs­tau­send Fran­ken al­lein bei der Schnei­de­rin aus­ge­ge­ben! Ja, wo nahm denn dein Va­ter das Geld dazu her? Was ha­ben wir von vier­und­zwan­zig­tau­send Fran­ken? Das Elend! Ach, wenn mein Va­ter mich so sähe, er wür­de ster­ben, wenn er nicht schon tot wäre! Arme Wil­hel­mi­ne!‹ Und sie be­gann zu wei­nen. Mal­vi­na, die nicht wuß­te, wie sie die Mut­ter trös­ten soll­te, stell­te ihr vor, daß sie noch jung und hübsch sei, Rosa klei­de sie noch im­mer gut, sie wer­de in die Oper und ins Bouf­fons ge­hen, denn die Loge Frau von Nu­cin­gens ste­he ihr doch zur Ver­fü­gung. Sie lull­te die Mut­ter in einen Traum von Fes­ten, Mu­sik und Tanz, schö­nen Toi­let­ten und rau­schen­den Er­fol­gen – in einen Traum, der in ei­nem him­melblau­en Sei­den­bett ei­nes vor­nehm ein­ge­rich­te­ten Zim­mers em­por­blüh­te, das je­nem be­nach­bart war, in dem zwei Näch­te frü­her Herr Jean Bap­tis­te Baron d’Ald­rig­ger sein Le­ben aus­ge­haucht. Hier in kur­z­em Um­riß sei­ne Ge­schich­te. Bei sei­nen Leb­zei­ten hat­te der eh­ren­wer­te El­säs­ser, Ban­kier in Straß­burg, ein Ver­mö­gen von etwa drei Mil­lio­nen zu­sam­men­ge­tra­gen. Im Jah­re 1800, als er sechs­und­drei­ßig Jah­re alt war und ein net­tes Ver­mö­gen be­saß, das er wäh­rend der Re­vo­lu­ti­on er­wor­ben, hei­ra­te­te er aus Streb­sam­keit und Nei­gung die Er­bin der Fir­ma Adol­phus in Mann­heim. Das jun­ge Mäd­chen wur­de von der gan­zen Fa­mi­lie ver­göt­tert und heims­te na­tür­lich im Lau­fe von zehn Jah­ren das ge­sam­te Ver­mö­gen ein. D’Ald­rig­gers Ver­mö­gen ver­dop­pel­te sich da­durch, was zur Fol­ge hat­te, daß er von Sei­ner Ma­je­stät dem Kai­ser und Kö­nig zum Baron er­nannt wur­de; aber lei­der faß­te er für den großen Mann, dem er den Adel ver­dank­te, eine Lei­den­schaft. So rich­te­te er sich von 1814 bis 1815 zu­grun­de, weil er die Son­ne von Aus­ter­litz ernst ge­nom­men hat­te. Der ehr­li­che El­säs­ser stell­te sei­ne Zah­lun­gen nicht ein, such­te nicht sei­ne Gläu­bi­ger mit Pa­pie­ren ab­zu­fin­den, die er für schlecht hielt; er be­zahl­te al­les so­fort und zog sich von der Bank zu­rück, mit wel­cher Hand­lungs­wei­se er sich den Na­men, den Nu­cin­gen, sein frü­he­rer ers­ter Kom­mis, ihm bei­ge­legt, red­lich ver­dien­te: ›ein Ehren­mann, aber dumm!‹

Als alle Zah­lun­gen ge­macht, blie­ben ihm noch fünf­hun­dert­tau­send Fran­ken und ge­wis­se For­de­run­gen an das Kai­ser­reich, das nicht mehr be­stand. ›Das gommt da­von, daß man sich ßu sehr auf Nap­po­li­on ver­las­sen hat,‹ sag­te er, als er den Er­folg sei­ner Li­qui­da­ti­on ge­wahr­te. Wenn man in ei­ner Stadt der Ers­te ge­we­sen, so bleibt man nach sei­nem Fall nicht gern dort … Der Ban­kier aus dem El­saß mach­te es wie alle bank­rot­ten Pro­vinz­ler: er kam nach Pa­ris und trug hier mu­tig sei­ne blau-weiß-ro­ten Ho­sen­trä­ger mit den ein­ge­stick­ten kai­ser­li­chen Ad­lern; er schloß sich den bo­na­par­tis­ti­schen Krei­sen an. Sein Ver­mö­gen übergab er dem Baron Nu­cin­gen, der ihm für al­les acht Pro­zent gab und sei­ne For­de­run­gen an das Kai­ser­reich für sech­zig Pro­zent über­nahm, was d’Ald­rig­ger ver­an­laß­te, Nu­cin­gen mit den Wor­ten die Hand zu drücken: ›Ich wuß­te ja, daß ich in dir das Herz ai­nes El­säs­sers fin­den wir­de!‹ Nu­cin­gen ließ sich von un­serm Freund des Lu­peaulx bis auf Hel­ler und Pfen­nig aus­be­zah­len. Trotz­dem man ihn also ge­hö­rig ge­rupft hat­te, be­saß der El­säs­ser ein ge­werb­li­ches Ein­kom­men von vierund­vier­zig­tau­send Fran­ken. Wie alle Leu­te, die plötz­lich ei­ner lang­ge­wohn­ten und Geis­tes­ge­gen­wart er­for­dern­den Tä­tig­keit ent­sa­gen müs­sen, sich ir­gend­ei­nem Spleen hin­ge­ben, so auch er. Der Ban­kier mach­te es sich zur Auf­ga­be, sich für sei­ne Frau auf­zu­op­fern, das edle Herz! Ihr Ver­mö­gen war da­hin, und sie hat­te die­se Tat­sa­che mit der Sorg­lo­sig­keit ei­nes jun­gen Mäd­chens, das von Geldan­ge­le­gen­hei­ten nicht das ge­rings­te ver­steht, hin­ge­nom­men. Die Baro­nin d’Ald­rig­ger ge­noß also nach wie vor die Freu­den, an die sie ge­wöhnt war – und jetzt so­gar nicht mehr in Straß­burg, son­dern in Pa­ris. Das Haus Nu­cin­gen stand schon da­mals, wie noch heu­te, an der Spit­ze der Gelda­ri­sto­kra­tie, und der ›ge­rie­be­ne Baron‹ mach­te es sich zur Ehre, den ›ehr­li­chen Baron‹ gut auf­zu­neh­men. Die­se schö­ne Tu­gend stand dem Hau­se Nu­cin­gen gut. Je­der Win­ter ver­min­der­te das Ka­pi­tal d’Ald­rig­gers, aber er wag­te kei­nen Vor­wurf ge­gen die Per­le der Adol­phus in Mann­heim: sei­ne Zärt­lich­keit war die er­fin­de­rischs­te und un­an­ge­brach­tes­te von der Welt. Ein bra­ver Mann, aber erz­dumm! Als er starb, frag­te er sich: ›Was wird aus ih­nen wer­den ohne mich?‹ Und als er sich ein­mal mit Wirth, sei­nem al­ten Kam­mer­die­ner, al­lein sah, leg­te er ihm zwi­schen zwei Hus­ten­an­fäl­len sein Weib und sei­ne Kin­der ans Herz, als ob die­ser ge­brech­li­che Alte das ein­zi­ge ver­nünf­ti­ge We­sen im gan­zen Hau­se sei! Drei Jah­re spä­ter, 1826, war Isau­re zwan­zig Jah­re und Mal­vi­na un­ver­hei­ra­tet. Mal­vi­na hat­te das ge­sell­schaft­li­che Trei­ben durch­schaut, es für ober­fläch­lich und be­rech­nend er­kannt. Gleich fast al­len wohl­er­zo­ge­nen jun­gen Mäd­chen wuß­te Mal­vi­na nichts vom prak­ti­schen Le­ben, von der Macht des Gel­des, der Schwie­rig­keit, sol­ches zu er­wer­ben, vom Preis der Din­ge. Jede Leh­re, die sie in die­sen sechs Jah­ren zie­hen muß­te, war ihr wie eine Be­lei­di­gung er­schie­nen. Die vier­hun­dert­tau­send Fran­ken, die der se­li­ge d’Ald­rig­ger noch beim Bank­haus Nu­cin­gen ste­hen hat­te, wur­den als Gut­ha­ben der Baro­nin ge­führt, denn der Nach­laß ih­res Gat­ten schul­de­te ihr zwölf­hun­dert­tau­send Fran­ken, und in Au­gen­bli­cken der Be­dräng­nis tat die Sen­ne­rin einen Griff in die­se Kas­se, als sei sie un­er­schöpf­lich. Zur Zeit, als un­ser Tau­ber sich sei­ner Täu­bin nä­her­te, hat­te Nu­cin­gen, der den Cha­rak­ter sei­nes ehe­ma­li­gen Chefs kann­te, Mal­vi­na über die fi­nan­zi­el­le Lage der Wit­we auf­ge­klärt: es la­gen nur noch drei­hun­dert­tau­send Fran­ken bei ihm, so daß die Ren­te von vier­und­zwan­zig­tau­send Fran­ken auf acht­zehn­tau­send her­un­ter­ge­setzt wer­den muß­te. Wirth hat­te drei Jah­re lang die Si­tua­ti­on ge­hal­ten! Nach der ver­trau­li­chen Mit­tei­lung des Ban­kiers wur­den Pfer­de und Wa­gen ab­ge­schafft und der Kut­scher ent­las­sen; das tat Mal­vi­na hin­ter dem Rücken der Mut­ter. Die Ein­rich­tung des Hau­ses, die zehn Jah­re alt war, konn­te nun nicht durch neu­es Mo­bi­li­ar er­setzt wer­den, aber al­les war gleich­zei­tig alt und fa­den­schei­nig ge­wor­den; für die, die eine ge­wis­se Har­mo­nie lie­ben, war es al­ler­dings nur halb so schlimm. Die wohl­kon­ser­vier­te Baro­nin glich nun ei­ner kal­ten und wel­ken Rose, die in­mit­ten des No­vem­ber als ein­zi­ge am Busch hängt. Ich, der ich hier zu euch rede, habe mit an­ge­se­hen, wie die­se üp­pi­ge Blü­te all­mäh­lich, ganz all­mäh­lich ver­blaß­te. Ent­setz­lich, mein Ehren­wort! Das war der letz­te Kum­mer, den ich hat­te. Spä­ter sag­te ich mir: ›Es ist dumm, an an­dern so viel In­ter­es­se zu neh­men!‹ Als ich noch Be­am­ter war, nahm ich An­teil an al­len Häu­sern, in de­nen ich speis­te, ich ver­tei­dig­te sie vor üb­ler Nach­re­de, ich spot­te­te nicht über sie, ich … Oh, ich war ein Kind! – Als ihre Toch­ter ihr die Lage der Din­ge mit­ge­teilt, rief die ehe­ma­li­ge Per­le ent­setzt: ›Mei­ne ar­men Kin­der! Wer wird mir nun mei­ne Toi­let­ten nä­hen? Ich wer­de also kei­ne neu­en Hüte mehr tra­gen, kei­ne Be­su­che emp­fan­gen, kei­ne er­wi­dern!‹ – Woran, meint ihr, er­kennt man bei ei­nem Mann die wah­re Lie­be?« un­ter­brach sich Bi­xiou. »Es han­delt sich dar­um, zu wis­sen, ob Beau­den­ord ernst­lich in die klei­ne Blon­de ver­liebt war.«

»Er ver­nach­läs­sigt sei­ne Ge­schäf­te,« er­wi­der­te Cou­ture. »Er wech­selt drei­mal am Tage das Hemd,« sag­te Fi­not. »Eine Ge­gen­fra­ge,« sag­te Blon­det: »Kann und darf ein großer Mann über­haupt ver­liebt sein?«

»Mei­ne Freun­de,« sprach Bi­xiou ge­fühl­voll wei­ter, »hü­ten wir uns wie vor ei­ner Vi­per vor dem Mann, der, so­bald er sich ver­liebt weiß, mit den Fin­gern schnippt oder sei­ne Zi­gar­ren fort­wirft und sich sagt: ›Pah! es gibt noch an­de­re in der Welt!‹ Der Staat aber mag die­sen Bür­ger im Mi­nis­te­ri­um für aus­wär­ti­ge An­ge­le­gen­hei­ten ver­wen­den. Blon­det, ich ma­che dich dar­auf auf­merk­sam, daß be­sag­ter Go­de­fro­id aus der Di­plo­ma­tie aus­ge­schie­den war.«

»Man hat ihn aus­ge­nutzt, auf­ge­so­gen! Die Lie­be ist der ein­zi­ge Weg, auf dem die Dum­men zu ei­ner ge­wis­sen Grö­ße ge­lan­gen,« er­wi­der­te Blon­det. »Blon­det, Blon­det, warum nur sind wir so arm?« rief Bi­xiou. »Und warum ist Fi­not so reich?« ent­geg­ne­te Blon­det, »Ich will es dir sa­gen, mein Sohn, wir ver­ste­hen uns! Halt, Fi­not, du schenkst mir ja ein, als hät­te ich dei­nen Klee ge­lobt. Weißt du nicht, daß man ge­gen Ende ei­nes Di­ners am Wein nur nip­pen soll? … Also wei­ter. Du hast es ge­sagt: der ›auf­ge­so­ge­ne‹ Go­de­fro­id mach­te weit­ge­hen­de Be­kannt­schaft mit der großen Mal­vi­na, der leicht­sin­ni­gen Baro­nin und der klei­nen Tän­ze­rin. Er ver­sank in klein­lichs­te Ab­hän­gig­keit und Dienst­bar­keit. Die­se lei­chen­haf­ten Res­te eins­ti­gen Wohl­stan­des schreck­ten ihn nicht. Be­wah­re! Er ge­wöhn­te sich schließ­lich an alle die Fet­zen und Lum­pen. Nie soll­te die Mö­bel­gar­ni­tur aus grü­ner chi­ne­si­scher Sei­de, die den Sa­lon zier­te, die­sem Be­wer­ber alt und ver­braucht er­schei­nen. Die Vor­hän­ge, das Tee­tisch­chen, die chi­ne­si­schen Va­sen auf dem Ka­min, der Ro­ko­ko-Kron­leuch­ter, der fa­den­schei­ni­ge Tep­pich, das Pia­no, das blu­men­ge­zier­te Tee­ser­vice, die Ser­vi­et­ten mit spa­ni­schen Fran­sen und spa­ni­schen Lö­chern, der per­si­sche Sa­lon, der dem blau­en Schlaf­ge­mach der Baro­nin be­nach­bart war, al­les schi­en ihm ge­hei­ligt. Nur dum­me Frau­en, de­ren strah­len­de Schön­heit Geist, Herz und See­le in Schat­ten stellt, kön­nen sol­che Lei­den­schaf­ten ent­fa­chen; eine geist­vol­le Frau hat kei­ne der­ar­ti­gen Er­fol­ge, man muß klein und dumm sein, um sich ei­nes Man­nes zu be­mäch­ti­gen. Beau­den­ord hat es mir selbst ge­sagt, daß er dem al­ten wür­di­gen Kam­mer­die­ner Wirth zu­ge­tan war. Der alte Narr hat­te vor sei­nem künf­ti­gen Herrn eine Hochach­tung, wie der gläu­bi­ge Ka­tho­lik vor der Eu­cha­ris­tie. Der bie­de­re Wirth war ein deut­scher Mi­chel, so ein Bier­trin­ker, der sei­ne Durch­trie­ben­heit zu ver­ber­gen weiß, wie ein mit­tel­al­ter­li­cher Kar­di­nal sei­ne Faust im Är­mel ver­steck­te. Als Wirth sah, daß hier ein Gat­te für Isau­re zu fan­gen sei, um­schmei­chel­te er Go­de­fro­id mit dem gan­zen Auf­wand sei­ner el­säs­si­schen Bie­der­keit, dem wirk­sams­ten al­ler Kleb­stof­fe. Frau d’Ald­rig­ger be­nahm sich höchst ›un­pas­sen­d‹, sie sah die Lie­be als et­was ganz Na­tür­li­ches an. Wenn Isau­re und Mal­vi­na zu­sam­men die Tui­le­ri­en oder die Champs Elysées be­such­ten, wo sie mit jun­gen Män­nern ih­res Krei­ses zu­sam­men­tra­fen, so sag­te die Mut­ter: ›Un­ter­hal­tet euch gut, lie­be Kin­der!‹ Ihre Freun­de, die ein­zi­gen, die über die bei­den Schwes­tern hät­ten übel re­den kön­nen, ver­tei­dig­ten sie; denn die un­be­schränk­te Frei­heit, die je­der im Sa­lon d’Ald­rig­ger ge­noß, mach­te die­sen zu ei­nem un­ver­gleich­lich an­ge­neh­men Treff­punkt. Selbst für Mil­lio­nen hät­te man in ganz Pa­ris nur schwer der­glei­chen Abend­ge­sell­schaf­ten zu se­hen be­kom­men – eine Ge­sell­schaft, in der man über al­les geist­voll zu plau­dern wuß­te, in der die mo­di­sche Klei­dung nicht Vor­schrift war und ein je­der sich be­hag­lich fühl­te. Die bei­den Schwes­tern kor­re­spon­dier­ten mit wem es ih­nen ge­fiel, und emp­fin­gen und la­sen in Ge­gen­wart der Mut­ter ihre Brie­fe, ohne daß die Baro­nin je­mals auf den Ge­dan­ken ge­kom­men wäre, et­was da­von wis­sen zu wol­len. Die präch­ti­ge Mut­ter schenk­te den Töch­tern alle Wohl­ta­ten, die ihr Ego­is­mus für sich selbst ver­lang­te; denn der Ego­ist, der un­be­hel­ligt sein will, be­hel­ligt auch die an­dern nicht und ist kei­ner von de­nen, der das Le­ben sei­ner Freun­de mit den He­cken gu­ten Ra­tes und dem Dorn­busch der Er­mah­nun­gen um­gibt …«

»Du sprichst mir zu Her­zen,« sag­te Blon­det; »aber, mein Lie­ber, du er­zählst nicht, du schwat­zest.«

»Blon­det, wä­rest du nicht schon be­trun­ken, so wür­de ich mich über dich är­gern! Von uns vie­ren ist er der ein­zi­ge wirk­li­che Li­te­rat! Um sei­net­wil­len tue ich euch die Ehre an, euch ge­wis­ser­ma­ßen als Fein­schme­cker zu be­han­deln; ich ser­vie­re euch mei­ne Ge­schich­te wie klei­ne zar­te Ku­chen, und er sitzt und kri­ti­siert! Mei­ne Freun­de, ein ein­fa­ches An­ein­an­der­rei­hen von Tat­sa­chen ist ent­schie­den ein Zei­chen geis­ti­ger Ste­ri­li­tät. Die fei­ne Ko­mö­die ›Der Mi­san­throp‹ be­weist, daß die wah­re Kunst dar­in be­steht, auf ei­ner Na­del­spit­ze einen Palast auf­zu­bau­en. Ich lie­be es, mei­nem Stoff Grö­ße zu ver­lei­hen, ihn um­zu­for­men; ich ma­che es wie die Feen, die aus ei­ner Sand­wüs­te in zehn Se­kun­den ein In­ter­la­ken er­ste­hen las­sen – so schnell also, wie ich hier dies Glas lee­re! Wollt ihr, daß mein Be­richt wie eine Ka­no­nen­ku­gel da­her­schießt, wollt ihr einen mi­li­tä­ri­schen Rap­port? Wir plau­dern und la­chen, und die­ser nüch­ter­ne Bü­cher­samm­ler ver­langt in sei­ner Trun­ken­heit, daß ich so al­bern da­her­re­den soll wie ein Buch.« (Er tat, als wei­ne er.) »Wei­nen wir, Can­di­de, und so lebe denn die ›Kri­tik der rei­nen Ver­nunft‹!«

»Also er­zäh­le nur wei­ter,« sag­te Fi­not.

»Ich woll­te euch klar­ma­chen, worin das Glück ei­nes Man­nes be­steht, der nicht Ak­tien­in­ha­ber ist (eine Schmei­che­lei für Cou­ture!). Also wißt ihr nun, zu wel­chem Prei­se sich Go­de­fro­id die köst­lichs­te Glück­se­lig­keit ver­schaff­te, die ein jun­ger Mann sich träu­men kann? … Er stu­dier­te Isau­re, um si­cher zu ge­hen, ver­stan­den zu wer­den! … Din­ge, die ein­an­der ver­ste­hen sol­len, müs­sen ein­an­der glei­chen. Nun, sie ha­ben nichts Ge­mein­sa­mes als das Nichts und das Unend­li­che; die Dumm­heit ist das Nichts, der Ver­stand ist das Unend­li­che. Die bei­den Lie­ben­den schrie­ben ein­an­der die al­b­erns­ten Brie­fe von der Welt, sie sand­ten sich ge­gen­sei­tig auf duf­ten­den rosa Blätt­chen Wor­te wie: ›En­gel! Äols­har­fe! Wenn ich Dich habe, bin ich voll­kom­men! Auch ein Mann hat ein füh­len­des Herz in der Brust! Schwa­ches Weib! Ich Ar­mer!‹ Alle die un­sin­ni­gen Wor­te ei­nes Lie­bes­paa­res von heu­te. Go­de­fro­id blieb in kei­ner Ge­sell­schaft län­ger als zehn Mi­nu­ten, er sprach mit den Da­men höchst an­spruchs­lo­se Din­ge, sie fan­den ihn also sehr geist­voll. Er war ei­ner von de­nen, die ge­ra­de so viel Geist ha­ben, als man ih­nen un­ter­schiebt. Ur­teilt selbst, wie sehr er in An­spruch ge­nom­men war. Joby und sei­ne Pfer­de wur­den nun in sei­nem Da­sein ne­ben­säch­li­che Din­ge. Er war nur dann glück­lich, wenn er, in sei­nen be­que­men Lehn­stuhl ver­gra­ben, zur Sei­te des Ka­mins aus grü­nem Mar­mor, der Baro­nin ge­gen­über­saß, Isau­re an­schau­en und be­hag­lich plau­dernd sei­nen Tee schlür­fen konn­te. Es war im­mer ein klei­ner Freun­des­kreis dort in der Rue Jou­bert bei­sam­men, man kam zwi­schen elf und Mit­ter­nacht und konn­te ohne Ge­fahr ein Spiel­chen ma­chen; ich habe dort im­mer ge­won­nen! Wenn Isau­re ih­ren hüb­schen klei­nen Fuß im schwar­zen Sei­den­schuh ko­kett zeig­te und Go­de­fro­id ihn lan­ge be­trach­tet hat­te, so blieb er als der Letz­te da und sag­te zu Isau­re: ›Gib mir dei­nen Schuh …‹ Isau­re hob den Fuß, stell­te ihn auf einen Stuhl, zog den Schuh aus und gab ihn ihm mit ei­nem Blick, ei­nem Blick … nun, ihr ver­steht! Go­de­fro­id ent­deck­te an Mal­vi­na ein großes Ge­heim­nis. Wenn du Til­let an die Tür klopf­te, so flüs­ter­te das Rot, das in Mal­vinas Wan­gen stieg: ›Fer­di­nand!‹ Wenn das arme Mäd­chen den pran­ken­be­wehr­ten Ti­ger an­sah, so leuch­te­ten ihre Au­gen auf wie ein Koh­len­be­cken, über das ein Wind hin­fährt; sie emp­fand eine un­end­li­che Be­se­li­gung, wenn Fer­di­nand sie bei­sei­te­führ­te, um mit ihr al­lein zu plau­dern. Wie schön und sel­ten ist das: ein Weib, des­sen Lie­be so stark ist, daß sie sie nicht zu ver­ber­gen strebt, son­dern of­fen dar­bringt! Du lie­ber Him­mel, das ist hier in Pa­ris frei­lich ge­ra­de so sel­ten wie die sin­gen­de Blu­me in In­di­en. Un­ge­ach­tet die­ser Freund­schaft, die mit dem Tage be­gann, als die d’Ald­rig­ger bei den Nu­cin­gens er­schie­nen, hei­ra­te­te Fer­di­nand Mal­vi­na nicht. Un­ser wil­der du Til­let schi­en auf Des­ro­ches nicht ei­fer­süch­tig zu sein, der Mal­vi­na so eif­rig den Hof mach­te, als hof­fe er, mit ei­ner Mit­gift, die ver­mut­lich min­des­tens fünf­zig Ta­ler be­tra­gen dürf­te, sein Amt be­zah­len zu kön­nen. Ob­gleich du Til­lets Gleich­gül­tig­keit Mal­vi­na tief de­mü­tig­te, lieb­te sie ihn doch zu sehr, als daß sie es über sich ge­bracht hät­te, ihn nicht mehr vor­zu­las­sen. Der Stolz die­ses Mäd­chens, das ganz See­le, ganz Emp­fin­dung war, un­ter­lag zeit­wei­se der Lie­be, zeit­wei­se ge­währ­te die be­lei­dig­te Lie­be dem Stolz die Ober­hand. Ru­hig und kühl nahm un­ser Freund Fer­di­nand die­se zärt­li­che Hin­ga­be an, sog sie ein mit dem stil­len Ent­zücken, mit dem der Ti­ger das Blut leckt, das ihm an der Schnau­ze klebt; er kam und hol­te sich die Be­wei­se oft ge­nug – es ver­gin­gen kaum zwei Tage, ohne daß er sich in der Rue Jou­bert ge­zeigt hät­te. Der Bur­sche be­saß da­mals ge­gen acht­zehn­hun­dert­tau­send Fran­ken, die Ver­mö­gens­fra­ge dürf­te also bei ihm kei­ne Rol­le ge­spielt ha­ben; aber er wi­der­stand nicht nur Mal­vi­na sel­ber, son­dern auch den Baro­nen von Nu­cin­gen und von Ras­ti­gnac, die ihn wohl täg­lich fünf­und­sieb­zig Mei­len durch das La­by­rinth ih­rer Net­ze jag­ten, die sie aus­ge­legt, um ihn ein­zu­fan­gen. Go­de­fro­id konn­te sich nicht ent­hal­ten, sei­ner zu­künf­ti­gen Schwä­ge­rin Vor­hal­tun­gen zu ma­chen, in welch lä­cher­li­cher Lage sie sich da be­fin­de – zwi­schen dem Ban­kier und dem An­walt. ›Sie wol­len mir we­gen Fer­di­nand eine Pre­digt hal­ten,‹ sag­te sie in schö­ner Of­fen­heit, ›möch­ten das Ge­heim­nis ken­nen ler­nen, das zwi­schen uns be­steht? Lie­ber Go­de­fro­id, kom­men Sie nie wie­der dar­auf zu­rück! Die Ge­burt Fer­di­n­ands, sei­ne Ah­nen, sein Ver­mö­gen schlie­ßen es aus, daß … Neh­men Sie also einen Aus­nah­me­fall an!‹ Ei­ni­ge Tage spä­ter aber nahm Mal­vi­na Beau­den­ord bei­sei­te und sag­te zu ihm: ›Ich hal­te Des­ro­ches für kei­nen an­stän­di­gen Men­schen‹ (wie scharf ist doch der In­stinkt der Lie­be!), ›er be­wirbt sich um mich und macht da­bei der Toch­ter ei­nes Dro­gis­ten den Hof. Ich wüß­te gern, ob ich ge­wis­ser­ma­ßen sein Not­na­gel bin, ob die Ehe für ihn eine Geldan­ge­le­gen­heit ist.‹ Trotz sei­ner Ge­rie­ben­heit konn­te Des­ro­ches du Til­let nicht durch­schau­en, und er fürch­te­te, die­ser wer­de Mal­vi­na hei­ra­ten. So hat­te der gute Jun­ge sich einen Rück­zug of­fen ge­hal­ten; sei­ne Lage war un­er­träg­lich, er brach­te kaum die Zin­sen sei­ner Schuld auf. Die Wei­ber ver­ste­hen nichts von die­sen Din­gen. Das Herz ist für sie im­mer Mil­lio­när!«

»Da aber we­der Des­ro­ches noch du Til­let Mal­vi­na ge­hei­ra­tet ha­ben, so bist du uns die Er­klä­rung für Fer­di­n­ands Ge­heim­nis schul­dig,« sag­te Fi­not. »Also das Ge­heim­nis!« er­wi­der­te Bi­xiou. »All­ge­mei­ne Re­gel: ein jun­ges Mäd­chen, das ein ein­zi­ges Mal ei­nem Man­ne sei­nen Schuh ge­ge­ben, wird, und wenn sie ihn auch für die Fol­ge zehn Jah­re lang ver­wei­ger­te, nie­mals von dem ge­hei­ra­tet, der …«

»Dumm­heit!« fiel ihm Blon­det ins Wort, »man liebt ge­ra­de­so, weil man schon ge­liebt hat. Das gan­ze Ge­heim­nis ist so! All­ge­mei­ne Re­gel: Hei­ra­tet nicht als Un­ter­of­fi­zier, wenn ihr Ge­le­gen­heit habt, Her­zog von Dan­zig und Mar­schall von Frank­reich zu wer­den! Seht doch, wel­che Ver­bin­dung du Til­let ein­ge­gan­gen ist! Er hat eine der Töch­ter des Gra­fen von Gran­ville ge­hei­ra­tet, und die Gran­ville sind eine der äl­tes­ten Fa­mi­li­en in der fran­zö­si­schen Be­am­ten­welt,«

»Des­ro­ches’ Mut­ter hat­te eine Freun­din,« fuhr Bi­xiou fort, »die Frau ei­nes Dro­gis­ten, der sich mit ei­nem fet­ten Ver­mö­gen in den Ru­he­stand be­ge­ben hat­te. Die­se Dro­gis­ten ha­ben recht ab­ge­schmack­te Ide­en: um sei­ner Toch­ter eine gute Er­zie­hung zu ge­ben, hat­te er sie in ein Pen­sio­nat ge­tan! Be­sag­ter Ma­ti­fat ge­dach­te sei­ne Toch­ter gut zu ver­hei­ra­ten, und zwar mit Hil­fe von zwei­hun­dert­tau­send Fran­ken in gu­tem Gel­de, das nicht nach den vä­ter­li­chen Spe­ze­rei­en duf­te­te.«

»Der Ma­ti­fat von Flo­ri­ne?« frag­te Blon­det. »Nun ja, von Lous­teau, un­ser Ma­ti­fat! Die Ma­ti­fat, die jetzt für uns ver­lo­ren sind, hat­ten sich in der Rue du Cher­che-Midi nie­der­ge­las­sen, in dem der Rue des Lom­bards, wo sie ihr Ver­mö­gen er­wor­ben, ent­ge­gen­ge­setz­ten Stadt­teil. Ich habe die Ma­ti­fat oft be­sucht! Wäh­rend mei­nes mi­nis­te­ri­el­len Ga­lee­ren­diens­tes, wo ich acht Stun­den am Tag mit Tröp­fen von zwei­und­zwan­zig Ka­rat zu­sam­men­ge­pfercht saß, habe ich Ori­gi­na­le ge­trof­fen, die mir die Über­zeu­gung bei­brach­ten, wie nütz­lich die­ser und je­ner sei­nem Mit­menschen wer­den kann. Mut­ter Des­ro­ches hat­te die­se Ehe für ih­ren Sohn von lan­ger Hand vor­be­rei­tet, un­ge­ach­tet ei­nes be­denk­li­chen Hin­der­nis­ses in Ge­stalt ei­nes ge­wis­sen Co­chin, Sohn des stil­len Teil­ha­bers der Ma­ti­fat und Be­am­ter im Finanz­mi­nis­te­ri­um. In den Au­gen von Herrn und Frau Ma­ti­fat schi­en der Ad­vo­ka­ten­be­ruf ›für das Glück der Toch­ter ge­wis­se Ga­ran­ti­en zu bie­ten‹, so sag­ten sie wört­lich. Des­ro­ches hat­te sich für die Plä­ne sei­ner Mut­ter her­ge­ge­ben, well er einen Not­na­gel brauch­te. Er um­kreis­te also die Dro­gis­ten­fa­mi­lie aus der Rue du Cher­che-Midi. Um euch eine an­de­re Art von Glück be­greif­lich zu ma­chen, müß­te man euch die­se bei­den al­ten Han­dels­leu­te zeich­nen, wie sie da be­se­ligt ih­res klei­nen Gar­tens pfleg­ten, eine hüb­sche Par­terre­woh­nung in­ne­hat­ten und sich an ei­nem Spring­brun­nen er­götz­ten, des­sen äh­ren­dün­ner Was­ser­strahl be­stän­dig auf und ab stieg in­mit­ten ei­nes Kalk­stein­be­ckens von sechs Fuß Durch­mes­ser, wie sie früh­zei­tig auf­stan­den, um zu se­hen, ob die Blu­men im Gar­ten sproß­ten, ar­beits­los und rast­los sich an- und um­klei­de­ten, sich im Thea­ter lang­weil­ten und im­mer zwi­schen Pa­ris und Luzar­ches hin und her pen­del­ten; denn hier be­sa­ßen sie ein Land­haus, in dem auch ich sie be­sucht habe. Hör zu, Blon­det! Ei­nes Ta­ges woll­ten sie mich auf­zie­hen, ich soll­te ih­nen was er­zäh­len. Da tisch­te ich ih­nen denn einen Rat­ten­kö­nig von Aben­teu­ern auf, von abends neun Uhr bis Mit­ter­nacht! Ich war ge­ra­de bei der Ein­füh­rung mei­ner neun­zehn­ten Per­son (die Feuil­le­ton-Ro­man­schrei­ber könn­ten von mir ler­nen!), als Va­ter Ma­ti­fat, der sich als Haus­herr ver­pflich­tet ge­fühlt, Hal­tung zu be­wah­ren, gleich den an­dern in Schnar­chen ver­fiel. Am an­dern Tag ha­ben sie mich alle zu der hüb­schen Schluß­poin­te mei­ner Ge­schich­te be­glück­wünscht. Un­se­re Dro­gis­ten hat­ten zum Ver­kehr Herrn und Frau Co­chin, Adolph Co­chin, Frau Des­ro­ches und einen ge­wis­sen Po­pi­not, Dro­gis­ten­lehr­ling, der ih­nen die Neu­ig­kei­ten aus der Rue des Lom­bards brach­te – üb­ri­gens ein Be­kann­ter von dir, Fi­not! – Frau Ma­ti­fat, die für Kunst et­was üb­rig hat­te, kauf­te Li­tho­gra­phien, far­bi­ge Stein­dru­cke, ko­lo­rier­te Zeich­nun­gen, al­les der­ar­ti­ge, was bil­lig zu ha­ben war. Herr Ma­ti­fat un­ter­hielt sich da­mit, alle neu­en Un­ter­neh­mun­gen zu prü­fen und zu ver­fol­gen und ein we­nig zu spe­ku­lie­ren, um das Blut et­was in Be­we­gung zu brin­gen. Mit ei­nem Wort kann ich euch mei­nen Ma­ti­fat vor Au­gen stel­len. Der Gute wünsch­te sei­nen Nich­ten auf fol­gen­de Wei­se gute Nacht: ›Geht schla­fen, mei­ne Nich­ten!‹ Er sag­te, er fürch­te sie zu be­lei­di­gen, falls er sie ›Sie‹ nen­ne. Ihre Toch­ter war ein un­ge­bil­de­tes jun­ges Mäd­chen, die aus­sah wie eine bes­se­re Kam­mer­zo­fe; sie konn­te schlecht und recht eine So­na­te her­un­ter­spie­len, hat­te eine nied­li­che Hand­schrift, be­herrsch­te ihre Mut­ter­spra­che und auch die Or­tho­gra­phie, kurz­um, sie hat­te eine echt bür­ger­li­che Er­zie­hung ge­nos­sen. Sie war vol­ler Un­ge­duld, sich zu ver­hei­ra­ten, um das Va­ter­haus ver­las­sen zu kön­nen, in dem sie sich lang­weil­te wie ein Ma­ri­ne­of­fi­zier auf der Nacht­wa­che; ihre Wa­che aber dau­er­te den gan­zen Tag. Des­ro­ches oder Co­chin Sohn, ein No­tar oder ein Gar­de­of­fi­zier, ja selbst ein falscher Lord – je­der wäre ihr als Gat­te recht ge­we­sen. Da sie er­sicht­lich nichts vom Le­ben wuß­te, hat­te ich Mit­leid mit ihr und woll­te ihr das große Ge­heim­nis of­fen­ba­ren. Pah! die Ma­ti­fat ha­ben mir ihre Tür ver­schlos­sen: die Spieß­bür­ger und ich – wir wer­den uns nie­mals ver­ste­hen!«

»Sie hat den Ge­ne­ral Gou­raud ge­hei­ra­tet,« sag­te Fi­not. »In achtund­vier­zig Stun­den hat­te Go­de­fro­id von Beau­den­ord, der Ex­di­plo­mat, die Ma­ti­fat und ihre Rän­ke durch­schaut,« fuhr Bi­xiou fort. »Zu­fäl­lig be­fand sich ein­mal Ras­ti­gnac zum Plau­dern bei der klei­nen Baro­nin; er saß be­hag­lich beim Ka­min, wäh­rend Go­de­fro­id Mal­vi­na Be­richt er­stat­te­te. Aus ein paar Wor­ten, die ge­le­gent­lich an sein Ohr schlu­gen, er­riet er, um was es sich hand­le, be­son­ders auch an Mal­vinas be­frie­dig­ter Mie­ne. Ras­ti­gnac, den man einen Egois­ten nennt, blieb bis zwei Uhr mor­gens dort. Beau­den­ord ging, als die Baro­nin sich schla­fen leg­te. ›Lie­bes Kind,‹ wand­te Ras­ti­gnac sich an Mal­vi­na, und er sprach in bie­derm, vä­ter­li­chem Tone, ›ich ar­mer Jun­ge bin trotz mei­ner großen Schläf­rig­keit bis zwei Uhr hier sit­zen ge­blie­ben, nur um Ih­nen den Rat ans Herz zu le­gen: Hei­ra­ten Sie! Spie­len Sie nicht die Emp­find­li­che, las­sen Sie über­haupt Ihre Ge­füh­le bei­sei­te und sei­en Sie nach­sich­tig ge­gen die un­ed­le, be­rech­nen­de Art der Män­ner, die einen Fuß hier und einen bei der Ma­ti­fat ha­ben, den­ken Sie an nichts: Hei­ra­ten Sie! Wenn ein jun­ges Mäd­chen hei­ra­tet, so hat es je­man­den ge­fun­den, der ihm ein mehr oder we­ni­ger glück­li­ches Le­ben bie­tet, je­den­falls aber sie ma­te­ri­ell ver­sorgt. Ich ken­ne die Welt: jun­ge Mäd­chen, Müt­ter und Groß­müt­ter, alle wis­sen sie zu heu­cheln und das Ge­fühl bei­sei­te­zu­set­zen, wenn es sich um eine Hei­rat han­delt. Kei­ne denkt an et­was an­de­res als eine an­ge­neh­me ge­sell­schaft­li­che Stel­lung. Hat sie ihre Toch­ter gut ver­hei­ra­tet, so sagt jede Mut­ter, sie habe ein aus­ge­zeich­ne­tes Ge­schäft ge­macht.‹ Und Ras­ti­gnac ent­wi­ckel­te ihr sei­ne Theo­rie über die Ehe, die er eine Han­dels­ge­sell­schaft, ge­grün­det um das Le­ben er­träg­lich zu ma­chen, nann­te. ›Ich ver­lan­ge nicht, Ihr Her­zens­ge­heim­nis zu er­fah­ren,‹ schloß er sei­nen Vor­trag, ›ich ken­ne es. Die Män­ner sa­gen ein­an­der al­les, ge­ra­de wie ihr Frau­en, wenn ihr nach dem Di­ner eure Be­su­che macht. Hier also mein letz­tes Wort: Hei­ra­ten Sie! Wenn Sie nicht hei­ra­ten, so den­ken Sie dar­an, wie ich Sie heu­te abend hier be­schwo­ren habe, es zu tun!‹ Ras­ti­gnac be­ton­te sei­ne Wor­te so be­deu­tungs­voll, daß sie zum Nach­den­ken an­reg­ten. Sei­ne Ein­dring­lich­keit hat­te et­was Ver­wun­der­li­ches. Ras­ti­gnacs Rede hat­te Mal­vi­na ge­ra­de da ge­packt, wo er es ge­wollt; ihr Ver­stand horch­te auf, und noch an­dern Tags dach­te sie über sei­ne Wor­te nach und such­te ver­geb­lich die Grün­de für die­sen wohl­mei­nen­den Rat.«

»Du läßt im­mer wie­der einen neu­en Krei­sel vor un­se­ren Au­gen tan­zen, aber ich sehe dar­in nichts, was mit dem Ur­sprung von Ras­ti­gnacs Ver­mö­gen et­was zu tun hät­te; du be­han­delst uns als Ma­ti­fats und kos­test uns schon sechs Fla­schen Cham­pa­gner!« rief Cou­ture. »Jetzt sind wir so weit,« er­wi­der­te Bi­xiou. »Ihr habt den Lauf all der klei­nen Bäch­lein ver­folgt, die die vier­zig­tau­send Li­vres Ren­te tra­gen, um die so vie­le Leu­te ihn be­nei­den. Ras­ti­gnac hielt also die Fä­den al­ler die­ser Schick­sa­le in Hän­den.«

»Des­ro­ches, die Ma­ti­fat, Beau­den­ord, die d’Ald­rig­ger; d’Ai­gle­mont?«

»Und hun­dert an­de­re! …« sag­te Bi­xiou, »Laß se­hen, wie­so?« frag­te Fi­not. »Ich weiß gar man­ches, aber die­ses Rät­sels Auf­lö­sung ken­ne ich nicht.«

»Blon­det hat euch in großen Zü­gen die zwei ers­ten Li­qui­da­tio­nen Nu­cin­gens ge­nannt, hier jetzt aus­führ­lich die drit­te,« ent­geg­ne­te Bi­xiou. »Seit dem Frie­den von 1815 hat­te Nu­cin­gen be­grif­fen, was wir erst heu­te wis­sen: daß Geld erst dann eine Macht ist, wenn es in un­be­grenz­ten Men­gen vor­han­den ist. Er be­nei­de­te ins­ge­heim die Brü­der Roth­schild. Er be­saß fünf Mil­lio­nen, er woll­te zehn be­sit­zen! Mit zehn Mil­lio­nen hät­te er es ver­stan­den, drei­ßig zu ge­win­nen, mit fünf aber wür­de er es nur auf fünf­zehn brin­gen. Er hat­te also be­schlos­sen, eine drit­te Li­qui­da­ti­on in Sze­ne zu set­zen. Der große Mann ge­dach­te, das Geld sei­ner Gläu­bi­ger zu be­hal­ten und sie mit künst­lich in die Höhe ge­trie­be­nen Pa­pie­ren ab­zu­fin­den. An der Bör­se wird ein der­ar­ti­ger Ein­fall na­tür­lich nicht so klar be­zeich­net. Eine sol­che Li­qui­da­ti­on be­steht dar­in, den großen Kin­dern für einen Louis­dor eine klei­ne Pas­te­te zu ver­ab­rei­chen, wie die­sel­ben Leu­te als Kin­der für ihr Geld­stück eine Pas­te­te ha­ben woll­ten, ohne zu wis­sen, daß sie für das­sel­be Geld­stück zwei­hun­dert hät­ten be­kom­men kön­nen.«

»Was re­dest du da, Bi­xiou?« rief Cou­ture, »aber nichts ist doch red­li­cher als das! Es ver­geht heut­zu­ta­ge kei­ne Wo­che, ohne daß man der Men­ge eine Pas­te­te an­bie­tet und einen Louis da­für ver­langt. Ja, ist denn die Men­ge ge­zwun­gen, ihr Geld her­zu­ge­ben? Hat sie nicht das Recht, sich Klar­heit zu ver­schaf­fen?«, »Also«, fuhr Bi­xiou fort, »Nu­cin­gen hat­te zwei­mal, ohne es zu wol­len, das Glück ge­habt, eine Pas­te­te zu ver­ab­rei­chen, die sich spä­ter als wert­vol­ler er­wies als der da­für ge­zahl­te Preis. Die­ser em­pö­ren­de Glücks­fall reu­te ihn. Der­ar­ti­ge Glücks­fäl­le ver­mö­gen einen Men­schen um­zu­brin­gen. Seit zehn Jah­ren war­te­te er auf die Ge­le­gen­heit, den Irr­tum wie­der gutz­u­ma­chen, Ak­ti­en zu schaf­fen, die an­schei­nend et­was wert sei­en und die …«

»Ja, wenn du das Bank­we­sen so dar­stellst,« sag­te Cou­ture, »so ist über­haupt je­des Ge­schäft un­mög­lich. Mehr als ein red­li­cher Ban­kier hat im Ein­ver­ständ­nis mit ei­ner red­li­chen Re­gie­rung die schlaues­ten Bör­sia­ner da­hin ge­bracht, Ak­ti­en zu kau­fen, die in ge­ge­be­ner Zeit wert­los be­fun­den wur­den. Ihr habt schon an­de­res ge­se­hen! Hat man nicht mit Ein­ver­ständ­nis, ja Un­ter­stüt­zung der Re­gie­run­gen Wer­te in Um­lauf ge­setzt, um die Zin­sen ge­wis­ser Sum­men auf­zu­brin­gen, um den Kurs auf die­se Wei­se zu hal­ten und die Pa­pie­re los zu wer­den? Die­se Maß­nah­men ha­ben mehr oder we­ni­ger Ähn­lich­keit mit der Li­qui­da­ti­on à la Nu­cin­gen.«

»Im klei­nen«, sag­te Blon­det, »kann die Sa­che selt­sam schei­nen; im großen be­trie­ben ist sie hohe Po­li­tik. Es gibt will­kür­li­che Hand­lun­gen, die beim ein­zel­nen straf­bar sind, die aber nichts be­deu­ten, so­bald sie auf eine Mehr­heit aus­ge­dehnt sind, gleich­wie ein Trop­fen Blau­säu­re in ei­nem Was­ser­kü­bel un­schäd­lich ist. Ihr tö­tet einen Men­schen, man rich­tet euch hin; der Staat aber tö­tet aus ir­gend­ei­ner Über­zeu­gung her­aus fünf­hun­dert Men­schen – man ach­tet das po­li­ti­sche Ver­bre­chen. Ihr nehmt aus mei­nem Schreib­tisch fünf­tau­send Fran­ken, man schickt euch ins Ba­gno; schmiert ihr aber tau­send Ban­kiers ge­schickt den Ho­nig ir­gend­ei­nes Ge­win­nes ums Maul, so zwingt ihr sie, die Pa­pie­re von ich weiß nicht wel­cher ver­krach­ten Re­pu­blik oder Mon­ar­chie zu neh­men, Pa­pie­re, die, wie Cou­ture sag­te, aus­ge­wor­fen wur­den, um die Zin­sen eben­die­ser Pa­pie­re zu be­zah­len: nie­mand kann sich be­kla­gen. Da habt ihr die wah­ren Grund­sät­ze des gol­de­nen Zeit­al­ters, in dem wir le­ben!«

»Das In-Gang-brin­gen ei­nes so aus­ge­dehn­ten Ap­pa­ra­tes«, fuhr Bi­xiou fort, »ver­lang­te eine Men­ge Hans­wurs­te. Zu­nächst – denn jede Li­qui­da­ti­on muß be­grün­det sein – hat­te das Bank­haus Nu­cin­gen mit Ab­sicht und Vor­be­dacht sei­ne fünf Mil­lio­nen bei ir­gend­ei­nem ame­ri­ka­ni­schen Un­ter­neh­men an­ge­legt, das, wie man wei­se be­rech­net hat­te, erst viel spä­ter einen Ge­winn ab­warf. Man hat­te sich also ab­sicht­lich sei­ner Bar­mit­tel ent­blö­ßt. Das Bank­haus be­saß an Pri­vat­gel­dern und emit­tier­ten Wer­ten etwa sechs Mil­lio­nen. Un­ter den Pri­vat­gel­dern be­fan­den sich die drei­hun­dert­tau­send Fran­ken der Baro­nin d’Ald­rig­ger, die vier­hun­dert­tau­send von Beau­den­ord, eine Mil­li­on von d’Ai­gle­mont, drei­hun­dert­tau­send Fran­ken von Ma­ti­fat, eine hal­be Mil­li­on von Charles Gran­det, dem Gat­ten des Fräu­leins d’Au­bri­on, usw. Wenn er selbst ein in­dus­tri­el­les Ak­ti­en­un­ter­neh­men grün­de­te, mit des­sen Ak­ti­en er sei­ne Gläu­bi­ger durch mehr oder min­der ge­schick­te Schach­zü­ge ab­zu­fin­den ge­dach­te, so hät­te Nu­cin­gen durch­schaut wer­den kön­nen; aber er fing die Sa­che schlau­er an: er ließ einen an­dern den Grün­der spie­len! … Nu­cin­gens Haupt­stär­ke ist, die ge­schick­tes­ten Leu­te am Plat­ze sei­nen Plä­nen dienst­bar zu ma­chen, doch ohne sie ih­nen kund­zu­tun. Nu­cin­gen ließ also vor du Til­let die glän­zen­de Idee ver­lau­ten, ein Ak­ti­en­un­ter­neh­men zu grün­den, des­sen Ka­pi­tal be­deu­tend ge­nug sei, um den Ak­tio­nären in der ers­ten Zeit sehr hohe Zin­sen ein­zu­brin­gen. Wenn man die­se Pa­pie­re ge­ra­de dann auf den Markt wür­fe, wenn flüs­si­ges Ka­pi­tal im Über­fluß vor­han­den, so wür­de für die Ak­ti­en eine Haus­se er­fol­gen und da­mit selbst­re­dend auch eine gute Ein­nah­me für den Ban­kier, der sie emit­tier­te. Be­denkt, es war im Jah­re 1826! Ob­gleich die­ser eben­so ge­nia­le wie ein­träg­li­che Plan du Til­let reiz­te, so sag­te er sich den­noch, daß es, falls das Un­ter­neh­men fehl­schlü­ge, auch einen Rein­fall ge­ben muß­te. Er be­schloß also, der neu­en Han­dels­ma­schi­ne einen weit­hin sicht­ba­ren Lei­ter zu ge­ben. Heu­te kennt ihr alle das Ge­heim­nis des Hau­ses Cla­paron, das – eine sei­ner schöns­ten Er­fin­dun­gen – von du Til­let ge­grün­det wur­de! …«

»Ja,« sag­te Blon­det, »der ver­ant­wort­li­che Her­aus­ge­ber der Finan­zen, der ›Spit­zel‹ und Prü­gel­kna­be in ei­ner Per­son; heu­te aber sind wir noch ge­wit­zig­ter, wir schrei­ben: Man wen­de sich an den ›Ver­wal­tungs­aus­schuß‹, Stra­ße …, Num­mer …, dort fin­det dann das Pub­li­kum wür­di­ge Be­am­te in grü­nen Müt­zen und ist be­frie­digt.«

»Nu­cin­gen hat­te das Haus Charles Cla­paron mit all sei­nem Kre­dit ge­stützt,« fuhr Bi­xiou fort. »Man konn­te stets un­be­sorgt eine Mil­li­on Pa­pie­re Cla­paron auf den Markt wer­fen. Du Til­let schlug also vor, sein Bank­haus Cla­paron vor­zu­schie­ben. Ein­ver­stan­den! 1825 wa­ren die Ak­tio­näre noch nicht von ge­werb­li­chen Ein­fäl­len ge­plagt. Der ›täg­li­che Um­satz‹ war ih­nen un­be­kannt! Die Ge­schäfts­füh­rer ver­pflich­te­ten sich nicht, ihre wohl­tä­ti­gen Ak­ti­en nicht in Um­satz zu brin­gen, sie hin­ter­leg­ten nichts bei der Bank und ga­ben kei­ner­lei Ga­ran­tie. Man wag­te nicht, die Kom­man­dit­ge­sell­schaft an­zu­prei­sen, in­dem man dem Ak­tio­när na­he­leg­te, daß man die Güte habe, nicht mehr als tau­send oder fünf­hun­dert oder gar nur zwei­hun­dert Fran­ken von ihm zu for­dern! Man ver­öf­fent­lich­te nicht, daß der Ver­such ›in aere pu­bli­co‹ nur sie­ben oder fünf oder gar drei Jah­re dau­ern und die Auf­lö­sung dar­um nicht lan­ge auf sich war­ten las­sen wer­de. Die Kunst steck­te noch in den Kin­der­schu­hen! Man hat­te nicht ein­mal die Öf­fent­lich­keit durch jene Rie­sen­an­zei­gen an­zu­lo­cken ge­sucht, mit de­nen man die Phan­ta­sie reizt und al­ler Welt Geld ab­ver­langt …«

»Das ge­schieht, wenn kei­ner et­was her­ge­ben will,« sag­te Cou­ture. »Kurzum, in die­ser Art Un­ter­neh­mun­gen herrsch­te noch nicht die Kon­kur­renz von heu­te,« fuhr Bi­xiou fort. »Die Papp- und Kattun­fa­bri­kan­ten, die Blei­gie­ßer, die Thea­ter und die Zei­tun­gen rauf­ten sich nicht um die Ak­tio­näre wie gie­ri­ge Hun­de um einen Kno­chen. Die net­ten, so harm­los an­ge­zeig­ten Ak­ti­en gin­gen nur ganz ver­schämt in den stills­ten Win­keln der Bör­se. Sie gin­gen pia­no, pia­no in­fol­ge flüch­ti­ger, von Ohr zu Ohr ge­flüs­ter­ter Be­mer­kun­gen über die gute, si­che­re Sa­che. Sie fin­gen den Ak­tio­när nur so ne­ben­bei – zu Hau­se, an der Bör­se oder in Ge­sell­schaft – durch das ge­schickt in die Welt ge­setz­te Ge­re­de, das sach­te an­wuchs zu ei­nem Tut­ti ei­ner vier­stel­li­gen Zahl im Kurs­zet­tel …«

»Wir sind zwar un­ter uns und brau­chen kein Blatt vor den Mund zu neh­men,« sag­te Cou­ture, »trotz­dem möch­te ich auf das eben Ge­sag­te noch zu­rück­kom­men.«

»Man merkt die Ab­sicht und wird ver­stimmt!« sag­te Fi­not. »Fi­not kommt im­mer klas­sisch,« be­merk­te Blon­det. »Ja, ich bin ver­stimmt,« nahm Cou­ture wie­der das Wort. »Ich be­haup­te, daß die neue Metho­de be­deu­tend we­ni­ger heim­tückisch, we­ni­ger mör­de­risch ist als die alte, viel­mehr ehr­lich und bie­der. Die öf­fent­li­chen Kund­ma­chun­gen ge­stat­ten ein Prü­fen und Über­le­gen. Wird ein Ak­tio­när ge­won­nen, so ist er aus frei­en Stücken ge­kom­men, man hat ihm nicht die Kat­ze im Sack ver­kauft. Die In­dus­trie …«

»Hal­lo, da hät­ten wir ja die In­dus­trie!« rief Bi­xiou. »Die In­dus­trie ge­winnt da­bei,« fuhr Cou­ture fort, ohne den Ein­wurf zu be­ach­ten. »Der Staat, der sich in die Han­dels­ge­schäf­te ein­mischt und ih­nen kei­ne freie Ent­wick­lung gönnt, be­geht eine kost­spie­li­ge Dumm­heit: das führt stets zu un­er­hör­ten Preis­s­tei­ge­run­gen oder zum Mo­no­pol. Nach mei­nem Da­für­hal­ten gibt es nichts den Grund­sät­zen der Han­dels­frei­heit Ent­spre­chen­de­res, als eben die Ak­ti­en­ge­sell­schaf­ten! Da­ran rüh­ren, hie­ße eine un­ver­ant­wort­li­che Ese­lei be­ge­hen. Bei je­dem Ge­schäft steht der Ge­winn im ent­spre­chen­den Ver­hält­nis zum Ein­satz! Was geht es den Staat an, auf wel­che Wei­se das Geld ins Rol­len kommt; wenn es nur in be­stän­di­ger Be­we­gung bleibt. Was be­deu­tet es, daß die­ser reich und je­ner arm ist; wenn nur stets die glei­che An­zahl Steu­er­pflich­ti­ger vor­han­den ist. Üb­ri­gens sind es nun zwan­zig Jah­re, daß die Ak­ti­en-, die Kom­man­dit­ge­sell­schaf­ten im han­dels­tüch­tigs­ten Lan­de der Welt üb­lich sind – in Eng­land, wo al­les an­ge­foch­ten wird, wo die Par­la­men­te in je­der Ses­si­on zwölf­hun­dert Ge­set­ze aus­brü­ten, und wo sich den­noch nie­mals ein Mit­glied des Par­la­ments er­ho­ben hat, um ge­gen die Metho­de …«

»Die Heil­me­tho­de der vol­len Kas­sen los­zu­zie­hen,« sag­te Bi­xiou; »jaja, die Eng­län­der sind große Freun­de von Ge­mü­se, von Karot­ten5 be­son­ders!«

»Laßt se­hen!« rief Cou­ture ent­flammt. »Ihr habt zehn­tau­send Fran­ken, ihr kauft da­für zehn Ak­ti­en von zehn ver­schie­de­nen Un­ter­neh­men. Ihr seid neun­mal her­ein­ge­fal­len … (Das gibts üb­ri­gens nicht, denn das Pub­li­kum ist schlau und vor­sich­tig, aber ich neh­me es also an!) Nun seht, der Spie­ler, der sei­ne Mas­sen so klug zu ver­tei­len ver­stand, trifft un­er­war­te­ter­wei­se auf eine ganz präch­ti­ge An­la­ge, wie es al­len de­nen er­ging, die Wort­schi­ner Mi­nen­ak­ti­en kauf­ten. Ge­ste­hen wir es uns doch ein, Freun­de: die Leu­te, die sich be­kla­gen, sind Heuch­ler, die sich är­gern, weil sie we­der einen güns­ti­gen Ein­fall ha­ben, noch die Gabe, ihn in Sze­ne zu set­zen, noch die Ge­schick­lich­keit, ihn aus­zu­beu­ten. Der Be­weis wird nicht auf sich war­ten las­sen. Über kurz wer­det ihr die Ari­sto­kra­tie, die Hofleu­te und Mi­nis­ter in ge­schlos­se­nen Ko­lon­nen her­ab­stei­gen se­hen in das La­ger der Spe­ku­la­ti­on, und sie wer­den noch krum­me­re Fin­ger ma­chen und noch ver­rück­tere Ein­fäl­le ha­ben als wir, ohne doch un­se­re Er­fah­rung und Über­le­gen­heit zu be­sit­zen. Welch ein Kopf ge­hört dazu, um in ei­ner Zelt, da die Hab­sucht der Ak­tio­näre der der Grün­der gleich­kommt, et­was Ge­winn­brin­gen­des zu er­fin­den und durch­zu­füh­ren! Welch eine sug­ge­s­ti­ve Macht muß doch der Mann be­sit­zen, der einen Cla­paron ›hoch­bring­t‹ und im­mer neu­en Rat weiß! Wollt ihr die Moral von al­le­dem wis­sen? Un­se­re Zeit ist nicht mehr wert als wir sel­ber! Wir le­ben in ei­ner hab­gie­ri­gen Zeit, in der man dem Wert der Din­ge nicht nach­fragt, wenn man nur da­bei et­was ge­win­nen kann!«

»Der Cou­ture ist präch­tig, wirk­lich präch­tig!« sag­te Bi­xiou zu Blon­det; »er wird noch ver­lan­gen, daß man ihm, als dem Wohl­tä­ter der Mensch­heit, ein Denk­mal setzt.«

»Man müß­te ihn da­hin brin­gen, den Schluß zu zie­hen, daß das Geld der Dum­men nach gött­li­chem Recht das Erb­teil der Geist­vol­len ist,« sag­te Blon­det. »Kin­der,« fuhr Cou­ture fort, »laßt uns hier ein­mal la­chen über all den Ernst, mit dem wir sonst an­zu­hö­ren pfle­gen, daß man die will­kür­lichs­ten Ge­set­ze hei­lig spricht.«

»Er hat recht. Welch eine Zeit, mei­ne Freun­de,« sag­te Blon­det, »in der das Feu­er der In­tel­li­genz, kaum daß es er­scheint, so­fort mit­tels ir­gend­ei­nes Ge­set­zes aus­ge­löscht wird! Die Ge­setz­ge­ber, die fast alle aus der Pro­vinz stam­men, wo sie die mensch­li­che Ge­sell­schaft nach den Zei­tungs­be­rich­ten stu­dier­ten, sper­ren das Feu­er ge­walt­sam in die Ma­schi­ne zu­rück. Wenn die­se dann ex­plo­diert, so gibt es Trä­nen und Zäh­ne­knir­schen! Eine Zeit, in der es we­der po­li­zei­li­che noch staat­li­che Ge­set­ze gäbe! Wollt ihr den Auss­pruch hö­ren, der die Er­eig­nis­se be­grün­det? Es ist kei­ne Re­li­gi­on mehr im Staat!«

»Ah!« rief Bi­xiou, »bra­vo, Blon­det! Du hast den Fin­ger in Frank­reichs Wun­de ge­legt: das Fis­kal­we­sen, das un­serm Lan­de mehr Erobe­run­gen weg­ge­nom­men hat als die Pla­cke­rei­en des Krie­ges! Im Mi­nis­te­ri­um, wo ich sie­ben Jah­re Ga­lee­ren­diens­te tat, mit Spieß­bür­gern an eine Bank ge­schmie­det, gab es einen be­gab­ten Be­am­ten, der be­schlos­sen hat­te, das gan­ze Finanz­sys­tem zu re­or­ga­ni­sie­ren … Ja­wohl, den ha­ben wir schön vor die Tür ge­setzt! Frank­reich wäre zu glück­lich ge­wor­den, es hät­te sich er­dreis­tet, Eu­ro­pa zu­rück­zu­er­obern, und wir sorg­ten für die Ruhe der Na­tio­nen. Ich brach­te Ra­bour­die durch eine Ka­ri­ka­tur um!« (Sie­he ›Der Be­am­te‹!) »Wenn ich das Wort ›Re­li­gion‹ an­wen­de, so mei­ne ich da­mit nicht die Fröm­me­lei, son­dern hohe Po­li­tik,« er­gänz­te Blon­det, »Sprich deut­li­cher!« sag­te Fi­not.

»Also«, fuhr Blon­det fort, »die Af­fä­re von Lyon, die Ka­no­na­de in den Stra­ßen der Re­pu­blik, ist viel be­spro­chen wor­den, kei­ner sag­te die Wahr­heit. Die Re­pu­blik hat­te sich des Aufruhrs be­mäch­tigt, wie ein Auf­stän­di­scher ei­nes Ge­wehrs. Ich will euch die Wahr­heit er­zäh­len. Der Lyo­ner Han­del ist ein Han­del ohne See­le, der kei­ne Elle Sei­de her­stellt, ohne daß sie aus­drück­lich be­stellt und ihre Be­zah­lung ge­si­chert ist. Bleibt die Be­stel­lung aus, so stirbt der Ar­bei­ter Hun­gers, ver­dient er doch bei der Ar­beit kaum den Le­bens­un­ter­halt; die Sträf­lin­ge sind glück­li­cher dar­an als er. Nach der Ju­li­re­vo­lu­ti­on er­reich­te das Elend den Hö­he­grad, daß die Sei­den­ar­bei­ter die Flag­ge hiß­ten: ›Brot oder Tod!‹ ein Auf­ruf, der den Staat zum Nach­den­ken hät­te brin­gen kön­nen, denn die Kost­spie­lig­keit des Le­bens in Lyon hat­te ihn ver­an­laßt. Lyon will Thea­ter er­bau­en und Groß­stadt wer­den, da­her die un­sin­ni­gen Steu­ern. Die Re­pu­bli­ka­ner ha­ben die­sen Hun­ge­rauf­stand vor­aus­ge­ahnt, und sie ha­ben die Sei­den­ar­bei­ter or­ga­ni­siert. Lyon hat­te sei­ne drei Tage, aber al­les kam wie­der in Ord­nung und der Ar­bei­ter in sein Ker­ker­loch. Der bis da­hin red­li­che Ar­bei­ter aber, der die Sei­de, die man ihm in Ge­bin­den zu­wog, als Ge­we­be zu­rück­gab, setz­te von nun ab die Red­lich­keit bei­sei­te, denn er hat­te er­kannt, daß die Kauf­her­ren ihn aus­beu­te­ten. Er netz­te sei­ne Fin­ger mit Öl, und der fran­zö­si­sche Sei­den­markt war von fet­ti­gen Stof­fen über­schwemmt, was den Sturz Ly­ons und über­haupt des gan­zen fran­zö­si­schen Sei­den­han­dels hät­te her­bei­füh­ren kön­nen. Statt daß nun die Fa­bri­kan­ten und die Re­gie­rung die Ur­sa­che des Übels ab­schaff­ten, mach­ten sie es wie ge­wis­se schlech­te Ärz­te und sorg­ten, daß die Sa­che wie­der nach in­nen schlug! Man hät­te einen ge­eig­ne­ten Mann nach Lyon ent­sen­den müs­sen, einen je­ner Leu­te, die man un­mo­ra­lisch nennt, einen Abbé Ter­ray, aber man nahm die Sa­che von der mi­li­tä­ri­schen Sei­te! In­fol­ge der Wir­ren kam Nea­po­li­ta­ner Sei­de auf den Markt, die Elle zu vier­zig Sous. Die­se Nea­po­li­ta­ner Sei­den sind, man darf es sa­gen, heu­te ver­kauft, und die Fa­bri­kan­ten ha­ben na­tür­lich ir­gend­ei­ne Kon­trol­le ein­ge­führt. Eine der­ar­ti­ge Fa­bri­ka­ti­ons­wei­se durf­te sich in ei­nem Lan­de er­eig­nen, das einen Richard Le­noir, einen der be­deu­tends­ten Män­ner, die Frank­reich be­ses­sen, sein ei­gen nann­te. Die­ser Mann rich­te­te sich zu­grun­de, aus Ehr­geiz, sechs­tau­send Ar­bei­tern, auch ohne aus­drück­li­che Be­stel­lun­gen, Ar­beit und Nah­rung zu ver­schaf­fen; und ge­ra­de er wuß­te Mi­nis­tern zu be­geg­nen, die dumm ge­nug wa­ren, ihn 1814, bei dem Um­sturz in den Ge­we­be­prei­sen, un­ter­ge­hen zu las­sen. Da habt ihr den ein­zi­gen Fall, wo ein Kauf­mann ein Denk­mal ver­dient hät­te. Nun, der Mann ist heu­te Ge­gen­stand ei­ner Sub­skrip­ti­on ohne Sub­skri­ben­ten, ob­schon man für die Kin­der des Ge­ne­rals Foy eine Mil­li­on ge­spen­det hat. Lyon ist kon­se­quent: es kennt Frank­reich und weiß, daß es kein re­li­gi­öses Emp­fin­den, kei­ne Ge­wis­sen­haf­tig­keit hat. Die Ge­schich­te Richard Le­noirs ist ein Feh­ler, den Fouché für schlim­mer als ein Ver­bre­chen be­zeich­nen wür­de.«

»Mag sein, daß es im Ge­schäfts­le­ben schein­bar viel Schwin­de­lei­en gibt,« nahm Cou­ture die Rede da wie­der auf, wo er vor der Un­ter­bre­chung ste­hen ge­blie­ben war, »doch fra­ge ich, wo be­ginnt ei­gent­lich der Schwin­del und wo hört er auf; was ist über­haupt Schwin­del? Ein Wort, das stets zwi­schen Recht und Un­recht die Gren­ze hält und bald hier-, bald dort­hin schwankt. Tut mir die Lie­be und nennt mir einen, der kein Schwind­ler ist! Zeigt doch ein we­nig gu­ten Wil­len! Ein Han­del, der des Nachts su­chen ge­hen woll­te, was er bei Tage ver­kauft, wäre ein Un­sinn. Selbst ein Streich­holz­händ­ler hat Wu­cher­in­stink­te. Eine mög­lichst hohe Ein­nah­me! Das ist die Sehn­sucht so­wohl des als tu­gend­haft ver­schrieenen Krä­mers aus der Rue Saint-De­nis wie auch des ›fre­chen‹ Spe­ku­lan­ten. Sind die La­ger voll, so ist es nö­tig, zu ver­kau­fen. Um zu ver­kau­fen, muß man den Kun­den ein­hei­zen; da­her im Mit­tel­al­ter das Fir­men­schild und heu­te der Pro­spekt! Auch sol­che markt­schreie­ri­schen Auf­for­de­run­gen üben einen ge­wis­sen Zwang aus. Es kann, ja es muß zu­wei­len vor­kom­men, daß der Kauf­mann ver­dor­be­ne Wa­ren er­hält, denn der Ver­käu­fer über­vor­teilt den Wie­der­ver­käu­fer, so­viel er kann. Nun, wen­det euch an die acht­bars­ten Leu­te von Pa­ris, an die Spit­zen der Kauf­mann­schaft …, sie alle wer­den euch tri­um­phie­rend die List er­zäh­len, mit der sie ihre schlecht ein­ge­kauf­te Ware in Um­lauf set­zen. Die be­kann­te Fir­ma Minard mach­te mit der­ar­ti­gen Ver­käu­fen den An­fang. Die al­ler­ehr­bars­ten Kauf­leu­te wer­den mit der ehr­lichs­ten Mie­ne den Auss­pruch frechs­ter Un­red­lich­keit tun: ›Aus ei­nem schlech­ten Han­del zieht man sich her­aus, so gut es eben geht.‹ Blon­det hat euch die Er­eig­nis­se in Lyon in ih­ren Ur­sa­chen und Fol­gen ge­schil­dert; ich wer­de die An­wen­dung mei­ner Theo­rie mit ei­ner An­ek­do­te be­wei­sen. Ein mit ei­ner ge­lieb­ten Frau und vie­len Kin­dern ge­seg­ne­ter Wol­l­ar­bei­ter glaubt an die Re­pu­blik. Mein Mann kauft also rote Wol­le und ver­fer­tigt ge­strick­te Müt­zen, die ihr wohl auf den Köp­fen sämt­li­cher Pa­ri­ser Gas­sen­jun­gen ge­se­hen habt; nun hört, wie das ge­kom­men. Die Re­pu­blik ist ab­ge­tan. Nach der Af­fä­re von Saint-Mer­ri wa­ren die Müt­zen un­ver­käuf­lich. Wenn ein Ar­bei­ter sich in sei­nem Haus­halt von Weib, Kin­dern und zehn­tau­send ro­ten Woll­müt­zen um­ge­ben sieht, die ihm kein Hut­ma­cher von bei­den Ufern der Sei­ne ab­neh­men will, so ge­hen ihm eben­so­viel Ge­dan­ken durch den Kopf wie ei­nem Ban­kier, der in ei­ner fau­len Sa­che zehn Mil­lio­nen Ak­ti­en un­ter­zu­brin­gen hat. Wißt ihr, was un­ser Ar­bei­ter, un­ser Law6 der Vor­stadt, un­ser Nu­cin­gen der Müt­zen, tut? Er such­te einen Kneip­bru­der auf, so einen Witz­bold, der bei den öf­fent­li­chen Tanz­ge­le­gen­hei­ten und Schau­stücken der Schre­cken der Schutz­leu­te ist, und bat ihn, die Rol­le ei­nes Ramsch­käu­fers aus Ame­ri­ka, wohn­haft Ho­tel Mau­ri­ce, zu spie­len und bei ei­nem ge­wis­sen rei­chen Hut­ma­cher zehn­tau­send rote Woll­müt­zen zu ver­lan­gen, der in sei­ner Aus­la­ge nur noch eine ein­zi­ge be­sit­ze. Der Hut­ma­cher ver­mu­tet ein glän­zen­des Ge­schäft, läuft zu dem Ar­bei­ter und ver­sieht sich ge­gen Bar­zah­lung mit sämt­li­chen Müt­zen. Ihr be­greift: kein ame­ri­ka­ni­scher Ramsch­käu­fer mehr, aber vie­le Müt­zen! Woll­te man sol­cher un­ge­hö­ri­gen Vor­komm­nis­se we­gen die Han­dels­frei­heit an­grei­fen, so hie­ße das un­se­rer Jus­tiz den Vor­wurf ma­chen, daß es Ver­ge­hen gibt, die sie nicht ahn­det. Auch an der Bank und im Ak­ti­en­ver­kehr gibt es sol­che Müt­zen­ge­schich­ten! Nun fahrt fort!«

»Cou­ture, eine Kro­ne!« rief Blon­det aus und wand dem Red­ner sei­ne Ser­vi­et­te ums Haupt. »Ich gehe noch wei­ter, mei­ne Her­ren! Sind die Theo­ri­en von heu­te las­ter­haft – wen trifft die Schuld? Das Ge­setz! Das Ge­setz in sei­ner ge­sam­ten An­la­ge, die Ge­setz­ge­bung! Die großen Män­ner aus der Pro­vinz, die auf­ge­bla­sen von mo­ra­li­schen An­schau­un­gen hier­her­kom­men, voll wei­ser Ge­dan­ken, die für ihre Le­bens­füh­rung un­er­läß­lich sind, die sie aber ver­hin­dern, sich zu der Grö­ße auf­zu­sch­win­gen, wie ein Ge­setz­ge­ber sie ha­ben soll­te. Mag auch das Ge­setz die­se und jene Aus­schwei­fung un­ter­sa­gen (z. B. das Spiel, die Lot­te­rie, die Ni­n­ons von der Stra­ße), die Lei­den­schaft an sich wird es nie­mals aus­lö­schen. Die Lei­den­schaft tö­ten, hie­ße die Ge­sell­schaft tö­ten, die, wenn sie ers­te­re auch nicht ver­ur­sacht, sie doch zur Ent­wick­lung bringt. So hemmt man durch Vor­schrif­ten die Sucht nach dem Glückss­piel, die im Grun­de al­len Her­zen ge­mein­sam ist: dem Back­fisch wie dem Pro­vinz­jüng­ling oder dem Di­plo­ma­ten; da alle Welt Geld­ge­win­ne liebt, so ent­wi­ckelt sich das Spiel nun ein­fach in an­dern Bah­nen. Man un­ter­drückt dum­mer­wei­se das Lot­te­rie­spiel, aber die Kö­chin­nen be­steh­len ihre Herr­schaft dar­um nicht we­ni­ger, sie tra­gen ihre Er­spar­nis­se auf eine Spar­kas­se, und der Ein­satz ist eben zwei­hun­dert­fünf­zig Fran­ken an­statt vier­zig Sous, denn die in­dus­tri­el­len Un­ter­neh­mun­gen, die Kom­man­dit­ge­sell­schaf­ten, sind nun die Lot­te­rie, das Spiel, das zwar nicht am grü­nen Tisch vor sich geht, aber den­noch ein un­sicht­ba­res Glücks­rad schwingt, das durch be­rech­ne­tes Hin­schlep­pen in Be­we­gung ge­hal­ten wird. Die Spiel­sä­le sind ge­schlos­sen, die Lot­te­rie be­steht nicht mehr; da ru­fen denn die Dumm­köp­fe, Frank­reich sei mo­ra­li­scher ge­wor­den, als sei­en die Trümp­fe aus der Welt ge­schafft! Man spielt im­mer, nur daß der Ge­winn nun nicht mehr dem Staat ge­hört, der eine gern ge­ge­be­ne Ab­ga­be durch eine un­gern ge­ge­be­ne er­setzt, ohne doch den Selbst­mord zu ver­mei­den; denn stirbt jetzt auch nicht der Spie­ler, so doch sein Op­fer! Ich rede nicht vom Ka­pi­tal, das nach dem Aus­lan­de geht und für Frank­reich ver­lo­ren ist, noch von den Frank­fur­ter Lot­te­ri­en, auf de­ren Ein­füh­rung der Staat die To­dess­tra­fe ge­setzt hat­te. Da habt ihr den Sinn der blö­den Phil­an­thro­pie der Ge­setz­ge­ber. Der Ansporn, der so den Spar­kas­sen zu­teil wird, ist eine große po­li­ti­sche Dumm­heit. Ge­setzt, es er­eig­ne­te sich im Gang der Ge­schäf­te ir­gend­ei­ne Stö­rung, so hät­te die Re­gie­rung den Sturm nach dem Gel­de ge­schaf­fen, wie sie zur Zeit der Re­vo­lu­ti­on den Sturm nach dem Brot ge­zei­tigt hat. So viel Kas­sen, so viel Sturm­lauf! In ir­gend­ei­nem Win­kel pflan­zen drei Gas­sen­bu­ben eine Fah­ne auf – und schon ist eine Re­vo­lu­ti­on da. Aber die­se Ge­fahr, so groß sie auch sein mag, scheint mir we­ni­ger zu fürch­ten, als die De­mo­ra­li­sie­rung des Vol­kes. Eine Spar­kas­se ist eine Impf­an­stalt, die alle von der Ge­winn­sucht er­zeug­ten Las­ter Leu­ten ein­impft, die we­der durch Er­zie­hung noch durch Ver­nunft von ih­ren un­be­wußt ver­bre­che­ri­schen Be­rech­nun­gen zu­rück­ge­hal­ten wer­den. Das sind die Wir­kun­gen der Phil­an­thro­pie. Ein großer Po­li­ti­ker muß in sei­ner Art ein Schur­ke sein, an­dern­falls wird das Ge­mein­we­sen schlecht ge­lei­tet. Ein eh­ren­haf­ter Po­li­ti­ker wäre ei­nem Lot­sen ver­gleich­bar, der, die Hand am Steu­er­rad, ei­ner Dame die Cour schnei­det: das Schiff gin­ge dar­an zu­grun­de! Ist nicht ein Mi­nis­ter­prä­si­dent, der hun­dert Mil­lio­nen bei­sei­te­bringt und Frank­reich groß und glück­lich macht, ei­nem auf das Staats­ge­halt an­ge­wie­se­nen Mi­nis­ter, der sein Va­ter­land zu­grun­de rich­tet, vor­zu­zie­hen? Könn­te euch wirk­lich die Wahl schwe­rer fal­len zwi­schen ei­nem Ri­che­lieu, Ma­za­rin, Po­tem­kin, von de­nen je­der sich zu sei­ner Zeit mit drei­hun­dert Mil­lio­nen zu be­rei­chern wuß­te, und dem tu­gend­sa­men Ro­bert Lin­det, der we­der aus den As­si­gna­ten noch aus den Na­tio­nal­gü­tern Nut­zen zu zie­hen wuß­te? – Er­zäh­le wei­ter, Bi­xiou!«

»Ich wer­de euch die Art des Un­ter­neh­mens, das Nu­cin­gens Ge­nie er­fun­den, nicht nä­her be­schrei­ben,« ent­geg­ne­te Bi­xiou; »es wäre um so un­an­ge­brach­ter, als es noch heu­te be­steht; sei­ne Ak­ti­en no­tie­ren an der Bör­se. Die Be­rech­nun­gen wa­ren so si­cher, das gan­ze Un­ter­neh­men so le­bens­kräf­tig, daß die Ak­ti­en, die mit dem Nenn­wert von tau­send Fran­ken aus­ge­ge­ben, durch kö­nig­li­che Ver­ord­nung ein­ge­setzt, auf drei­hun­dert Fran­ken her­ab­ge­sun­ken wa­ren, wie­der auf sie­ben­hun­dert hin­auf­stie­gen, und nach­dem sie die Stür­me der Jah­re 1827, 1830 und 1832 über­stan­den, bis pari ka­men. Die fi­nan­zi­el­le Kri­se von 1827 ließ sie im Wert sin­ken, die Ju­li­re­vo­lu­ti­on drück­te sie ganz nie­der, aber die Sa­che hat­te Le­bens­kraft (Nu­cin­gen könn­te gar nicht auf eine schlech­te Idee kom­men). Kurz, da meh­re­re ers­te Bank­häu­ser sich dar­an be­tei­ligt ha­ben, wäre es un­par­la­men­ta­risch, auf wei­te­re Ein­zel­hei­ten ein­zu­ge­hen. Der Nenn­wert des Ka­pi­tals war zehn Mil­lio­nen, der rea­le sie­ben, drei Mil­lio­nen ge­hör­ten den Grün­dern und den mit der Emis­si­on der Ak­ti­en be­auf­trag­ten Ban­ken. Al­les war so be­rech­net, daß die Ak­tie in den ers­ten sechs Mo­na­ten durch Ver­tei­lung ei­ner ho­hen Schein­di­vi­den­de zwei­hun­dert Fran­ken Ge­winn brach­te; zehn Mil­lio­nen brach­ten also zwan­zig Pro­zent. Die Zin­sen, die du Til­let ein­heims­te, be­tru­gen fünf­hun­dert­tau­send Fran­ken. Nu­cin­gen be­ab­sich­tig­te, mit sei­ner aus ei­ner Hand­voll rosa Pa­pier mit Hil­fe ei­nes li­tho­gra­phi­schen Stei­nes her­ge­stell­ten Mil­li­on hüb­sche klei­ne, leicht an­zu­brin­gen­de An­teil­schei­ne zu ma­chen, die er sorg­sam in sei­nem Geld­schrank auf­be­wahr­te. Die­se re­el­len Ak­ti­en soll­ten dazu die­nen, das Ge­schäft zu be­grün­den, ein präch­ti­ges Haus zu er­bau­en und die Tä­tig­keit zu be­gin­nen. Nu­cin­gen be­schaff­te sich noch Ak­ti­en von ich weiß nicht wel­chen Blei­gru­ben und Stein­koh­len­berg­wer­ken und von zwei Kanal­bau­ten, Vor­zugs­ak­ti­en, die aus­ge­ge­ben wur­den, um die­se vier Un­ter­neh­mun­gen mit vol­ler Kraft ins Werk zu set­zen; sehr hohe und ge­such­te Ak­ti­en, de­ren Di­vi­den­de vom Ka­pi­tal ge­nom­men wur­de. Nu­cin­gen konn­te, wenn die Ak­ti­en stie­gen, auf ein Agio rech­nen; aber der Baron ließ das in sei­nen Kal­ku­la­tio­nen au­ßer acht. Er hat­te also sei­ne Ka­pi­ta­li­en in ge­schlos­se­nen Mas­sen auf­ge­stellt, wie Na­po­le­on sei­ne Trup­pen, um wäh­rend der dro­hen­den Kri­se, die in den Jah­ren 1826 und 1827 den eu­ro­päi­schen Markt be­fiel, zu li­qui­die­ren. Aber er hat­te kei­nen Ver­trau­ten, denn du Til­let soll­te ihm nicht in die Kar­ten bli­cken. Die bei­den ers­ten Li­qui­da­tio­nen hat­ten un­serm großen Baron ge­zeigt, wie nö­tig er es hat­te, einen er­ge­be­nen Men­schen zu fin­den, der bei den Gläu­bi­gern für ihn ein­trat. Nu­cin­gen hat­te kei­nen Nef­fen, kei­nen Ver­trau­ten; er be­durf­te ei­nes in­tel­li­gen­ten, wohl­er­zo­ge­nen Cla­paron, ei­nes wah­ren Di­plo­ma­ten, ei­nes Man­nes, der es wert war, Mi­nis­ter und sein Freund zu wer­den. Sol­che Be­zie­hun­gen knüp­fen sich nicht in ei­nem Tag, auch nicht in ei­nem Jahr. Ras­ti­gnac wur­de also da­mals von dem Baron so eif­rig um­wor­ben, daß er, der sich von ihm und ihr ge­liebt sah, ver­mein­te, in Nu­cin­gen einen großen Esel ge­fun­den zu ha­ben. Nach­dem er so zu­erst über die­sen Mann, des­sen wah­res We­sen ihm lan­ge ver­bor­gen blieb, ge­lacht, en­de­te er da­mit, ihm eine tie­fe Hochach­tung zu zol­len, denn er hat­te in ihm die Kraft er­kannt, die er al­lein zu be­sit­zen glaub­te. Seit sei­nem ers­ten Auf­tre­ten in Pa­ris war Ras­ti­gnac da­hin ge­langt, die gan­ze Ge­sell­schaft zu miß­ach­ten. Seit 1820 hat­te er die­sel­ben An­schau­un­gen wie der Baron: er wuß­te, es gab nur schein­bar eh­ren­haf­te Leu­te, und die große Welt er­schi­en ihm wie die Zu­sam­men­rot­tung al­ler Ver­derbt­heit, al­ler Nichts­wür­dig­keit. Wenn er auch hier und da den ein­zel­nen aus­nahm, so ver­damm­te er doch die Ge­samt­heit: er glaub­te an kei­ne Tu­gend, nur an Zu­fäl­le, in de­nen der Mensch sich tu­gend­haft er­wies. Die­se Wis­sen­schaft er­rang er sich in ei­nem ein­zi­gen Au­gen­blick der Er­kennt­nis: er er­warb sie auf der Höhe des Père-Lachai­se, am Tage, als er einen ar­men Greis dort­hin ge­lei­tet, den Va­ter sei­ner Del­phi­ne, der als ein Op­fer un­se­rer Ge­sell­schaft, ein Op­fer sei­nes in­ni­gen Ge­fühls­le­bens, von sei­nen Töch­tern und Schwie­ger­söh­nen ver­las­sen, ge­stor­ben war. Da be­schloß Ras­ti­gnac, der gan­zen Welt zu spot­ten und ihr im Ge­wand der Tu­gend und Red­lich­keit den Fuß auf den Na­cken zu set­zen. Der jun­ge Edel­mann hat­te sich von Kopf bis zu Fuß mit Ego­is­mus ge­wapp­net. Als er nun Nu­cin­gen in glei­cher Rüs­tung sah, ach­te­te er ihn ge­ra­de so, wie ein mit­tel­al­ter­li­cher Rit­ter beim Tur­nier den eben­bür­ti­gen Geg­ner ach­tet. Eine Zeit­lang al­ler­dings ver­weich­lich­te er in den Ar­men der Lie­be. Die Freund­schaft ei­ner Frau, wie die Baro­nin von Nu­cin­gen, kann einen jun­gen Mann wohl ver­an­las­sen, dem Ego­is­mus ab­zu­schwö­ren. Nach­dem Del­phi­ne in ih­rer ers­ten Lie­be, die sie dem se­li­gen von Mar­say ge­weiht, be­tro­gen wor­den war, muß­te sie na­tür­lich dem jun­gen rein­her­zi­gen Pro­vinz­ler Ras­ti­gnac eine gren­zen­lo­se Hin­ga­be ent­ge­gen­brin­gen. Die­se Zärt­lich­keit rühr­te Ras­ti­gnac. Als Nu­cin­gen dem Freun­de sei­ner Frau das Zaum­zeug über­ge­streift, das je­der Aus­beu­ter sei­nem Op­fer an­legt, was üb­ri­gens ge­nau zur sel­ben Zeit ge­sch­ah, als er sei­ne drit­te Li­qui­da­ti­on ins Auge faß­te, be­kann­te er ihm sei­ne Lage, in­dem er ihn dar­auf hin­wies, daß er, ge­wis­ser­ma­ßen als Ent­gelt für sei­ne Ver­trau­lich­kei­ten, die Rol­le des Ge­nos­sen zu über­neh­men habe. Der Baron hielt es für ge­fähr­lich, sei­nen ehe­li­chen Mit­ar­bei­ter in sei­nen Plan ein­zu­wei­hen. Ras­ti­gnac glaub­te an ein Un­glück, und der Baron gönn­te ihm den Glau­ben, daß er das Schiff noch ret­ten kön­ne. Doch wenn ein Strang so vie­le Fä­den hat, gibt es leicht Kno­ten. Ras­ti­gnac zit­ter­te für Del­phi­nes Ver­mö­gen; er setz­te ver­trags­mä­ßig eine Gü­ter­tren­nung zwi­schen den Ehe­leu­ten fest und nahm sich sel­ber vor, sei­ne Rech­nung mit der Baro­nin durch Ver­drei­fa­chung ih­res Ver­mö­gens ins rei­ne zu brin­gen. Da Eu­gen für sich sel­ber nichts ver­lang­te, be­wog ihn Nu­cin­gen dazu, im Fal­le ei­nes vol­len Er­fol­ges, fünf­und­zwan­zig An­teil­schei­ne der Blei­gru­ben, de­ren je­der auf tau­send Fran­ken lau­te­te, an­zu­neh­men. Um ihn nicht zu be­lei­di­gen, sag­te Ras­ti­gnac zu. Ei­nen Tag, ehe un­ser Freund Mal­vi­na an­ge­ra­ten, sich zu ver­hei­ra­ten, war er von Nu­cin­gen für sei­ne Zwe­cke zu­ge­rich­tet wor­den. Beim Ge­dan­ken an die hun­dert glück­li­chen Fa­mi­li­en, die da ah­nungs­los ihre Tage leb­ten, die Go­de­fro­id von Beau­den­ord, die d’Ald­rig­ger, die d’Ai­gle­mont usw., wur­de Ras­ti­gnac von ei­nem Schau­er er­grif­fen, wie er wohl einen jun­gen Ge­ne­ral be­fal­len mag, der vor ei­ner ent­schei­den­den Schlacht zum ers­ten­mal ein Heer vor Au­gen sieht. Die arme klei­ne Isau­re und Go­de­fro­id in ih­rem Lie­bes­s­piel – wa­ren sie nicht wie Acis und Gala­thea un­ter dem Fels­block, den der plum­pe Po­ly­phem auf sie her­ab­schleu­dern wür­de? …«

»So ein Kerl, der Bi­xiou,« sag­te Blon­det, »er hat bei­na­he Ta­lent.«

»So, fa­se­le ich also nicht mehr?« sag­te Bi­xiou und blick­te sein Au­di­to­ri­um tri­um­phie­rend an. »Seit zwei Mo­na­ten«, fuhr er nach die­ser Un­ter­bre­chung fort, »über­ließ sich Go­de­fro­id all den klei­nen Freu­den ei­nes bal­di­gen Ehe­man­nes. Sol­che Leu­te sind wie Vö­gel im Lenz, die kom­men und ge­hen, Stroh­hal­me sam­meln, sie im Schna­bel fort­tra­gen und ihr Nest, die Heim­stät­te ih­rer Eier, flech­ten. Der Zu­künf­ti­ge Isau­res hat­te in der Rue de la Plan­che für tau­send Ta­ler ein klei­nes Haus ge­mie­tet, ein ge­müt­li­ches klei­nes Haus, das er alle Tage auf­such­te, um den Ar­bei­tern zu­zu­schau­en und die Far­ben des An­strichs an­zu­ge­ben. Er such­te hier das ein­zig Gute, was aus Eng­land kommt, die wah­re Be­hag­lich­keit, hei­misch zu ma­chen. Es gab einen Hei­z­ap­pa­rat, der dem gan­zen Hau­se eine gleich­mä­ßi­ge Tem­pe­ra­tur mit­teil­te, vor­nehm hüb­sche Mö­bel ohne auf­dring­li­che Ele­ganz, wohl­tu­end fri­sche und zar­te Far­ben, an al­len Fens­tern dop­pel­te Vor­hän­ge, Sil­ber­zeug und neu­es Fuhr­werk. Er hat­te den Stall, die Sat­tel­kam­mer, die Re­mi­sen bau­en las­sen, wo Toby, Joby, Pad­dy wie ein los­ge­las­se­nes Fül­len her­um­sprang und glück­lich schi­en, zu wis­sen, daß es von nun ab im Hau­se Frau­en und so­gar eine ›La­dy‹ ge­ben soll­te. Wie herz­er­freu­end ist der Ei­fer so ei­nes Haus­stands­be­grün­ders, der Uhren und Kunst­ge­gen­stän­de ein­kauft, mit den Ta­schen voll Stoff­pro­ben bei sei­ner Zu­künf­ti­gen er­scheint, sie be­treffs der Schlaf­zim­mer­ein­rich­tung um Rat fragt; der, wenn er kommt und geht, aus Lie­be kommt und geht – wie herz­er­freu­end, sage ich, ist so ein Mann für sei­ne Mit­menschen, vor al­lem für die Lie­fe­ran­ten. Und da der Welt nichts bes­ser ge­fällt, als die Hei­rat ei­nes hüb­schen jun­gen Man­nes von sie­ben­und­zwan­zig Jah­ren mit ei­nem rei­zen­den jun­gen Mäd­chen von zwan­zig, be­schloß Go­de­fro­id, dem das Braut­ge­schenk Kopf­zer­bre­chen mach­te, Ras­ti­gnac nebst Frau von Nu­cin­gen zum Früh­stück zu la­den, um sie in die­ser wich­ti­gen An­ge­le­gen­heit um Rat zu bit­ten. Er hat­te die groß­ar­ti­ge Idee, auch sei­nen Vet­ter d’Ai­gle­mont und Ge­mah­lin so­wie Frau von Séri­zy zu la­den. Die Da­men von Welt ha­ben es gern, ge­le­gent­lich ein­mal bei ei­nem Jung­ge­sel­len vor­zu­spre­chen – zu früh­stücken.«

»Ja, auch die großen Mäd­chen ge­hen gern ein­mal hin­ter die Schu­le,« sag­te Blon­det. »Es galt also, Rue de la Plan­che, das klei­ne Heim der zu­künf­ti­gen Gat­ten in Au­gen­schein zu neh­men,« fuhr Bi­xiou fort. »Die Frau­en lie­ben sol­che klei­nen Be­su­che, wie die Men­schen­fres­ser fri­sches Fleisch; sie er­göt­zen sich an die­ser jun­gen Freu­de, die noch nicht am Ge­nus­se welk­te. Die Ta­fel war in dem klei­nen Sa­lon ge­deckt, der für die­se Be­er­di­gung des Jung­ge­sel­len­tums ge­schmückt war wie ein Pferd für einen Prunk­zug. Das Früh­stück war in ei­ner Aus­wahl be­stellt, die alle die net­ten klei­nen Din­ge auf­wies, wel­che die Frau­en des Vor­mit­tags zu bei­ßen und zu knab­bern lie­ben. ›Und warum ganz al­lein?‹ frag­te Go­de­fro­id, als er Ras­ti­gnac be­grüß­te. ›Frau von Nu­cin­gen hat Kum­mer, ich wer­de dir al­les er­zäh­len,‹ er­wi­der­te Ras­ti­gnac, der ver­drieß­lich drein­blick­te. ›Habt ihr Streit?‹ rief Go­de­fro­id. ›Nein,‹ sag­te Ras­ti­gnac. Als um vier Uhr die Da­men ins Bois de Bou­lo­gne enteilt wa­ren, blieb Ras­ti­gnac im Sa­lon sit­zen und blick­te me­lan­cho­lisch durchs Fens­ter auf Toby, Joby, Pad­dy, der stolz vor dem am Til­bu­ry an­ge­schirr­ten Pfer­de stand und mit ge­kreuz­ten Ar­men tief­sin­nig dreinsah wie Na­po­le­on; er konn­te das Pferd nur ver­mit­telst sei­ner schril­len Stim­me im Zau­me hal­ten; das Pferd aber fürch­te­te Joby, Toby. ›Nun, was ist dir, mein Lie­ber?‹ sag­te Go­de­fro­id zu Ras­ti­gnac. ›Du bist ver­stimmt, un­ru­hig; dei­ne Hei­ter­keit ist ge­macht. Ja, dein Glück ist nur halb, und das nagt dir am Her­zen! Es ist auch wirk­lich trau­rig, mit dem Wei­be, das man liebt, we­der staat­lich noch kirch­lich ge­traut zu sein.‹ ›Hast du den Mut, mein Jun­ge, an­zu­hö­ren, was ich dir zu sa­gen habe, und wirst du ver­ste­hen, wie sehr man ei­nem an­dern zu­ge­tan sein muß, um die In­dis­kre­ti­on zu be­ge­hen, de­ren ich mich jetzt schul­dig ma­chen will?‹ sag­te Ras­ti­gnac mit ei­nem Tone, der wie ein Peit­schen­schlag er­schreck­te. ›Was?‹ sag­te Go­de­fro­id er­blei­chend. ›Ich war trau­rig über dei­ne Freu­de, und ich habe nicht den Mut, nun ich alle die­se Vor­be­rei­tun­gen, die­ses blü­hen­de Glück sehe, mein Ge­heim­nis zu be­wah­ren.‹ ›So sage schnell, in drei Wor­ten, um was es sich han­delt.‹ ›Schwö­re mir bei dei­ner Ehre, daß du stumm sein willst wie das Grab!‹ ›Wie das Grab.‹ ›Daß, selbst wenn ein dir Na­he­ste­hen­der mit die­ser Sa­che zu tun hät­te, du sie ihm nicht ver­ra­ten willst!‹ ›Nicht ver­ra­ten will.‹ ›Nun also: Nu­cin­gen ist heu­te nacht nach Brüs­sel ab­ge­reist; wenn man nicht li­qui­die­ren kann, muß man zu­sam­men­pa­cken. Del­phi­ne hat heu­te mor­gen so­gleich Gü­ter­tren­nung be­an­tragt. Du kannst dein Ver­mö­gen noch ret­ten.‹ ›Wie?‹ frag­te Go­de­fro­id, der fühl­te, wie ihm das Blut in den Adern er­starr­te. ›Schrei­be ganz ein­fach dem Baron einen um vier­zehn Tage zu­rück­da­tier­ten Brief, in dem du ihm den Auf­trag gibst, alle dei­ne Gel­der in Ak­ti­en an­zu­le­gen‹ – und er nann­te ihm die Fir­ma Cla­paron. ›Du hast vier­zehn Tage, einen – ja viel­leicht drei Mo­na­te, um sie über Wert zu ver­kau­fen, sie wer­den noch stei­gen.‹ ›A­ber d’Ai­gle­mont, der mit uns früh­stück­te, d’Ai­gle­mont, der bei Nu­cin­gen eine Mil­li­on hat!‹ ›Hö­re, ich weiß nicht, ob ge­nug die­ser Ak­ti­en vor­han­den sind, um ihn zu de­cken, und da ich ja nicht sein Freund bin, kann ich das Ge­heim­nis Nu­cin­gens nicht preis­ge­ben, du darfst ihm nichts da­von sa­gen. Wenn du ein Wort sagst, bist du mir für die Fol­gen ver­ant­wort­lich.‹ Go­de­fro­id blieb zehn Mi­nu­ten voll­stän­dig un­be­weg­lich. ›Nimmst du an, ja oder nein?‹ sag­te Ras­ti­gnac un­barm­her­zig, Go­de­fro­id nahm Tin­te und Fe­der und schrieb und un­ter­zeich­ne­te den Brief, den Ras­ti­gnac ihm dik­tier­te. ›Mein ar­mer Vet­ter!‹ rief er aus. ›Je­der sor­ge für sich,‹ sag­te Ras­ti­gnac, als er Go­de­fro­id ver­ließ.

»Hört nun, wel­chen An­blick die Bör­se da­mals bot, als Ras­ti­gnac in Pa­ris sei­ne Maß­nah­men traf. Ich habe einen Freund aus der Pro­vinz, einen dum­men Jun­gen, der mich, als wir zwi­schen vier und fünf an der Bör­se vor­über­ka­men, frag­te, wes­halb die Leu­te so in Grup­pen bei­sam­men­stän­den, was sie ein­an­der wohl zu sa­gen hät­ten, und was so ein Auf- und Ab­wan­deln für einen Sinn habe, nach­dem die Kur­se un­wi­der­leg­lich fest­ge­setzt sei­en. ›Mein Freund,‹ er­wi­der­te ich ihm, ›sie ha­ben ge­speist, und jetzt ver­dau­en sie; wäh­rend­des­sen klat­schen sie über den lie­ben Nach­bar. Hier wer­den die großen Ge­schäf­te ein­ge­lei­tet, und es gibt Leu­te, Pal­ma zum Bei­spiel, des­sen über­le­ge­ne Herr­schaft der Sinards an der Kö­nig­li­chen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten gleich­kommt. Er sagt: Es wer­de die Spe­ku­la­ti­on! … Und die Spe­ku­la­ti­on ist ge­macht.‹«

»Welch ein Mann, Freun­de,« sag­te Blon­det, »die­ser Jude, der nicht nur Uni­ver­si­täts-, son­dern Uni­ver­sal­bil­dung be­sitzt! Bei ihm schließt Viel­sei­tig­keit nicht Tie­fe aus; was er weiß, weiß er gründ­lich; und wie er­fin­de­risch ist er in Ge­schäfts­din­gen. Er ist das große Licht, das al­len Bör­sen­spe­ku­lan­ten vor­an­leuch­tet, die kein Ding un­ter­neh­men, ehe Pal­ma es ge­prüft hat. Er horcht, stu­diert, über­legt und sagt zu sei­nem Ge­gen­über, das, da es ihn so auf­merk­sam sieht, schon ver­meint, ihn am Gän­gel­band zu ha­ben: ›Das paßt mir nicht.‹ Was ich am son­der­bars­ten fin­de, ist, daß er zehn Jah­re lang mit Wer­brust as­so­zi­iert ge­we­sen, ohne daß sich je­mals eine Wol­ke zwi­schen ih­nen er­ho­ben hät­te.«

»Das kann sich nur zwi­schen sehr star­ken oder sehr schwa­chen Men­schen er­eig­nen. Da wird je­des Vor­komm­nis zum Streit­ob­jekt und zei­tigt un­ver­söhn­li­che Feind­schaft,« sagt Cou­ture. »Ihr be­greift,« fuhr Bi­xiou fort, »daß Nu­cin­gen schlau­er­wei­se von ge­schick­ter Hand in die Ko­lon­ne der Bör­sia­ner eine Gra­na­te schleu­dern ließ, die ge­gen vier Uhr zum Plat­zen kam. ›Wis­sen Sie die be­denk­li­che Neu­ig­keit?‹ sag­te du Til­let zu Wer­brust, in­dem er ihn in einen Win­kel zog. ›Nu­cin­gen ist in Brüs­sel, sei­ne Frau hat beim Ge­richt eine Ein­ga­be um Gü­ter­tren­nung ge­macht.‹ ›Sind Sie sein Kom­pa­gnon bei der Li­qui­da­ti­on?‹ frag­te Wer­brust lä­chelnd. ›Kei­ne Spä­ße, Wer­brust‹ sag­te du Til­let. ›Sie ken­nen die Leu­te, die Pa­pie­re von ihm ha­ben; hö­ren Sie zu, wir kön­nen da ein Ge­schäft ma­chen! Die Ak­ti­en un­se­rer neu­en Ge­sell­schaft brin­gen zwan­zig Pro­zent, Ende des Quar­tals wer­den sie fünf­und­zwan­zig brin­gen. Sie wis­sen wes­halb; man ver­teilt eine glän­zen­de Di­vi­den­de.‹ ›P­fif­fi­kus!‹ sag­te Wer­brust, ›nur zu, re­den Sie nur wei­ter! Sie sind ein Teu­fel mit lan­gen, spit­zen Kral­len und – tau­chen sie in But­ter!‹ ›A­ber las­sen Sie mich doch aus­re­den, oder wir ha­ben kei­ne Zeit mehr zum Han­deln! So­eben, als ich die Neu­ig­keit er­fuhr, kam mir ein Ge­dan­ke, und ich habe tat­säch­lich Frau von Nu­cin­gen in Trä­nen ge­se­hen; sie hat Angst um ihr Ver­mö­gen.‹ ›Ar­me Klei­ne!‹ sag­te Wer­brust iro­nisch. ›Nun, und?‹ frag­te der el­säs­si­sche Jude, als du Til­let schwieg. ›Nun – bei mir lie­gen tau­send Ak­ti­en zu je tau­send Fran­ken, die Nu­cin­gen mir über­ge­ben hat, da­mit ich sie ihm un­ter­brin­ge, ver­ste­hen Sie?‹ ›Gut!‹ ›Kau­fen wir mit zehn oder zwan­zig Pro­zent Pro­vi­si­on für eine Mil­li­on Pa­pie­re des Hau­ses Nu­cin­gen; wir wer­den an die­ser Mil­li­on ein schö­nes Agio ge­win­nen, denn wir sind dann gleich­zei­tig Gläu­bi­ger und Schuld­ner; das wird eine gute Ver­wir­rung ge­ben! Aber wir müs­sen schlau vor­ge­hen, die Ak­ti­en­be­sit­zer könn­ten glau­ben, wir han­del­ten im In­ter­es­se Nu­cin­gens.‹ Wer­brust be­griff nun den Streich, der zu spie­len war, und drück­te du Til­let die Hand mit dem Blick ei­ner Frau, die ei­ner an­dern einen Scha­ber­nack spielt. ›Wis­sen Sie schon das Neues­te?‹ Mit die­ser Fra­ge trat Mar­tin Fal­leix an sie her­an. ›Das Haus Nu­cin­gen stellt sei­ne Zah­lun­gen ein!‹ ›Pah!‹ er­wi­der­te Wer­brust; ›das müs­sen Sie nicht her­u­mer­zäh­len, las­sen Sie die Leu­te, die sei­ne Pa­pie­re ha­ben, nur wei­ter­ma­chen!‹ ›Ken­nen Sie die Ur­sa­che des Zu­sam­men­bruchs?‹ frag­te Cla­paron da­zwi­schen­tre­tend. ›Du weißt ja gar nichts,‹ sag­te du Til­let zu ihm, ›es gibt nicht den ge­rings­ten Zu­sam­men­bruch, viel­mehr eine glat­te Zah­lung auf Hel­ler und Pfen­nig. Nu­cin­gen wird von vor­ne be­gin­nen und bei mir so vie­le Gel­der fin­den, als er be­darf. Ich ken­ne die Ur­sa­che der Zah­lungs­ein­stel­lung: er hat sei­ne gan­zen Bar­mit­tel zu­guns­ten Me­xi­kos ver­wen­det, das ihm Me­tall zu­rück­schickt, spa­ni­sche Ka­no­nen, die so schlecht ge­gos­sen sind, daß sich in der Mas­se Gold vor­fin­det, Uhren, Kir­chen­sil­ber, alle die Trüm­mer, wel­che die spa­ni­sche Zer­stö­rungs­wut in West­in­di­en ge­schaf­fen hat. Die Rück­sen­dung die­ser Wert­sa­chen ver­zö­gert sich. Der lie­be Baron ist in Ver­le­gen­heit, das ist al­les.‹ ›Es ist wahr,‹ sag­te Wer­brust, ›ich neh­me sei­ne Pa­pie­re mit zwan­zig Pro­zent Dis­kont.‹ Die Neu­ig­keit ver­brei­te­te sich nun schnell wie ein Feu­er im Stroh­schup­pen. Es ver­lau­te­ten die wi­der­spre­chends­ten Din­ge. Aber man hat­te in­fol­ge der zwei vor­an­ge­gan­ge­nen Li­qui­da­tio­nen ein sol­ches Ver­trau­en zum Hau­se Nu­cin­gen, daß je­der­mann die Pa­pie­re Nu­cin­gen be­hielt. ›Pal­ma muß uns in die Hand spie­len,‹ sag­te Wer­brust. Pal­ma war für die Fir­ma Kel­ler, die mit Nu­cin­gen-Pa­pie­ren voll­ge­pfropft war, eine Au­to­ri­tät. Ein Wort des Alarms von ihm ge­nüg­te. Wer­brust er­reich­te von Pal­ma die Zu­sa­ge, daß er die Sa­che an die große Glo­cke brin­gen wol­le. Am an­dern Mor­gen tob­te an der Bör­se der Alarm. Die Kel­ler ga­ben, dem Rate Pal­mas fol­gend, ihre Pa­pie­re mit zehn Pro­zent Nach­laß ab, und ih­nen folg­te die gan­ze Bör­se, denn man kann­te sie als sehr pfif­fig. Tail­le­fer gab dar­auf­hin drei­hun­dert­tau­send Fran­ken zu zwan­zig Pro­zent, Mar­tin Fal­leix zwei­hun­dert­tau­send zu fünf­zehn Pro­zent. Gi­gon­net er­riet den Streich! Er schür­te das Feu­er, um sich mit Nu­cin­gen-Pa­pie­ren zu ver­se­hen und zwei oder drei Pro­zent beim Wie­der­ver­kauf an Wer­brust zu ge­win­nen. Er er­blick­te in ei­nem Win­kel der Bör­se den ar­men Ma­ti­fat, der bei Nu­cin­gen drei­hun­dert­tau­send Fran­ken hat­te. Der zit­tern­de Dro­gist sah nicht ohne Er­blei­chen den schreck­li­chen Gi­gon­net, den Ban­kier aus sei­nem frü­he­ren Stadt­vier­tel, auf sich zu­kom­men: ›Es geht schlecht, die Kri­se zeigt sich an. Nu­cin­gen ist be­denk­lich! Aber das braucht Sie ja nicht zu küm­mern, Va­ter Ma­ti­fat, Sie ha­ben ja mit der­glei­chen nichts mehr zu tun.‹ ›Da täu­schen Sie sich, Gi­gon­net, ich bin mit drei­hun­dert­tau­send Fran­ken be­las­tet, mit de­nen ich auf spa­ni­sche Ren­ten rech­ne­te.‹ ›Sie sind ge­ret­tet; spa­ni­sche Ren­ten hät­ten Ih­nen al­les ver­nich­tet, wäh­rend ich Ih­nen für Ihre Nu­cin­gen-Pa­pie­re so etwa fünf­zig Pro­zent ge­ben wer­de.‹ ›Lie­ber möch­te ich die Li­qui­da­ti­on se­hen,‹ er­wi­der­te Ma­ti­fat. ›Hat je­mals ein Ban­kier nur fünf­zig vom Hun­dert ge­ge­ben! Ja, wenn es sich nur um zehn Pro­zent Ver­lust han­del­te,‹ sag­te der frü­he­re Dro­gist. ›Nun, ge­ben Sie sie zu fünf­zehn?‹ frag­te Gi­gon­net. ›Sie schei­nen es sehr drin­gend zu ha­ben!‹ sag­te Ma­ti­fat. ›Gu­ten Abend,‹ sag­te Gi­gon­net. ›Wol­len Sie sie zu zwölf?‹ ›Gut,‹ sag­te Gi­gon­net. Zwei Mil­lio­nen wur­den am sel­ben Abend von du Til­let zu­rück­ge­kauft und von ihm bei Nu­cin­gen aus­ge­gli­chen, auf Rech­nung der drei vom Zu­fall ge­won­ne­nen Ver­bün­de­ten, die am an­dern Tage ihr Agio ein­zo­gen. – Die alte hüb­sche klei­ne Baro­nin d’Ald­rig­ger saß mit ih­ren zwei Töch­tern und Go­de­fro­id beim Früh­stück, als Ras­ti­gnac kam und die Un­ter­hal­tung auf die fi­nan­zi­el­le Kri­se lenk­te. Der Baron Nu­cin­gen habe eine große Zu­nei­gung zur Fa­mi­lie d’Ald­rig­ger, er habe da­für Sor­ge ge­tra­gen, im Fall ei­nes Un­glücks das Kon­to der Baro­nin mit sei­nen bes­ten Wert­pa­pie­ren zu de­cken, mit Ak­ti­en der Blei­gru­ben; zu ih­rer ei­ge­nen Si­cher­heit aber müs­se die Baro­nin ihn er­su­chen, ihr Ver­mö­gen der­art an­zu­le­gen. ›Der arme Nu­cin­gen,‹ sag­te die Baro­nin, ›und was pas­siert ihm nun?‹ ›Er ist in Bel­gi­en; sei­ne Frau ver­langt die Gü­ter­tren­nung; aber er ist fort, um bei ei­ni­gen Bank­häu­sern Hil­fe zu su­chen.‹ ›Mein Gott, das er­in­nert mich an mei­nen ar­men Mann! Lie­ber Herr Ras­ti­gnac, wie weh muß Ih­nen das tun, der Sie dem Hau­se so eng ver­bun­den sind.‹ ›Vor­aus­ge­setzt, daß alle Miß­hel­lig­kei­ten bei­ge­legt wer­den, wer­den sei­ne Freun­de spä­ter ih­ren Lohn be­kom­men; er ist ein ge­schick­ter Mann, er wird sich schon her­aus­zie­hen.‹ ›Ein Ehren­mann vor al­lem!‹ sag­te die Baro­nin.

»Nach ei­nem Mo­nat war die Li­qui­da­ti­on der Pas­si­va des Hau­ses Nu­cin­gen vollen­det, ohne an­de­re Maß­nah­men als der Brie­fe, mit de­nen ein je­der die An­la­ge sei­nes Ka­pi­tals in an­ge­ge­be­nen Wert­pa­pie­ren ver­lang­te, und ohne jede an­de­re For­ma­li­tät von sei­ten der Bank­häu­ser als den Um­tausch der Nu­cin­gen-Pa­pie­re ge­gen Blei­ak­ti­en, die im Kurs stie­gen. Wäh­rend du Til­let, Wer­brust, Cla­paron, Gi­gon­net und noch ein paar Schlau­ber­ger aus dem Aus­lan­de ge­gen ein Pro­zent Agio die Pa­pie­re Nu­cin­gen zu­rück­nah­men (sie ge­wan­nen noch da­bei!), in­dem sie sie ge­gen die hoch im Kurs ste­hen­den Ak­ti­en aus­tausch­ten, war der Aufruhr an der Pa­ri­ser Bör­se um so grö­ßer, als nie­mand mehr et­was zu fürch­ten hat­te. Man schwatz­te über Nu­cin­gen, man be­lau­er­te, ver­ur­teil­te, ver­leum­de­te ihn! Sein Lu­xus, sei­ne vie­len Un­ter­neh­mun­gen! Wenn ein Mann so vie­les will, kommt er un­ter die Rä­der! usw. Als der Lärm am stärks­ten war, er­staun­ten man­che Leu­te nicht we­nig, Brie­fe aus Genf, Ba­sel, Mai­land, Nea­pel, Ge­nua, Mar­seil­le und Lon­don zu er­hal­ten, in de­nen ihre Kor­re­spon­den­ten nicht ohne Ver­wun­de­rung mit­teil­ten, daß man ih­nen für Nu­cin­gen-Pa­pie­re, de­ren Sturz ihre Pa­ri­ser Fir­ma ih­nen ge­mel­det, ein Pro­zent Agio bie­te. ›Es geht et­was vor!‹ sag­ten die Bör­sen­spe­ku­lan­ten. Das Ge­richt hat­te zwi­schen Nu­cin­gen und sei­ner Gat­tin die Gü­ter­tren­nung ver­fügt. Die Sach­la­ge ver­wirr­te sich noch viel mehr: die Zei­tun­gen ver­kün­de­ten die Rück­kehr des Herrn Barons von Nu­cin­gen, der in Bel­gi­en ge­we­sen war, um sich dort mit ei­nem be­kann­ten Gro­ß­in­dus­tri­el­len be­treffs der Aus­beu­tung al­ter Stein­koh­len­la­ger in den Wäl­dern von Bos­sut, die lan­ge Zeit brach­ge­le­gen, ins Ein­ver­neh­men zu set­zen. Der Baron er­schi­en wie­der an der Bör­se, und ohne sich auch nur die Mühe zu neh­men, die Ver­leum­dun­gen, die über sein Haus in Um­lauf ge­we­sen, zu wi­der­le­gen – er hielt einen Wi­der­ruf in der Zei­tung für un­ter sei­ner Wür­de –, kauf­te er für zwei Mil­lio­nen einen herr­li­chen Grund­be­sitz vor den To­ren von Pa­ris. Sechs Wo­chen spä­ter ver­kün­de­ten die Zei­tun­gen von Bor­deaux das Ein­lau­fen zwei­er für das Haus Nu­cin­gen be­stimm­ter Damp­fer mit ei­ner Me­tal­la­dung im Wer­te von sie­ben Mil­lio­nen. Pal­ma, Wer­brust und du Til­let be­grif­fen, daß der Streich glück­lich zu Ende ge­führt war, aber sie wa­ren die ein­zi­gen, die das be­grif­fen. Sie er­kann­ten die groß­ar­ti­ge Ins­ze­nie­rung die­ses Finanz­coups, er­kann­ten, daß er seit elf Mo­na­ten vor­be­rei­tet ge­we­sen, und fei­er­ten Nu­cin­gen als den größ­ten Finanz­mann Eu­ro­pas. Ras­ti­gnac be­griff nichts da­von, aber er hat­te vier­hun­dert­tau­send Fran­ken ge­won­nen, die Nu­cin­gen durch Ras­ti­gnac den Pa­ri­ser Scha­fen ab­sche­ren ließ und mit de­nen die­ser die Mit­gift sei­ner bei­den Schwes­tern be­stritt. D’Ai­gle­mont, von sei­nem Vet­ter Beau­den­ord auf­merk­sam ge­macht, hat­te Ras­ti­gnac an­ge­fleht, ihm ge­gen zehn Pro­zent sei­ner Mil­li­on dazu zu ver­hel­fen, daß die­se Mil­li­on in Kanal­ak­ti­en an­ge­legt wer­de; die­ser Kanal ist noch heu­te zu bau­en, denn Nu­cin­gen hat die Füh­rung in die­ser An­ge­le­gen­heit so glän­zend be­trie­ben, daß die Kon­zes­sio­näre des Kanals ein In­ter­es­se dar­an ha­ben, ihn nicht zu be­en­den. Charles Gran­det be­schwor den Ge­lieb­ten Del­phi­nes, daß er ihm sein Geld ge­gen Ak­ti­en ein­tau­sche. Kurz, Ras­ti­gnac hat zehn Tage lang die Rol­le Laws ge­spielt, den die hüb­sche­s­ten Her­zo­gin­nen um Ak­ti­en be­stürm­ten, und heu­te kann der Bur­sche vier­zig­tau­send Li­vres Ren­te ha­ben, de­ren Stamm aus den Blei­gru­ben­ak­ti­en ent­stand.«

»Wenn alle Welt ge­winnt, wer ver­liert denn da ei­gent­lich?« frag­te Fi­not.

»Schluß der Ge­schich­te!« fuhr Bi­xiou fort. »An­ge­lockt von der Pseu­do­di­vi­den­de, die sie sich ei­ni­ge Mo­na­te nach dem Um­tausch ih­rer Bar­gel­der in Ak­ti­en aus­zah­len lie­ßen, be­hiel­ten der Mar­quis d’Ai­gle­mont und Beau­den­ord – ich nen­ne euch als Bei­spiel nur die­se bei­den – ihre Pa­pie­re; sie hat­ten drei Pro­zent mehr, als ihr Ka­pi­tal be­tra­gen hat­te, und san­gen Nu­cin­gens Lob, ja ver­tei­dig­ten ihn so­gar, als man ihn der Zah­lungs­ein­stel­lung ver­däch­tig­te. Go­de­fro­id hei­ra­te­te sei­ne lie­be Isau­re und er­hielt für hun­dert­tau­send Fran­ken Mi­nen­ak­ti­en. Bei Ge­le­gen­heit der Trau­ung ga­ben die Nu­cin­gen einen Ball, des­sen Pracht alle Er­war­tun­gen über­stieg. Del­phi­ne über­reich­te der jun­gen Braut einen kost­ba­ren Ru­bin­schmuck. Isau­re tanz­te nicht mehr als jun­ges Mäd­chen, son­dern als glück­li­ches Weib. Die klei­ne Baro­nin war mehr als je Sen­ne­rin. Mal­vi­na er­hielt in­mit­ten der Ball­freu­den von du Til­let den tro­ckenen Rat, Frau Des­ro­ches zu wer­den. Des­ro­ches, an­ge­trie­ben von Nu­cin­gen und Ras­ti­gnac, ver­such­te, das Ge­schäft in Gang zu brin­gen. Als er aber hör­te, daß die Mit­gift in Blei­gru­ben­ak­ti­en be­stän­de, brach er die Be­zie­hun­gen ab und wand­te sich wie­der den Ma­ti­fat zu. In der Rue du Cher­che-Midi fand der Ad­vo­kat die ver­damm­ten Kanal­ak­ti­en, die Gi­gon­net dem Ma­ti­fat an Stel­le von Bar­geld auf­ge­hängt hat­te. Da seht ihr, wie Des­ro­ches auf den bei­den Wie­sen, die er zu mä­hen ge­dacht hat­te, der Sen­se Nu­cin­gens be­geg­ne­te! Die Er­eig­nis­se lie­ßen nicht auf sich war­ten. Die Ge­sell­schaft Cla­paron ließ sich in zu vie­le Ge­schäf­te ein, es ging ihr an den Kra­gen; sie bot kei­ne Zin­sen und kei­ne Di­vi­den­de mehr, trotz­dem ihre Un­ter­neh­mun­gen glän­zend wa­ren. Dies Un­glück traf mit den Er­eig­nis­sen von 1827 zu­sam­men. 1829 war Cla­paron zu be­kannt, um noch wei­ter­hin der Stroh­mann der bei­den Ko­los­se sein zu kön­nen, und er fiel von sei­nem ho­hen So­ckel zu Bo­den. Von zwölf­hun­dert­fünf­zig Fran­ken san­ken die Ak­ti­en auf vier­hun­dert, ob­gleich ihr ei­gent­li­cher Wert sechs­hun­dert Fran­ken be­trug. Nu­cin­gen, der ih­ren wah­ren Wert kann­te, kauf­te zu­rück. Die klei­ne Baro­nin d’Ald­rig­ger hat­te ihre Gru­ben­ak­ti­en, die nichts ein­brach­ten, ver­kauft, und Go­de­fro­id ver­kauf­te die­je­ni­gen sei­ner Frau aus dem­sel­ben Grun­de. Gleich der Baro­nin hat­te Go­de­fro­id sei­ne Gru­ben­ak­ti­en ge­gen die Ak­ti­en der Ge­sell­schaft Cla­paron ver­tauscht. Ihre Schul­den zwan­gen sie, bei tiefs­ter Bais­se zu ver­kau­fen. Von dem, was ih­nen sie­ben­hun­dert­tau­send Fran­ken be­deu­te­te, er­hiel­ten sie zwei­hun­dert­drei­ßig­tau­send Fran­ken. Sie wu­schen ihre Wä­sche rein, und der Rest wur­de kläg­lich in drei­pro­zen­ti­gen Pa­pie­ren an­ge­legt. Go­de­fro­id, der einst glück­li­che Jung­ge­sel­le, der so sorg­los da­hin­ge­lebt hat­te, sah sich nun mit ei­ner jun­gen Frau be­las­tet, die so dumm war wie eine Gans, und über­dies mit ei­ner Schwie­ger­mut­ter, die von Toi­let­ten träum­te. Die bei­den Fa­mi­li­en ha­ben sich zu­sam­men­ge­tan, um über­haupt exis­tie­ren zu kön­nen. Go­de­fro­id war ge­nö­tigt, alle sei­ne in­zwi­schen auf­ge­ge­be­nen vor­teil­haf­ten Kon­ne­xio­nen wie­der auf­zu­fri­schen, um eine Tau­send­ta­ler­stel­le im Finanz­mi­nis­te­ri­um zu er­hal­ten. Die Freun­de? … futsch! Die Ver­wand­ten? … ver­si­chern er­staunt: ›Wie, mein Lie­ber? Na­tür­lich dür­fen Sie auf mich rech­nen! Ar­mer Kerl!‹ Eine Vier­tel­stun­de spä­ter ist al­les ver­ges­sen. Beau­den­ord ver­dank­te sei­ne An­stel­lung Nu­cin­gen und Van­den­es­se. Die gan­ze so eh­ren­haf­te und so un­glück­li­che Fa­mi­lie wohnt heu­te Rue du Mont-Ta­bor im vier­ten Stock. Die arme Mal­vi­na be­sitzt nichts, sie gibt Kla­vier­stun­den, um ih­rem Schwa­ger nicht zur Last zu fal­len. Schwarz, groß, dürr und welk, gleicht sie ei­ner wie­der­er­wach­ten Mu­mie, die hilf­los durch Pa­ris irrt. Im Jah­re 1830 ver­lor Beau­den­ord sei­ne Stel­lung, und sei­ne Frau schenk­te ihm ein vier­tes Kind. Acht Fa­mi­li­en­mit­glie­der und zwei Dienst­bo­ten (Wirth und sei­ne Frau)! Geld: Acht­tau­send Li­vres Ren­te. Die Gru­ben ge­ben heu­te so be­trächt­li­che Di­vi­den­den, daß die Ak­tie zu tau­send Fran­ken tau­send Fran­ken Ren­te bringt. Ras­ti­gnac und Frau von Nu­cin­gen ha­ben die von Go­de­fro­id und der Baro­nin ver­kauf­ten Ak­ti­en er­wor­ben. Nu­cin­gen wur­de von der Ju­li­re­vo­lu­ti­on zum Pair von Frank­reich und Groß­of­fi­zier der Ehren­le­gi­on er­nannt. Ob­gleich er nach 1830 nicht li­qui­diert hat, be­sitzt er, wie man sagt, ein Ver­mö­gen von sech­zehn bis acht­zehn Mil­lio­nen. Da er die Ju­lier­eig­nis­se vor­aus­ge­se­hen, hat­te er alle sei­ne Wer­te ver­kauft und wie­der­ge­kauft, als die drei Pro­zent auf fünf­und­vier­zig stan­den; er brach­te de­nen im Schloß den Glau­ben bei, es ge­sch­ehe aus Er­ge­ben­heit, und nahm wäh­rend­des­sen dem großen Hans­nar­ren Phil­ipp Bri­deau drei Mil­lio­nen ab! Un­längst ge­wahr­te un­ser Baron, als er die Rue de Ri­vo­li hin­un­ter­schritt, um sich ins Bois de Bou­lo­gne zu be­ge­ben, un­ter den Ar­ka­den die Baro­nin d’Ald­rig­ger. Die klei­ne Alte trug ein ro­sen­ver­zier­tes Häub­chen, ein ge­blüm­tes Kleid, eine Man­til­le, kurz, sie war mehr als je die ko­ket­te Sen­ne­rin, denn sie konn­te die Ur­sa­chen ih­res Elends eben­so­we­nig be­grei­fen wie ehe­dem die Ur­sa­chen ih­rer Wohl­ha­ben­heit. Sie lehn­te sich auf die arme Mal­vi­na, die – ein Mus­ter hel­den­mü­ti­ger Ent­sa­gung – die alte Mut­ter zu sein schi­en, wäh­rend die Baro­nin das jun­ge Mäd­chen spiel­te; und Wirth folg­te ih­nen mit dem Re­gen­schirm. ›Ta se­hen Se Lai­te,‹ sag­te der Baron zu Herrn Coin­tet, ei­nem Mi­nis­ter, mit dem er den Spa­zier­gang mach­te, ›de­nen es mir nicht keklickt ist ain Ver­me­gen ßu pe­schaf­fen. Der Zwi­schen­fall ist tja wohl wie­der pei­ke­legt, ke­ben Se doch dem ar­men Beau­den­ord wie­der aine An­stel­lung.‹ Beau­den­ord wur­de dank Nu­cin­gens Für­spra­che wie­der im Mi­nis­te­ri­um an­ge­stellt; und die d’Ald­rig­ger prei­sen den treu­en Freund, der noch heu­te die klei­ne Sen­ne­rin und ihre Töch­ter auf sei­ne Bäl­le lädt. Kei­nem auf der gan­zen Welt ist es mög­lich, dar­zu­tun, wie die­ser Mann drei­mal und ohne jede Ge­walt­sam­keit die wi­der sei­nen Wil­len durch ihn reich ge­wor­de­ne Men­ge hat be­steh­len wol­len. Kei­ner kann ihm einen Vor­wurf ma­chen. Wer da sa­gen woll­te, das hö­he­re Bank­we­sen sei oft­mals eine Gur­gel­ab­schnei­de­rei, be­gin­ge die em­pö­rends­te Ver­leum­dung. Wenn die Ef­fek­ten stei­gen und fal­len, wenn die Wert­pa­pie­re stei­gen und stür­zen, so ist die­se Ebbe und Flut eine Fol­ge at­mo­sphä­ri­scher Ein­flüs­se, die mit dem Mond in Be­zie­hung ste­hen, und selbst der große Ara­go7 könn­te über die­ses be­deut­sa­me Phä­no­men kei­ne wis­sen­schaft­li­che Theo­rie auf­stel­len. Le­dig­lich eine fi­nan­zi­el­le Leh­re folgt aus dem Gan­zen, eine Leh­re, die ich noch nir­gends auf­ge­schrie­ben fand …«

»Wel­che?«

»Der Schuld­ner ist stär­ker als der Gläu­bi­ger.«

»Oh,« sag­te Blon­det, »ich er­bli­cke in dem Ge­sag­ten eine Pa­ra­phra­se über einen Auss­pruch Mon­tes­quieus, in dem er den ›Geist der Ge­set­ze‹ zu­sam­men­ge­faßt hat.«

»Wel­chen?« frag­te Fi­not. »Die Ge­set­ze sind Spin­nen­net­ze, aus de­nen die großen Flie­gen sich her­aus­ar­bei­ten, in de­nen die klei­nen aber hän­gen blei­ben.«

»Wo möch­test du denn hin­ge­lan­gen?« frag­te Fi­not Blon­det. »Zur ab­so­lu­ten Re­gie­rung, der ein­zi­gen, die der Ver­ge­wal­ti­gung des Ge­set­zes durch den Geist Ein­halt tun kann. Ja, die Will­kür ret­tet das Volk, in­dem sie der Ge­rech­tig­keit zu Hil­fe kommt. Der Kö­nig, der den be­trü­ge­ri­schen Bank­rot­teur be­gna­di­gen kann, gibt dem ge­rupf­ten Op­fer nichts zu­rück. Die Ge­setz­mä­ßig­keit tö­tet die Ge­sell­schaft von heu­te.«

»Mach das mal den Wäh­lern be­greif­lich!« sag­te Bi­xiou. »Es gibt einen, der das über­nom­men hat.«

»Wer?«

»Die Zeit. Wie der Bi­schof von Leon ge­sagt hat: ›Wenn die Frei­heit alt ist, so ist die Kö­nigs­wür­de ewig‹; je­des Volk, das ge­sun­den Geis­tes ist, wird un­ter die­ser oder je­ner Form dar­auf zu­rück­kom­men.«

»Horch, es wa­ren Leu­te ne­ben­an,« sag­te Fi­not, der uns hin­aus­ge­hen hör­te. »Es sind im­mer Leu­te ne­ben­an!« er­wi­der­te Bi­xiou, der wohl be­trun­ken war.

1 Un­ter ›Häns­chens Mes­ser‹ wird in ei­ner fran­zö­si­schen Re­dens­art eine Sa­che ver­stan­den, die all­mäh­lich sol­che Ver­än­de­run­gen er­lit­ten hat, daß sie nur noch dem Na­men nach die alte ist. <<<

2 Wie ›Ti­gre‹ (Ti­ger) Be­zeich­nung für Reit­knecht, so ›Ti­gres­se‹ (Ti­ge­rin) Be­zeich­nung für ein Weib von Kat­zen­na­tur. <<<

F­lic flac = Tanz­schritt. <<<

En avant-deux‹ = ›Vor­wärts zu zweit!‹ Kom­man­do­wort beim Kon­ter­tanz. <<<

5 Un­über­setz­ba­res Wort­spiel: ›Karot­te‹ heißt im Fran­zö­si­schen nicht nur ›Mohr­rü­be‹, son­dern auch ›Prel­le­rei‹. <<<

6 Berüch­tig­ter Finanz­mann um 1700 in Pa­ris. <<<

7 Berühm­ter Phy­si­ker, 1786-1853. <<<

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke

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