Читать книгу Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Оноре де'Бальзак, Honoré de Balzac, Balzac - Страница 43

Der Talisman

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Ge­gen Ende Ok­to­ber 1829 trat ein jun­ger Mann in das Palais-Roy­al,1 als die Spiel­häu­ser, wie es das Ge­setz vor­schreibt, das eine ho­hen Steu­ern un­ter­lie­gen­de Lei­den­schaft schützt, ge­ra­de öff­ne­ten. Ohne lan­ge zu zö­gern, stieg er die Trep­pe zum Spiel­saal hin­auf, der die Num­mer 36 trug.

»Ihren Hut bit­te, Mon­sieur!« rief ihm mit tro­ckener, mür­ri­scher Stim­me ein klei­ner, al­ter Mann zu, der zu­sam­men­ge­duckt hin­ter ei­nem Ver­schlag im Halb­dun­kel saß und, als er sich un­ver­mit­telt er­hob, ein fah­les, ab­sto­ßen­des Ge­sicht zeig­te.

Be­tritt man ein Spiel­haus, dann nimmt ei­nem das Ge­setz zu­erst ein­mal den Hut. Ist das ein sym­bo­li­sches Vor­zei­chen, ein Akt der Vor­se­hung? Oder ist es nicht viel­mehr eine Art Teu­fel­s­pakt, der einen Pfand ab­for­dert? Will man den Spie­ler viel­leicht auf die­se Wei­se nö­ti­gen, Ehr­er­bie­tung den­je­ni­gen ge­gen­über zu wah­ren, die ihm sein Geld ab­knöp­fen wol­len? Oder hat die Po­li­zei, die ihre Nase in je­den schmut­zi­gen Win­kel der Ge­sell­schaft steckt, gar ein In­ter­es­se dar­an, den Na­men sei­nes Hut­ma­chers oder sei­nen ei­ge­nen zu er­fah­ren, falls er ihn in sein Hut­fut­ter ge­schrie­ben hat? Oder ob man etwa dem Schä­del Maß neh­men will, um eine lehr­rei­che Sta­tis­tik über die Grö­ße der Spie­ler­hir­ne auf­zu­stel­len? Über die­sen Punkt hüllt sich die Ver­wal­tung in tiefs­tes Schwei­gen. Aber ei­nes muß der Spie­ler wis­sen: So­wie er den ers­ten Schritt zum grü­nen Tisch ge­tan hat, ge­hört ihm sein Hut eben­so­we­nig, als er sich sel­ber ge­hört. Er ist dem Spiel ver­fal­len, er, sei­ne Habe, sein Hut, sein Stock und sein Man­tel. Ver­läßt er schließ­lich den Saal, de­mons­triert das Spiel­haus wie mit ei­nem Zei­chen bei­ßen­den Hoh­nes, daß es ihm we­nigs­tens et­was läßt: den Hut. Soll­te er je­doch einen neu­en Hut be­sit­zen, wird er aus sei­nem Scha­den ler­nen, daß es rat­sam ist, sich eine spe­zi­el­le Klei­dung fürs Spiel zu­zu­le­gen.

Das Er­stau­nen des jun­gen Man­nes, als er für sei­nen Hut, des­sen Rän­der zum Glück schon leicht ab­ge­grif­fen wa­ren, eine nu­me­rier­te Mar­ke er­hielt, zeug­te deut­lich ge­nug von ei­ner noch un­ver­dor­be­nen See­le, da­her sand­te ihm auch der klei­ne Alte, den der Fie­ber­rausch des Spie­ler­le­bens von Ju­gend an ver­zehrt zu ha­ben schi­en, einen trü­ben teil­nahms­lo­sen Blick, aus dem ein Phi­lo­soph das Elend der Spi­tä­ler, das un­s­te­te Da­sein der Ge­schei­ter­ten, Pro­to­kol­le un­zäh­li­ger Selbst­mor­de, le­bens­läng­li­cher Zwangs­ar­beit oder Ver­ban­nun­gen an den Coatza­coal­co2 hät­te her­aus­le­sen kön­nen. Die­ser Mann, des­sen läng­li­ches wei­ßes Ge­sicht nur noch von Dar­cets3 Gal­lerts­up­pen ge­nährt schi­en, ver­kör­per­te das blei­che Bild der auf ih­ren ein­fachs­ten Aus­druck ge­brach­ten Lei­den­schaft. In sei­nem run­ze­li­gen Ge­sicht hat­ten lang­jäh­ri­ge Qua­len ihre Spu­ren hin­ter­las­sen; an­schei­nend ver­spiel­te er sein kärg­li­ches Ge­halt noch am Zahl­tag. Wie alte Schind­mäh­ren, die die Peit­sche nicht mehr spü­ren, so ver­moch­te ihn nichts mehr zu er­schüt­tern. Das dump­fe Stöh­nen der Spie­ler, die da­von­gin­gen und al­les ver­lo­ren hat­ten, ihre stum­men Flü­che, ihre stump­fen Bli­cke mach­ten auf ihn schon lan­ge kei­nen Ein­druck mehr. Er war das leib­haf­tig ge­wor­de­ne Spiel. Hät­te der jun­ge Mann die­sen er­bärm­li­chen Zer­be­rus4 nä­her be­trach­tet, hät­te er sich viel­leicht ge­sagt: ›In die­sem Her­zen gibt es nur noch ein Kar­ten­spiel!‹ Der Un­be­kann­te in­des ach­te­te auf die­se le­ben­di­ge War­nung nicht, die zwei­fel­los die Vor­se­hung vor jene Tür ge­stellt hat­te, wie sie vor alle un­heil­vol­len Stät­ten den Ekel setzt. Er trat ent­schlos­sen in den Saal, wo der Klang des Gol­des auf die von Be­gehr­lich­keit an­ge­sta­chel­ten Sin­ne eine ma­gi­sche Fas­zi­na­ti­on aus­üb­te. Wahr­schein­lich wur­de die­ser jun­ge Mann von dem lo­gischs­ten al­ler be­deut­sa­men Sät­ze Jean-Jac­ques Rous­se­aus5 dort hin­ge­trie­ben, des­sen trau­ri­ger Sinn, wie ich glau­be, fol­gen­der­ma­ßen aus­zu­drücken ist: ›Ja, ich be­grei­fe, daß ein Mann zum Spiel geht, aber nur dann, wenn er zwi­schen sich und dem Tode nichts als sei­nen letz­ten Ta­ler sieht.‹

Am Abend at­men die Spiel­häu­ser nur eine recht vul­gä­re Poe­sie, ob­gleich ihre Wir­kung da un­fehl­bar ist wie die ei­nes blut­rüns­ti­gen Dra­mas. Die Säle sind voll von Schau­lus­ti­gen und Spie­lern, von not­lei­den­den Grei­sen, die sich hin­schlep­pen, um sich auf­zu­wär­men, von er­hitz­ten Ge­sich­tern; Or­gi­en, die im Wein be­gon­nen und in der Sei­ne en­den wer­den. Wenn hier auch Lei­den­schaft im Über­maß vor­han­den ist, so ist man we­gen der all­zu großen An­zahl der Ak­teu­re dar­an ge­hin­dert, den Dä­mon des Spiels von An­ge­sicht zu An­ge­sicht zu be­trach­ten. Der Abend gleicht ei­nem wah­ren En­sem­ble­stück, wo die gan­ze Trup­pe grölt und je­des In­stru­ment einen an­de­ren Part spielt. Man kann da manch ehr­ba­re Leu­te an­tref­fen, die der Zer­streu­ung we­gen kom­men und da­für zah­len wie fürs Thea­ter, für Ta­fel­freu­den oder den Be­such in ei­ner Dach­stu­be, wo sie wohl­feil drei Mo­na­te schmerz­haf­te Reue ein­han­deln. Aber be­greift man die wahn­wit­zi­ge Lei­den­schaft in der See­le ei­nes Man­nes, der un­ge­dul­dig das Öff­nen ei­nes Spiel­ka­si­nos er­war­tet? Der Spie­ler, der mor­gens kommt, un­ter­schei­det sich von dem am Abend wie der gleich­gül­ti­ge Ehe­mann von dem Lieb­ha­ber, der un­ter den Fens­tern sei­ner An­ge­be­te­ten schmach­tet. Nur mor­gens kommt die zit­tern­de Lei­den­schaft und die Not in ih­rem un­ver­hüll­ten Grau­en. Um die­se Zeit kann man den wah­ren Spie­ler be­wun­dern, einen Spie­ler, der nichts ge­ges­sen, nicht ge­schla­fen, nicht ge­lebt, über nichts nach­ge­dacht hat, so furcht­bar ist er von der Gei­ßel sei­nes Spiel­fie­bers durch­glüht wor­den, so sehr juckt es ihm in den Fin­gern nach ei­nem Tren­te-et-Qua­ran­te.6 Zu die­ser ver­häng­nis­vol­len Stun­de be­geg­net man Au­gen, de­ren Ruhe schau­dern macht, Ge­sich­tern, von de­nen man nicht los­kommt, Bli­cken, die die Kar­ten förm­lich durch­boh­ren und ver­schlin­gen. Groß­ar­tig sind die Spiel­häu­ser des­halb nur, wenn die Kar­ten ge­ge­ben sind und die Ku­geln zu rol­len be­gin­nen. Wie Spa­ni­en sei­ne Stier­kämp­fe, Rom einst sei­ne Gla­dia­to­ren ge­habt hat, so ist Pa­ris stolz auf sein Palais-Roy­al, des­sen ner­ven­zeh­ren­de Rou­let­tes das Ver­gnü­gen ver­schaf­fen, zu­zu­se­hen, wie das Blut in Strö­men fließt, ohne daß das Pub­li­kum Ge­fahr läuft, dar­in aus­zuglei­ten. Wol­len Sie einen flüch­ti­gen Blick in die­se Are­na wer­fen? Tre­ten Sie ein! … Wie kahl al­les rings­um ist! An die­sen Wän­den, die bis in Manns­hö­he von ei­ner fet­ti­gen Pa­pier­ta­pe­te be­deckt sind, kein ein­zi­ges Bild, das die See­le er­freu­en könn­te. Nicht ein­mal ein Na­gel ist da, der den Selbst­mord er­leich­tern könn­te. Das Par­kett ist aus­ge­tre­ten und schmut­zig. Ein läng­li­cher Tisch nimmt die Mit­te des Rau­mes ein. Die ge­wöhn­li­chen Rohr­stüh­le, die eng um das vom Gold ab­ge­wetz­te Tuch her­um­ste­hen, kün­den von ei­ner er­staun­li­chen Gleich­gül­tig­keit ge­gen den Lu­xus bei Män­nern, die doch hier­her­kom­men, sich um des Gel­des und des Lu­xus wil­len zu­grun­de zu rich­ten. Die­ser Wi­der­spruch im Men­schen wird dort sicht­bar, wo die See­le über­mäch­tig auf sich selbst zu­rück­wirkt. Der Lie­ben­de möch­te sei­ne Ge­lieb­te in Sei­de, in die schmei­cheln­den Ge­we­be des Ori­ents hül­len und be­sitzt sie die meis­te Zeit auf ei­nem arm­se­li­gen La­ger. Der Ehr­gei­zi­ge träumt sich auf dem Gip­fel der Macht, wäh­rend er sich im Schmutz knech­ti­scher Un­ter­wür­fig­keit er­nied­rigt. Der Kauf­mann ve­ge­tiert in den hin­te­ren Räu­men ei­nes un­ge­sun­den feuch­ten La­dens, der­weil er ein präch­ti­ges Haus bau­en läßt, aus dem sein Sohn und vor­zei­ti­ger Erbe spä­ter­hin durch eine vom Bru­der an­ge­ord­ne­te Zwangs­ver­stei­ge­rung hin­aus­ge­jagt wird. Gibt es schließ­lich et­was Freud­lo­se­res als ein Freu­den­haus? Selt­sa­mes Pro­blem! Wie der Mensch, im­mer im Wi­der­spruch mit sich selbst, sei­ne Hoff­nun­gen durch die Miß­hel­lig­kei­ten der Ge­gen­wart trügt, über sei­ne Miß­hel­lig­kei­ten mit ei­ner Zu­kunft hin­weg­täu­schen will, die ihm nicht ge­hört, und da­durch al­len sei­nen Hand­lun­gen den Stem­pel der In­kon­se­quenz und der Schwä­che auf­drückt! Das Un­glück al­lein ist auf Er­den voll­kom­men.

Als der jun­ge Mann den Saal be­trat, wa­ren schon ei­ni­ge Spie­ler ver­sam­melt. Drei alte Kahl­köp­fe sa­ßen in un­ge­zwun­ge­ner Hal­tung am grü­nen Tisch; ihre blei­chen, mas­ken­haft star­ren Ge­sich­ter, teil­nahms­lo­se Di­plo­ma­ten­mie­nen, lie­ßen er­ken­nen, daß ihre See­len ab­ge­stumpft wa­ren und ihre Her­zen seit lan­gem ver­lernt hat­ten, schnel­ler zu schla­gen, selbst wenn der letz­te Not­pfen­nig der Frau auf dem Spiel stand. Ein jun­ger schwarz­haa­ri­ger Ita­lie­ner mit oliv­far­be­nem Teint saß reg­los am Ende des Ti­sches, hat­te die Ell­bo­gen auf­ge­stützt und schi­en je­nen in­ne­ren Stim­men zu lau­schen, die ei­nem Spie­ler ver­häng­nis­voll zu­rau­nen: ›Ja! – Nein!‹ Der süd­län­di­sche Kopf at­me­te Gold und Feu­er. Sie­ben oder acht Zuschau­er stan­den im Krei­se her­um und harr­ten der Sze­nen, die ih­nen die Fü­gun­gen des Schick­sals, die Mi­mik der Spie­ler, die Be­we­gung des Gel­des und der Re­chen be­rei­ten soll­ten. Die­se Mü­ßig­gän­ger stan­den schweig­sam, starr und ge­spannt da, wie das Volk auf der Place de Grè­ve,7 wenn der Hen­ker einen Kopf ab­schlägt. Ein großer, ha­ge­rer Mann in fa­den­schei­ni­gem Rock hielt in der Hand ein Re­gis­ter und in der an­dern eine Na­del, mit der er den Wech­sel von Rot und Schwarz re­gis­trier­te. Das war ei­ner von je­nen, die am Ran­de al­ler Genüs­se ih­rer Zeit le­ben, ein mo­der­ner Tan­ta­lus,8 ei­ner je­ner Geiz­hälse, die kei­nen ro­ten Hel­ler ihr ei­gen nen­nen und um einen ima­gi­nären Ein­satz spie­len; eine Art ver­nünf­ti­ger Narr, der ei­ner Schi­mä­re nach­hängt, um über sein Elend hin­weg­zu­trös­ten, der mit dem Las­ter und der Ge­fahr um­geht wie jun­ge Pries­ter mit dem Abend­mahl, wenn sie wei­ße Mes­sen le­sen. Ein oder zwei je­ner ge­rie­be­nen Spe­ku­lan­ten, die die Chan­cen des Spiels ge­nau ein­schät­zen und al­ten Sträf­lin­gen glei­chen, wel­che die Ga­lee­re nicht mehr schreckt, hat­ten ih­ren Platz ge­gen­über der Bank ge­wählt, um drei Ein­sät­ze zu wa­gen und mit dem er­hoff­ten Ge­winn, von dem sie ihr Le­ben be­strit­ten, so­fort zu ver­schwin­den. Zwei alte Saal­die­ner schlen­der­ten mit ver­schränk­ten Ar­men auf und ab und blick­ten von Zeit zu Zeit durch die Fens­ter in den Park, wie um den Vor­über­ge­hen­den ihre nichts­sa­gen­den Ge­sich­ter als Aus­hän­ge­schild zu zei­gen. Der Crou­pier und der Bank­hal­ter hat­ten eben je­nen un­be­weg­ten Blick über die Spie­ler glei­ten las­sen, der ih­nen den Atem nimmt, und grell ihr: »Fai­tes le jeu!« ge­ru­fen, als der jun­ge Mann die Tür öff­ne­te. Ir­gend­wie wur­de die Stil­le noch tiefer, und alle Köp­fe wand­ten sich neu­gie­rig dem Neu­an­kömm­ling zu. Et­was Un­er­hör­tes ging vor: Die stump­fen Grei­se, die ver­stei­ner­ten An­ge­stell­ten, die Schau­lus­ti­gen, so­gar der fa­na­ti­sche Ita­lie­ner, alle emp­fan­den beim An­blick des Un­be­kann­ten ein Ge­fühl des Ent­set­zens. Muß man nicht sehr un­glück­lich sein, sehr hin­fäl­lig und un­heim­lich aus­se­hen, um in die­sem Saa­le, wo der Schmerz stumm sein muß, das Elend Fröh­lich­keit heu­chelt und die Verzweif­lung den An­stand wahrt, Mit­leid zu er­re­gen, Teil­nah­me zu er­we­cken, einen Schau­der her­vor­zu­ru­fen? Nun denn, in dem un­ge­wohn­ten Ge­fühl, das jene ei­si­gen Her­zen be­weg­te, als der jun­ge Mann ein­trat, war von al­le­dem et­was ent­hal­ten. Aber ha­ben nicht auch Hen­ker manch­mal über die Jung­frau­en ge­weint, de­ren blon­de Köp­fe auf einen Wink der Re­vo­lu­ti­on fal­len muß­ten?

Beim ers­ten Blick la­sen die Spie­ler in dem Ge­sicht des Neu­lings ein schreck­li­ches Ge­heim­nis; die An­mut sei­ner ju­gend­li­chen Züge war um­schat­tet, sein Blick zeug­te von ver­geb­li­chen An­stren­gun­gen und von tau­send ge­schei­ter­ten Hoff­nun­gen. Der düs­te­re Gleich­mut des zum Tode Ent­schlos­se­nen ver­lieh sei­ner Stirn eine mat­te, krank­haf­te Bläs­se; ein bit­te­res Lä­cheln zog lei­se Fal­ten in sei­ne Mund­win­kel, und der An­blick der tie­fen Hoff­nungs­lo­sig­keit, die sei­ne Züge aus­drück­ten, war kaum zu er­tra­gen. Ein ver­bor­ge­nes Ge­nie fla­cker­te im tiefs­ten In­ne­ren sei­ner um­flor­ten Au­gen, die viel­leicht von Ver­gnü­gun­gen er­mat­tet wa­ren. Hat­te die Aus­schwei­fung ihr schmut­zi­ges Sie­gel auf die­ses edle, ehe­mals rei­ne und leuch­ten­de, jetzt ent­wür­dig­te Ant­litz ge­drückt? Die Ärz­te hät­ten die gel­ben Rin­ge um die Au­gen und die Röte auf den Wan­gen zwei­fel­los ei­ner Krank­heit der Lun­ge oder des Her­zens zu­ge­schrie­ben, wäh­rend die Dich­ter Zei­chen Kräf­te ver­schlei­ßen­den geis­ti­gen Rin­gens, die Spu­ren nächt­li­chen Stu­di­ums beim kärg­li­chen Schein ei­ner Lam­pe dar­in ge­se­hen hät­ten. Aber eine Lei­den­schaft, töd­li­cher als Krank­heit, eine Krank­heit er­bar­mungs­lo­ser als Stu­di­um und Ge­nie, ver­heer­te die­ses jun­ge Ge­sicht, ver­krampf­te die­se be­weg­li­chen Mus­keln, preß­te die­ses Herz zu­sam­men, das Wol­lust, Stu­di­um und Krank­heit nur leicht ge­streift hat­ten. So wie im Ba­gno9 ein be­rühm­ter Ver­bre­cher bei sei­ner Ein­lie­fe­rung von al­len Sträf­lin­gen re­spekt­voll emp­fan­gen wird, so grüß­ten die­se mensch­li­chen Dä­mo­nen, die­se in al­len Fol­ter­qua­len Er­fah­re­nen einen un­er­hör­ten Schmerz, eine tie­fe Wun­de, die ihr Blick zu er­grün­den such­te, und er­kann­ten in ihm an der Ma­je­stät sei­ner stum­men Ver­ach­tung, der ele­gan­ten Kläg­lich­keit sei­ner Klei­dung einen ih­rer Fürs­ten. Der jun­ge Mann trug wohl einen Frack von gu­ter Fas­son, aber die Ver­bin­dung sei­ner Wes­te mit der Kra­wat­te war zu kunst­voll her­ge­stellt, als daß man dar­un­ter ein Hemd ver­mu­ten konn­te. Sei­ne Hän­de, hübsch wie die ei­ner Frau, wa­ren von zwei­fel­haf­ter Sau­ber­keit; seit zwei Ta­gen hat­te er kei­ne Hand­schu­he mehr ge­tra­gen. Wenn selbst den Crou­pier und die Saal­die­ner ein Schau­der über­flog, so weil über den fein­ge­schnit­te­nen Zü­gen, den na­tür­lich ge­well­ten dün­nen, blon­den Haa­ren noch ein Hauch von Un­schuld lag. Dies Ge­sicht war noch fünf­und­zwan­zig Jah­re jung, und das Las­ter schi­en dar­auf nur ein Zu­fall zu sein. Die Le­bens­kraft der Ju­gend kämpf­te dar­in noch an ge­gen die Ver­hee­run­gen un­ter­drück­ter Be­gier­den. Licht und Fins­ter­nis, Sein und Nichts strit­ten ge­gen­ein­an­der und zeug­ten An­mut und Grau­en zu­gleich. Der jun­ge Mann er­schi­en in die­ser Run­de wie ein En­gel ohne Strah­len­schein, der vom rech­ten Wege ab­ge­kom­men war. Und wie ein al­tes zahn­lo­ses Weib vom Mit­leid er­grif­fen wird, wenn es sieht, wie sich ein schö­nes jun­ges Mäd­chen dem Ver­der­ben preis­gibt, so wa­ren alle die­se Wür­den­trä­ger des Las­ters und der Schan­de nahe dar­an, dem Neu­ling zu­zu­ru­fen: »Flieh von hier!« Je­ner aber schritt ge­ra­de­wegs auf den Tisch zu, blieb ste­hen und warf auf gut Glück ein Gold­stück, das er in der Hand hielt, auf den Tisch. Es roll­te auf Schwarz; zu­gleich rich­te­te er, wie star­ke Na­tu­ren, die die quä­len­de Un­ge­wiß­heit ver­ab­scheu­en, einen un­ge­stü­men, wie­wohl ge­faß­ten Blick auf den Crou­pier. Das In­ter­es­se an die­sem Ein­satz war so groß, daß kei­ner der Al­ten setz­te; aber der Ita­lie­ner folg­te mit der Be­ses­sen­heit der Lei­den­schaft ei­nem Ge­dan­ken, der ihm ge­ra­de ge­lä­chelt hat­te, und setz­te sein gan­zes Gold ge­gen das Spiel des Un­be­kann­ten. Der Bank­hal­ter ver­gaß sei­ne ste­reo­ty­pen Wen­dun­gen zu ru­fen, die mit der Zeit hei­ser und un­ver­ständ­lich ge­wor­den sind: »Fai­tes le jeu! – Le jeu est fait! – Rien ne va plus.« Er brei­te­te die Kar­ten aus und schi­en dem Zu­letzt­ge­kom­me­nen Glück zu wün­schen, gleich­gül­tig, ob den Ver­an­stal­tern die­ses fins­tern Ver­gnü­gens Ge­winn oder Ver­lust dar­aus ent­stün­de. Je­der der Zuschau­er woll­te in dem Schick­sal die­ses Gold­stücks ein Dra­ma, die Schluß­sze­ne ei­nes ed­len Le­bens se­hen; ihre Au­gen, auf die ver­häng­nis­vol­len Kar­ten ge­hef­tet, fun­kel­ten; aber trotz der Auf­merk­sam­keit, mit der sie ab­wech­selnd den jun­gen Mann und die Kar­ten be­trach­te­ten, konn­ten sie auf sei­nem kal­ten und ge­faß­ten Ant­litz kein Zei­chen der Er­re­gung wahr­neh­men.

»Rou­ge, pair, pas­se«, ver­kün­de­te der Crou­pier im Amt­ston.

Eine Art dump­fen Rö­chelns ent­rang sich der Brust des Ita­li­e­ners, als er die ge­fal­te­ten Geld­schei­ne, die ihm der Bank­hal­ter zu­warf, einen nach dem an­de­ren vor sich nie­der­fal­len sah. Der jun­ge Mann in­des be­griff sei­nen Ruin erst in dem Au­gen­blick, als der Re­chen sei­nen letz­ten Na­po­le­on10 hin­weg­raff­te. Das El­fen­bein ent­lock­te dem Gold­stück, das rasch wie ein Pfeil auf den vor der Kas­se an­ge­sam­mel­ten Gold­hau­fen zu­flog, einen tro­ckenen Ton. Der Un­be­kann­te schloß sacht die Au­gen; sei­ne Lip­pen wur­den bleich; aber bald hob er die Li­der, sein Mund ge­wann ko­ral­le­ne Röte, er nahm die Mie­ne ei­nes Eng­län­ders an, für den das Le­ben kei­ne Ge­heim­nis­se mehr birgt, und ent­fern­te sich, ohne mit ei­nem je­ner herz­zer­rei­ßen­den Bli­cke um Trost zu fle­hen, die ver­zwei­fel­te Spie­ler häu­fig ge­nug den An­we­sen­den zu­wer­fen. Wie­viel pas­siert im Zeit­raum ei­ner Se­kun­de und wie­viel hängt von ei­nem Wurf des Wür­fels ab!

»Das war ge­wiß sei­ne letz­te Pa­tro­ne«, sag­te lä­chelnd der Crou­pier nach ei­nem Au­gen­blick des Schwei­gens, in wel­chem er die­ses Gold­stück zwi­schen Dau­men und Zei­ge­fin­ger hoch­ge­hal­ten hat­te, um es den An­we­sen­den zu zei­gen. »Der ist so über­spannt, daß er sich ins Was­ser stür­zen wird«, sag­te ein Ge­wohn­heits­s­pie­ler mit ei­nem Blick auf die an­dern, die ein­an­der alle kann­ten.

»Ach was!« rief der Saal­die­ner und nahm eine Pri­se Ta­bak.

»Hät­ten wir es nur ge­macht wie der Mon­sieur dort!« sag­te ei­ner von den Grei­sen zu sei­nen Kol­le­gen und deu­te­te auf den Ita­lie­ner.

Alle sa­hen auf den glück­li­chen Ge­win­ner, des­sen Hän­de beim Zäh­len der Bank­no­ten zit­ter­ten.

»Ich habe eine Stim­me ge­hört, die mir ins Ohr rief, das Spiel wer­de ge­gen die Verzweif­lung die­ses jun­gen Man­nes recht be­hal­ten«, sag­te er.

»Das war kein Spie­ler«, mein­te der Bank­hal­ter, »sonst hät­te er sein Geld in drei Tei­le ge­teilt, um bes­se­re Ge­winn­chan­cen zu ha­ben.«

Der jun­ge Mann woll­te hin­aus­ge­hen, ohne sei­nen Hut zu ver­lan­gen; aber der alte Wach­hund hat­te den arm­se­li­gen Zu­stand die­ser Kopf­be­de­ckung be­merkt und reich­te sie ihm wort­los hin. Der Spie­ler gab mit me­cha­ni­scher Be­we­gung die Gar­de­ro­ben­mar­ke zu­rück und stieg die Trep­pe hin­un­ter, in­dem er ›Di tan­ti pal­pi­ti‹11 pfiff, aber so lei­se, daß er die rei­zen­de Me­lo­die kaum selbst ver­nahm.

Er be­fand sich bald un­ter den Bo­gen­gän­gen des Palais-Roy­al, ging bis zur Rue Saint-Ho­noré, schlug dann den Weg zu den Tui­le­ri­en12 ein und durch­quer­te un­schlüs­sig den Park. Er lief, als wäre er mit­ten in ei­ner Wüs­te; Men­schen stie­ßen ihn, die er nicht sah, er hör­te durch das Ge­schrei der Men­ge hin­durch nur eine Stim­me: die des To­des. Er war in ein läh­men­des Nach­den­ken ver­lo­ren, wie es einst jene dem Scha­fott Be­stimm­ten be­fiel, die ein Kar­ren vom Jus­tiz­pa­last zur Place de Grè­ve führ­te, zu je­nem Richt­platz, der ge­tränkt ist von all dem Blut, das seit 179313 dort ver­gos­sen wur­de.

Et­was Gro­ßes und Ent­setz­li­ches liegt im Selbst­mord. Bei den meis­ten Men­schen ist ein Sturz so un­ge­fähr­lich wie bei Kin­dern, die zu nied­rig fal­len, um sich ernst­lich zu ver­let­zen; aber wenn ein großer Mann zer­schmet­tert, muß er aus großer Höhe ge­fal­len sein, muß er sich bis zu den Him­meln er­ho­ben und ein un­er­reich­ba­res Pa­ra­dies er­schaut ha­ben. Uner­bitt­lich müs­sen die Ge­wal­ten sein, die ihn trei­ben, von der Mün­dung ei­ner Pis­to­le Frie­den für sei­ne See­le zu er­lan­gen. Wie­viel jun­ge Ta­len­te ver­zeh­ren sich und ge­hen, in ei­ner Man­sar­de ein­ge­sperrt, zu­grun­de, weil ih­nen ein Freund fehlt, eine Frau, die sie trös­tet, und das in­mit­ten von Mil­lio­nen von We­sen, an­ge­sichts ei­ner am Gold über­sät­tig­ten, von Lan­ge­wei­le ge­pei­nig­ten Men­ge! Wenn man dies be­denkt, er­scheint der Selbst­mord un­ge­heu­er­lich. Gott al­lein weiß, wie­viel Ent­wür­fe, un­voll­en­de­te Dich­tun­gen, wie­viel Verzweif­lung und er­stick­te Schmer­zens­schreie, wie­viel miß­lun­ge­ne Ver­su­che und ver­wor­fe­ne Meis­ter­wer­ke zwi­schen dem frei­wil­li­gen Tode und der kei­men­den Hoff­nung lie­gen, de­ren Stim­me den jun­gen Mann einst nach Pa­ris ge­lockt hat. Je­der Selbst­mord ist ein Poem von er­ha­be­ner Me­lan­cho­lie. Wo fän­de man im Ozean der Li­te­ra­tu­ren ein die Zei­ten über­dau­ern­des Buch, das sich an Poe­sie mit die­ser Zei­tungs­no­tiz mes­sen könn­te: ›Ges­tern um vier Uhr stürz­te sich eine jun­ge Frau vom Pont-des-Arts in die Sei­ne.‹

Vor die­sem Pa­ri­ser La­ko­nis­mus ver­blas­sen alle Dra­men und Ro­ma­ne, selbst je­nes alte Ti­tel­blatt: ›Die Kla­gen des ruhm­rei­chen Kö­nigs von Kaër­na­van, den sei­ne Kin­der in den Ker­ker war­fen‹; der ein­zi­ge Über­rest ei­nes ver­lo­ren­ge­gan­ge­nen Bu­ches, das den har­ten Ster­ne, der doch selbst Frau und Kin­der ver­las­sen hat­te, zum Wei­nen brach­te.

Tau­send ähn­li­che Ge­dan­ken stürm­ten auf den Un­be­kann­ten ein, jag­ten bruch­stück­haft an sei­nem in­ne­ren Auge vor­über, zer­fetz­ten Fah­nen gleich, die mit­ten im Schlacht­ge­tüm­mel auf­flat­tern. Warf er einen kur­z­en Au­gen­blick lang die Last sei­ner Ge­dan­ken und Erin­ne­run­gen ab, um vor ei­ni­gen Blu­men still zu ste­hen, de­ren Blü­ten sich auf der wei­ten Ra­sen­flä­che sacht im Wind wieg­ten, durch­zuck­te ihn dann das Le­ben, das sich noch bäum­te un­ter dem las­ten­den To­des­ge­dan­ken, hob er die Au­gen zum Him­mel: doch dort rie­ten ihm die grau­en Wol­ken, die trau­er­be­la­de­nen Wind­stö­ße, die nie­der­drücken­de At­mo­sphä­re zu ster­ben. Er nahm den Weg zum Pont Roy­al und sann über die letz­ten selt­sa­men Ein­fäl­le sei­ner Vor­gän­ger nach. Er muß­te lä­cheln, als ihm ein­fiel, daß Lord Cast­le­reagh14 erst das be­schei­dens­te mensch­li­che Be­dürf­nis be­frie­digt hat­te, be­vor er sich die Keh­le durch­schnitt, und daß Au­ger,15 Mit­glied der Aka­de­mie, sei­ne Ta­baks­do­se ge­holt hat­te, um auf dem Weg zum Tode schnup­fen zu kön­nen. Er durch­dach­te die­se Ab­son­der­lich­kei­ten und be­frag­te sich dar­auf­hin selbst, wo­bei er sich da­bei er­tapp­te, wie er sorg­sam den wei­ßen Staub ab­schüt­tel­te, mit dem ein Last­trä­ger der Hal­len, wel­chem er, dicht an das Brücken­ge­län­der ge­preßt, aus­ge­wi­chen war, sei­nen Rock­är­mel be­schmutzt hat­te. Als er auf dem höchs­ten Punkt der Brücken­wöl­bung an­ge­langt war, starr­te er trüb­sin­nig ins Was­ser.

»Schlech­tes Wet­ter, sich zu er­trän­ken!« rief ihm ein al­tes, zer­lump­tes Weib la­chend zu. »Die Sei­ne ist kalt und schmut­zig!«

Er ant­wor­te­te mit ei­nem kna­ben­haf­ten Lä­cheln, das den gan­zen Wahn­witz sei­nes Ent­schlus­ses be­wies; aber plötz­lich schau­der­te er, als er in der Fer­ne am Ha­fen der Tui­le­ri­en über ei­ner Ba­ra­cke in fuß­ho­hen Let­tern die Auf­schrift er­blick­te: ›Ret­tungs­sta­tion‹. Mon­sieur Da­cheux16 er­schi­en ihm im Rüst­zeug sei­ner Phil­an­thro­pie, wie er jene tu­gend­haf­ten Ru­der­stan­gen in Be­we­gung setz­te, die den Er­trin­ken­den die Schä­del­de­cke ein­schla­gen, wenn sie un­glück­se­li­ger­wei­se noch ein­mal an die Was­sero­ber­flä­che ge­lan­gen. Er sah ihn die neu­gie­ri­gen Gaf­fer her­bei­lo­cken, einen Arzt auf­trei­ben, Ta­ba­krauch be­reit­hal­ten;17 er las die To­des­mel­dun­gen der Jour­na­lis­ten, die sie zwi­schen der Aus­ge­las­sen­heit ei­nes Ge­la­ges und dem Lä­cheln ei­ner Tän­ze­rin nie­der­ge­schrie­ben hat­ten, hör­te die Ta­ler klin­gen, die der Po­li­zei­prä­fekt den Boots­füh­rern für sei­nen Kopf aus­zahl­te. Tot war er 50 Fran­cs wert, le­bend war er nichts wei­ter als ein ta­lent­vol­ler jun­ger Mann ohne Pro­tek­ti­on, ohne Freun­de, ohne Stroh­sack als La­ger, ohne Be­deu­tung, eine wah­re so­zia­le Null, ohne Nut­zen für den Staat, der sich um ihn nicht scher­te. Ein Tod am hel­lich­ten Tag er­schi­en ihm wür­de­los, er be­schloß in der Nacht zu ster­ben, um die­ser Ge­sell­schaft, die die Grö­ße sei­nes Le­bens nicht zu schät­zen wuß­te, einen un­kennt­li­chen Leich­nam zu hin­ter­las­sen. Er setz­te also sei­nen Weg fort und wand­te sich, schlen­dernd wie ein Mü­ßig­gän­ger, der die Zeit tot­schla­gen will, zum Quai Vol­taire. Als er die Stu­fen, in die die Brücke aus­läuft, hin­ab­stieg, wur­de sei­ne Auf­merk­sam­keit an der Ecke des Quais von al­ten Bü­chern an­ge­zo­gen, die auf der Brüs­tung aus­ge­brei­tet wa­ren; es hät­te nicht viel ge­fehlt, und er hät­te ei­ni­ge da­von er­han­delt. Er muß­te wie­der lä­cheln, steck­te die Hän­de phi­lo­so­phie­rend in die Ho­sen­ta­schen und nahm wie­der die un­be­küm­mer­te, von kal­ter Ver­ach­tung durch­drun­ge­ne Hal­tung an, als er zu sei­ner Über­ra­schung in sei­ner Ta­sche ei­ni­ge Geld­stücke auf eine wahr­haft phan­tas­ti­sche Art klin­gen hör­te. Ein Hoff­nungs­schim­mer er­hell­te sein Ge­sicht, glitt von den Lip­pen über Wan­gen und Stirn und ließ sei­ne Au­gen vor Freu­de strah­len. Doch die­ser Fun­ke Glück glich dem Auf­glim­men ei­nes Stück Pa­piers, das die Flam­me be­reits ver­zehrt hat; und so wie die­ser in schwar­zer Asche ver­lischt, ver­düs­ter­te sich das Ant­litz des Un­be­kann­ten wie­der, als er die Hand has­tig aus der Ta­sche zog und drei große Sous er­blick­te.

»Ach, lie­ber Mon­sieur, la ca­rità! La ca­rità! Ca­ta­ri­na! Nur einen klei­nen Sou für Brot!«

Ein klei­ner Schorn­stein­fe­ger mit auf­ge­dun­se­nem schwar­zen Ge­sicht, ru­ßig­brau­nem Kör­per und zer­lump­ten Klei­dern, streck­te die Hand aus, um ihm das letz­te Geld ab­zu­bet­teln.

Zwei Schrit­te von dem klei­nen Sa­voyar­den ent­fernt, stand ein ar­mer, de­mü­ti­ger Al­ter, hin­fäl­lig, be­dürf­tig und elend, in eine zer­schlis­se­ne Ta­pis­se­rie gehüllt, der ihn mit dump­fer ein­dring­li­cher Stim­me bat: »Mon­sieur, ge­ben Sie mir, was Sie wol­len, ich wer­de für Sie be­ten …« Aber als der jun­ge Mann den Al­ten an­ge­blickt hat­te, ver­stumm­te die­ser und ver­lang­te nichts mehr. Es moch­te ihm aus die­sem düs­tern Ge­sicht wohl eine noch här­te­re Not als die sei­ne ent­ge­gen­star­ren.

»La ca­rità! La ca­rità!«

Der Un­be­kann­te warf dem Kna­ben und dem ar­men Al­ten sein Geld hin, ver­ließ den Ufer­weg und ging zu den Häu­sern hin­über, da ihm der quä­len­de An­blick der Sei­ne un­er­träg­lich ge­wor­den war.

»Wir wer­den Gott um die Er­hal­tung Ih­rer Tage bit­ten«, rie­fen ihm die bei­den Bett­ler nach.

An der Aus­la­ge ei­nes Kunst­händ­lers sah der jun­ge Mann, der den Le­ben­den schon fast nicht mehr an­ge­hör­te, eine jun­ge Frau aus ei­ner glän­zen­den Equi­pa­ge stei­gen. Hin­ge­ris­sen blick­te er auf die rei­zen­de Er­schei­nung, de­ren zar­tes Ge­sicht sich von dem At­las ih­res ele­gan­ten Hu­tes har­mo­nisch ab­hob. Die schlan­ke Ge­stalt, die an­mu­ti­gen Be­we­gun­gen ent­zück­ten ihn. Das Kleid wur­de beim Aus­s­tei­gen aus dem Wa­gen leicht zu­rück­ge­schla­gen und ließ ein wohl­ge­form­tes Bein se­hen, das ein wei­ßer Strumpf fein um­spann­te. Die jun­ge Frau be­trat den La­den und ließ sich Al­ben, Samm­lun­gen von Li­tho­gra­phien vor­le­gen und kauf­te für meh­re­re Gold­stücke, die auf dem La­den­tisch fun­kel­ten und klan­gen. Der jun­ge Mann, der an der Tür­schwel­le schein­bar da­mit be­schäf­tigt war, die Gra­vü­ren in der Aus­la­ge zu be­trach­ten, sand­te der schö­nen Un­be­kann­ten die glü­hends­ten Bli­cke, zu de­nen ein Mann fä­hig ist, sie hin­ge­gen blick­te nur ein­mal un­be­küm­mert zu ihm hin, wie man zu­fäl­lig ir­gend­ei­nen Passan­ten an­sieht. Für ihn war es ein Ab­schied von der Lie­be, von den Frau­en! Aber die­ser letz­te, in­brüns­ti­ge Hil­fe­ruf glitt un­ver­stan­den ab, rühr­te das Herz die­ser leicht­fer­ti­gen Frau nicht, ließ sie nicht er­rö­ten, nicht die Au­gen nie­der­schla­gen. Was war es für sie? Ein Zei­chen der Be­wun­de­rung mehr, ein Ver­lan­gen, das sie ein­ge­flö­ßt hat­te und das ihr am Abend die schmei­cheln­den Wor­te ein­gab: »Ich habe heu­te ›gut‹ aus­ge­se­hen.« Der jun­ge Mann schritt rasch zu ei­nem an­de­ren Fens­ter und dreh­te sich nicht mehr um, als die Un­be­kann­te ih­ren Wa­gen be­stieg. Die Pfer­de zo­gen an, und die­se letz­te Vi­si­on des Lu­xus und der Schön­heit schwand da­hin, wie sein Le­ben da­hin­schwin­den soll­te. Me­lan­cho­li­schen Schrit­tes ging er an den Ge­schäf­ten vor­bei und sah sich ohne großes In­ter­es­se die aus­ge­leg­ten Wa­ren an. Als die Lä­den auf­hör­ten, be­trach­te­te er den Lou­vre, das In­sti­tut, die Tür­me von Notre-Dame und vom Jus­tiz­pa­last und den Pont-des-Arts. Die­se Bau­wer­ke schie­nen trau­rig aus­zu­se­hen un­ter dem grau­en Wi­der­schein des Him­mels, durch den hie und da ein hel­ler Strahl drang, der Pa­ris be­droh­lich wir­ken ließ, denn die­se Stadt un­ter­liegt wie eine hüb­sche Frau un­er­klär­li­chen An­wand­lun­gen von Schön­heit und Häß­lich­keit. So schi­en sich die Na­tur selbst ver­schwo­ren zu ha­ben, den Tod­hei­schen­den in schmerz­li­che Ek­sta­se zu tau­chen. Je­ner un­heil­vol­len Macht aus­ge­lie­fert, de­ren zer­set­zen­de Wir­kung mit dem Strom un­se­rer Ner­ven den gan­zen Or­ga­nis­mus durch­dringt, war es ihm, als ob sein Kör­per sich all­mäh­lich ei­nem Schwe­be­zu­stand nä­her­te. Un­ter dem An­sturm die­ser To­de­s­pein schwank­te er gleich ei­ner auf­ge­peitsch­ten Wel­le und nahm Ge­bäu­de und Men­schen wie durch einen Ne­bel wahr, in dem al­les wog­te und ver­schwamm. Er woll­te sich dem Druck ent­zie­hen, den die­se Auf­leh­nung sei­ner phy­si­schen Na­tur auf sei­ne See­le aus­üb­te, und ging auf einen An­ti­qui­tä­ten­la­den zu, wo er sei­ne Sin­ne ab­zu­len­ken oder beim Han­deln um Kunst­ge­gen­stän­de die Nacht zu er­war­ten be­ab­sich­tig­te. Er tat dies so­zu­sa­gen, um sich Mut zu ma­chen und eine Herz­stär­kung zu sich zu neh­men, wie die Ver­bre­cher, die auf ih­rem Gang zum Scha­fott ih­rer Kraft nicht trau­en. Doch das Be­wußt­sein sei­nes na­hen To­des lieh dem jun­gen Mann für einen Au­gen­blick die Si­cher­heit ei­ner Her­zo­gin, die zwei Lieb­ha­ber hat, und so trat er un­be­fan­gen, mit dem star­ren Lä­cheln ei­nes Trun­ke­nen, in den La­den des An­ti­qui­tä­ten­händ­lers. War er denn nicht trun­ken vom Le­ben oder viel­mehr vom Tode? Bald be­fiel ihn wie­der der Schwin­del, und die Ge­gen­stän­de er­schie­nen ihm in selt­sa­men Far­ben oder ver­scho­ben sich leicht, als wä­ren sie be­lebt, was höchst­wahr­schein­lich dem un­re­gel­mä­ßi­gen Krei­sen sei­nes Blu­tes zu­zu­schrei­ben war, das bald kas­ka­den­gleich braus­te, bald matt und träg wie lau­es Was­ser da­hin­floß. Er er­klär­te ein­fach, die La­ger­räu­me be­sich­ti­gen zu wol­len, um dort et­wai­ge Ku­rio­si­tä­ten aus­fin­dig zu ma­chen, die ihm zu­sag­ten. Ein fri­scher, paus­bä­cki­ger Bur­sche mit ro­tem Haar­schopf, auf dem eine Ot­ter­müt­ze saß, über­trug die Auf­sicht des La­dens ei­ner al­ten Bäue­rin, ei­ner Art weib­li­chen Ca­li­bans,18 die ge­ra­de einen Ofen säu­ber­te, ein Wun­der­werk des ge­nia­len Ber­nard Pa­lis­sy;19 dann sag­te er mit sorg­lo­ser Mie­ne zu dem Frem­den: »Schau­en Sie sich nur um, Mon­sieur! Hier un­ten sind nur ganz ge­wöhn­li­che Sa­chen. Wenn Sie sich aber die Mühe ma­chen wol­len, mit in die ers­te Eta­ge hin­auf­zu­stei­gen, kann ich Ih­nen sehr schö­ne Mu­mi­en aus Kai­ro zei­gen, meh­re­re in­krus­tier­te Töp­fer­ar­bei­ten und ein paar Eben­holz­schnit­ze­rei­en, ›ech­te Re­naissance‹ kürz­lich erst ein­ge­trof­fen und ein­fach wun­der­voll.«

In sei­ner ent­setz­li­chen Lage emp­fand der Un­be­kann­te die­ses Ci­ce­ro­nen­ge­schwätz,20 die­se dum­men Kauf­manns­phra­sen wie die al­ber­nen Scher­ze, mit de­nen be­schränk­te Geis­ter einen Mann von Ge­nie pei­ni­gen. Aber er trug sein Kreuz bis zum bit­te­ren Ende, hör­te sei­nem Füh­rer mit hal­b­em Ohre zu und ant­wor­te­te mit Ges­ten und ver­ein­zel­ten Wor­ten. Doch nach und nach wuß­te er sich das Recht zu er­obern, in Schwei­gen zu ver­har­ren, und konn­te sich be­den­ken­los sei­nen letz­ten grau­en­vol­len Be­trach­tun­gen über­las­sen. Er war Poet, und un­ver­mu­tet fand sei­ne See­le hier Nah­rung in Hül­le und Fül­le vor: er soll­te die Ge­bei­ne aus zwan­zig Wel­ten im vor­aus zu se­hen be­kom­men.

Auf den ers­ten Blick bo­ten ihm die La­ger­räu­me ein wir­res Bild, auf dem sich Welt­li­ches und Hei­li­ges durch­ein­an­der­häuf­te. Aus­ge­stopf­te Kro­ko­di­le, Af­fen, Rie­sen­schlan­gen grins­ten Kir­chen­fens­ter an, es schi­en, als woll­ten sie ihre Zäh­ne in Büs­ten schla­gen, nach Lack­ar­bei­ten ha­schen oder an Kron­leuch­tern em­por­klet­tern. Eine Sèvres­va­se mit dem Bild Na­po­le­ons von Ma­da­me Jaquo­tot21 stand ne­ben ei­ner dem Se­sost­ris22 ge­weih­ten Sphinx. Die An­fän­ge der Welt und die Be­ge­ben­hei­ten von ges­tern fan­den sich auf eine gro­tesk fried­li­che Art mit­ein­an­der ver­bun­den. Ein Bra­ten­wen­der lag auf ei­ner Mon­stranz, ein re­pu­bli­ka­ni­scher Sä­bel auf ei­ner mit­tel­al­ter­li­chen Ha­ken­büch­se. Ma­da­me Du­bar­ry,23 von La­tour24 in Pas­tell ge­malt, nackt, in ei­ner Wol­ke mit ei­nem Stern auf dem Kopf, schi­en lüs­tern einen tür­ki­schen Tschi­buk25 zu be­trach­ten, als woll­te sie den Zweck der sich ihr ent­ge­gen­schlän­geln­den Spi­ra­len er­grün­den. Werk­zeu­ge des To­des, Dol­che, selt­sa­me Pis­to­len, Ge­heim­waf­fen, Rüs­tun­gen, la­gen in bun­tem Durchein­an­der ne­ben den Gerät­schaf­ten des Le­bens: Por­zel­lan­schüs­seln, Mei­ße­ner Tel­lern, hauch­dün­nen chi­ne­si­schen Tas­sen, an­ti­ken Salz­näp­fen, Kon­fekt­scha­len aus ad­li­gem Fa­mi­li­en­be­sitz. Ein Schiff aus El­fen­bein wog­te mit ge­schwell­ten Se­geln auf dem Rücken ei­ner reg­lo­sen Schild­krö­te. Eine Luft­pum­pe stieß dem Kai­ser Au­gus­tus, der es er­ha­ben kalt­blü­tig hin­zu­neh­men schi­en, ein Auge aus. Ge­fühl­los wie zu ih­ren Leb­zei­ten schau­ten fran­zö­si­sche Schöf­fen und hol­län­di­sche Bür­ger­meis­ter bleich und kalt von ih­ren Por­träts auf die­ses Cha­os von an­ti­kem Klein­kram her­nie­der. Alle Län­der der Erde schie­nen Über­bleib­sel ih­rer Wis­sen­schaf­ten, eine Pro­be ih­rer Kunst hier­her­ge­sandt zu ha­ben. Es war eine Art phi­lo­so­phi­schen Keh­richt­hau­fens, auf dem nichts fehl­te, von der Frie­dens­pfei­fe des Wil­den bis zum grün-gol­de­nen Pan­tof­fel aus dem Serail, vom Krumm­schwert des Mau­ren bis zum Göt­zen­bild der Ta­ta­ren. Ja so­gar der Ta­baks­beu­tel des Sol­da­ten, der Kelch des Pries­ters und die Fe­dern von ei­nem Thron wa­ren da zu fin­den. Über­dies wur­de die­se mons­trö­se Sze­ne­rie von tau­send­fach wech­seln­den bi­zar­ren Licht­re­fle­xen be­herrscht, die dem Wirr­warr der Farb­tö­ne und dem schrof­fen Kon­trast von Hell und Dun­kel ent­spran­gen. Das Ohr ver­mein­te, er­stick­te Schreie zu ver­neh­men, der Geist, un­voll­en­de­te Dra­men zu er­fas­sen, das Auge, einen ver­bor­ge­nen Licht­schein zu er­spä­hen. Hart­nä­cki­ger Staub hat­te sei­nen leich­ten Schlei­er über alle Ge­gen­stän­de ge­brei­tet, de­ren zahl­rei­che Kan­ten und Run­dun­gen die ma­le­rischs­ten Wir­kun­gen her­vor­rie­fen.

Der Frem­de ver­glich die­se drei mit den Pro­duk­ten der Zi­vi­li­sa­ti­on, den Zeug­nis­sen der ver­schie­dens­ten Kul­te, mit Gott­hei­ten, Meis­ter­wer­ken, kö­nig­li­chen In­si­gni­en, mit Aus­schwei­fung, Ver­nunft und Toll­heit voll­ge­pfropf­ten Räu­me zu­nächst ei­nem Spie­gel aus zahl­rei­chen Fa­cet­ten, de­ren jede eine Welt zeigt. Nach dem ers­ten ver­wor­re­nen Ein­druck woll­te er ein­zel­ne Ge­gen­stän­de aus­wäh­len und ge­nie­ße­risch be­trach­ten; doch nach dem vie­len Se­hen, Den­ken und Träu­men be­fiel ihn ein hef­ti­ges Fie­ber, das wohl von dem in sei­nen Ein­ge­wei­den na­gen­den Hun­ger her­rüh­ren moch­te. Der An­blick so vie­ler Pfän­der, die von ver­sun­ke­nen Na­tio­nen und da­hin­ge­gan­ge­nen Le­ben der Men­schen zeug­ten, be­täub­te vollends die Sin­ne des jun­gen Man­nes; der Wunsch, der ihn in den La­den ge­trie­ben hat­te, war er­hört wor­den: er ver­ließ die Wirk­lich­keit, stieg all­mäh­lich zu ei­ner Traum­welt em­por, ge­lang­te in den Zau­ber­pa­last der Ek­sta­se, wo ihm das Uni­ver­sum bruch­stück­haft und in Feu­er ge­taucht er­schi­en, so wie einst vor den Au­gen des hei­li­gen Jo­han­nes auf Pat­mos die Zu­kunft flam­mend vor­über­zog.

Un­zäh­li­ge Ge­stal­ten, schmerz­be­weg­te, lieb­li­che und schreck­li­che, fins­te­re und leuch­ten­de, fer­ne und nahe, er­ho­ben sich in Scha­ren, in My­ria­den, in Ge­ne­ra­tio­nen. Vor ei­ner von schwar­zen Bän­dern um­wi­ckel­ten Mu­mie wuchs starr und ge­heim­ni­sum­wo­ben Ägyp­ten aus dem Sand; dann die Pha­rao­nen, die um ih­rer Grab­mä­ler wil­len gan­ze Völ­ker in den Tod trie­ben; dann Mo­ses, die He­brä­er und die Wüs­te, eine fei­er­li­che, ur­al­te Welt. Eine Mar­mor­sta­tue, auf ei­nem Säu­len­tor­so sit­zend, frisch, an­mu­tig und von strah­len­der Wei­ße, ließ die wol­lüs­ti­gen My­then Grie­chen­lands und Io­ni­ens vor ihm er­ste­hen. Und wen hät­te es nicht gleich ihm ent­zückt, auf dem fei­nen ro­ten Ton ei­ner etrus­ki­schen Vase ein jun­ges braun­häu­ti­ges Mäd­chen vor dem Gott Pria­pus tan­zen zu se­hen, den es mit hei­te­rer Mie­ne grüß­te? Ge­gen­über lieb­kos­te zärt­lich eine rö­mi­sche Kö­ni­gin ihre Chi­mära.26 Dort leb­ten all die Lau­nen des kai­ser­li­chen Roms wie­der auf, das Bad, das La­ger, die Toi­let­te ei­ner träu­me­risch trä­gen Ju­lia, die ih­ren Ti­bull er­war­tet. Mit der Macht ara­bi­scher Ta­lis­ma­ne weck­te der Kopf Ci­ce­ros die Erin­ne­rung an das freie Rom in ihm und ließ die Sei­ten des Ti­tus Li­vi­us27 vor ihm ab­rol­len. Der jun­ge Mann las ›Se­na­tus Po­pu­lus­que Ro­ma­nus‹;28 wie ne­bel­haf­te Traum­ge­stal­ten zo­gen der Kon­sul, die Lik­to­ren, die pur­pur­ge­säum­ten To­gen, die Kämp­fe des Forums, das er­zürn­te Volk lang­sam an ihm vor­bei. Schließ­lich über­tön­te das christ­li­che Rom die­se Bil­der. Ein Ge­mäl­de öff­ne­te die himm­li­schen Ge­fil­de, er er­blick­te die Jung­frau Ma­ria in­mit­ten von En­geln auf ei­ner gol­de­nen Wol­ke, den Glanz der Son­ne über­strah­lend, wie sie, die wie­der­er­stan­de­ne Eva, gü­tig lä­chelnd die Kla­gen der Un­glück­li­chen an­hört. Wie er ein Mo­sa­ik­bild be­rühr­te, das aus der ver­schie­den­far­bi­gen Lava des Ve­suv und des Ätna zu­sam­men­ge­setzt war, flog sei­ne See­le in das war­me, heiß­blü­ti­ge Ita­li­en. Er wohn­te den Or­gi­en der Bor­gia29 bei, durch­streif­te die Abruz­zen, warb um die Lie­be ita­lie­ni­scher Frau­en, ent­brann­te in Lei­den­schaft für ihr wei­ßes Ant­litz mit den schwar­zen Man­delau­gen. Er schau­der­te, nächt­li­che Er­fül­lung wur­de von der kal­ten Klin­ge des Ehe­manns jäh un­ter­bro­chen, als er einen mit­tel­al­ter­li­chen Dolch ge­wahr­te, des­sen Griff fein zi­se­liert war und auf dem Rost­fle­cke an Blut ge­mahn­ten. In­di­en und sei­ne Re­li­gio­nen wur­den le­ben­dig in ei­nem chi­ne­si­schen Göt­zen, an­ge­tan mit Gold und Sei­de, ei­nem spit­zen Hut, mit ge­schwun­ge­nen Rau­ten, rund­um mit Glöck­chen be­hängt. Da­ne­ben ström­te eine Bin­sen­mat­te, hübsch wie die Ba­ja­de­re, die sich einst­mals dar­auf zu­sam­men­ge­rollt ha­ben moch­te, noch den her­ben Duft des San­del aus. Ein chi­ne­si­sches Un­ge­heu­er mit ver­dreh­ten Au­gen, ver­zerr­tem Mund, ver­renk­ten Glie­dern bot der See­le neu­en Reiz in der Fin­dig­keit ei­nes Vol­kes, das, des ein­för­mig Schö­nen über­drüs­sig, un­er­schöpf­li­che Freu­den in der Frucht­bar­keit des Häß­li­chen fin­det. Ein Salz­napf aus den Werk­stät­ten des Ben­ve­nu­to Cel­li­ni30 ver­setz­te ihn mit­ten in die Re­naissance, in die Zeit, da Kunst und Hand­werk blüh­ten, da Fürs­ten sich an Fol­te­run­gen er­götz­ten und Kon­zi­le in den Ar­men von Kur­ti­sa­nen lie­gend den ein­fa­chen Pries­tern Keusch­heit vor­schrie­ben. Auf ei­ner Ka­mee sah er die Sie­ge Alex­an­ders; die Massa­ker Pi­zar­ros auf ei­ner Lun­ten­schloß­mus­ke­te; auf ei­nem Helm die wil­den, hit­zi­gen, grau­sa­men Re­li­gi­ons­krie­ge. Dann tauch­ten aus ei­ner präch­tig da­mas­zier­ten, blank­ge­putz­ten mai­län­di­schen Rüs­tung, un­ter de­ren Vi­sier noch die Au­gen ei­nes Palad­ins zu fun­keln schie­nen, die hei­tern Bil­der der Rit­ter­zeit em­por.

Die­ses Meer von Haus­rat, Er­fin­dun­gen, Mo­den, Kunst­wer­ken und Bruch­stücken bil­de­te für ihn ein end­lo­ses Poem. For­men, Far­ben, Ge­dan­ken, al­les leb­te wie­der auf, doch kein Gan­zes bot sich der See­le dar. Der Dich­ter muß­te die Skiz­zen des großen Ma­lers er­gän­zen, auf des­sen un­ge­heu­rer Pa­let­te die zahl­lo­sen Er­zeug­nis­se mensch­li­chen Le­bens in ver­schwen­de­ri­scher Fül­le acht­los zu­sam­men­ge­wor­fen wa­ren. Nach­dem der jun­ge Mann die Welt ge­schaut, Län­der, Zeit­al­ter, Herr­sche­re­po­chen an sich hat­te vor­über­zie­hen las­sen, wand­te er sich ein­zel­nen Schick­sa­len zu. Er ver­setz­te sich in neue Ge­stal­ten, wo­bei er sich an Ein­zel­hei­ten ori­en­tier­te und das Le­ben der Völ­ker, als zu nie­der­drückend für einen ein­zel­nen Men­schen, bei­sei­te ließ.

Dort schlief ein Kind aus Wachs, aus dem Ka­bi­nett von Ruysch31 ge­ret­tet, und die­ses lieb­li­che Ge­schöpf rief die Freu­den sei­ner ei­ge­nen Kind­heit in ihm wach. Bei dem zau­ber­haf­ten An­blick des Bast­schur­zes ei­nes jun­gen Mäd­chens aus Ta­hi­ti mal­te sei­ne glü­hen­de Phan­ta­sie ihm das ein­fa­che Le­ben in der Na­tur aus, die keu­sche Nackt­heit ech­ter Scham, die Won­nen des dem Men­schen ei­ge­nen Mü­ßig­gan­ges, ein gan­zes Le­ben der Ruhe am Ran­de ei­nes kla­ren ver­träum­ten Ba­ches, un­ter ei­nem Bana­nen­baum, der auch ohne Pfle­ge sein wohl­schme­cken­des Man­na spen­det. Doch dann plötz­lich wur­de er Kor­sar und hüll­te sich in die schreck­li­che Poe­sie des Lara,32 die ihm aus dem perl­mutt­far­be­nen Glanz tau­sen­der­lei Mu­scheln und Stern­ko­ral­len ent­ge­gen­ström­te, die ihm den Duft von Tang, Al­gen und at­lan­ti­schen Stür­men zu­tru­gen. Doch gleich ver­gaß er die to­sen­den Flu­ten, da ein kost­ba­res hand­ge­schrie­be­nes Meß­buch mit zar­ten Mi­nia­tu­ren, azur­nen und gol­de­nen Ara­bes­ken sei­ne Be­wun­de­rung er­reg­te. Von fried­li­chen Ge­dan­ken sanft ge­wiegt, gab er sich aufs neue dem Stu­di­um und den Wis­sen­schaf­ten hin, wünsch­te sich das fet­te Le­ben der Mön­che, frei von Leid und frei von Lust, leg­te sich in ei­ner Zel­le schla­fen und blick­te von sei­nem Spitz­bo­gen­fens­ter aus über die Wie­sen, Wäl­der und Wein­ber­ge sei­nes Klos­ters hin. Vor ei­ni­gen Te­niers33 zog er den Sol­da­ten­rock an oder teil­te das har­te Le­ben des Hand­werks­man­nes; wünsch­te die schmie­ri­ge, rauch­ge­schwärz­te Müt­ze der Fla­men auf­zu­set­zen, spiel­te Kar­ten mit ih­nen, soff Bier und schä­ker­te mit ei­ner dral­len Bäue­rin. Er zit­ter­te vor Käl­te beim An­blick ei­nes Schnee­falls von Mie­ris34 und kämpf­te in ei­ner Schlacht von Sal­va­tor Rosa.35 Er strich mit der Hand über einen To­ma­hawk aus Il­li­nois und fühl­te das Skal­pier­mes­ser ei­nes Che­ro­kee auf sei­nem Schä­del. Eine Ru­be­be,36 die ihn ent­zück­te, leg­te er in die Hand ei­nes Burg­fräu­leins, lausch­te der me­lo­di­schen Ro­man­ze und abends am go­ti­schen Ka­min, im Halb­dun­kel, das ihm ihre ge­wäh­ren­den Bli­cke ent­zog, ge­stand er ihr sei­ne Lie­be. In vol­len Zü­gen leer­te er den Kelch der Freu­den und der Schmer­zen, ver­such­te sich in al­len Da­seins­for­men und ver­aus­gab­te sein Le­ben und sei­ne Ge­füh­le so ver­schwen­de­risch in den Trug­bil­dern die­ser plas­ti­schen und doch öden Welt, daß er den Hall sei­ner Schrit­te in sich wahr­nahm wie den fer­nen Klang aus ei­ner an­de­ren Welt, wie das Brau­sen von Pa­ris auf den Tür­men von Notre-Dame.

Als er die Trep­pe zu den Räu­men im ers­ten Stock­werk hin­auf­stieg, sah er Vo­tivschil­de, Rüs­tun­gen, ge­schnitz­te Ta­ber­na­kel, Holz­fi­gu­ren, die auf den Stu­fen stan­den oder an die Wän­de ge­hängt wa­ren. Ver­folgt von den selt­sams­ten For­men, um­gau­kelt von wun­der­ba­ren Schöp­fun­gen aus dem Grenz­be­reich von Tod und Le­ben, schritt er im Zau­ber­bann ei­nes Traums da­hin. Zu­letzt schi­en ihm sei­ne ei­ge­ne Exis­tenz frag­lich; er war wie die­se Ku­rio­si­tä­ten we­der ganz tot noch ganz le­ben­dig. Als er die neu­en La­ger be­trat, fing es an zu dun­keln; doch Licht schi­en für die dort an­ge­häuf­ten gold- und sil­ber­fun­keln­den Schät­ze über­flüs­sig. Die kost­spie­ligs­ten Lieb­ha­ber­stücke von Ver­schwen­dern, die in Dach­stu­ben ge­en­det hat­ten, nach­dem Mil­lio­nen durch ihre Fin­ger ge­glit­ten wa­ren, be­fan­den sich in die­sem un­ge­heu­ren Ba­zar mensch­li­cher Tor­hei­ten. Ein Schreib­zeug, einst mit 100 000 Fran­cs be­zahlt und für 100 Sous auf­ge­kauft, lag ne­ben ei­nem Ge­heim­schloß, des­sen Preis da­zu­mal ge­nügt hät­te, einen Kö­nig los­zu­kau­fen. Hier zeig­te sich der mensch­li­che Geist im gan­zen Ge­prän­ge sei­ner Jäm­mer­lich­keit, im vol­len Glanz sei­ner gi­gan­ti­schen Be­schränkt­heit. Ein Tisch aus Eben­holz, ein vollen­de­tes Kunst­werk, nach Zeich­nun­gen von Jean Gou­jon37 ge­schnitzt, das jah­re­lan­ge Ar­beit ge­kos­tet hat­te, war viel­leicht zum Brenn­holz­preis ge­kauft wor­den. Kost­ba­re Käst­chen, Gerä­te, die von Feen­hän­den ge­fer­tigt schie­nen, wa­ren gleich­gül­tig über­ein­an­der­ge­häuft.

»Sie ha­ben hier Mil­lio­nen!« rief der jun­ge Mann, als er im letz­ten Raum ei­ner un­ge­heu­ren Zim­mer­flucht an­ge­langt war, die von Künst­lern des vo­ri­gen Jahr­hun­derts ver­gol­det und mit rei­cher Schnitz­ar­beit ver­se­hen wa­ren.

»Sa­gen Sie lie­ber Mil­li­ar­den«, er­wi­der­te der paus­bä­cki­ge jun­ge Mann. »Aber dies hier ist noch gar nichts; kom­men Sie erst in das drit­te Stock­werk, dann wer­den Sie se­hen.«

Der Un­be­kann­te folg­te sei­nem Füh­rer und ge­lang­te in eine vier­te Ga­le­rie, wo an sei­nen er­mü­de­ten Au­gen in ge­dräng­ter Fol­ge Ge­mäl­de von Pous­sin vor­über­zo­gen, eine herr­li­che Sta­tue von Mi­che­lan­ge­lo, ei­ni­ge ent­zücken­de Land­schaf­ten von Clau­de Lor­rain,38 ein Gérard Dou,39 der wie eine Sze­ne von Ster­ne an­mu­te­te, Rem­brandts, Mu­ril­los,40 Ve­las­que­z’,41 düs­ter und far­ben­reich wie ein Poem von Lord By­ron,42 über­dies an­ti­ke Bas­re­li­efs, Achat­kel­che, sel­te­ne Ony­xe! … Kurzum, es wa­ren Ar­bei­ten, die ei­nem die Ar­beit ver­lei­den konn­ten, Kunst­wer­ke in sol­cher Un­zahl, daß sie ei­nem Wi­der­wil­len ge­gen die Kunst ein­flö­ßen und die Be­geis­te­rung tö­ten muß­ten. Er stand vor ei­ner Ma­don­na von Raf­fa­el, aber er war Raf­faels über­drüs­sig. Selbst für eine Fi­gur von Cor­reg­gio43 hat­te er nicht ein­mal mehr den Blick, den sie er­heisch­te. Eine an­ti­ke Por­phy­r­va­se von un­schätz­ba­rem Wert, de­ren rund­um­lau­fen­des Re­lief die gro­tesk-un­züch­tigs­te al­ler rö­mi­schen Pria­peen dar­stell­te und einst­mals ir­gend­ei­ne Co­rin­na höch­lichst er­götz­te, ent­lock­te ihm kaum ein Lä­cheln. Er er­stick­te un­ter den Trüm­mern fünf­zig ent­schwun­de­ner Jahr­hun­der­te, er war krank von all die­sem mensch­li­chen Ge­dan­ken­gut, er­schla­gen von Pracht und Kunst­wer­ken, er­drückt von die­sen stän­dig neu er­wach­sen­den For­men, die, wie die Aus­ge­bur­ten ei­nes bos­haf­ten Geis­tes, un­abläs­sig aus dem Bo­den schos­sen und ihn in einen schier end­lo­sen Kampf ver­strick­ten.

Braut die See­le, die in ih­rer Verän­der­lich­keit der mo­der­nen Che­mie gleicht, wel­che die Schöp­fung von ei­nem Gas ab­lei­tet, durch die ra­sche Kon­zen­tra­ti­on ih­rer Genüs­se, ih­rer Kräf­te oder ih­rer Ide­en nicht schreck­li­che Gif­te? Ster­ben vie­le Men­schen nicht an ei­ner mo­ra­li­schen Säu­re, die sich plötz­lich über ihr In­ne­res er­gießt?

»Was ist denn in die­sem Kas­ten?« frag­te er, als er in ein großes Ka­bi­nett trat, eine letz­te Schatz­kam­mer, die Herr­lich­keit, Meis­ter­wer­ke aus Men­schen­hand, Ku­rio­si­tä­ten und Reich­tü­mer, in Fül­le ent­hielt, und deu­te­te auf einen großen vier­e­cki­gen Ma­ha­go­nisch­rein, der mit ei­ner sil­ber­nen Ket­te an ei­nem Na­gel hing.

»Oh, Mon­sieur al­lein hat den Schlüs­sel dazu«, sag­te der di­cke Bur­sche ge­heim­nis­voll. »Wenn Sie das Por­trät zu se­hen wün­schen, wer­de ich es wa­gen, Mon­sieur da­von in Kennt­nis zu set­zen.«

»Es wa­gen!« sag­te der jun­ge Mann. »Ist Ihr Herr ein Fürst?«

»Schon mög­lich«, ant­wor­te­te der Bur­sche.

Sie sa­hen sich einen Au­gen­blick an, der eine so er­staunt wie der an­de­re. Der Lehr­ling deu­te­te das Schwei­gen des Un­be­kann­ten als un­aus­ge­spro­che­nen Wunsch und ließ ihn in dem Ka­bi­nett al­lein.

Hast du dich je­mals bei der Lek­tü­re der geo­lo­gi­schen Wer­ke von Cu­vier44 in die Unend­lich­keit von Raum und Zeit ge­schwun­gen? Hast du, ge­tra­gen von sei­nem Ge­nie, wie von der Hand ei­nes Zau­be­rers, über dem gren­zen­lo­sen Ab­grund der Ver­gan­gen­heit ge­schwebt? Wenn wir die Erde Schol­le für Schol­le und Schicht für Schicht ab­tra­gen und un­ter den Stein­brü­chen des Mont­mar­tre oder in den Schie­fer­ge­bir­gen des Ural die fos­si­len Res­te von Tie­ren ent­de­cken, die vor­sint­flut­li­chen Zi­vi­li­sa­tio­nen an­ge­hö­ren, wie muß die See­le da er­schre­cken, wenn sie sich vor­stellt, daß Mil­li­ar­den Jah­re ver­gan­gen sind, Mil­lio­nen Völ­ker ge­lebt ha­ben, die von dem schwa­chen mensch­li­chen Ge­dächt­nis und der star­ren re­li­gi­ösen Tra­di­ti­on ver­ges­sen wor­den sind und de­ren Asche die Ober­flä­che un­se­res Erd­balls bil­det, die zwei Fuß Bo­den, wor­aus uns Brot und Blu­men wach­sen? Ist nicht Cu­vier der größ­te Dich­ter un­se­res Jahr­hun­derts? Lord By­ron hat wohl ein paar see­li­sche Er­schüt­te­run­gen vor­treff­lich in Wor­te ge­bannt; aber un­ser un­s­terb­li­cher For­scher hat aus ge­bleich­ten Kno­chen Wel­ten wie­der­er­ste­hen las­sen, hat, wie Kad­mos,45 mit Zäh­nen Städ­te neu er­baut, hat mit ei­ni­gen Bro­cken Koh­le tau­send Wäl­der mit al­len Ge­heim­nis­sen der Tier­welt wie­der le­ben­dig wer­den las­sen, hat am Fuß ei­nes Mam­muts er­kannt, daß Völ­ker von Rie­sen ge­lebt ha­ben. Die­se Ge­stal­ten ra­gen auf, wach­sen und fül­len Re­gio­nen, die ih­rer ko­los­sa­len Grö­ße ent­spre­chen. Er ist Dich­ter mit Zah­len, er ist er­ha­ben, wenn er eine Null ne­ben eine Sie­ben setzt. Er er­weckt das Nichts, ohne ma­gi­sche Wor­te zu drech­seln. Er un­ter­sucht ein Stück Kalk, be­merkt einen Ab­druck und ruft: ›Seht her!‹ Als­bald wan­delt sich der Stein zum Tier, der Tod zum Le­ben, die Welt ent­rollt sich. Nach un­zäh­li­gen Ge­schlech­tern gi­gan­ti­scher Krea­tu­ren, nach Rei­hen von Fisch- und Mol­lus­ken­ar­ten kommt end­lich die Gat­tung Mensch, de­ge­ne­rier­ter Nach­kömm­ling ei­nes gran­dio­sen Ty­pus, der viel­leicht vom Schöp­fer zer­trüm­mert wor­den ist. Von dem rück­wärts­schau­en­den Blick des For­schers an­ge­feu­ert, kön­nen die­se küm­mer­li­chen, ges­tern ge­bo­re­nen Men­schen das Cha­os über­schrei­ten, einen end­lo­sen Hym­nus an­stim­men und sich die Ur­sprün­ge des Wel­talls in ei­ner Art rück­läu­fi­ger Apo­ka­lyp­se ver­ge­gen­wär­ti­gen. An­ge­sichts die­ser un­ge­heu­ren Au­fer­ste­hung, von der Stim­me ei­nes ein­zi­gen Men­schen be­schwo­ren, muß uns das Quent­chen, das uns in dem na­men­lo­sen, al­len Sphä­ren ge­mein­sa­men Unend­li­chen, das wir ›die Zeit‹ be­nannt ha­ben, zur Nut­zung ge­währt ist, muß die­se Mi­nu­te Le­ben uns zum Er­bar­men ge­ring er­schei­nen. Von so vie­len ver­fal­le­nen Wel­ten nie­der­ge­drückt, fra­gen wir uns, wozu un­ser Ruhm, un­ser Haß, un­se­re Lie­be nüt­ze sind; ob wir die Mühe, zu le­ben, auf uns neh­men müs­sen, um ein nicht faß­ba­rer Punkt in der Zu­kunft zu wer­den? Los­ge­löst von der Ge­gen­wart, sind wir tot bis zu dem Au­gen­blick, da un­ser Kam­mer­die­ner ein­tritt und mel­det: ›Ma­da­me la Com­tes­se läßt aus­rich­ten, daß sie Mon­sieur er­war­tet.‹

Die Wun­der, die dem jun­gen Mann die gan­ze be­kann­te Schöp­fung vor Au­gen ge­führt hat­ten, ver­setz­ten ihn in die tie­fe Nie­der­ge­schla­gen­heit, die den Phi­lo­so­phen bei der wis­sen­schaft­li­chen Sich­tung un­be­kann­ter Schöp­fun­gen be­fällt. Leb­haf­ter denn je wünsch­te er zu ster­ben. Er sank auf einen ku­ru­li­schen Stuhl und ließ sei­ne Bli­cke über das Blend­werk die­ses Pa­n­ora­mas der Ver­gan­gen­heit schwei­fen. Die Ge­mäl­de leuch­te­ten auf, die Köp­fe der Ma­don­nen lä­chel­ten ihn an, und die Sta­tu­en färb­ten sich mit ei­nem trü­ge­ri­schen Schein des Le­bens. Im Schutz des Dun­kels, vom gä­ren­den Fie­ber sei­nes ge­pei­nig­ten Hirns in Tanz ge­setzt, reg­te sich al­les und um­wir­bel­te ihn; je­der Por­zel­la­naf­fe schnitt ihm eine Gri­mas­se, die Ge­stal­ten auf den Bil­dern schlos­sen die Li­der, um die Au­gen aus­zu­ru­hen. Je­des die­ser Ge­schöp­fe tau­mel­te, hüpf­te, lös­te sich von sei­nem Platz, schwer­fäl­lig oder leicht­fü­ßig, an­mu­tig oder un­ge­stüm, je nach sei­nen Sit­ten, sei­nem Cha­rak­ter oder sei­nem Um­feld. Es war ein ge­heim­nis­vol­ler Sab­bat, wür­dig der phan­tas­ti­schen Er­schei­nun­gen, die Dok­tor Faust auf dem Bro­cken sah. Aber die­se op­ti­schen Täu­schun­gen, die von Er­schöp­fung, Übe­r­an­stren­gung der Seh­ner­ven und dem ver­wir­ren­den Däm­mer­licht her­rühr­ten, konn­ten dem Un­be­kann­ten kei­ne Angst ein­ja­gen. Die Schre­cken des Le­bens ver­moch­ten nichts über eine mit den Schre­cken des To­des ver­trau­te See­le. Mit ei­ner ge­wis­sen spöt­ti­schen Kom­pli­zen­schaft un­ter­stütz­te er so­gar die Trug­bil­der die­ses von sei­nem Geist ein­ge­hauch­ten Le­bens, des­sen Selt­sam­kei­ten sich zu den letz­ten Ge­dan­ken ge­sell­ten, die ihm noch das Ge­fühl des Da­seins ge­währ­ten. Es herrsch­te so voll­kom­me­ne Stil­le um ihn, daß er sich ei­ner sanf­ten Träu­me­rei über­ließ, de­ren Stim­mun­gen sich wie durch Zau­ber Ton für Ton in dem Gra­de ver­fins­ter­ten, wie das Licht ent­schwand. Be­vor der Tag sank, ließ er im Wi­der­streit mit der Nacht ein letz­tes Mal den Him­mel rot er­glü­hen; der jun­ge Mann blick­te auf und sah ein kaum wahr­nehm­ba­res Ske­lett, das zwei­felnd mit dem Schä­del wa­ckel­te, als woll­te es sa­gen: ›Die To­ten wol­len noch nichts von dir wis­sen!‹ Als er, um den Schlaf zu ver­trei­ben, mit der Hand über die Stirn fuhr, spür­te er deut­lich einen fri­schen Luft­zug von ir­gend et­was Haa­ri­gem, das über sei­ne Wan­gen streif­te, und er schau­der­te. Da die Fens­ter­schei­ben dumpf auf­klan­gen, dach­te er, daß die­se kal­te Lieb­ko­sung, die ihn wie aus dem Gra­be an­ge­weht hat­te, von ei­ner Fle­der­maus rüh­re. Noch einen Au­gen­blick lang konn­te er im un­ge­wis­sen Schein der un­ter­ge­hen­den Son­ne die Phan­to­me, von de­nen er um­ge­ben war, un­deut­lich wahr­neh­men; dann ver­sank die­se gan­ze tote Na­tur in ein­för­mi­ges Dun­kel. Die Nacht, die Zeit zu ster­ben war plötz­lich ge­kom­men. Es ver­ging von da an noch ein ge­wis­ser Zeit­raum, wäh­rend­des­sen er kei­ne kla­re Vor­stel­lung mehr von den ir­di­schen Din­gen hat­te, sei es, daß er in tie­fe Träu­me­rei ver­sun­ken war oder daß der Schlaf ihn nach sei­ner Er­schöp­fung, nach so vie­len herz­zer­rei­ßen­den Ge­dan­ken über­mannt hat­te. Plötz­lich glaub­te er, von ei­ner schreck­li­chen Stim­me ge­ru­fen wor­den zu sein; er fuhr zu­sam­men, wie wenn wir, von ei­nem Alp­traum ge­quält, mit ei­nem Mal in bo­den­lo­se Tie­fen stür­zen. Er schloß die Au­gen, ein grel­les Licht blen­de­te ihn; in der Fins­ter­nis sah er einen röt­li­chen Kreis, in des­sen Mit­te sich ein klei­ner al­ter Mann be­fand, der das Licht ei­ner Lam­pe auf ihn ge­rich­tet hielt. Er hat­te ihn we­der kom­men noch spre­chen, noch sich be­we­gen hö­ren. Sei­ne Er­schei­nung hat­te et­was von Zau­be­rei. Auch der Uner­schro­ckens­te hät­te, der­art aus sei­nem Schlaf ge­ris­sen, vor die­sem Men­schen ge­zit­tert, der aus ei­nem der ne­ben­ste­hen­den Sar­ko­pha­ge ge­schlüpft zu sein schi­en. Die ei­gen­tüm­li­che Ju­gend­lich­keit, die aus den star­ren Au­gen die­ses ge­spens­ti­schen Grei­ses blitz­te, hin­der­te den Un­be­kann­ten, an über­na­tür­li­che Wir­kun­gen zu glau­ben; gleich­wohl ver­harr­te er wäh­rend der flüch­ti­gen Span­ne, die sei­nen som­nam­bu­len Zu­stand von sei­ner wa­chen Exis­tenz trenn­te, in dem von Des­car­tes46 emp­foh­le­nen phi­lo­so­phi­schen Zwei­fel, und ge­riet so wi­der Wil­len in den Bann der un­er­klär­li­chen Hal­lu­zi­na­tio­nen, de­ren ge­heim­nis­vol­les Da­sein un­ser Stolz ab­leug­net oder die un­ser ohn­mäch­ti­ges Wis­sen ver­geb­lich zu er­klä­ren sucht.

Man stel­le sich einen klei­nen, ha­ge­ren, dür­ren Al­ten vor, mit ei­nem schwar­zen Sam­t­rock be­klei­det, der um sei­ne Hüf­ten mit ei­ner di­cken Sei­den­schnur zu­sam­men­ge­hal­ten wur­de. Ein gleich­falls schwar­zes Samt­käpp­chen rahm­te streng sei­ne Stirn und ließ zu bei­den Sei­ten des Ge­sichts lan­ge wei­ße Haar­sträh­nen her­ab­flie­ßen. Das Ge­wand um­hüll­te den Kör­per wie ein großes Lei­chen­tuch und ließ von der mensch­li­chen Ge­stalt nichts se­hen als das schma­le blas­se Ant­litz. Ohne den fleisch­lo­sen Arm, der ei­nem mit Stoff be­klei­de­ten Stock äh­nel­te und den der Greis em­por­hielt, um den vol­len Strahl sei­ner Lam­pe auf den jun­gen Mann zu rich­ten, hät­te man mei­nen kön­nen, das Ge­sicht hin­ge in der Luft. Ein grau­er Spitz­bart ver­barg das Kinn je­nes ei­gen­ar­ti­gen We­sens und ließ es je­nen jü­di­schen Köp­fen glei­chen, die den Künst­lern als Mo­dell für die Dar­stel­lung des Mo­ses die­nen. Die Lip­pen wa­ren so farb­los, so schmal, daß man ge­nau hin­se­hen muß­te, um in dem glei­chen Ge­sicht die Li­nie des Mun­des zu ent­de­cken. Die hohe, ge­furch­te Stirn, die hoh­len, fah­len Wan­gen, die un­er­bitt­li­che Stren­ge sei­ner klei­nen grü­nen Au­gen ohne Wim­pern und Au­gen­brau­en konn­ten den Un­be­kann­ten glau­ben ma­chen, daß der ›Gold­wä­ger‹ von Gérard Dou aus sei­nem Rah­men ge­stie­gen sei. Der Scharf­sinn ei­nes In­qui­si­tors präg­te sich in den Krüm­mun­gen sei­ner Run­zeln, den kreis­för­mi­gen Fal­ten sei­ner Schlä­fen aus und ließ auf ein tie­fes Wis­sen um die Din­ge des Le­bens schlie­ßen. Es war un­mög­lich, die­sen Men­schen zu be­trü­gen, der die Gabe zu be­sit­zen schi­en, die ver­bor­gens­ten Ge­dan­ken in den Her­zen der Men­schen zu le­sen. Auf sei­nem kal­ten Ge­sicht wa­ren die Sit­ten al­ler Na­tio­nen des Erd­balls und ihre Weis­heit ver­ei­nigt, so wie in sei­nem stau­bi­gen La­den die Pro­duk­te der gan­zen Welt an­ge­häuft wa­ren. Man konn­te dar­in die kla­re Ruhe ei­nes Got­tes le­sen, der al­les sieht, oder die stol­ze Kraft ei­nes Men­schen, der al­les ge­se­hen hat. Ein Ma­ler hät­te mit zwei Pin­sel­stri­chen zwei grund­ver­schie­de­ne Aus­drücke tref­fen und aus die­sem Ant­litz ein schö­nes Bild des Ewi­gen Va­ters oder die grin­sen­de Mas­ke des Me­phi­sto­phe­les schaf­fen kön­nen, denn eng bei­ein­an­der fan­den sich er­ha­be­ne Ho­heit auf der Stirn und schnei­den­der Hohn um den Mund. Die­ser Mann muß­te, in­dem er mit ei­ner ge­wal­ti­gen Kraft al­les mensch­li­che Lei­den un­ter­drück­te, auch alle ir­di­schen Freu­den ge­tö­tet ha­ben. Der zum Ster­ben Ent­schlos­se­ne schau­der­te, da er ahn­te, daß die­ser be­jahr­te Greis in ei­ner der Welt frem­den Sphä­re da­heim war, wo er al­lein leb­te, ohne Freu­den, weil er kei­ne Il­lu­sio­nen mehr hat­te, ohne Kum­mer, weil er kei­ne Freu­de mehr kann­te. Der Alte stand un­be­weg­lich, un­er­schüt­ter­lich wie ein Stern in ei­ner lich­ten Wol­ke. Sei­ne grü­nen Au­gen voll ei­ner son­der­ba­ren sanf­ten Bos­heit schie­nen die geis­ti­ge Welt zu er­hel­len wie sei­ne Lam­pe die­ses ge­heim­nis­vol­le Ka­bi­nett.

Dies war das ei­gen­ar­ti­ge Schau­spiel, das den jun­gen Mann über­rasch­te, als er die Au­gen auf­schlug, nach­dem er von phan­tas­ti­schen Bil­dern und To­des­ge­dan­ken ein­ge­schlä­fert wor­den war. Wenn er wie be­täubt ver­harr­te, wenn er sich einen Au­gen­blick lang von ei­nem Glau­ben be­herr­schen ließ wie Kin­der von Am­men­mär­chen, so muß man dies der durch sei­ne Me­di­ta­tio­nen her­vor­ge­ru­fe­nen Um­ne­be­lung sei­ner Sin­ne und sei­nes an­sons­ten kla­ren Ur­teils­ver­mö­gens, der Über­reizt­heit sei­ner Ner­ven und der Hef­tig­keit der in­ne­ren Vor­gän­ge zu­schrei­ben, die ihn wie in ei­nem Opi­um­rausch in gräß­li­che Won­nen ge­taucht hat­ten. Die­se Vi­si­on fand statt in Pa­ris, auf dem Quai Vol­taire, im 19. Jahr­hun­dert, zu ei­ner Zeit und an ei­nem Ort, wo Hexe­rei un­mög­lich war. Als Nach­bar des Hau­ses, wo der Gott des fran­zö­si­schen Un­glau­bens sein Le­ben aus­ge­haucht hat­te, als Schü­ler von Gay-Lussac47 und Ara­go,48 als Veräch­ter der Ta­schen­spie­ler­küns­te, de­ren sich die Mäch­ti­gen be­die­nen, er­lag der Un­be­kann­te wohl nur je­nen poe­ti­schen Fas­zi­na­tio­nen, de­nen wir uns oft hin­ge­ben, wie um ei­ner trost­lo­sen Wirk­lich­keit zu ent­flie­hen oder um Gott zu ver­su­chen. So war es das un­er­klär­li­che Ah­nen ei­ner fremd­ar­ti­gen Macht, das ihn vor die­sem Licht und die­sem Greis er­zit­tern ließ; aber die­ses Ge­fühl glich je­nem, das wir alle vor Na­po­le­on oder in Ge­gen­wart ei­nes großen, geist­vol­len und be­rühm­ten Man­nes emp­fun­den ha­ben.

»Sie wün­schen das Bild Jesu von Raf­fa­el zu se­hen, Mon­sieur?« frag­te der Greis ihn höf­lich mit ei­ner Stim­me, de­ren hel­ler, knap­per Klang et­was Me­tal­li­sches hat­te.

Und er stell­te die Lam­pe auf den Schaft ei­ner ab­ge­bro­che­nen Säu­le, so daß der brau­ne Kas­ten im hel­len Licht stand.

Bei den hei­li­gen Na­men Je­sus Chris­tus und Raf­fa­el ent­fuhr dem jun­gen Man­ne eine Be­we­gung der Neu­gier­de, die der Kauf­mann, der eine Fe­der in Gang setz­te, er­war­tet zu ha­ben schi­en. So­fort glitt die Ma­ha­go­ni­plat­te in ei­ner Nut laut­los ab­wärts und bot die Lein­wand der Be­wun­de­rung des Un­be­kann­ten dar. Beim An­blick die­ses un­s­terb­li­chen Wer­kes ver­gaß er die Phan­ta­sie­ge­bil­de im La­den und die Aus­ge­bur­ten sei­nes Schlum­mers, wur­de wie­der Mensch, er­kann­te in dem Al­ten ein Ge­schöpf aus Fleisch und Blut, das recht le­ben­dig und kei­nes­wegs ein Trug­bild war, und leb­te wie­der in der wirk­li­chen Welt. Die lie­be­vol­le Sor­ge, die mil­de Hei­ter­keit des gött­li­chen An­ge­sichts teil­ten sich ihm mit. Ein dem Him­mel ent­ström­ter Hauch lös­te die Höl­len­qua­len, die ihm das Mark ver­zehr­ten. Der Kopf des Er­lö­sers tauch­te aus der Fins­ter­nis, die der schwar­ze Hin­ter­grund vor­stell­te; ein Strah­len­kranz um­gab sein Haar, aus dem die­ses Leuch­ten her­vor­zu­bre­chen schi­en; von der Stirn, von den Wan­gen, aus al­len Zü­gen ström­te eine be­red­te ein­dring­li­che Über­zeu­gung. Die tief ro­ten Lip­pen hat­ten das Wort des Le­bens ver­kün­det, und der Be­trach­ter lausch­te auf des­sen hei­li­gen Wi­der­hall in den Lüf­ten, be­frag­te die Stil­le nach sei­nen wun­der­vol­len Gleich­nis­sen, hör­te es in der Zu­kunft, fand es in den Leh­ren der Ver­gan­gen­heit wie­der. In der ru­hi­gen Klar­heit die­ser an­be­tungs­wür­di­gen Au­gen, zu de­nen be­küm­mer­te Her­zen sich flüch­te­ten, lag das gan­ze Evan­ge­li­um. Aus sei­nem hol­den er­ha­be­nen Lä­cheln schließ­lich, das das Grund­ge­bot: ›Lie­bet ein­an­der!‹ aus­zu­drücken schi­en, konn­te man die gan­ze ka­tho­li­sche Re­li­gi­on her­aus­le­sen. Die­ses Ge­mäl­de stimm­te zur An­dacht, rief zur Ver­söh­nung auf, tö­te­te die Selbst­sucht, weck­te alle schlum­mern­den Tu­gen­den. Gleich der Zau­ber­kraft der Mu­sik be­schwor Raf­faels Schöp­fung köst­li­che Erin­ne­run­gen, und der Sieg des Bil­des war so voll­kom­men, daß man den Ma­ler ver­gaß. Das trü­ge­ri­sche Licht ver­voll­stän­dig­te das Wun­der: für Au­gen­bli­cke schi­en es, als ob der Kopf weit ent­fernt in ei­ner Wol­ke sich be­weg­te.

»Ich habe für die­ses Bild ein Ver­mö­gen hin­ge­ge­ben«, sag­te der Händ­ler kühl.

»Nun denn, jetzt heißt es ster­ben!« rief der jun­ge Mann, der aus sei­ner Ver­sun­ken­heit auf­fuhr; sein letz­ter Ge­dan­ke hat­te ihn über eine Ket­te ihm kaum be­wuß­ter Über­le­gun­gen von ei­ner letz­ten Hoff­nung, an die er sich ge­klam­mert hat­te, zu sei­nem un­se­li­gen Ge­schick zu­rück­ge­führt.

»Aha! Also hat­te ich doch recht, dir zu miß­trau­en!« stieß der Alte her­vor, pack­te die Hän­de des jun­gen Man­nes und preß­te sie mit ei­ner Hand an den Hand­ge­len­ken zu­sam­men wie mit ei­nem Schraub­stock.

Der Un­be­kann­te lä­chel­te trau­rig über die­ses Miß­ver­ständ­nis und sag­te sanft: »Fürch­ten Sie nichts, Mon­sieur, es han­delt sich um mein Le­ben, nicht um das Ihre. Wa­rum soll ich eine harm­lo­se List nicht ein­ge­ste­hen?« fuhr er fort, da er die Un­ru­he des Al­ten be­merk­te. »Ich woll­te die Nacht ab­war­ten, um mich, ohne Auf­se­hen, er­trän­ken zu kön­nen, und bin hier­her­ge­kom­men, Ihre Schät­ze zu be­sich­ti­gen. Wer wird ei­nem Mann der Wis­sen­schaft und Poe­sie die­ses letz­te Ver­gnü­gen ver­ar­gen?«

Der miß­traui­sche Händ­ler durch­forsch­te, wäh­rend er ihm zu­hör­te, mit schar­fen Bli­cken das düs­te­re Ant­litz sei­nes an­geb­li­chen Kun­den. Der schmerz­li­che Klang der Stim­me in­des be­ru­hig­te ihn bald, viel­leicht las er auch in den fah­len Zü­gen das düs­te­re Schick­sal, vor dem vor­her die Spie­ler zu­rück­ge­bebt wa­ren, und er ließ die Hän­de los. Doch streck­te er mit ei­nem Rest von Arg­wohn, der eine min­des­tens hun­dert­jäh­ri­ge Er­fah­rung ver­riet, den Arm nach ei­nem Buf­fet aus, wie um sich auf­zu­stüt­zen, und lang­te nach ei­nem Sti­lett, wo­bei er frag­te: »Sind Sie seit drei Jah­ren Be­am­ten­an­wär­ter beim Schatz­amt und ha­ben kei­ne Son­der­zu­la­ge er­hal­ten?«

Der Un­be­kann­te konn­te sich nicht ent­hal­ten zu lä­cheln, wäh­rend er mit ei­ner Ge­bär­de ver­nein­te.

»Hat Ih­nen Ihr Va­ter Ihre Ge­burt zu hef­tig vor­ge­wor­fen? Oder ha­ben Sie Ihre Ehre ein­ge­büßt?«

»Wenn ich sie ein­bü­ßen woll­te, wür­de ich am Le­ben blei­ben.«

»Sind Sie in den Fu­n­am­bu­les49 aus­ge­pfif­fen wor­den? Oder sind Sie ge­nö­tigt, Gas­sen­hau­er zu kom­po­nie­ren, um das Be­gräb­nis Ih­rer Ge­lieb­ten zu be­zah­len? Hat Sie nicht viel­mehr die Sucht nach Gold ge­packt? Wol­len Sie die Lan­ge­wei­le tot­schla­gen? Nun, welch ein Wahn treibt Sie in den Tod?«

»Su­chen Sie den Grund mei­nes To­des nicht in den Ur­sa­chen, wel­che ge­mein­hin zu Selbst­mor­den füh­ren. Um mir zu er­spa­ren, Ih­nen die un­er­hör­ten Lei­den, die sich mit mensch­li­cher Spra­che oh­ne­hin schwer aus­drücken las­sen, zu ent­hül­len, will ich Ih­nen nur sa­gen, daß ich mich in der tiefs­ten, schmäh­lichs­ten, qual­volls­ten Not be­fin­de. Und«, füg­te er mit ei­nem Ton hin­zu, des­sen wil­der Stolz sei­ne vor­her­ge­hen­den Wor­te Lü­gen straf­te, »ich will we­der um Hil­fe noch um Trost bet­teln.«

»He, he!« Die bei­den Sil­ben, die der Alte zu­nächst statt ei­ner Ant­wort hö­ren ließ, klan­gen wie das Krei­schen ei­ner Knar­re. Dann fuhr er fort: »Ohne Sie zu nö­ti­gen, mich an­zu­bet­teln, ohne Sie zu be­schä­men, ohne Ih­nen einen fran­zö­si­schen Cen­ti­me, einen Para aus der Le­van­te, eine si­zi­lia­ni­sche Tari, einen deut­schen Hel­ler, eine rus­si­sche Kope­ke, einen schot­ti­schen Far­thing, eine ein­zi­ge Ses­ter­ze oder einen Obo­lus der al­ten Welt noch einen Pias­ter der neu­en zu ge­ben, ohne Ih­nen ir­gend et­was von Gold, Sil­ber, Mün­zen, Bank­no­ten oder Wert­pa­pie­ren an­zu­bie­ten, will ich Sie rei­cher, mäch­ti­ger und an­ge­se­he­ner ma­chen, als es ein kon­sti­tu­tio­nel­ler Kö­nig sein kann.«

Der jun­ge Mann glaub­te, der Alte sei kin­disch ge­wor­den, er war wie be­täubt und wag­te nicht zu ant­wor­ten.

»Dre­hen Sie sich um«, sag­te der Händ­ler und griff plötz­lich zur Lam­pe, um ihr Licht auf die dem Bild­nis ge­gen­über­lie­gen­de Wand fal­len zu las­sen – »und be­trach­ten Sie die­ses Cha­grin­le­der«, füg­te er hin­zu.

Der jun­ge Mann er­hob sich has­tig und zeig­te sich ei­ni­ger­ma­ßen er­staunt, als er über dem Ses­sel, auf dem er ge­ses­sen hat­te, ein Stück Cha­grin an der Wand hän­gen sah, das nicht grö­ßer als eine Fuchs­haut war; doch, ei­nem auf den ers­ten Blick un­er­klär­li­chen Phä­no­men zu­fol­ge, warf die­ses Le­der in das tie­fe Dun­kel des La­dens so leuch­ten­de Strah­len, daß man hät­te den­ken kön­nen, sie gin­gen von ei­nem klei­nen Ko­me­ten aus. Der un­gläu­bi­ge jun­ge Mann nä­her­te sich dem an­geb­li­chen Ta­lis­man, der ihn vor Un­glück be­wah­ren soll­te, und mach­te sich in­ner­lich dar­über lus­tig. Als er sich je­doch, von ei­ner be­rech­tig­ten Neu­gier­de ge­trie­ben, vor­beug­te, um die Haut von al­len Sei­ten zu be­trach­ten, ent­deck­te er bald einen na­tür­li­chen Grund für die­se son­der­ba­re Leucht­kraft. Die schwar­zen Nar­ben des Cha­grins wa­ren so sorg­fäl­tig ge­glät­tet und so vor­treff­lich po­liert, die ver­schlun­ge­nen Ril­len so klar und scharf, daß die Une­ben­hei­ten die­ses ori­en­ta­li­schen Le­ders, gleich den Fa­cet­ten ei­nes Gra­nats, eben­so vie­le klei­ne Brenn­punk­te bil­de­ten, die das Licht fun­kelnd zu­rück­war­fen. Er er­klär­te dem Al­ten wis­sen­schaft­lich den Grund die­ser Er­schei­nung, je­ner in­des, statt zu ant­wor­ten, lä­chel­te nur viel­sa­gend. Die­ses über­le­ge­ne Lä­cheln ließ den jun­gen Ge­lehr­ten ver­mu­ten, er wer­de mit ir­gend­ei­nem Ho­kus­po­kus zum bes­ten ge­hal­ten. Er woll­te kein wei­te­res Rät­sel mit in das Grab neh­men und dreh­te die Haut schnell um, wie ein Kind, das be­gie­rig ist, die Ge­heim­nis­se sei­nes neu­en Spiel­zeugs ken­nen­zu­ler­nen.

»Aha!« rief er, »hier ist der Ab­druck des Sie­gels, das die Ori­en­ta­len das Sie­gel Sa­lo­mons50 nen­nen.«

»Sie ken­nen es also?« frag­te der Händ­ler und stieß zwei- oder drei­mal die Luft durch die Nase, was mehr be­sag­te als die kräf­tigs­ten Wor­te.

»Ob es auf der Welt wohl einen Men­schen gibt, der so ein­fäl­tig wäre, an die­ses Hirn­ge­spinst zu glau­ben?« rief der jun­ge Mann, ge­reizt von die­sem stum­men La­chen voll bit­te­ren Hohns.

»Wis­sen Sie denn nicht, daß der Aber­glau­be des Ori­ents die mys­ti­sche Form und die lüg­ne­ri­schen Schrift­zei­chen die­ses Sym­bols ge­schaf­fen hat, das eine fa­bel­haf­te Macht vor­stel­len soll? Ich glau­be, daß man mich dies­be­züg­lich nicht min­der der Al­bern­heit be­zich­ti­gen müß­te, als sprä­che ich von Sphin­xen oder Grei­fen, de­ren Exis­tenz ja auch my­tho­lo­gisch ge­wis­ser­ma­ßen be­glau­bigt ist.«

»Da Sie Ori­en­ta­list sind, kön­nen Sie viel­leicht die­se In­schrift le­sen?«

Er hob die Lam­pe dicht an den Ta­lis­man, den der jun­ge Mann ver­kehrt her­um hielt, und mach­te ihn auf die Schrift­zei­chen auf­merk­sam, die in das Zell­ge­we­be die­ser Wun­der­haut ein­ge­kerbt wa­ren, als ob sie das Tier, dem sie vor­mals an­ge­hört hat­te, selbst her­vor­ge­bracht hät­te.

»Ich ge­ste­he«, rief der Un­be­kann­te, »daß mir das Ver­fah­ren, des­sen man sich be­dien­te, um die­se Buch­sta­ben so tief in die Haut ei­nes wil­den Esels ein­zu­gra­vie­ren, un­be­kannt ist.«

Er kehr­te sich leb­haft den mit Ku­rio­si­tä­ten be­la­de­nen Ti­schen zu, und sei­ne Au­gen schie­nen dort et­was zu su­chen.

»Was wün­schen Sie?« frag­te der Alte.

»Ein In­stru­ment, um das Cha­grin an­zu­schnei­den, da­mit ich se­hen kann, ob die Buch­sta­ben ein­ge­prägt oder ein­ge­legt sind.«

Der Alte reich­te dem Un­be­kann­ten sein Sti­lett; der nahm es und be­gann das Le­der an der Stel­le, wo die Wor­te ge­schrie­ben stan­den, ein­zu­schnei­den; als er aber eine dün­ne Schicht Le­der ab­ge­ho­ben hat­te, tra­ten die Buch­sta­ben dar­un­ter wie­der so deut­lich und de­nen, die auf die Ober­flä­che ein­ge­kerbt wa­ren, so völ­lig gleich, her­vor, daß er einen Au­gen­blick lang wähn­te, nichts weg­ge­nom­men zu ha­ben.

»Die Kunst des Mor­gen­lan­des kennt Ge­heim­nis­se, um die tat­säch­lich nur sie al­lein weiß«, sag­te er und be­trach­te­te den ori­en­ta­li­schen Spruch mit ei­ner ge­wis­sen Un­ru­he.

»Ja«, er­wi­der­te der Greis, »man tut bes­ser dar­an, sich an die Men­schen zu hal­ten als an Gott.«

Die mys­te­ri­ösen Wor­te wa­ren fol­gen­der­ma­ßen an­ge­ord­net:


Was in der Über­set­zung heißt:

Wenn du mich be­sit­zest, wirst du al­les be­sit­zen.

Aber dein Le­ben wird mir ge­hö­ren.

Gott hat es so ge­wollt.

Wün­sche, und dei­ne Wün­sche wer­den er­füllt wer­den.

Aber rich­te dei­ne Wün­sche nach dei­nem Le­ben.

Es ist in mir.

Bei je­dem Wunsch wer­de ich ab­neh­men wie dei­ne Tage.

Willst du mich? Nimm.

Gott wird dich er­hö­ren.

Sei es!

»Ah! wie flie­ßend Sie das Sans­krit le­sen!« sag­te der Alte. »Ha­ben Sie viel­leicht Per­si­en oder Ben­ga­len be­reist?«

»Nein, Mon­sieur«, er­wi­der­te der jun­ge Mann und be­tas­te­te neu­gie­rig das sym­bol­träch­ti­ge Le­der, das sich we­gen sei­ner ge­rin­gen Ge­schmei­dig­keit wie ein Me­tall­blatt an­fühl­te.

Der alte Händ­ler setz­te die Lam­pe wie­der auf die Säu­le, von der er sie ge­nom­men hat­te, und warf dem jun­gen Mann einen Blick kal­ter Iro­nie zu, der zu sa­gen schi­en: ›Er denkt schon nicht mehr ans Ster­ben.‹

»Ist es ein Scherz? Ist es ein Ge­heim­nis?« frag­te der jun­ge Un­be­kann­te.

Der Alte schüt­tel­te den Kopf und sag­te ernst: »Ich kann Ih­nen dar­auf nicht ant­wor­ten. Ich habe die schreck­li­che Macht, die die­ser Ta­lis­man ver­leiht, Män­nern an­ge­bo­ten, die mehr Ener­gie hat­ten, als Sie zu be­sit­zen schei­nen; aber wenn­gleich sich auch alle über den zwei­fel­haf­ten Ein­fluß, den er auf ihr künf­ti­ges Ge­schick aus­üben soll­te, lus­tig mach­ten, hat doch noch kei­ner ge­wagt, die­sen von ei­ner un­be­kann­ten Macht so ver­häng­nis­voll vor­ge­schla­ge­nen Pakt ein­zu­ge­hen. Ich den­ke wie sie, ich habe ge­zwei­felt, habe mich ent­hal­ten, und …«

»Und Sie ha­ben es nicht ein­mal pro­biert?« un­ter­brach ihn der jun­ge Mann.

»Pro­bie­ren!« rief der Alte. »Wenn Sie auf der Ven­dô­me-Säu­le stän­den, wür­den Sie dann wohl pro­bie­ren, in die Luft zu sprin­gen? Kann man den Lauf des Le­bens auf­hal­ten? Hat der Mensch je ver­mocht, stück­chen­wei­se zu ster­ben? Be­vor Sie in die­ses Ka­bi­nett tra­ten, wa­ren Sie ent­schlos­sen, sich das Le­ben zu neh­men; aber plötz­lich be­schäf­tigt Sie ein Ge­heim­nis und bringt Sie vom Ster­ben ab. Kind! Wird Ih­nen nicht je­der Ih­rer Tage ein noch span­nen­de­res Rät­sel auf­ge­ben, als es die­ses ist? Hö­ren Sie mich an. Ich habe noch den las­ter­haf­ten Hof des Re­gen­ten ge­se­hen. Wie Sie steck­te ich da­mals im Elend, ich habe mein Brot er­bet­telt. Trotz­dem bin ich ein­hun­dertzwei Jah­re alt und Mil­lio­när ge­wor­den: das Un­glück mach­te mich reich, die Un­wis­sen­heit mach­te mich klug. Ich will Ih­nen in we­ni­gen Wor­ten ein großes Ge­heim­nis des mensch­li­chen Le­bens of­fen­ba­ren: Der Mensch er­schöpft sich durch zwei Akte, die er in­stink­tiv voll­zieht und die sei­ne Le­bens­quel­len zum Ver­sie­gen brin­gen. Zwei Ver­ben drücken alle For­men aus, die die­se bei­den To­des­ur­sa­chen an­neh­men: Wol­len und Kön­nen. Zwi­schen die­sen bei­den Grenz­be­grif­fen mensch­li­chen Han­delns liegt ein an­de­rer, des­sen sich die Wei­sen be­mäch­ti­gen, und ihm ver­dan­ke ich das Glück und mein lan­ges Le­ben. Das Wol­len ver­zehrt uns, und das Kön­nen zer­stört uns; aber das Wis­sen läßt un­sern schwa­chen Or­ga­nis­mus in ei­nem im­mer­wäh­ren­den Zu­stand der Ruhe. So ist das Ver­lan­gen oder das Wol­len in mir tot, vom Den­ken ver­nich­tet. Die Be­we­gung oder das Kön­nen ist durch das na­tür­li­che Spiel mei­ner Or­ga­ne auf­ge­ho­ben. Kurz, ich habe mein Le­ben nicht in das Herz, das bricht, nicht in die Sin­ne, die ab­stump­fen, son­dern in das Ge­hirn ver­legt, das sich nicht ab­nutzt und al­les über­lebt. Kein Über­maß hat mei­ner See­le oder mei­nem Leib je ge­scha­det. Den­noch habe ich die gan­ze Welt ge­se­hen. Ich habe mei­ne Füße auf die höchs­ten Ber­ge Asi­ens und Ame­ri­kas ge­setzt, habe alle Spra­chen der Welt ge­lernt und un­ter al­len Herr­schafts­for­men ge­lebt. Ich habe ei­nem Chi­ne­sen mein Geld ge­borgt, der mir den Leich­nam sei­nes Va­ters ver­pfän­de­te, ich habe im Zelt des Ara­bers ge­schla­fen, nur sei­nem Wort ver­trau­end; ich habe in al­len Haupt­städ­ten Eu­ro­pas Ver­trä­ge un­ter­zeich­net und habe mein Gold be­den­ken­los im Wig­wam der Wil­den ge­las­sen; kurz, ich habe al­les er­reicht, weil ich al­les zu ver­ach­ten ver­stand. Mein ein­zi­ger Ehr­geiz war: zu se­hen. Se­hen, heißt das nicht wis­sen? Oh, jun­ger Mann, heißt wis­sen nicht in­tui­tiv ge­nie­ßen? Heißt dies nicht das We­sen der Din­ge ent­de­cken und sich des­sen zu be­mäch­ti­gen? Was bleibt uns vom ma­te­ri­el­len Be­sitz? Eine Vor­stel­lung. Ur­tei­len Sie nun selbst, wie schön das Le­ben ei­nes Man­nes sein muß, der alle Wirk­lich­keit in sein Den­ken auf­zu­neh­men ver­mag, den Ur­sprung des Glücks in sei­ne See­le ver­legt und so tau­send voll­kom­me­ne Freu­den ge­nießt, die von ir­di­schem Ma­kel be­freit sind. Das Den­ken ist der Schlüs­sel zu al­len Schät­zen, es ver­schafft die Freu­den des Gei­zi­gen, ohne des­sen Sor­gen. So habe ich mich über die Welt er­ho­ben, und mei­ne Genüs­se sind geis­ti­ger Art ge­we­sen. Mei­ne Aus­schwei­fun­gen wa­ren die Be­trach­tung der Mee­re, der Völ­ker, der Wäl­der, der Ge­bir­ge. Ich habe al­les ge­se­hen, aber in Ruhe, ohne An­stren­gung; ich habe nie et­was her­bei­ge­wünscht, ich habe al­les ab­ge­war­tet. Ich habe das Uni­ver­sum durch­wan­delt wie den Gar­ten ei­nes Hau­ses, das mir ge­hör­te. Was die Men­schen Kum­mer, Lie­be, Ehr­geiz, Miß­ge­schick, Trau­rig­keit nen­nen, das sind für mich Be­grif­fe, die ich in Träu­me­rei­en ver­wand­le. Statt sie zu emp­fin­den, ver­ar­bei­te ich sie und ver­deut­li­che sie; an­statt von ih­nen mein Le­ben ver­zeh­ren zu las­sen, dra­ma­ti­sie­re und ent­wick­le ich sie und er­göt­ze mich dar­an wie an Ro­ma­nen, die ich mit mei­nem in­ne­ren Auge lese. Da ich mei­ne Or­ga­ne nie­mals über­an­strengt habe, er­freue ich mich noch ei­ner gu­ten Ge­sund­heit. Da mei­ner See­le die gan­ze Kraft, die ich nicht ver­braucht habe, zu­gu­te ge­kom­men ist, so ist mein Kopf noch bes­ser aus­ge­stat­tet als die­se La­ger­räu­me. Hier«, sag­te er und klopf­te sich an die Stirn, »hier sind die wah­ren Mil­lio­nen. Ich ver­brin­ge köst­li­che Tage, wenn ich in Ge­dan­ken den Blick in die Ver­gan­gen­heit schwei­fen las­se; gan­ze Län­der, Land­schaf­ten, Bil­der des Mee­res, Ge­stal­ten von his­to­ri­scher Schön­heit be­schwö­re ich her­auf. Ich habe ein ima­gi­näres Serail, wo ich alle Frau­en be­sit­ze, die mir nie ge­hört ha­ben. Oft las­se ich eure Krie­ge, eure Re­vo­lu­tio­nen an mir vor­über­zie­hen und ur­tei­le über sie. Oh! wie kann man die flüch­ti­ge, hit­zi­ge Lust an mehr oder we­ni­ger ro­si­gem Fleisch, an mehr oder we­ni­ger üp­pi­gen For­men, wie kann man das Un­heil, das von eu­rem be­tro­ge­nen Wil­len kommt, der er­ha­be­nen Fä­hig­keit vor­zie­hen, das Uni­ver­sum an sich zu re­pro­du­zie­ren, das un­ge­hemm­te Glück, sich frei zu be­we­gen, ohne an die Fes­seln von Zeit und Raum ge­ket­tet zu sein, der Se­lig­keit teil­haf­tig zu wer­den, al­les zu um­fas­sen, al­les zu se­hen, sich über den Rand der Welt zu nei­gen, um die an­dern Sphä­ren zu be­fra­gen, um Gott zu lau­schen! Da­rin«, sag­te er mit er­ho­be­ner Stim­me und deu­te­te auf das Cha­grin­le­der, »dar­in sind ›Kön­nen‹ und ›Wol­len‹ gleich. Da sind eure so­zia­len Ide­en, eure aus­schwei­fen­den Be­gier­den, eure maß­lo­sen Genüs­se, eure töd­li­chen Lüs­te, eure le­bens­zeh­ren­den Schmer­zen ver­eint; denn der Schmerz ist viel­leicht nur eine all­zu hef­ti­ge Lust. Wer ver­mag wohl den Punkt zu be­stim­men, wo die Lust Schmerz wird und wo der Schmerz noch Lust ist! Tun nicht die lich­tes­ten Strah­len der idea­len Welt dem Auge noch wohl, wäh­rend jede noch so ge­lin­de Fins­ter­nis der phy­si­schen Welt ihm weh tut? Kommt das Wort Weis­heit nicht von Wis­sen? Und was ist die Tor­heit, wenn nicht das Über­maß ei­nes Wol­lens oder Kön­nens?«

»Wohl­an denn, ich will le­ben im Über­maß!« sprach der Un­be­kann­te und er­griff das Cha­grin­le­der.

»Jun­ger Mann, hü­ten Sie sich!« rief der Alte mit un­glaub­li­cher Hef­tig­keit.

»Ich hat­te mein Le­ben dem Stu­di­um und dem Den­ken ge­weiht, aber es hat mir nicht ein­mal Brot ge­ge­ben«, er­wi­der­te der Un­be­kann­te. »Ich will mich we­der von ei­ner Pre­digt zum Nar­ren hal­ten las­sen, die ei­nes Swe­den­borg51 wür­dig wäre, noch von Ihrem ori­en­ta­li­schen Amu­lett, noch von Ihren barm­her­zi­gen Be­mü­hun­gen, Mon­sieur, mich an eine Welt zu bin­den, wo mei­ne Exis­tenz künf­tig­hin un­mög­lich ist. Laß se­hen!« rief er und drück­te krampf­haft den Ta­lis­man, wo­bei er den Al­ten an­sah. »Ich will ein glanz­vol­les, wahr­haft kö­nig­li­ches Mahl, ein Bac­cha­nal, wie es des Jahr­hun­derts wür­dig ist, in dem al­les, wie man sagt, voll­kom­men sein soll. Mei­ne Gäs­te sol­len jung sein, geist­reich und ohne Vor­ur­tei­le, aus­ge­las­sen bis zur Toll­heit! Und Wei­ne sol­len ge­reicht wer­den, die im­mer pri­ckeln­der, im­mer süf­fi­ger, im­mer stär­ker uns drei Tage lang be­rau­schen! Die Nacht soll von feu­ri­gen Frau­en ver­schönt sein! Ich will, daß die ra­sen­de un­ge­zü­gel­te Lust uns in ih­rem Vier­ge­spann da­von­tra­ge, über die Gren­zen der Welt hin­aus, uns an un­be­kann­te Küs­ten ver­schla­ge, daß die See­len sich in himm­li­sche Ge­fil­de schwin­gen oder in den Kot sin­ken, ob sie sich da­mit er­he­ben oder er­nied­ri­gen, ich weiß es nicht, und es schert mich auch we­nig! So be­feh­le ich denn der fins­tern Macht, mir alle Freu­den zu ei­ner zu ver­schmel­zen. Ja, alle himm­li­schen und ir­di­schen Won­nen will ich in ei­ner letz­ten Umar­mung um­fas­sen, um dar­an zu ster­ben. Dem Trin­ken sol­len an­ti­ke Lie­bes­fes­te fol­gen, Ge­sän­ge, die To­ten zu er­we­cken, und drei­fa­che Küs­se, end­lo­se flam­men­de Küs­se, die wie eine Feu­ers­brunst über Pa­ris auf­lo­dern, so daß die Gat­ten aus dem Schlaf fah­ren und in eine ra­sen­de Glut ge­ra­ten, die sie alle ver­jüngt, selbst die Sieb­zig­jäh­ri­gen!«

Gel­len­des Ge­läch­ter aus dem Mun­de des klei­nen Al­ten tön­te dem Wahn­wit­zi­gen in die Ohren wie ein To­sen der Höl­le und un­ter­brach ihn so ge­bie­te­risch, daß er ver­stumm­te.

»Glau­ben Sie«, sag­te der Händ­ler, »daß mein Fuß­bo­den sich plötz­lich öff­nen wird, um präch­tig be­la­de­ne Ti­sche und Gäs­te aus der an­dern Welt her­auf­zu­las­sen? Nein, nein, jun­ger Hitz­kopf. Sie ha­ben den Pakt ge­schlos­sen, al­les ist ge­sagt. Von jetzt ab wer­den Ihre Wün­sche pein­lich ge­nau er­füllt, aber auf Kos­ten Ihres Le­bens. Der Kreis ih­rer Tage, den die­ses Le­der ver­kör­pert, wird je nach Aus­maß und Zahl Ih­rer Wün­sche, vom kleins­ten bis zum un­ge­heu­er­lichs­ten, im­mer en­ger wer­den. Der Brah­ma­ne, dem ich die­sen Ta­lis­man ver­dan­ke, hat mir sei­ner­zeit er­klärt, daß eine ge­heim­nis­vol­le Über­ein­stim­mung zwi­schen dem Schick­sal und den Wün­schen des Be­sit­zers ein­tre­ten wird. Ihr ers­ter Wunsch ist vul­gä­rer Na­tur, ich könn­te ihn er­fül­len, aber ich über­las­se dies den Er­eig­nis­sen Ih­rer neu­en Exis­tenz. Schließ­lich und end­lich woll­ten Sie doch ster­ben? Je nun, Ihr Selbst­mord ist nur auf­ge­scho­ben.«

Der Un­be­kann­te, über­rascht und na­he­zu ge­reizt, von dem son­der­ba­ren Al­ten, des­sen halb men­schen­freund­li­che Ab­sicht ihm mit die­ser letz­ten Spott­re­de klar er­wie­sen schi­en, stän­dig auf­ge­zo­gen zu wer­den, rief:

»Ich wer­de ja se­hen, Mon­sieur, ob sich mein Schick­sal in der Zeit, in der ich den Quai über­schrei­te, wan­deln wird. Aber wenn Sie nicht bloß ei­nes Un­glück­li­chen spot­ten, wün­sche ich, um mich für einen so ver­häng­nis­vol­len Dienst zu rä­chen, daß Sie sich in eine Tän­ze­rin ver­lie­ben! Sie wer­den dann das Glück ei­ner Aus­schwei­fung be­grei­fen und viel­leicht all die Schät­ze ver­geu­den, die Sie so phi­lo­so­phisch an­ge­häuft ha­ben.«

Er ging hin­aus, ohne den tie­fen Seuf­zer zu hö­ren, den der Greis aus­stieß, durch­eil­te die Säle und lief die Trep­pen hin­un­ter, wäh­rend der paus­bä­cki­ge Bur­sche ihm folg­te und ihm ver­geb­lich leuch­ten woll­te. Er jag­te je­doch da­von wie ein Dieb, der auf fri­scher Tat er­tappt wur­de. Von ei­ner Art Wahn wie ge­blen­det, merk­te er nicht ein­mal, wie un­glaub­lich bieg­sam das Cha­grin­le­der ge­wor­den war, das sich ge­schmei­dig wie ein Hand­schuh in sei­nen fie­ber­haft be­ben­den Hän­den zu­sam­men­roll­te, so daß es in sei­ne Rock­ta­sche paß­te, wo­hin er es fast me­cha­nisch steck­te. Als er zur La­den­tür hin­aus auf die Stra­ße stürz­te, rann­te er ge­gen drei jun­ge Leu­te, die Arm in Arm vor­über­gin­gen.

»Rind­vieh!«

»Schwach­kopf!«

Das wa­ren die lie­bens­wür­di­gen Re­dens­ar­ten, die sie aus­tausch­ten.

»Ah, du bist es, Ra­pha­el!«

»Nun, wir such­ten dich!«

»Was, ihr seid es?«

Die­se drei Freund­schafts­be­kun­dun­gen folg­ten un­mit­tel­bar auf die Schimpf­wör­ter, als näm­lich das Licht ei­ner La­ter­ne, vom Wind auf­fla­ckernd, die Ge­sich­ter der er­staun­ten Grup­pe be­leuch­te­te.

»Lie­ber Freund«, sag­te der jun­ge Mann, den er bei­na­he über den Hau­fen ge­rannt hät­te, zu Ra­pha­el, »du kommst gleich mit uns.«

»Um was han­delt es sich denn?«’

»Komm nur, ich er­zäh­le dir die Ge­schich­te un­ter­wegs.«

Ra­pha­el moch­te wol­len oder nicht, sei­ne Freun­de um­ring­ten ihn, faß­ten sei­ne Arme, reih­ten ihn in ihre lus­ti­ge Schar ein und zo­gen ihn in Rich­tung zum Pont-des-Arts mit sich fort.

»Höre, Lie­ber«, fuhr der Red­ner fort, »wir stel­len dir seit etwa ei­ner Wo­che nach. In dei­nem ehr­ba­ren Ho­tel Saint-Quen­tin, auf des­sen un­ver­än­der­li­chem Schild, ne­ben­bei ge­sagt, noch im­mer wie zu Rous­se­aus Zei­ten die ro­ten und schwar­zen Buch­sta­ben pran­gen, hat uns dei­ne Leo­nar­da52 ge­sagt, du seist aufs Land ge­reist. Und wir se­hen doch wahr­haf­tig nicht nach Geld­leu­ten, Ge­richts­bo­ten, Gläu­bi­gern, Hä­schern des Han­dels­ge­richts und der­glei­chen aus. Gleich­viel! Ras­ti­gnac hat­te dich am Abend vor­her in den Bouf­fons53 ge­se­hen, wir faß­ten wie­der Mut und setz­ten un­sern Stolz dar­ein, zu ent­de­cken, ob du in den Bäu­men der Champs-Elysées dein Nest auf­ge­schla­gen hast oder ob du dich für zwei Sous in je­nen men­schen­freund­li­chen Häu­sern ein­lo­giert hast, wo die Bett­ler auf aus­ge­spann­ten Gur­ten schla­fen, oder ob du, im glück­li­che­ren Fall, dein La­ger viel­leicht in ir­gend­ei­nem Bou­doir auf­ge­schla­gen hast. Wir ha­ben dich nir­gends ge­fun­den, we­der auf den Häft­lings­lis­ten von Sain­te-Péla­gie54 noch auf de­nen von La For­ce.55 Nach­dem die Mi­nis­te­ri­en, die Oper, die Klös­ter, Cafés, Biblio­the­ken, Prä­fek­ten­lis­ten, Zei­tungs­re­dak­tio­nen, Re­stau­rants, Thea­ter­foy­ers, kurz al­les, was es in Pa­ris an gu­ten und üb­len Or­ten gibt, auf kun­di­ge Art durch­forscht wor­den wa­ren, be­klag­ten wir den Ver­lust ei­nes Man­nes, der ge­ni­al ge­nug ist, sich so­wohl bei Hofe als in den Ge­fäng­nis­sen su­chen zu las­sen. Schon re­de­ten wir da­von, dich wie einen Ju­li­hel­den hei­lig­spre­chen zu las­sen. Und mei­ner Treu, wir trau­er­ten um dich!«

In die­sem Au­gen­blick schritt Ra­pha­el mit sei­nen Freun­den über den Pont-des-Arts,56 und ohne ihre Wor­te wei­ter zu be­ach­ten, starr­te er auf die brau­sen­den Was­ser der Sei­ne hin­un­ter, in der die Lich­ter von Pa­ris wi­der­strahl­ten. Über die­sem Flus­se, in den er sich vor kur­z­em noch hat­te stür­zen wol­len, wur­de die Voraus­sa­gung des Al­ten er­füllt: die Stun­de sei­nes To­des war schon vom Schick­sal auf­ge­scho­ben.

»Wir be­trau­er­ten dich wahr­haf­tig!« fing sein Freund, der sich nicht be­ir­ren ließ, wie­der an. »Es han­delt sich um ein Un­ter­neh­men, in das wir dich als Mann von her­vor­ra­gen­den Fä­hig­kei­ten, das heißt als Mann, der sich über al­les hin­weg­zu­set­zen weiß, ein­be­zie­hen. Das Ta­schen­spie­ler­kunst­stück, den Kon­sti­tu­tio­na­lis­mus un­ter dem roya­lis­ti­schen Hute ver­schwin­den zu las­sen, wird heu­te ernst­haf­ter denn je be­trie­ben, mein Lie­ber. Die vom Hel­den­mut des Vol­kes ge­stürz­te schänd­li­che Mon­ar­chie war eine Frau von schlech­tem Le­bens­wan­del, mit der man scher­zen und pras­sen konn­te: aber das Va­ter­land ist eine tu­gend­haf­te, mür­ri­sche Gat­tin: wir müs­sen wohl oder übel ihre küh­len Zärt­lich­kei­ten hin­neh­men. Nun ist aber, wie du weißt, die Macht von den Tui­le­ri­en auf die Jour­na­lis­ten über­ge­gan­gen, wie der Staats­haus­halt57 sei­nen Sitz vom Fau­bourg Saint-Ger­main zur Chaus­sée-d’An­tin ver­legt hat. Aber fol­gen­des weißt du viel­leicht nicht: Die Re­gie­rung, das heißt die Ari­sto­kra­tie der Ban­kiers und Ad­vo­ka­ten, die heut­zu­ta­ge mit dem Va­ter­lan­de ma­chen, was ehe­mals die Pries­ter mit der Mon­ar­chie mach­ten, hat es für nö­tig be­fun­den, das gute Volk der Fran­zo­sen mit neu­en Wor­ten und al­ten Ide­en, nach Art der Phi­lo­so­phen al­ler Schu­len und der Mäch­ti­gen al­ler Zei­ten, hin­ters Licht zu füh­ren. Es gilt also, uns eine emi­nent na­tio­na­le Idee ein­zu­trich­tern, in­dem man uns klar­macht, daß es viel vor­teil­haf­ter ist, 1200 Mil­lio­nen 33 Cen­ti­mes dem Va­ter­land in der Per­son der Mes­sieurs Sound­so zu zah­len als 1100 Mil­lio­nen 9 Cen­ti­mes ei­nem Kö­ni­ge, der Ich sag­te statt Wir. Kurzum, es ist eine Zei­tung mit so­li­den 2-300 000 Fran­cs ge­grün­det wor­den, um eine Op­po­si­ti­on zu bil­den, die die Un­zu­frie­de­nen zu­frie­den­stellt, ohne der na­tio­na­len Re­gie­rung des Bür­ger­kö­nigs58 zu scha­den. Und da wir uns aus der Frei­heit eben­so­we­nig ma­chen wie aus der Des­po­tie, aus der Re­li­gi­on so we­nig wie aus dem Un­glau­ben; da das Va­ter­land für uns eine Haupt­stadt ist, wo man die Ge­dan­ken für so­und­so­viel pro Zei­le ein­tauscht und ver­kauft, wo je­der Tag üp­pi­ge Di­ners, se­hens­wer­te Schau­spie­le bringt, wo es von lie­der­li­chen Dir­nen wim­melt, wo die Sou­pers bis zum nächs­ten Tage dau­ern und die Lie­be nach der Stun­de be­zahlt wird wie die Drosch­ken; da Pa­ris im­mer das an­be­tungs­wür­digs­te al­ler Va­ter­län­der sein wird, das Va­ter­land der Freu­de, der Frei­heit, des Geis­tes, der hüb­schen Frau­en, der schlech­ten Ker­le, des gu­ten Weins, das Va­ter­land, wo die Zuchtru­te der Macht nie all­zu fühl­bar wird, weil man de­nen zu nahe ist, die sie schwin­gen … so ha­ben wir, die wah­ren An­hän­ger des Got­tes Me­phi­sto­phe­les, es un­ter­nom­men, den öf­fent­li­chen Geist zu­recht­zu­schmin­ken, die Ak­teu­re neu zu ko­stü­mie­ren, an der Re­gie­rungs­ba­ra­cke neue Bret­ter an­zu­schla­gen, den Dok­tri­nären Arz­nei ein­zu­flö­ßen, die al­ten Re­pu­bli­ka­ner wie­der auf­zu­ba­cken, die Bo­na­par­tis­ten auf­zu­fri­schen und dem Zen­trum Pro­vi­ant zu­zu­füh­ren, vor­aus­ge­setzt, daß es uns er­laubt sei, uns über Kö­ni­ge und Völ­ker ins Fäust­chen zu la­chen, am Abend an­de­rer Mei­nung zu sein als am Mor­gen und ein lus­ti­ges Le­ben à la Panur­ge59 zu füh­ren oder more ori­en­ta­li60 auf wei­chen Kis­sen zu lie­gen. Dir be­stimm­ten wir die Zü­gel die­ses mak­ka­ro­ni­schen und bur­les­ken Rei­ches, und so füh­ren wir dich denn ge­ra­des­wegs zu ei­nem Di­ner, das der Grün­der be­sag­ten Jour­nals, ein ehe­ma­li­ger Ban­kier, ver­an­stal­tet, der nicht weiß, was er mit sei­nem Gol­de an­fan­gen soll und es in Geist um­wan­deln will. Man wird dich dort wie einen Bru­der auf­neh­men, wir wer­den dich als den Kö­nig der miß­ver­gnüg­ten Geis­ter will­kom­men hei­ßen, die nichts er­schreckt, de­ren Scharf­sinn die Ab­sich­ten Ös­ter­reichs, Eng­lands oder Ruß­lands ent­hüllt, be­vor Ös­ter­reich, Eng­land oder Ruß­land Ab­sich­ten ha­ben! Ja, dich krö­nen wir zum Sou­ve­rän die­ser Ver­stan­des­rie­sen, die die Welt mit Mi­ra­be­aus,61 Tal­ley­rands,62 Pitts,63 Met­ter­nichs,64 mit al­len je­nen dreis­ten Cri­spins65 be­lie­fern, die un­ter sich um Ge­schi­cke ei­nes Rei­ches spie­len, wie die ge­wöhn­li­chen Leu­te beim Do­mi­no um ihr Kir­sch­was­ser. Wir ha­ben dich als den un­er­schro­ckens­ten Käm­pen aus­ge­ge­ben, der es je mit der Aus­schwei­fung auf­ge­nom­men hat, je­nem herr­li­chen Un­ge­heu­er, das alle star­ken Geis­ter zum Kampf her­aus­for­dert; ja, wir ha­ben so­gar be­haup­tet, daß es dich noch nicht be­siegt habe. Ich hof­fe, du wirst un­se­re Lo­b­re­den nicht Lü­gen stra­fen. Tail­le­fer, un­ser Am­phi­try­on,66 hat uns ver­spro­chen, die knaus­ri­gen Sa­tur­na­li­en67 un­se­rer klei­nen mo­der­nen Lu­kul­lus­se zu über­bie­ten. Er ist reich ge­nug, um Nied­rig­keit mit Grö­ße, Las­ter mit Ele­ganz und Gra­zie zu um­ge­ben. Hörst du zu, Ra­pha­el?« frag­te der Red­ner und un­ter­brach sich.

»Ja«, ant­wor­te­te der jun­ge Mann, der we­ni­ger er­staunt war über die Er­fül­lung sei­ner Wün­sche als über die Na­tür­lich­keit, mit der die Er­eig­nis­se sich ver­ket­te­ten.

Ob­gleich es ihm un­mög­lich war, an einen ma­gi­schen Ein­fluß zu glau­ben, be­wun­der­te er die Zu­fäl­le des mensch­li­chen Le­bens.

»Du sagst ›ja‹ zu uns in ei­ner Wei­se, als ob du an den Tod dei­nes Groß­va­ters däch­test«, sag­te ei­ner sei­ner Ka­me­ra­den.

»Ach«, sag­te Ra­pha­el in ei­nem so nai­ven Ton, daß die Schrift­stel­ler, die Hoff­nung des jun­gen Frank­reich, in Ge­läch­ter aus­bra­chen, »ach, mei­ne Freun­de, ich dach­te eben dar­an, daß wir auf dem Weg sind, rech­te Schur­ken zu wer­den. Bis­her ha­ben wir nur zwi­schen zwei Wei­nen ruch­lo­se Re­den ge­schwun­gen, ha­ben im Rausch das Le­ben und beim Ver­dau­en Men­schen und Din­ge be­ur­teilt. Jung­fräu­lich im Tun, wa­ren wir nur in Wor­ten ver­mes­sen; jetzt aber vom glü­hen­den Ei­sen der Po­li­tik ge­brand­markt, wer­den wir in die­ses große Ba­gno ein­tre­ten und un­se­re Il­lu­sio­nen ver­lie­ren. Wenn man nur mehr an den Teu­fel glaubt, ist es er­laubt, um das Pa­ra­dies der Ju­gend zu trau­ern, die Zeit der Un­schuld, da wir ei­nem gu­ten Pries­ter gläu­big die Zun­ge hin­streck­ten, um den hei­li­gen Leib un­se­res Herrn Jesu Chris­ti zu emp­fan­gen. Ach, lie­be Freun­de, wenn uns ehe­mals un­se­re ers­ten Sün­den so viel Ver­gnü­gen mach­ten, dann weil wir noch Ge­wis­sens­bis­se hat­ten, die sie ver­schön­ten, ih­nen einen pi­kan­ten Reiz ver­lie­hen; jetzt hin­ge­gen …«

»Oh, jetzt«, warf der ers­te Red­ner ein, »bleibt uns …«

»Was?« frag­te ein an­de­rer.

»Das Ver­bre­chen …«

»Das ist ein Wort, das die Höhe ei­nes Gal­gens und die Tie­fe der Sei­ne hat«, ver­setz­te Ra­pha­el.

»Oh, du ver­stehst mich nicht … ich rede von po­li­ti­schen Ver­bre­chen. Seit heu­te mor­gen trach­te ich nur noch nach ei­nem: nach der Exis­tenz ei­nes Ver­schwö­rers. Ob ich mor­gen noch im­mer Lust dazu habe, weiß ich nicht; aber heu­te abend er­füllt das scha­le Le­ben un­se­rer Zi­vi­li­sa­ti­on, das so ein­för­mig ist wie ein Schie­nen­strang, mein Herz mit Ekel. Die Schre­cken des Rück­zugs von Mos­kau, die Aben­teu­er des ro­ten Kor­sa­ren68 und das Le­ben der Schmugg­ler be­geis­tern mich lei­den­schaft­lich. Da es in Frank­reich kein Kar­täu­ser­klos­ter mehr gibt, so wünsch­te ich, daß es we­nigs­tens ein Bo­ta­ny Bay,69 eine Art Heil­an­stalt für die klei­nen Lord By­rons gäbe, die, nach­dem sie das Le­ben wie eine Ser­vi­et­te nach Tisch weg­ge­wor­fen ha­ben, nichts Bes­se­res wis­sen, als ihr Land in Brand zu ste­cken, sich eine Ku­gel in den Kopf zu ja­gen, für die Re­pu­blik zu kon­spi­rie­ren oder zum Krieg zu het­zen …«

»Émi­le«, un­ter­brach Ra­phaels Nach­bar feu­rig den Red­ner, »auf Man­nes­wort, ohne die Ju­li­re­vo­lu­ti­on wäre ich Pries­ter ge­wor­den, um ir­gend­wo auf dem Land ein stumpf­sin­ni­ges Le­ben zu füh­ren und …«

»Und du hät­test alle Tage das Bre­vier ge­le­sen?«

»Ja.«

»Du bist ein Tor.«

»Wir le­sen doch auch Zei­tun­gen!«

»Nicht übel, für einen Jour­na­lis­ten! Aber sei still, wir sind von lau­ter Abon­nen­ten um­ge­ben. Der Jour­na­lis­mus, siehst du, ist die Re­li­gi­on der mo­der­nen Ge­sell­schaft, und dar­in liegt ein Fort­schritt.«

»Wie das?«

»Die Pon­ti­fe­xe müs­sen nicht glau­ben und das Volk auch nicht …«

In­dem sie so wie ehr­ba­re Leu­te, die das ›De Vi­ris il­lus­tri­bus‹70 seit vie­len Jah­ren kann­ten, plau­der­ten, ge­lang­ten sie zu ei­nem der vor­neh­men Häu­ser der Rue Jou­bert.

*

Émi­le war ein Jour­na­list, der durch Nichtstun mehr Berühmt­heit er­langt hat­te als an­de­re durch ihre Er­fol­ge. Ein schar­fer Kri­ti­ker, voll Schwung und bei­ßen­der Iro­nie, be­saß er alle Vor­zü­ge, die sei­ne Feh­ler mit sich brach­ten. Un­ver­hoh­len und la­chend sag­te er ei­nem Freund tau­send Bos­hei­ten ins Ge­sicht, den er in des­sen Ab­we­sen­heit mu­tig und auf­rich­tig ver­tei­dig­te. Er spot­te­te über al­les, selbst über sei­ne Zu­kunft. Stets in Geld­nö­ten, ver­harr­te er wie alle Men­schen von ei­ni­ger Be­deu­tung in un­sag­ba­rer Faul­heit und warf nur manch­mal sol­chen Leu­ten mit ei­nem Wort ein gan­zes Buch an den Kopf, die in ei­nem gan­zen Buch noch nicht ein­mal ein ein­zi­ges Wort zu sa­gen hat­ten. Mit Ver­spre­chun­gen ging er sehr ver­schwen­de­risch um, doch hielt er sie nie, und Ver­mö­gen und Ruhm mach­ten ihm so we­nig Sor­gen, daß er Ge­fahr lief, sei­ne Tage im Spi­tal zu be­schlie­ßen. Ein Freund üb­ri­gens bis zum bit­te­ren Ende, ein groß­mäu­li­ger Zy­ni­ker und doch harm­los wie ein Kind, ar­bei­te­te er nur, wenn ihm der Sinn da­nach stand oder die Not ihn zwang.

»Wir wer­den eine fa­mo­se Mahl­zeit hal­ten, wie Meis­ter Al­co­f­ri­bas71 zu sa­gen be­lieb­te«, sprach er zu Ra­pha­el und wies auf die Käs­ten mit Blu­men, die das Trep­pen­haus schmück­ten und mit Wohl­ge­ruch er­füll­ten.

»Ich lie­be war­me, mit Tep­pi­chen aus­ge­leg­te Vor­hal­len«, sag­te Ra­pha­el. »Lu­xus schon im Trep­pen­haus ist in Frank­reich sel­ten. Hier lebe ich auf.«

»Und da oben wol­len wir wie­der ein­mal trin­ken und lus­tig sein, mein ar­mer Ra­pha­el. Wohl­an denn! Ich hof­fe, wir wer­den die Sie­ger sein und die­se Köp­fe da zu un­se­ren Fü­ßen se­hen.«

Dann zeig­te er spöt­tisch auf die Gäs­te, als sie in einen hell er­leuch­te­ten Sa­lon mit rei­cher Ver­gol­dung tra­ten, wo sie so­gleich von den be­mer­kens­wer­tes­ten jun­gen Leu­ten von Pa­ris be­grüßt wur­den. Ei­ner von ih­nen hat­te so­eben ein neu­es Ta­lent of­fen­bart und mit sei­nem ers­ten Ge­mäl­de den glor­rei­chen Ma­lern der Kai­ser­zeit den Rang strei­tig ge­macht. Ein an­de­rer hat­te tags zu­vor ein Buch ver­öf­fent­licht, voll Kraft und Fri­sche und ei­ner ge­wis­sen Ge­ring­schät­zung des li­te­ra­risch Al­t­her­ge­brach­ten, das der mo­der­nen Schu­le neue Wege zeig­te. Ein Stück wei­ter un­ter­hielt sich ein Bild­hau­er, des­sen un­ge­schlach­te Züge ein kraft­vol­les Ge­nie ver­rie­ten, mit ei­nem je­ner kal­ten Spöt­ter, die, je nach­dem, Über­le­gen­heit ent­we­der gar nicht oder über­all fest­stel­len wol­len. Da lau­er­te der geist­reichs­te un­se­rer Ka­ri­ka­tu­ris­ten mit bos­haf­tem Blick und spit­zer Zun­ge, die bei­ßen­den Witz­re­den in Blei­stift­stri­che um­zu­set­zen. Dort plau­der­te je­ner jun­ge ver­we­ge­ne Schrift­stel­ler, der wie kein an­de­rer die Quint­es­senz der po­li­ti­schen Ide­en her­aus­zu­de­stil­lie­ren ver­stand oder spie­lend den Ge­dan­ken­ge­halt ei­nes Viel­schrei­bers re­sü­mier­te, mit je­nem Poe­ten, vor des­sen Wer­ken alle zeit­ge­nös­si­schen Dich­tun­gen ver­blas­sen wür­den, wäre sein Ta­lent so mäch­tig wie sein Haß. Bei­de ver­such­ten sie, die Wahr­heit und die Lüge zu um­ge­hen, und tausch­ten also sanf­te Schmei­chel­re­den mit­ein­an­der aus. Ein be­rühm­ter Mu­si­ker trös­te­te einen jun­gen Po­li­ti­ker, der vor kur­z­em von der Tri­bü­ne ge­fal­len war, ohne sich ein Leids zu tun, im sen­ti­men­ta­len Moll mit ei­nem spöt­ti­schen Un­ter­ton. Jun­ge Dich­ter ohne Stil stan­den ne­ben jun­gen Dich­tern ohne Ein­fäl­le, poe­ti­sche Pro­sa­ik­er ne­ben pro­sa­i­schen Poe­ten. Ein jun­ger Saint-Si­mo­nist,72 der so naiv war, an sei­ne Leh­re zu glau­ben, woll­te vol­ler Mit­ge­fühl die­se un­voll­kom­me­nen We­sen einen, wahr­schein­lich um sie zu Be­ken­nern sei­nes Or­dens zu ma­chen. Fer­ner wa­ren zwei oder drei Män­ner der Wis­sen­schaft an­we­send, die ih­rer Be­stim­mung nach im­mer Stick­stoff in die Kon­ver­sa­ti­on brin­gen, und meh­re­re Vau­de­ville-Au­to­ren, be­reit, ihre rasch ver­fla­ckern­den Geis­tes­blit­ze bei­zu­steu­ern, wel­che wie das Fun­keln von Dia­man­ten we­der er­leuch­ten noch er­wär­men. Ei­ni­ge vom Wi­der­spruchs­geist Be­ses­se­ne, die sich ins­ge­heim über jene Men­schen lus­tig ma­chen, die ihre Be­wun­de­rung oder Ver­ach­tung für Men­schen und Din­ge un­ver­hoh­len kund­tun, trie­ben schon jene dop­pel­zün­gi­ge Po­li­tik, mit der sie alle Sys­te­me in Miß­kre­dit zu brin­gen su­chen, ohne für ein ein­zi­ges Par­tei zu er­grei­fen. Der Nörg­ler, den nichts er­staunt, der sich in den Bouf­fons mit­ten in ei­ner Ka­va­ti­ne schneuzt und dann als ers­ter ›Bra­vo‹ schreit und de­nen wi­der­spricht, die sei­ner Mei­nung zu­vor­kom­men, war auch da und such­te sich den Wort­schatz der geist­rei­chen Leu­te an­zu­eig­nen. Un­ter die­sen Gäs­ten wa­ren fünf, die eine Zu­kunft hat­ten, etwa zehn, die eine flüch­ti­ge Berühmt­heit er­lan­gen soll­ten; was die an­de­ren an­be­langt, so galt für sie, wie für al­les Mit­tel­mä­ßi­ge, die be­rühm­te Lüge73 Lud­wigs XVIII.: Ein­tracht und Ver­ges­sen. Der Gast­ge­ber zeig­te die be­sorg­te Hei­ter­keit ei­nes Man­nes, der zwei­tau­send Ta­ler auf­ge­wendet hat. Von Zeit zu Zeit blick­te er un­ge­dul­dig nach der Tür des Sa­lons, als hal­te er nach ei­nem Gast Aus­schau, der auf sich war­ten ließ. Als­bald er­schi­en ein un­ter­setz­ter klei­ner Mann, der mit ei­ner schmei­chel­haf­ten all­ge­mei­nen Be­we­gung be­grüßt wur­de; es war der No­tar, der am Mor­gen die­ses Ta­ges die Grün­dung der Zei­tung voll­zo­gen hat­te. Ein Kam­mer­die­ner in Schwarz schlug die Türflü­gel ei­nes großen Spei­se­saals zu­rück, wo je­der ohne wei­te­re Um­stän­de sei­nen Platz an der rie­si­gen Ta­fel fand. Ehe Ra­pha­el die Sa­lons ver­ließ, warf er einen letz­ten Blick dar­auf. Sein Wunsch war ohne Fra­ge voll­stän­dig in Er­fül­lung ge­gan­gen. Sei­de und Gold prang­te in den Ge­mä­chern. Die un­zäh­li­gen Ker­zen der präch­ti­gen Kan­de­la­ber lie­ßen die ge­rings­ten Ein­zel­hei­ten der ver­gol­de­ten Frie­se, die fei­nen Zi­se­lie­run­gen der Bron­ze und die sat­ten Far­ben der Mö­bel in hel­lem Lich­te er­strah­len. Sel­te­ne Blu­men auf Ge­stel­len, die kunst­reich aus Bam­bus her­ge­stellt wa­ren, ver­brei­te­ten lieb­li­che Wohl­ge­rü­che. Al­les, bis hin zu den Vor­hän­gen, war von ei­ner un­auf­dring­li­chen Ele­ganz; über al­lem lag ein ge­wis­ser poe­ti­scher Zau­ber, der eine star­ke Wir­kung auf die Phan­ta­sie ei­nes jun­gen mit­tel­lo­sen Man­nes aus­üben muß­te.

»100 000 Li­vres Ren­te sind kein schlech­ter Kom­men­tar des Ka­te­chis­mus und hel­fen uns wun­der­bar, die Moral in Hand­lun­gen um­zu­set­zen!« sag­te er seuf­zend. »Wahr und wahr­haf­tig, mei­ne Tu­gend mag nicht zu Fuß ge­hen. Für mich be­steht das Las­ter in ei­ner Dach­stu­be, ei­nem ab­ge­schab­ten Rock, ei­nem grau­en Hut im Win­ter und Schul­den beim Por­tier. Ah! ich will in die­sem Lu­xus ein Jahr, sechs Mo­na­te nur le­ben, gleich­viel! Und dann – ster­ben! We­nigs­tens wer­de ich dann tau­send Le­ben ge­kannt, er­schöpft, ge­nos­sen ha­ben!«

»Oh!« sag­te Émi­le, der ihm zu­ge­hört hat­te, »du hältst das Coupé ei­nes Wech­sel­mak­lers für Glück. Ach! du wä­rest des Gol­des bald über­drüs­sig, wenn du sä­hest, daß es dir die Mög­lich­keit raubt, ein über­ra­gen­der Mensch zu sein. Hat der Künst­ler zwi­schen der Ar­mut des Reich­tums und den Reich­tü­mern der Ar­mut je ge­schwankt? Braucht un­ser­eins denn nicht im­mer Kämp­fe? Üb­ri­gens, rüs­te dei­nen Ma­gen zum An­griff!« füg­te er hin­zu und wies ihm mit ei­ner he­ro­i­schen Ge­bär­de den ma­je­stä­ti­schen, drei­mal ge­be­ne­dei­ten und ver­hei­ßungs­vol­len An­blick, den der Spei­se­saal des ge­seg­ne­ten Ka­pi­ta­lis­ten dar­bot. »Die­ser Mensch da«, fuhr er fort, »hat sich doch wahr­haf­tig Mühe ge­ge­ben, sein Geld nur um uns­ret­wil­len zu­sam­men­zu­schar­ren. Ist er nicht eine Art Schwamm von der Gat­tung der Po­ly­pen, ei­ner, der von den Na­tur­for­schern über­se­hen wor­den ist und den es mit Raf­fi­nes­se aus­zu­quet­schen gilt, be­vor ihn die Er­ben aus­sau­gen? Fin­dest du nicht, daß die Bas­re­li­efs an den Wän­den Stil ha­ben? Und die Lüs­ter, die Ge­mäl­de, welch ge­schmack­vol­ler Lu­xus! Wenn man den Nei­dern und den­je­ni­gen, die hin­ter die Ku­lis­sen gu­cken, Glau­ben schen­ken darf, so hät­te die­ser Mann wäh­rend der Re­vo­lu­ti­on einen Deut­schen und noch ei­ni­ge an­de­re Per­so­nen, sei­nen bes­ten Freund – so sagt man – und die Mut­ter die­ses Freun­des, um­ge­bracht. Kannst du sol­chen Ver­bre­chen un­ter den er­grau­en­den Haa­ren die­ses ehr­wür­di­gen Tail­le­fer Platz ein­räu­men? Er sieht wie ein sehr gut­mü­ti­ger Mensch aus. Sieh nur, wie das Sil­ber­ge­schirr fun­kelt; und je­der glän­zen­de Strahl soll­te für ihn ein Dolch­stoß sein? … Nicht doch! Eben­so­gut könn­te man an Mo­ham­med glau­ben. Wenn jene Leu­te recht hät­ten, so wür­den sich hier drei­ßig edel­ge­ar­te­te Män­ner an­schi­cken, die Ein­ge­wei­de ei­ner Fa­mi­lie zu ver­spei­sen und ihr Blut zu trin­ken. Und wir bei­den jun­gen treu­her­zi­gen En­thu­sias­ten soll­ten an die­sem Greu­el teil­ha­ben! Ich habe große Lust, un­sern Ka­pi­ta­lis­ten zu fra­gen, ob er ein an­stän­di­ger Mensch ist.«

»Nein, nicht jetzt!« rief Ra­pha­el, »erst wenn er voll­trun­ken ist; dann wer­den wir zu­min­dest schon ge­speist ha­ben.«

Die bei­den Freun­de nah­men la­chend Platz. Mit ei­nem Blick, der dem Wort zu­vor­kam, ent­rich­te­te zu­erst je­der Gast dem präch­ti­gen An­blick sei­nen Tri­but an Be­wun­de­rung; die lan­ge Ta­fel war mit ei­nem schnee­wei­ßen Tuch be­deckt, auf dem die Ge­de­cke sym­me­trisch an­ge­ord­net und von gold­brau­nen Bröt­chen ge­krönt wa­ren. Die Kris­tall­glä­ser spie­gel­ten mit ih­ren glit­zern­den Re­fle­xen die Far­ben des Re­gen­bo­gens, die Ker­zen zeich­ne­ten ein Kreuz­feu­er bis ins Unend­li­che, die un­ter Sil­ber­de­ckeln auf­ge­tra­ge­nen Spei­sen reiz­ten den Ap­pe­tit und die Neu­gier­de. Es wur­de we­nig ge­spro­chen. Die Tischnach­barn sa­hen sich ge­gen­sei­tig an. Der Ma­dei­ra kreis­te. Dann er­schi­en der ers­te Gang in sei­ner gan­zen Glo­rie; er hät­te dem se­li­gen Cam­bacérès74 zur Ehre ge­reicht, und Bril­lat-Sa­va­rin75 hät­te ihn höch­lich ge­prie­sen. Bor­deaux und Bur­gun­der, wei­ßer und ro­ter, wur­den mit kö­nig­li­cher Ver­schwen­dung aus­ge­schenkt. Der ers­te Teil die­ses Fest­mahls war in je­dem Punkt der Ex­po­si­ti­on ei­ner klas­si­schen Tra­gö­die ver­gleich­bar. Der zwei­te Akt wur­de et­was ge­schwät­zig. Die Gäs­te hat­ten ge­hö­rig ge­trun­ken, wo­bei sie die Wei­ne je nach Lau­ne wech­sel­ten, so daß sich in dem Au­gen­blick, als man die Res­te die­ses lu­kul­li­schen Mah­les ab­trug, be­reits die leb­haf­tes­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen ent­s­pon­nen hat­ten. Blas­se Stir­nen rö­te­ten sich, Na­sen färb­ten sich pur­purn, die Ge­sich­ter flamm­ten, die Au­gen fun­kel­ten. Wäh­rend die­ser Mor­gen­rö­te der Trun­ken­heit über­schritt die Un­ter­hal­tung noch nicht die Gren­zen des An­stands, aber Ne­cke­rei­en und Wit­ze­lei­en ent­fuh­ren nach und nach je­dem Mun­de; dann hob die Ver­leum­dung ganz lei­se ih­ren klei­nen Schlan­gen­kopf und sprach mit flö­ten­der Stim­me; ein paar Duck­mäu­ser horch­ten ge­spannt auf und hoff­ten, ihre Nüch­tern­heit wah­ren zu kön­nen. Der zwei­te Gang fand die Geis­ter also schon ganz er­hitzt. Je­der aß beim Spre­chen, sprach beim Es­sen, je­der trank, ohne der Men­ge zu ach­ten, die ihm da durch die Keh­le floß, so wohl­schme­ckend und aro­ma­tisch war der Wein, so an­ste­ckend wirk­te das Bei­spiel. Tail­le­fer setz­te sei­nen Stolz dar­ein, die Gäs­te an­zu­feu­ern, und ließ nun die schwe­ren Rhô­ne­wei­ne, den feu­ri­gen To­kai­er, den be­rau­schen­den al­ten Rous­sil­lon auf­tra­gen. Wie frisch ein­ge­spann­te Post­pfer­de lie­ßen dann alle die­se Män­ner, von der pri­ckeln­den Glut des un­ge­dul­dig er­war­te­ten, nun über­reich­lich ge­nos­se­nen Cham­pa­gners auf­ge­peitscht, ih­ren Geist in lee­res Ge­re­de hin­ein­ga­lop­pie­ren, auf das nie­mand hört; sie fin­gen an, jene Ge­schich­ten zu er­zäh­len, die kei­ne Zu­hö­rer fin­den; wie­der­hol­ten hun­dert­mal jene Fra­gen, die un­er­wi­dert blei­ben. Das Ge­la­ge al­lein ent­fal­te­te sei­ne lau­te Stim­me, eine Stim­me aus hun­dert­fäl­ti­gem ver­wor­re­nen Ge­schrei, die ins Gran­dio­se an­schwillt wie ein Cre­scen­do von Ros­si­ni.76 Dann ka­men die ver­fäng­li­chen Tisch­re­den, die Prah­le­rei­en, die Her­aus­for­de­run­gen. Alle be­ga­ben sich ih­rer geis­ti­gen Fä­hig­kei­ten, um da­für die von Fäs­sern, Ton­nen und Zu­bern an­zu­neh­men. Schein­bar hat­te je­der zwei Stim­men. Es kam ein Mo­ment, wo die Her­ren alle auf ein­mal re­de­ten und die Die­ner lä­chel­ten. Aber in die­sem Wirr­warr von Wor­ten, wo pa­ra­do­xe Mei­nun­gen und gro­tesk ko­stü­mier­te Wahr­hei­ten durch das Ge­schrei, durch die un­be­wie­se­nen Be­haup­tun­gen und selbst­herr­li­chen Ur­tei­le hin­durch auf­ein­an­der­prall­ten, wie im Schlacht­ge­tüm­mel Ka­no­nen-, Ge­wehr- und Kar­tät­schen­ku­geln sich kreu­zen, hät­te si­cher­lich einen Phi­lo­so­phen der aus­ge­fal­le­nen Ge­dan­ken we­gen in­ter­es­siert, hät­te einen Po­li­ti­ker durch die bi­zar­ren An­sich­ten über­rascht. Das war ein Buch und ein Bild zu­gleich. Phi­lo­so­phien, Re­li­gio­nen, Moral, so ver­schie­den von ei­nem Brei­ten­grad zum an­de­ren, Re­gie­run­gen, kurz, alle großen Be­tä­ti­gun­gen der mensch­li­chen Ver­nunft fie­len un­ter ei­ner Sen­se, die so scharf hieb wie die der Zeit, und es wäre schwer zu ent­schei­den ge­we­sen, ob sie von trun­ke­ner Weis­heit oder von wei­se und hell­sich­tig ge­wor­de­ner Trun­ken­heit ge­schwun­gen wur­de. Von ei­nem Sturm fort­ge­ris­sen, schie­nen die­se Geis­ter, gleich dem Meer, das ge­gen sei­ne fel­si­ge Küs­te an­tobt, alle Ge­set­ze, zwi­schen de­nen die Zi­vi­li­sa­tio­nen wo­gen, er­schüt­tern zu wol­len und ent­spra­chen so un­wis­sent­lich dem Wil­len Got­tes, der das Gute und Böse in der Na­tur ge­sche­hen läßt und das Ge­heim­nis ih­res im­mer­wäh­ren­den Kamp­fes für sich be­hält. Der Streit, so grim­mig und bur­lesk er war, wur­de zu ei­ner Art He­xensab­bat der Geis­ter. Die gan­ze Kluft, die das 19. Jahr­hun­dert vom 16. trennt, klaff­te zwi­schen den trüb­se­li­gen Spä­ßen die­ser Kin­der der Re­vo­lu­ti­on bei der Ent­ste­hung ei­ner Zei­tung und den Re­den der lus­ti­gen Ze­cher bei der Ge­burt des Gar­gan­tua. Je­nes schick­te sich la­chend zu ei­ner Zer­stö­rung an, das un­se­re lacht in­mit­ten ei­nes Trüm­mer­hau­fens.

»Wie heißt der jun­ge Mann, den ich da un­ten sehe?« frag­te der No­tar und deu­te­te auf Ra­pha­el. »Ich glaub­te ihn Va­len­tin nen­nen zu hö­ren?« »Was re­den Sie da kurz­weg von Va­len­tin?« rief Émi­le la­chend. »Ra­pha­el de Va­len­tin, wenn ich bit­ten darf! Wir tra­gen einen gol­de­nen Ad­ler im schwar­zen Feld, mit ei­ner sil­ber­nen Kro­ne, Schna­bel und Kral­len rot, mit der schö­nen De­vi­se: Non ce­ci­dit ani­mus!77 Wir sind kein Fin­del­kind, son­dern der Ab­kömm­ling des Kai­sers Va­lens, des Stamm­va­ters der Va­len­ti­nois, des Grün­ders der Städ­te Va­len­cia in Spa­ni­en und Va­lence in Frank­reich, recht­mä­ßi­ger Erbe des Ost­rö­mi­schen Rei­ches. Wenn wir Mahmud in Kon­stan­ti­no­pel herr­schen las­sen, so aus rei­ner Gut­mü­tig­keit und aus Man­gel an Geld und Sol­da­ten.«

Émi­le be­schrieb mit sei­ner Ga­bel in der Luft eine Kro­ne über dem Kopf Ra­phaels. Der No­tar be­sann sich eine Wei­le und mach­te sich dann wie­der ans Trin­ken, in­dem er durch eine be­zeich­nen­de Ge­bär­de an­deu­te­te, daß es ihm un­mög­lich sei, die Städ­te Va­lence und Va­len­cia, Kon­stan­ti­no­pel, Mahmud, Kai­ser Va­lens und die Fa­mi­lie der Va­len­ti­nois un­ter sei­ne Kli­en­tel zu brin­gen.

»Ist die Zer­stö­rung die­ser Amei­sen­hau­fen, na­mens Ba­by­lon, Ty­rus, Kar­tha­go oder Ve­ne­dig, die un­ter den Fü­ßen ei­nes dar­über hin­weg­schrei­ten­den Rie­sen zer­tre­ten wor­den sind, nicht eine dem Men­schen von ei­ner spott­lie­ben­den Macht er­teil­te Mah­nung?« frag­te Clau­de Vi­gnon, eine Art ge­kauf­ter Skla­ve, der für zehn Sous die Zei­le Weis­hei­ten à la Bos­su­et78 ver­zapf­te.

»Mo­ses, Sul­la, Lud­wig XI., Ri­che­lieu, Ro­be­spi­er­re und Na­po­le­on sind viel­leicht ein und der­sel­be Mann, der in ver­schie­de­nen Epo­chen wie ein Ko­met am Him­mel wie­der er­scheint«, ant­wor­te­te ein An­hän­ger von Ballan­che.79

»Wozu die Vor­se­hung er­grün­den wol­len?« ver­setz­te Cana­lis, ein Bal­la­den­fa­bri­kant.

»Oh, was die Vor­se­hung an­geht!« un­ter­brach ihn der Nörg­ler; »ich ken­ne in der Welt kei­nen Be­griff, der dehn­ba­rer ist.«

»Was wol­len Sie, Mon­sieur! Lud­wig XIV. hat, um die Was­ser­lei­tun­gen80 von Main­te­non gra­ben zu las­sen, mehr Men­schen ums Le­ben ge­bracht als der Kon­vent,81 um die Steu­ern ge­recht zu ver­tei­len, die Ve­rein­heit­li­chung der Ge­set­ze her­zu­stel­len, Frank­reich zu na­tio­na­li­sie­ren und die Erb­schaf­ten gleich­mä­ßig zu ver­tei­len«, sag­te Mas­sol, der Re­pu­bli­ka­ner ge­wor­den war, weil ihm ein Wört­chen vor sei­nem Na­men fehl­te.

»Mon­sieur«, wand­te sich Mo­reau de l’Oi­se, ein Groß­grund­be­sit­zer, an ihn, »da Sie Blut für Wein hal­ten, wer­den Sie denn dies­mal je­dem sei­nen Kopf auf den Schul­tern las­sen?«

»Wozu denn, mein Bes­ter? Sind die Grund­sät­ze der so­zia­len Ord­nung nicht ein paar Op­fer wert?«

»Bi­xiou, he! Der Dings­da, der Re­pu­bli­ka­ner, be­haup­tet, daß der Kopf die­ses Grund­be­sit­zers ein Op­fer wäre«, sag­te ein jun­ger Mann zu sei­nem Nach­barn.

»Men­schen und Er­eig­nis­se sind nichts«, setz­te der Re­pu­bli­ka­ner, von Schluck­auf un­ter­bro­chen, sei­ne Theo­rie fort; »in der Po­li­tik und der Phi­lo­so­phie gibt es nur Prin­zi­pi­en und Ide­en.«

»Wie grau­en­haft! So hät­ten Sie kein Be­den­ken, Ihre Freun­de für ein ›wenn‹ zu tö­ten? …«

»Ach was, Mon­sieur! Der Mensch, der Ge­wis­sens­bis­se hat, ist der wah­re Bö­se­wicht, denn er hat einen Be­griff von der Tu­gend; wäh­rend Pe­ter der Gro­ße und der Her­zog Alba Sys­te­me wa­ren, und der Kor­sar Mon­bard82 eine Or­ga­ni­sa­ti­on.«

»Aber kann die Ge­sell­schaft nicht auch ohne eure Sys­te­me und Or­ga­ni­sa­tio­nen be­ste­hen?« frag­te Cana­lis.

»Oh, selbst­ver­ständ­lich!« rief der Re­pu­bli­ka­ner.

»Mir wird ganz übel von eu­rer stumpf­sin­ni­gen Re­pu­blik! Man kann nicht in Ruhe einen Ka­paun zer­le­gen, ohne an das Agrar­ge­setz zu den­ken.«

»Dei­ne Prin­zi­pi­en sind vor­treff­lich, mein klei­ner trüf­fel­ge­spick­ter Bru­tus! Aber du bist ge­nau wie mein Kam­mer­die­ner: der Kerl ist so grau­sam vom Rein­lich­keits­fim­mel be­ses­sen, daß ich, wenn ich ihn mei­ne Klei­der nach sei­nem Gut­dün­ken bürs­ten lie­ße, nackt ge­hen müß­te.«

»Ihr seid un­ver­nünf­ti­ge Tröp­fe! Ihr wollt eine Na­ti­on mit Zahn­sto­chern säu­bern«, er­wi­der­te der Re­pu­bli­ka­ner. »Wenn man euch so hört, wäre die Jus­tiz ge­fähr­li­cher als die Räu­ber.«

»Hol­la!« rief der Ad­vo­kat Des­ro­ches.

»Sind die lang­wei­lig mit ih­rer Po­li­tik!« sag­te Car­dot, der No­tar. »Hört mir auf da­von! Kei­ne Wis­sen­schaft noch Tu­gend ist einen Trop­fen Blut wert. Wenn wir der Wahr­heit die Rech­nung auf­stel­len woll­ten, fän­den wir sie viel­leicht bank­rott.«

»Ach! Es hät­te si­cher we­ni­ger ge­kos­tet, uns im schlim­men zu amü­sie­ren, als uns im gu­ten her­um­zu­strei­ten. Ich gäbe alle Re­den, die seit 40 Jah­ren auf der Tri­bü­ne ge­hal­ten wor­den sind, für eine Fo­rel­le, eine Er­zäh­lung von Per­rault83 oder eine Skiz­ze von Char­let.«84

»Sie ha­ben voll­kom­men recht! Rei­chen Sie mir die Spar­gel. Denn schließ­lich und end­lich zeugt die Frei­heit An­ar­chie, die An­ar­chie führt zum Des­po­tis­mus und der Des­po­tis­mus wie­der zur Frei­heit. Mil­lio­nen Men­schen sind ums Le­ben ge­kom­men, ohne ei­nem ein­zi­gen die­ser Sys­te­me Dau­er zu ver­schaf­fen. Ist das nicht der Cir­cu­lus vi­tio­sus,85 in wel­chem sich die mo­ra­li­sche Welt von je­her be­wegt? Wenn der Mensch glaubt, et­was ver­voll­komm­net zu ha­ben, hat er die Din­ge nur an eine an­de­re Stel­le ge­rückt.«

»Oha!« rief Cur­sy, der Vau­de­vil­le­dich­ter, »dann, Mes­sieurs, trin­ke ich auf Karl X.,86 den Va­ter der Frei­heit!«

»Wa­rum nicht?« sag­te Émi­le. »Wenn der Des­po­tis­mus in den Ge­set­zen ist, fin­det sich die Frei­heit in den Sit­ten, und vice ver­sa.«87

»Trin­ken wir also auf die Dumm­heit der Macht, die uns so viel Macht über die Dumm­köp­fe gibt!« sag­te der Ban­kier.

»Nun, mein Lie­ber, Na­po­le­on hat uns we­nigs­tens Ruhm ge­bracht!« mein­te ein Ma­ri­ne­of­fi­zier, der nie­mals aus Brest her­aus­ge­kom­men war.

»Ach, der Ruhm! Eine trau­ri­ge Ware. Er kos­tet viel und hält sich nicht. Ob der Ruhm nicht das egois­ti­sche Ziel der großen Män­ner ist, wie Glück das der Dum­men?«

»Mon­sieur, Sie sind sehr glück­lich.«

»Der ers­te, der Tren­nungs­grä­ben zog, war ge­wiß­lich ein schwa­cher Mensch, denn die Ge­sell­schaft pro­fi­tiert nur von den Elen­den. Die bei­den äu­ßers­ten Pole der mo­ra­li­schen Welt, der Den­ker und der Wil­de, ver­ach­ten glei­cher­wei­se den Be­sitz.«

»Nett das!« rief Car­dot; »wenn es kein Ei­gen­tum gäbe, wie könn­ten wir Pro­to­kol­le ma­chen?«

»Das sind un­glaub­lich köst­li­che Erb­sen!«

»Und der Pfar­rer wur­de am Tag dar­auf tot in sei­nem Bett ge­fun­den …«

»Wer spricht vom Tod? Ma­chen Sie kei­ne Scher­ze! Ich habe einen On­kel.«

»Sie wür­den es si­cher er­tra­gen, ihn zu ver­lie­ren.«

»Kei­ne Fra­ge.«

»Hö­ren Sie, Mes­sieurs! ›Die rech­te Art, sei­nen On­kel um­zu­brin­gen.‹ Ruhe! (Hört, hört!) Man habe einen di­cken fet­ten On­kel, min­des­tens sieb­zig­jäh­rig, das sind die bes­ten On­kel. (Be­we­gung.) Man gebe ihm un­ter ir­gend­ei­nem Vor­wand eine fet­te Gän­se­le­ber­pas­te­te zu es­sen . .«

»Ach, mein On­kel ist lei­der zäh, dürr, gei­zig und sehr mä­ßig.«

»Ja, sol­che On­kel sind Un­ge­heu­er, die das Le­ben miß­brau­chen.«

»Und wäh­rend er ver­daut«, fuhr der Mann mit den On­keln fort, »mel­den Sie ihm den Kon­kurs sei­nes Ban­kiers.«

»Und wenn er das über­steht?«

»So het­zen Sie ein hüb­sches Mäd­chen auf ihn!«

»Wenn er aber …?« mein­te der an­de­re mit ei­ner ver­nei­nen­den Ge­bär­de.

»Dann ist es kein On­kel. Die On­kel sind in der Re­gel le­bens­lus­tig.«

»Die Stim­me der Ma­li­bran88 hat zwei Töne ein­ge­büßt.«

»Ach, be­wah­re.«

»Aber ge­wiß doch, Mon­sieur.«

»Oh, oh! Ja und nein, ist das nicht die Ge­schich­te al­ler re­li­gi­ösen, po­li­ti­schen und li­te­ra­ri­schen Ab­hand­lun­gen? Der Mensch ist ein Schalks­narr, der über Ab­grün­den tanzt!«

»Nach Ih­rer Mei­nung wäre ich also ein Dumm­kopf?«

»Im Ge­gen­teil, Sie ver­ste­hen mich bloß nicht.«

»Bil­dung, schö­ner Un­sinn! Mon­sieur Hei­nef­fet­ter­mach gibt die Zahl der ge­druck­ten Bü­cher mit mehr als ei­ner Mil­li­ar­de an, und das Le­ben ei­nes Men­schen er­laubt ihm nicht, 150 000 da­von zu le­sen. Er­klä­ren Sie mir also, was das Wort ›Bil­dung‹ be­deu­tet? Für die einen be­steht die Bil­dung dar­in, die Na­men des Pfer­des von Alex­an­der, der Dog­ge Be­re­cil­lo, des Seigneur des Ac­cords zu ken­nen, und von dem Man­ne nichts zu wis­sen, dem wir das Flö­ßen des Hol­zes oder das Por­zel­lan ver­dan­ken. Für die an­de­ren ist ›ge­bil­det sein‹ ein Te­sta­ment ver­bren­nen und als ge­ach­te­te, an­ge­se­he­ne Leu­te zu le­ben, an­statt rück­fäl­lig zu wer­den, eine Uhr zu steh­len und mit den fünf er­schwe­ren­den Um­stän­den ent­ehrt und ge­haßt auf der Place de Grè­ve zu en­den.«

»Wird Na­than über­dau­ern?«

»Nun, sei­ne Mit­ar­bei­ter ha­ben sehr viel Geist.«

»Und Cana­lis?«

»Das ist ein großer Mann, re­den wir nicht mehr von ihm.«

»Ihr seid be­trun­ken!«

»Die un­mit­tel­ba­re Fol­ge ei­ner Kon­sti­tu­ti­on ist die Ver­fla­chung der Geis­ter. Küns­te, Wis­sen­schaf­ten, Bau­wer­ke, al­les wird von ei­nem ent­setz­li­chen Ego­is­mus, der Le­pra un­se­rer Zeit, zer­fres­sen. Eure 300 Bür­ger, die auf Bän­ken hocken, wer­den nur dar­an den­ken, Pap­peln zu pflan­zen. Der Des­po­tis­mus ver­rich­tet il­le­gal große Din­ge, die Frei­heit macht sich nicht ein­mal die Mühe, sehr klei­ne auf le­ga­le Wei­se zu tun.«

»Eure all­ge­mei­ne Bil­dung fa­bri­ziert 100-Sous-Stücke aus Men­schen­fleisch«, un­ter­brach sie ein An­hän­ger des Ab­so­lu­tis­mus. »Die In­di­vi­dua­li­tä­ten ver­schwin­den bei ei­nem Volk, das durch Bil­dung ni­vel­liert ist.«

»Ist es denn aber nicht der Zweck der Ge­sell­schaft, ei­nem je­den den Wohl­stand zu ver­schaf­fen?« frag­te der Saint-Si­mo­nist.

»Wenn Sie 50 000 Li­vres Ren­te hät­ten, wür­den Sie nicht ans Volk den­ken. Wenn Sie von ei­ner so ed­len Lei­den­schaft für die Mensch­heit er­grif­fen sind, ge­hen Sie nach Ma­da­gas­kar: dort fin­den Sie ein ganz neu­es net­tes klei­nes Volk, was Sie noch saint-si­mo­ni­sie­ren, klas­si­fi­zie­ren, in Glas­ge­fäße sper­ren kön­nen; aber hier hat je­der sei­ne Hül­le, in die er ganz na­tür­lich hin­ein­paßt wie ein Pfropf ins Spund­loch. Die Por­tiers sind Por­tiers, und die Tröp­fe sind Tröp­fe, ohne erst von ei­nem Bi­schofs­kol­le­gi­um dazu er­nannt zu wer­den. Haha!«

»Sie Sind Kar­list!«

»Wa­rum nicht? Ich lie­be den Des­po­tis­mus. Er zeugt von ei­ner ge­wis­sen Ver­ach­tung der mensch­li­chen Ras­se. Ich has­se die Kö­ni­ge nicht. Sie sind so spa­ßig. In ei­ner Kam­mer auf dem Thron zu sit­zen, drei­ßig Mil­lio­nen Mei­len von der Son­ne ent­fernt, ist das gar nichts?«

»Fas­sen wir nun die­se große Über­sicht über die Zi­vi­li­sa­ti­on zu­sam­men«, sag­te der Ge­lehr­te, der zur Be­leh­rung des un­auf­merk­sa­men Bild­hau­ers ein Ge­spräch über den An­fang der Ge­sell­schaf­ten und die au­to­chtho­nen Völ­ker ge­führt hat­te. »Als die Völ­ker sich her­aus­bil­de­ten, war die Macht ge­wis­ser­ma­ßen ma­te­ri­ell, un­teil­bar und roh; mit der stän­dig wach­sen­den Zahl der Men­schen ha­ben die Re­gie­run­gen dann all­mäh­lich eine mehr oder we­ni­ger ge­schick­te Tei­lung der ur­sprüng­li­chen Macht vor­ge­nom­men. Im frü­hen Al­ter­tum herrsch­te die Theo­kra­tie; der Pries­ter führ­te das Schwert und das Weih­rauch­faß. Spä­ter gab es zwei hei­li­ge Äm­ter: den Pon­ti­fex und den Kö­nig. Heu­te, am End­punkt der Zi­vi­li­sa­ti­on, hat un­se­re Ge­sell­schaft die Macht den Ein­fluß­be­rei­chen ge­mäß auf­ge­teilt, und wir ha­ben nun Macht­grup­pen, die da hei­ßen: In­dus­trie, Ge­dan­ke, Geld, Wort. Die Macht, die kei­ne Ein­heit mehr hat, schrei­tet un­auf­hör­lich ei­ner so­zia­len Auf­lö­sung ent­ge­gen, der nur noch vom Ei­gen­nutz eine Schran­ke ge­setzt wird. Dem­nach stüt­zen wir uns we­der mehr auf die Re­li­gi­on noch auf die ma­te­ri­el­le Ge­walt, son­dern auf den Ver­stand. Wiegt das Buch das Schwert auf, das Wort die Tat? Das ist das Pro­blem.«

»Der Ver­stand hat al­les ge­tö­tet!« rief der Kar­list. »Hö­ren Sie auf, die un­be­schränk­te Frei­heit führt die Völ­ker zum Selbst­mord, sie lang­wei­len sich in ih­rem Tri­umph wie ein eng­li­scher Mil­lio­när.«

»Was sa­gen Sie uns Neu­es? Heut­zu­ta­ge fin­det man jeg­li­che Macht lä­cher­lich, und das ist eben­so üb­lich ge­wor­den, wie Gott zu leug­nen. Man hat kei­nen Glau­ben mehr. Da­rum ist auch das Jahr­hun­dert wie ein al­ter Sul­tan der Aus­schwei­fung er­le­gen. Schließ­lich hat euer Lord By­ron in letz­ter poe­ti­scher Verzweif­lung die Lei­den­schaft des Ver­bre­chens be­sun­gen.«

»Wis­sen Sie«, ant­wor­te­te ihm der voll­trun­ke­ne Bian­chon, »daß uns ein Gran Phos­phor mehr oder we­ni­ger zum Ge­nie oder Bö­se­wicht, zum Mann von Geist oder zum Idio­ten, zum tu­gend­haf­ten Men­schen oder zum Ver­bre­cher macht?«

»Kann man so von Tu­gend re­den?« rief Cur­sy; »der Tu­gend, dem Ge­gen­stand al­ler Thea­ter­stücke, der Lö­sung al­ler Dra­men, dem Fun­da­ment al­ler Ge­richts­hö­fe.«

»Ach! schweig doch, du Esel! Dei­ne Tu­gend ist Achil­les ohne Fer­se!« sag­te Bi­xiou.

»Wein her!«

»Willst du wet­ten, daß ich eine Fla­sche Cham­pa­gner in ei­nem Zug aus­trin­ke?«

»Welch ein Zug von Geist!« rief Bi­xiou.

»Sie sind blau wie Fuhr­knech­te«, sag­te ein jun­ger Mann, der mit erns­ter Mie­ne sei­ner Wes­te zu trin­ken gab.

»Ja, Ver­ehr­ter, die ge­gen­wär­ti­ge Re­gie­rung re­prä­sen­tiert die Kunst, die öf­fent­li­che Mei­nung herr­schen zu las­sen.«

»Die öf­fent­li­che Mei­nung? Das ist doch eine ganz las­ter­haf­te käuf­li­che Dir­ne. Wenn man euch Män­nern der Moral und Po­li­tik zu­hört, so müß­te man stets eure Ge­set­ze der Na­tur, die öf­fent­li­che Mei­nung dem Ge­wis­sen vor­zie­hen. Geht mir, al­les ist wahr, al­les ist falsch! Wenn uns die Ge­sell­schaft die Dau­nen zu Kopf­kis­sen gab, so hat sie die­se Wohl­tat si­cher­lich durch die Gicht quitt ge­macht, so wie sie uns die Pro­zeß­ord­nung zur Ein­schrän­kung der Ge­rech­tig­keit und den Schnup­fen als Fol­ge­er­schei­nung des Kasch­mir­schals ge­bracht hat.«

»Un­ge­heu­er!« rief Émi­le und un­ter­brach den Men­schen­feind, »wie kannst du die Zi­vi­li­sa­ti­on an­ge­sichts die­ser Wei­ne, die­ser köst­li­chen Spei­sen, mit de­nen du dich voll­ge­schla­gen hast, schmä­hen? Friß die­ses Reh samt den ver­gol­de­ten Läu­fen und Hör­nern, nicht aber dei­ne Mut­ter.«

»Ist es mei­ne Schuld, wenn der Ka­tho­li­zis­mus schließ­lich da­hin kommt, eine Mil­li­on Göt­ter in einen Mehl­sack zu ste­cken, wenn die Re­pu­blik im­mer auf einen Na­po­le­on hin­aus­läuft, wenn das Kö­nig­tum zwi­schen der Er­mor­dung Hein­richs IV.89 und der Hin­rich­tung Lud­wigs XVI. sitzt, wenn der Li­be­ra­lis­mus zu La Fayet­te90 wird? Ha­ben Sie sich ihm im Juli an­ge­schlos­sen?«

»Nein.«

»Dann schwei­gen Sie, Skep­ti­ker!«

»Die Skep­ti­ker sind die ge­wis­sen­haf­tes­ten Men­schen.«

»Sie ha­ben kein Ge­wis­sen.«

»Was sa­gen Sie da? Sie ha­ben min­des­tens zwei.«

»Den Him­mel dis­kon­tie­ren! Se­hen Sie, das ist eine wahr­haft kauf­män­ni­sche Idee. Die an­ti­ken Re­li­gio­nen wa­ren nur eine glück­li­che Ent­wick­lung der phy­si­schen Lust; aber wir, wir ha­ben die See­le und die Hoff­nung ent­wi­ckelt; das ist Fort­schritt.«

»Ach, mei­ne lie­ben Freun­de, was kön­nen Sie von ei­nem mit Po­li­tik ge­mä­s­te­ten Jahr­hun­dert er­war­ten?« sag­te Na­than; »was war das Schick­sal der ›Ge­schich­te des Kö­nigs von Böh­men und sei­ner sie­ben Sch­lös­ser‹,91 die­ses rei­zen­den Ent­wurfs …«

»Was?« rief der Kritt­ler vom an­dern Ende der Ta­fel »das sind hoh­le Phra­sen, auf gut Glück aus dem Hut­fut­ter her­aus­ge­zo­gen, ein Mach­werk für die Ir­ren in Cha­ren­ton.«92

»Sie sind ein Hohl­kopf!«

»Sie sind ein Narr!«

»Oh, oh!«

»Ah, ah!«

»Sie wer­den sich schla­gen.«

»Nein.«

»Auf mor­gen, Mon­sieur.«

»Nein, so­fort«, er­wi­der­te Na­than.

»Los doch! Ihr seid zwei mu­ti­ge Strei­ter.«

»Sie sind auch ei­ner«, sag­te der Her­aus­for­de­rer.

»Sie kön­nen sich nur nicht mehr ge­ra­de hal­ten.«

»Wie, hal­te ich mich etwa nicht ge­ra­de?« rief der kamp­fes­lus­ti­ge Na­than, in­dem er sich schwan­kend wie ein Pa­pier­dra­che er­hob.

Er warf einen stumpf­sin­ni­gen Blick auf den Tisch; dann fiel er, wie ent­kräf­tet von die­ser An­stren­gung, in sei­nen Stuhl zu­rück, ließ den Kopf hän­gen und ver­stumm­te ganz.

»Wäre es nicht spaß­haft«, sag­te der Nörg­ler zu sei­nem Nach­barn, »mich we­gen ei­nes Bu­ches zu schla­gen, das ich we­der ge­se­hen noch ge­le­sen habe?«

»Émi­le, nimm dei­nen Rock in acht, dein Nach­bar wird ganz blaß.«

»Kant, Mon­sieur? Auch so ein Bal­lon, den man auf­stei­gen ließ, um die Flach­köp­fe zu amü­sie­ren. Ma­te­ria­lis­mus und Spi­ri­tua­lis­mus, das sind zwei hüb­sche Rackets, mit de­nen Schar­la­ta­ne in Ro­ben den­sel­ben Ball schla­gen. Ob Gott in al­lem sei, wie Spi­no­za sagt, oder ob al­les von Gott kommt, wie Sankt Pau­lus sagt … Dumm­köp­fe! Eine Tür öff­nen oder schlie­ßen, ist das nicht die­sel­be Be­we­gung? Kommt das Ei von der Hen­ne oder die Hen­ne vom Ei? (Rei­chen Sie mir mal den En­ten­bra­ten!) Das ist die gan­ze Wis­sen­schaft.«

»Ein­falts­pin­sel! rief ihm der Ge­lehr­te zu, »die Fra­ge, die du stellst, ist durch ein Fak­tum ent­schie­den.«

»Wel­ches?«

»Sind die Lehr­stüh­le der Pro­fes­so­ren für die Phi­lo­so­phie da oder aber die Phi­lo­so­phie für die Lehr­stüh­le? Setz dei­ne Bril­le auf und lies das Bud­get.«

»Spitz­bu­ben!«

»Schafs­köp­fe!«

»Gau­ner!«

»Nar­ren!«

»Wo an­ders als in Pa­ris fän­de man einen so leb­haf­ten und zü­gi­gen Ge­dan­ken­aus­tausch«, rief Bi­xiou mit fei­er­li­chem Baß.

»Komm, Bi­xiou, füh­re uns mal eine klas­si­sche Pos­se vor. Los, im­pro­vi­sie­re et­was!«

»Soll ich euch das 19. Jahr­hun­dert vor­füh­ren?«

»Hört zu!«

»Ruhe!«

»Legt eu­ren Mäu­lern Dämp­fer an!«

»Wirst du den Mund hal­ten, du ko­mi­scher Kauz!«

»Gebt ihm Wein, da­mit das Kind Ruhe gibt!«

»Also los, Bi­xiou!«

Der Künst­ler knöpf­te sei­nen schwar­zen Rock bis zum Kra­gen zu, zog sei­ne gel­ben Hand­schu­he an und fing an, mit schie­len­den Au­gen die ›Re­vue des Deux Mon­des‹93 zu par­odie­ren. Aber der Lärm über­tön­te sei­ne Stim­me, und es war un­mög­lich, ein ein­zi­ges Wort sei­ner Spöt­te­rei zu ver­neh­men. Wenn er auch nicht das Jahr­hun­dert dar­stell­te, so ver­an­schau­lich­te er doch die ›Re­vue‹, denn er ver­stand sich selbst nicht.

Das Des­sert war wie durch Hexe­rei auf­ge­tra­gen wor­den. Auf dem Tisch prunk­te ein rie­sen­haf­ter Ta­fe­lauf­satz aus ver­gol­de­ter Bron­ze, aus den Werk­stät­ten Tho­mi­res. Hohe Fi­gu­ren, de­nen von ei­nem be­rühm­ten Künst­ler die in Eu­ro­pa an­er­kann­ten For­men des Schön­heits­ideals ver­lie­hen wor­den wa­ren, stütz­ten und hiel­ten Bü­schel von Erd­bee­ren, von Ana­nas, fri­schen Dat­teln, gel­ben Trau­ben, ro­si­gen Pfir­si­chen, Oran­gen, die mit dem Schiff aus Se­tu­bal ge­kom­men wa­ren, mit Gra­na­täp­feln, Früch­ten aus Chi­na, kurz, al­len Über­ra­schun­gen des Lu­xus, Wun­dern an Kon­fekt, den leckers­ten De­li­ka­tes­sen, den ver­lo­ckends­ten Lecker­bis­sen. Die Far­ben die­ser ku­li­na­ri­schen Ge­mäl­de wur­den noch ge­ho­ben durch den Glanz des Por­zel­lans, mit sei­nen fun­keln­den gol­de­nen Or­na­men­ten und schön ge­schwun­ge­nen Rän­dern. An­mu­tig wie die Schaum­käm­me des Ozeans, grün und leicht, krön­te süße Cre­me Land­schaf­ten von Pous­sin, die in Sèvres ko­piert wor­den wa­ren. Ein deut­sches Fürs­ten­tum hät­te nicht hin­ge­reicht, die­sen ver­mes­se­nen Auf­wand zu be­zah­len. Sil­ber, Perl­mut­ter, Gold, Kris­tall wa­ren noch ein­mal in neu­en For­men ver­schwen­det; aber die be­ne­bel­ten Bli­cke und der fie­bri­ge Wort­schwall des Rau­sches ge­stat­te­ten den Gäs­ten kaum, die­se ei­nes ori­en­ta­li­schen Mär­chens wür­di­ge Feen­pracht auch nur vage wahr­zu­neh­men. Die Des­sert­wei­ne ver­brei­te­ten ih­ren Duft und ihre Glut, die star­ken Lie­bes­trän­ken, ma­gi­schen Dämp­fen gleich im Hirn eine Art sinn­ver­wir­ren­de Wahn­bil­der er­zeu­gen, die Bei­ne läh­men und die Hän­de schwer wie Blei wer­den las­sen. Die Früch­te-Py­ra­mi­den wur­den ge­plün­dert, die Stim­men schwol­len an, der Tu­mult nahm zu. Man konn­te kein Wort mehr un­ter­schei­den, Glä­ser zer­spran­gen, Ge­läch­ter barst los wie Ra­ke­ten; Cur­sy er­griff ein Horn und schmet­ter­te einen Tusch. Das war, als hät­te der Teu­fel der to­ben­den Men­ge ein Zei­chen ge­ge­ben; man johl­te, pfiff, sang, schrie, heul­te, grunz­te. Es war lach­haft, wie Leu­te, die von Na­tur hei­ter wa­ren, fins­ter wur­den wie der Schluß ei­nes Dra­mas von Cré­bil­lon94 oder träu­me­risch wie Ma­tro­sen in ei­nem Rei­se­wa­gen. Die Durch­trie­be­nen ver­rie­ten ihre Ge­heim­nis­se den Neu­gie­ri­gen, die gar nicht zu­hör­ten. Die Me­lan­cho­li­schen lä­chel­ten wie Tän­ze­rin­nen am Schluß ih­rer Pi­rou­et­ten. Clau­de Vi­gnon wieg­te sich täp­pisch wie ein Bär im Kä­fig. Enge Freun­de prü­gel­ten sich. Die in mensch­li­chen Ge­sich­tern auf­tre­ten­den Ähn­lich­kei­ten mit Tie­ren, von den Phy­sio­lo­gen eif­rig be­wie­sen, ka­men in den Ge­bär­den, in den Hal­tun­gen der Kör­per zum Vor­schein. Ein Bichat,95 der kühl und nüch­tern das mit an­ge­se­hen hät­te, hät­te hier treff­li­che Stu­di­en ma­chen kön­nen. Der Haus­herr, der sich be­rauscht fühl­te und nicht auf­zu­ste­hen wag­te, be­müh­te sich, eine an­stän­di­ge und gast­freund­li­che Mie­ne zu wah­ren, und bil­lig­te mit ei­ner star­ren Gri­mas­se alle Über­grif­fe sei­ner Gäs­te. Sein brei­tes, in­zwi­schen rot und blau, ja bei­na­he vio­lett ge­wor­de­nes Ge­sicht, das fürch­ter­lich an­zu­se­hen war, nahm in krampf­haf­ten An­stren­gun­gen, die dem Sch­lin­gern und Schwan­ken ei­ner Brigg ver­gleich­bar wa­ren, an dem all­ge­mei­nen Tru­bel teil.

»Ha­ben Sie sie um­ge­bracht?« frag­te ihn Émi­le.

»Es heißt, die To­dess­tra­fe soll in­fol­ge der Ju­li­re­vo­lu­ti­on ab­ge­schafft wer­den«, ant­wor­te­te Tail­le­fer, der sei­ne Brau­en mit ei­ner ver­schla­ge­nen und zu­gleich ein­fäl­ti­gen Mie­ne hoch­zog.

»Se­hen Sie sie denn nicht manch­mal im Traum?« frag­te Ra­pha­el.

»Es ist ja längst ver­jährt«, er­wi­der­te der im Gol­de schwim­men­de Mör­der.

»Und auf sein Grab«, rief Émi­le hä­misch, »wird der Fried­hofs­wär­ter die In­schrift set­zen las­sen: ›Die ihr vor­über­geht, weiht sei­nem An­den­ken eine Trä­ne!‹ Oh!« fuhr er fort, »ich gäbe dem Ma­the­ma­ti­ker, der mir die Exis­tenz der Höl­le durch eine al­ge­brai­sche Glei­chung be­wei­sen kann, gut und gern 100 Sous.«

Er warf ein Geld­stück in die Höhe und rief: »Kopf für Gott!«

»Sieh nicht hin!« sag­te Ra­pha­el und fing die Mün­ze auf.

»Was weiß man schon? Der Zu­fall ist ein Spaß­vo­gel.«

»Lei­der!« seufz­te Émi­le mit ko­misch be­küm­mer­ter Mie­ne. »Ich sehe nicht, wo­hin ich zwi­schen der Geo­me­trie des Ungläu­bi­gen und dem Pa­ter­no­s­ter des Paps­tes die Füße set­zen soll. Pah! laß uns trin­ken! Trin­ken ist, glau­be ich, das Ora­kel der gött­li­chen Fla­sche und das Schluß­wort des Pan­ta­gruel.«96

»Wir ver­dan­ken dem Pa­ter­no­s­ter«, ant­wor­te­te Ra­pha­el, »un­se­re Küns­te, un­se­re Denk­mä­ler, viel­leicht so­gar un­se­re Wis­sen­schaf­ten, und eine noch grö­ße­re Wohl­tat: un­se­re mo­der­nen Re­gie­run­gen, in wel­chen eine große und frucht­ba­re Ge­sell­schaft vor­treff­lich von fünf­hun­dert auf­ge­klär­ten Geis­tern re­prä­sen­tiert wird, un­ter de­nen die op­po­nie­ren­den Kräf­te ein­an­der auf­he­ben und alle Macht der Zi­vi­li­sa­ti­on über­las­sen, der gi­gan­ti­schen Kö­ni­gin, die den Kö­nig er­setzt, je­nes alte Schreck­ge­spenst, das Schick­sal spiel­te und das die Men­schen zwi­schen sich und den Him­mel ge­setzt hat­ten. An­ge­sichts so vie­ler vollen­de­ter Wer­ke er­scheint der Athe­is­mus wie ein zeu­gungs­un­fä­hi­ges Ge­rip­pe. Was meinst du dazu?«

»Ich den­ke an die Strö­me von Blut, die der Ka­tho­li­zis­mus ver­gos­sen hat«, sag­te Émi­le kalt. »Aus un­se­ren Her­zen und un­se­ren Adern hat er eine zwei­te Sint­flut über die Welt ge­bracht. Aber gleich­viel! Je­der den­ken­de Mensch soll un­ter dem Ban­ner Chris­ti mar­schie­ren. Er al­lein hat den Tri­umph des Geis­tes über die Ma­te­rie ge­hei­ligt, er al­lein hat uns mit poe­ti­scher Kraft die Welt ent­hüllt, die uns von Gott trennt.«

»Glaubst du?« ant­wor­te­te Ra­pha­el mit ei­nem selt­sa­men trun­ke­nen Lä­cheln. »Nun denn, um uns nicht zu kom­pro­mit­tie­ren, brin­gen wir den be­rühm­ten Toast aus: Diis igno­tis!«97

Und sie leer­ten ihre Be­cher voll Wis­sen, Koh­len­säu­re, Wohl­ge­rü­che, Poe­sie und Ungläu­big­keit.

»Wenn Mes­sieurs sich in den Sa­lon be­ge­ben wol­len, der Kaf­fee er­war­tet sie dort«, sag­te der Haus­hof­meis­ter.

In die­sem Au­gen­blick schweb­ten fast alle Gäs­te in je­nen Re­gio­nen der Se­lig­keit, wo das Licht des Geis­tes er­lischt und der Kör­per, sei­nes Ty­ran­nen ent­le­digt, sich dem Freu­den­tau­mel der Frei­heit über­läßt. Die einen blie­ben auf dem Hö­he­punkt der Trun­ken­heit trüb­sin­nig und quäl­ten sich, einen Ge­dan­ken zu fas­sen, der ih­nen ihre ei­ge­ne Exis­tenz ver­bürg­te; die an­de­ren, in die Stumpf­heit ei­ner trä­gen Ver­dau­ung ver­sun­ken, scheu­ten jede Be­we­gung. Be­harr­li­che Red­ner stam­mel­ten noch un­deut­li­che Wor­te, de­ren Sinn ih­nen selbst ent­ging. Ein paar Re­frains wur­den ab­ge­lei­ert wie ein Uhr­werk, das sei­ne künst­li­che see­len­lo­se Stim­me aus­tö­nen las­sen muß. Schwei­gen und Lärm hat­ten sich ab­son­der­lich ge­paart. Trotz­dem er­ho­ben sich die Gäs­te, als sie die hel­le Stim­me des Die­ners ver­nah­men, der ih­nen an­stel­le des Haus­herrn neue Genüs­se an­kün­dig­te, und schlepp­ten, stütz­ten, tru­gen sich ge­gen­sei­tig fort. Die gan­ze Schar blieb einen Au­gen­blick lang ge­bannt und ent­zückt auf der Tür­schwel­le ste­hen. Die au­ßer­ge­wöhn­li­chen Genüs­se des Fest­mahls ver­blaß­ten vor dem be­rücken­den Schau­spiel, das der Gast­ge­ber dem wol­lüs­tigs­ten ih­rer Sin­ne bot. Un­ter den strah­len­den Ker­zen ei­nes gol­de­nen Kron­leuch­ters, um eine mit ver­gol­de­tem Sil­ber ge­deck­te Ta­fel sa­hen die ab­ge­stumpf­ten Gäs­te, de­ren Au­gen sich bald lüs­tern ent­zün­de­ten, eine Grup­pe Frau­en. Blen­dend war der Schmuck, doch blen­den­der noch all die­se Schön­hei­ten, vor de­nen alle Wun­der die­ses Palas­tes da­hin­schwan­den. Die glü­hen­den Bli­cke die­ser Mäd­chen, so wun­der­schön wie Feen, fun­kel­ten leb­haf­ter als die Strö­me des Lichts, in wel­chem die sei­di­gen Re­fle­xe der Stof­fe, das leuch­ten­de Weiß des Mar­mors und die fei­nen Run­dun­gen der Bron­zen schim­mer­ten. Das Herz ent­flamm­te, die Kon­tras­te ih­res wo­gen­den Kopf­put­zes und ihre Hal­tun­gen zu se­hen, die in ih­rem Reiz und ih­rer Ei­gen­art so ver­schie­den wa­ren. Es war eine Blu­men­he­cke, in die Ru­bi­ne, Sa­phi­re und Koral­len ge­wun­den wa­ren; man sah schwar­ze Hals­bän­der auf schne­ei­gen Häl­sen, lose Schär­pen, die wie ein Leucht­turm­feu­er auf­flat­ter­ten, stol­ze Tur­ba­ne, schlich­te, her­aus­for­dern­de Tu­ni­ken. Die­ses Serail bot Ver­füh­run­gen für alle Au­gen, reiz­te jede Phan­ta­sie. Eine Tän­ze­rin in ent­zücken­der Hal­tung schi­en hül­len­los un­ter den flie­ßen­den Fal­ten ei­nes Kasch­mir­ge­wan­des. Mal durch­schei­nen­de Gaze, mal schil­lern­de Sei­de ver­barg oder ver­riet ge­heim­nis­rei­che Voll­kom­men­hei­ten. Klei­ne schma­le Füße spra­chen von Lie­be, fri­sche rote Lip­pen wa­ren stumm. Zar­te, sitt­sa­me jun­ge Mäd­chen von täu­schen­der Un­schuld mit sanf­ten Ma­don­nen­schei­teln bo­ten sich den Au­gen wie Er­schei­nun­gen, die ein Hauch hin­weg­we­hen konn­te. Ari­sto­kra­ti­sche Schön­hei­ten mit hoch­mü­ti­gem Blick und läs­si­ger Hal­tung, aber schlank, zart ge­baut und an­mu­tig, neig­ten den Kopf, als hät­ten sie noch kö­nig­li­che Gunst zu ver­ge­ben. Eine Eng­län­de­rin, eine keu­sche äthe­ri­sche Ge­stalt, wie aus Os­sians98 Wol­ken her­ab­ge­stie­gen, glich ei­nem En­gel der Me­lan­cho­lie, dem Ge­wis­sen, das das Ver­bre­chen flieht. Die Pa­ri­se­rin, de­ren gan­ze Schön­heit in ei­ner un­be­schreib­li­chen Gra­zie liegt, ei­tel auf ihre Toi­let­te und auf ih­ren Geist, ge­wapp­net mit ih­rer all­mäch­ti­gen Schwä­che, schmieg­sam und hart, eine herz­lo­se, lei­den­schafts­lo­se Si­re­ne, die die Glu­ten der Lei­den­schaft und die Spra­che des Her­zens kunst­voll vor­zutäu­schen ver­steht, fehl­te nicht in die­ser ge­fähr­li­chen Ver­samm­lung, in der auch Ita­li­e­ne­rin­nen, ru­hig von An­schein und auf­rich­tig in ih­rem Glück, üp­pi­ge Nor­man­ni­nen mit pracht­vol­len For­men, süd­län­di­sche Frau­en mit schwar­zen Haa­ren und schön ge­schnit­te­nen Au­gen zu fin­den wa­ren. Es war, als hät­te Le­bel99 alle Schön­hei­ten von Ver­sail­les zu­sam­men­ge­trom­melt, die seit dem frü­hen Mor­gen ihre Fall­stri­cke be­reit­hiel­ten und nun wie eine Schar ori­en­ta­li­scher Skla­vin­nen auf Be­fehl des Händ­lers her­bei­ge­kom­men wa­ren, um mit dem Ta­ges­grau­en wie­der zu ver­schwin­den. Sie blie­ben wort­los, ver­schämt und dräng­ten sich dicht um den Tisch, wie Bie­nen in ei­nem Bie­nen­korb. Die­se scheue Ver­le­gen­heit, Vor­wurf und Ko­ket­te­rie zu­gleich, war ent­we­der be­rech­ne­te Ver­füh­rung oder un­will­kür­li­che Scham. Vi­el­leicht riet ih­nen ein Ge­fühl, das die Frau nie­mals ganz ab­streift, sich in den Man­tel der Tu­gend zu hül­len, um das ver­schwen­de­ri­sche Las­ter noch reiz­vol­ler, noch ver­lo­cken­der zu ma­chen. Es schi­en zu­nächst, als ob die vom al­ten Tail­le­fer an­ge­stif­te­te Ver­schwö­rung schei­tern soll­te. Die­se zü­gel­lo­sen Män­ner wur­den an­fangs von der ma­je­stä­ti­schen Macht be­zwun­gen, die der Frau ei­gen ist. Be­wun­dern­des Mur­meln er­tön­te wie sanf­te Mu­sik. Die Lie­be hat­te mit der Trun­ken­heit nicht mit­hal­ten kön­nen; an­statt ei­nem Or­kan der Lei­den­schaft über­lie­ßen sich die Gäs­te, die in ei­nem Mo­ment der Schwä­che über­rascht wor­den wa­ren, den Won­nen wol­lüs­ti­ger Ver­zückung. Beim An­ruf der Poe­sie, dem Künst­ler im­mer ge­hor­chen, stu­dier­ten sie ge­nie­ße­risch die zar­ten Ab­stu­fun­gen, die die­se er­le­se­nen Schön­hei­ten un­ter­schie­den. Ei­nem Ge­dan­ken nach­ge­hend, der viel­leicht von der dem Cham­pa­gner ent­stei­gen­den Koh­len­säu­re her­rühr­te, sann ein Phi­lo­soph schau­dernd über das Un­glück nach, das die­se Frau­en hier zu­sam­men­ge­bracht ha­ben moch­te, die viel­leicht ehe­mals reins­ter Hul­di­gun­gen wür­dig wa­ren. Ge­wiß hat­te jede von ih­nen ein blu­ti­ges Dra­ma zu er­zäh­len. Fast alle schlepp­ten sie höl­li­sche Qua­len mit sich und hat­ten treu­lo­se Män­ner, ge­bro­che­ne Schwü­re, mit Elend er­kauf­te Freu­den hin­ter sich. Die Gäs­te nä­her­ten sich ih­nen höf­lich, und Un­ter­hal­tun­gen, eben­so ver­schie­den­ar­tig wie die Cha­rak­tere, ent­span­nen sich. Grup­pen bil­de­ten sich. Man hät­te ge­meint, einen Sa­lon der gu­ten Ge­sell­schaft vor sich zu ha­ben, in wel­chem Mäd­chen und Frau­en den Gäs­ten nach Tisch Kaf­fee, Zu­cker und Li­kö­re an­bie­ten, die über­mä­ßi­gen Es­sern eine wi­der­stre­ben­de Ver­dau­ung er­leich­tern. Bald je­doch er­scholl Ge­läch­ter, das Mur­meln schwoll an, die Stim­men er­ho­ben sich. Die für einen Au­gen­blick ge­zähm­te Or­gie droh­te hie und da wie­der los­zu­bre­chen. In die­sem Wech­sel von Stil­le und Lärm lag eine ent­fern­te Ähn­lich­keit mit ei­ner Sym­pho­nie von Beetho­ven.

Die bei­den Freun­de, die sich auf ei­nem wei­chen Di­wan nie­der­ge­las­sen hat­ten, sa­hen zu­erst ein großes wohl­ge­bau­tes Mäd­chen her­an­na­hen, das eine präch­ti­ge Hal­tung, un­re­gel­mä­ßi­ge, aber ein­dring­li­che, feu­ri­ge Ge­sichts­zü­ge hat­te, die durch kräf­ti­ge Kon­tras­te auf die See­le wirk­ten. Ihr dunkles, in auf­rei­zen­den Lo­cken her­ab­fal­len­des Haar, das ohne Zwei­fel schon die Stür­me der Lie­be er­fah­ren hat­te, um­spiel­te ihre brei­ten Schul­tern, die an­zie­hen­de Aus­bli­cke bo­ten. Lan­ge, brau­ne Lo­cken um­hüll­ten halb einen ma­je­stä­ti­schen Hals, über den das Licht zu­wei­len da­hing­litt und die Fein­heit gra­zils­ter Kon­tu­ren ent­hüll­te. Die matt­wei­ße Haut ließ die war­men Töne ih­res kräf­ti­gen Teints leb­haft her­vor­tre­ten. Das von lan­gen Wim­pern be­schat­te­te Auge schleu­der­te küh­ne Blit­ze, Lie­bes­fun­ken. Die ro­ten, feuch­ten, halb­of­fe­nen Lip­pen lu­den zum Kus­se ein. Sie war kräf­tig ge­baut, aber reiz­voll ge­schmei­dig; ihre Brust und ihre Arme wa­ren üp­pig wie bei den schö­nen Ge­stal­ten von Car­rac­ci;100 bei al­le­dem schi­en sie leicht und ge­wandt und ihre Kraft mahn­te an die Be­hen­dig­keit ei­ner Pan­ther­kat­ze, so wie die männ­li­che Ele­ganz ih­rer For­men ver­zeh­ren­de Wol­lust ver­hieß. Ob­wohl die­ses Mäd­chen zwei­fel­los la­chen und schä­kern konn­te, schrak man vor ih­ren Au­gen und ih­rem Lä­cheln zuin­nerst zu­rück. Gleich je­nen von ei­nem Dä­mon be­ses­se­nen Pro­phe­tin­nen rief sie mehr Stau­nen als Wohl­ge­fal­len her­vor. Auf ih­rem be­weg­li­chen Ge­sicht wech­sel­te der Aus­druck blitz­ar­tig, in ra­scher Fol­ge. Bla­sier­te Män­ner hät­te sie viel­leicht ent­zückt, aber ei­nem jun­gen Mann muß­te sie Furcht ein­flö­ßen. Sie war wie eine Ko­los­sal­sta­tue, die von ei­nem grie­chi­schen Tem­pel her­ab­ge­stürzt ist, wun­der­voll aus der Ent­fer­nung, aber von na­hem be­trach­tet grob. Nichts­de­sto­we­ni­ger hät­te ihre blen­den­de Schön­heit Ohn­mäch­ti­ge we­cken, ihre Stim­me Tau­be ent­zücken, ihre Bli­cke alte Ge­bei­ne neu be­le­ben kön­nen. Da­rum ver­glich Émi­le das Mäd­chen mit ei­ner Tra­gö­die von Sha­ke­s­pea­re, ei­ner Art be­wun­derns­wür­di­ger Ara­bes­ke, wo die Freu­de brüllt, die Lie­be et­was un­be­schreib­lich Wil­des hat und wo auf das blut­rüns­ti­ge To­ben des Zor­nes der Zau­ber der An­mut und das Feu­er des Glückes fol­gen; ei­nem Un­ge­heu­er, das bei­ßen und schmei­cheln, wie ein Teu­fel la­chen, wie En­gel wei­nen kann, das in ei­ner ein­zi­gen Umar­mung alle Ver­füh­rungs­küns­te des Wei­bes spie­len lässt, aus­ge­nom­men die Seuf­zer der Me­lan­cho­lie und die be­zau­bern­de Sitt­sam­keit der Jung­frau; das dann plötz­lich los­bricht, sich die Flan­ken zer­fleischt, sei­ne Lei­den­schaft zer­bricht, sei­nen Ge­lieb­ten und schließ­lich sich selbst ver­nich­tet wie ein auf­rüh­re­ri­sches Volk. In ei­nem rot­sam­te­nen Ge­wand nä­her­te sie sich, zer­trat acht­los die Blu­men, die schon aus den Haa­ren ei­ni­ger Ge­fähr­tin­nen ge­fal­len wa­ren, und hielt den bei­den Freun­den mit hoch­mü­ti­ger Ge­bär­de eine sil­ber­ne Plat­te hin. Stolz auf ihre Schön­heit, stolz auf ihre Las­ter viel­leicht, zeig­te sie einen wei­ßen Arm, der sich leuch­tend vom Samt des Klei­des ab­hob. Sie stand da wie die Kö­ni­gin der Lust, wie ein Bild mensch­li­cher Sin­nes­freu­de, je­ner Freu­de, wel­che die von drei Ge­ne­ra­tio­nen an­ge­sam­mel­ten Schät­ze ver­schleu­dert, über Leich­na­men lacht, Vor­fah­ren höhnt, Per­len und Thro­ne in nichts auf­löst, Jüng­lin­ge in Grei­se und Grei­se häu­fig in Jüng­lin­ge ver­wan­delt; je­ner Freu­de, die ein­zig solch Rie­sen ge­stat­tet ist, die der Macht über­drüs­sig sind, die im Den­ken er­probt sind oder für die der Krieg zum Kin­der­spiel ge­wor­den ist.

»Wie heißt du?« frag­te Ra­pha­el sie.

»Aqui­li­na.«

»Oh, oh!« rief Émi­le, »du kommst aus dem ›Ge­ret­te­ten Ve­ne­dig‹!«101

»Ja«, er­wi­der­te sie. »Wie sich die Päps­te neue Na­men ge­ben, wenn sie sich über die Men­schen er­he­ben, habe ich einen an­de­ren an­ge­nom­men, als ich mich über alle Frau­en er­hob.«

»Hast du denn, wie dei­ne Schutz­pa­tro­nin, einen ed­len und schreck­li­chen Ver­schwö­rer, der dich liebt und für dich zu ster­ben be­reit ist?« frag­te Émi­le leb­haft, den die­ser An­schein von Poe­sie wie­der auf­rüt­tel­te. »Ich hat­te ihn«, ant­wor­te­te sie; »aber die Guil­lo­ti­ne ist mei­ne Ri­va­lin ge­we­sen. Da­rum tra­ge ich auch im­mer et­was Ro­tes in mei­nem Putz, da­mit mei­ne Freu­de nie zu weit geht.«

»Oh, wenn Sie sie die Ge­schich­te der vier jun­gen Män­ner von La Ro­chel­le102 er­zäh­len las­sen, fin­det sie kein Ende. – Sei nur still, Aqui­li­na! Ha­ben nicht alle Frau­en einen Ge­lieb­ten zu be­wei­nen? Aber nicht alle hat­ten das Glück wie du, ihn an das Scha­fott zu ver­lie­ren. Wahr­haf­tig! Ich möch­te mei­nen weit lie­ber in ei­ner Gru­be in Cla­mart103 wis­sen, als in dem Bett ei­ner an­de­ren.«

Die­se Sät­ze wur­den von ei­ner sanf­ten, me­lo­di­schen Stim­me ge­spro­chen, die dem un­schul­digs­ten, hüb­sche­s­ten, nied­lichs­ten klei­nen Ge­schöpf ge­hör­te, das je un­ter dem Zau­ber­stab ei­ner Fee aus ei­nem Zau­ber-Ei ge­schlüpft ist. Sie war laut­los her­an­ge­kom­men und zeig­te ein fei­nes Ge­sicht, eine zar­te Ge­stalt, blaue Au­gen von ent­zücken­der Sitt­sam­keit, eine fri­sche, rei­ne Stirn. Eine kind­li­che Na­ja­de, die aus ih­rer Quel­le taucht, ist nicht schüch­ter­ner, wei­ßer, un­schul­di­ger als die­ses jun­ge Mäd­chen, das sech­zehn Jah­re alt, von Leid und von Lie­be nichts zu wis­sen, von den Stür­men des Le­bens ver­schont zu sein und ge­ra­de eben aus ei­ner Kir­che zu kom­men schi­en, wo sie die En­gel an­ge­fleht hat­te, sie vor der Zeit zu sich in den Him­mel zu ru­fen. Nur in Pa­ris fin­det man die­se Ge­schöp­fe mit dem un­schulds­vol­len Ant­litz, die un­ter ei­ner Stirn, so hold und lieb­lich wie ein Gän­se­blüm­chen, die tiefs­te Ver­derbt­heit, die raf­fi­nier­tes­ten Las­ter ver­ber­gen. Von den himm­li­schen Ver­hei­ßun­gen in den lieb­li­chen Zü­gen des jun­gen Mäd­chens an­fäng­lich ge­täuscht, nah­men Émi­le und Ra­pha­el den Kaf­fee, den sie ih­nen in die von Aqui­li­na ge­reich­ten Tas­sen ein­schenk­te, und be­gan­nen sie aus­zu­fra­gen. In den Au­gen der bei­den Dich­ter ver­voll­stän­dig­te sie gleich­sam durch eine un­heim­li­che Al­le­go­rie das Bild ei­ner ge­wis­sen Sei­te des mensch­li­chen Le­bens, in­dem sie dem wil­den, lei­den­schaft­li­chen Aus­druck ih­rer im­po­san­ten Ge­fähr­tin die­se kal­te, wol­lüs­ti­ge, grau­sa­me Ver­dor­ben­heit ge­gen­über­stell­te, die leicht­fer­tig ge­nug ist, ein Ver­bre­chen zu be­ge­hen, stark ge­nug, sich la­chend dar­über hin­weg­zu­set­zen; ein Dä­mon ohne Herz, der rei­che zärt­li­che See­len da­für be­straft, daß sie Emp­fin­dun­gen ha­ben, de­ren er un­fä­hig ist, der im­mer eine Lie­bes­gri­mas­se zu ver­kau­fen hat, Trä­nen für den Lei­chen­zug sei­nes Op­fers und Ju­bel, wenn er am Abend des­sen Te­sta­ment liest. Ein Dich­ter hät­te die schö­ne Aqui­li­na be­wun­dern kön­nen; aber die rüh­ren­de Eu­phra­sie müß­te die gan­ze Welt flie­hen: die eine war die See­le des Las­ters, die an­de­re das Las­ter ohne See­le.

»Ich möch­te wohl wis­sen«, frag­te Émi­le das hüb­sche Ge­schöpf, »ob du bis­wei­len an die Zu­kunft denkst.«

»Die Zu­kunft?« er­wi­der­te sie la­chend. »Was nen­nen Sie die Zu­kunft? Wa­rum soll ich an et­was den­ken, was noch nicht ist? Ich bli­cke nie zu­rück und nie vor­aus. Ist es nicht schon zu­viel, wenn ich mich mit ei­nem gan­zen Tag be­schäf­ti­ge? Im üb­ri­gen ken­nen wir die Zu­kunft. Sie ist das Spi­tal.«

»Wie kannst du das Spi­tal jetzt schon vor­aus­se­hen und nicht ver­mei­den wol­len, hin­ein­zu­kom­men?« rief Ra­pha­el.

»Was hat das Spi­tal denn so Furcht­ba­res?« frag­te die schreck­li­che Aqui­li­na. »Wenn wir we­der Müt­ter noch Gat­tin­nen sind, wenn das Al­ter uns schwar­ze St­rümp­fe auf die Bei­ne und Run­zeln über un­se­re Stir­nen zieht, wenn es al­les, was an uns Weib ist, welk macht und die Freu­de in den Bli­cken un­se­rer Freun­de aus­löscht, was kön­nen wir dann noch wei­ter wol­len? Von all un­se­rer jet­zi­gen Schön­heit seht ihr nur mehr ein Stück Dreck in uns, das auf zwei Bei­nen ein­her­schlot­tert, kalt, dürr und ent­stellt ist und im Ge­hen ra­schelt wie wel­kes Laub. Der schöns­te Putz wird uns zu Lum­pen, das Am­bra, das un­ser Bou­doir durch­duf­te­te, riecht nach Mo­der und Ver­we­sung; und wenn in die­sem Kot ein Herz steckt, so sprecht ihr alle ihm Hohn und ge­stat­tet uns nicht ein­mal die Erin­ne­rung. Ob wir also dann in ei­nem rei­chen Haus woh­nen und Hun­de war­ten oder im Spi­tal Lum­pen sor­tie­ren, ist un­ser Da­sein nicht ge­nau das­sel­be? Ob wir un­se­re wei­ßen Haa­re un­ter ei­nem rot-blau ka­rier­ten Ta­schen­tuch oder un­ter Spit­zen ver­ste­cken, ob wir die Stra­ße mit Ru­ten­be­sen oder die Stu­fen der Tui­le­ri­en mit At­las­schlep­pen fe­gen, ob wir an ver­gol­de­ten Ka­mi­nen sit­zen oder uns die Hän­de an ei­nem ir­de­nen Koh­len-Topf wär­men, dem Spek­ta­kel auf der Place de Grè­ve zu­schau­en oder in die Oper ge­hen: Ist das ein so großer Un­ter­schied?«

»Aqui­li­na mia, nie­mals hast du in all dei­ner Verzweif­lung so recht ge­habt«, sag­te Eu­phra­sie; »ja, Kasch­mir, Spit­zen, Par­füms, Gold, Sei­de und Lu­xus, al­les, was glänzt, was ge­fällt, steht nur der Ju­gend gut. Die Zeit al­lein könn­te ge­gen un­se­re Tor­hei­ten recht be­hal­ten, aber das Glück spricht uns frei. – Sie la­chen über mei­ne Wor­te«, rief sie und lä­chel­te den bei­den Freun­den bos­haft zu; »habe ich nicht recht? Ich st­er­be lie­ber am Ver­gnü­gen als an ei­ner Krank­heit. Ich habe we­der die Ma­nie, lan­ge le­ben zu wol­len, noch großen Re­spekt vor der mensch­li­chen Gat­tung, wenn ich sehe, was Gott dar­aus macht. Gebt mir Mil­lio­nen, ich wer­de sie durch­brin­gen; nicht einen Cen­ti­me da­von wür­de ich für das nächs­te Jahr spa­ren. Le­ben, um zu ge­fal­len und zu herr­schen, das ist die Ma­xi­me, die je­der Schlag mei­nes Her­zens kund­gibt. Die Ge­sell­schaft pflich­tet mir bei; be­frie­digt sie nicht dau­ernd mei­ne Ver­gnü­gungs­sucht? Wa­rum läßt mir denn der lie­be Gott je­den Mor­gen zu­kom­men, was ich am Abend aus­ge­be? Wa­rum baut ihr uns Spi­tä­ler? Da er uns nicht die Wahl ge­las­sen hat zwi­schen dem Gu­ten und dem Bö­sen, da­mit wir wäh­len, was uns kränkt und wi­der­wär­tig ist, so wäre ich ja sehr dumm, wenn ich mich nicht amü­sier­te.«

»Und die an­de­ren?« frag­te Émi­le.

»Die an­de­ren? Nun, mö­gen sie doch nach ih­rer Fas­son se­lig wer­den! Ich will lie­ber über ihre Lei­den la­chen, als über mei­ne ei­ge­nen wei­nen zu müs­sen. Ich rate es kei­nem Mann, mir den ge­rings­ten Kum­mer zu­zu­fü­gen.«

»Was hast du denn ge­lit­ten, um so zu den­ken?« frag­te Ra­pha­el.

»Ich bin um ei­ner Erb­schaft wil­len ver­las­sen wor­den! Ich!« sag­te sie und nahm eine Hal­tung an, die alle ihre Rei­ze her­vor­tre­ten ließ. »Und da­bei habe ich Tag und Nacht ge­ar­bei­tet, um mei­nen Ge­lieb­ten zu er­näh­ren. Ich will auf kein Lä­cheln, auf kei­ne Ver­spre­chun­gen mehr rein­fal­len und aus mei­nem Le­ben eine lan­ge Ver­gnü­gungs­par­tie ma­chen.«

»Aber«, rief Ra­pha­el aus, »kommt das Glück denn nicht aus der See­le?«

»Nun«, er­wi­der­te Aqui­li­na, »ist es nichts, sich be­wun­dert, um­schmei­chelt zu se­hen, über alle Frau­en, selbst die tu­gend­haf­tes­ten, zu tri­um­phie­ren, sie mit un­se­rer Schön­heit, un­se­rem Reich­tum in den Schat­ten zu stel­len? Über­haupt, er­le­ben wir an ei­nem Tage nicht mehr als eine gute Bür­gers­frau in zehn Jah­ren? Und da­mit ist al­les ge­sagt.«

»Ist eine Frau ohne Tu­gend nicht ver­ab­scheu­ungs­wür­dig?« ver­setz­te Émi­le, zu Ra­pha­el ge­wandt.

Eu­phra­sie warf ih­nen einen Schlan­gen­blick zu und ant­wor­te­te mit un­nach­ahm­li­cher Iro­nie: »Die Tu­gend über­las­sen wir den Häß­li­chen und Buck­li­gen. Was wä­ren sie denn ohne die­se, die Ar­men?«

»Schweig!« rief Émi­le, »sprich nicht von Din­gen, die du nicht kennst.«

»So! Ich ken­ne sie nicht!« rief Eu­phra­sie. »Sich sein gan­zes Le­ben lang ei­nem ver­haß­ten Men­schen hin­ge­ben, Kin­der auf­zie­hen, die einen ver­las­sen, und ih­nen auch noch Dan­ke sa­gen, wenn sie einen ins Herz tref­fen: das sind die Tu­gen­den, die ihr von der Frau ver­langt; und um sie für ihre Ent­sa­gung zu be­loh­nen, legt ihr ihr neue Lei­den auf, in­dem ihr sie zu ver­füh­ren sucht; wi­der­steht sie, so kom­pro­mit­tiert ihr sie. Ein schö­nes Le­ben! Nein, lie­ber doch frei blei­ben, die lie­ben, die uns ge­fal­len, und jung ster­ben.«

»Fürch­test du denn nicht, da­für ei­nes Ta­ges zah­len zu müs­sen?«

»Nun«, ant­wor­te­te sie, »statt mei­ne Freu­den mit Leid zu mi­schen, wird mein Le­ben in zwei Hälf­ten zer­teilt: eine ge­wiß fröh­li­che Ju­gend und ein wer weiß wie un­ge­wis­ses Al­ter, wo ich nach Be­lie­ben lei­den kann.«

»Sie hat nie ge­liebt«, sag­te Aqui­li­na mit dunk­ler Stim­me. »Sie hat nie­mals 100 Mei­len zu­rück­ge­legt, um mit tau­send Won­nen einen Blick zu er­ha­schen und ein ›Nein‹ zu hö­ren; sie hat ihr Le­ben nie an ein Haar ge­hängt, hat nicht so­und­so vie­le Män­ner nie­der­ste­chen wol­len, um ih­ren Herrn, ih­ren Herr­scher, ih­ren Gott zu ret­ten. Für sie war die Lie­be ein hüb­scher Oberst.«

»Haha! La Ro­chel­le!« er­wi­der­te Eu­phra­sie. »Die Lie­be ist wie der Wind, wir wis­sen nicht, wo­her sie kommt. Im üb­ri­gen, wenn ein Tier dich sehr ge­liebt hät­te, wür­dest du die ver­nunft­be­gab­ten Men­schen ver­ab­scheu­en.«

»Das Ge­setz ver­bie­tet uns, Tie­re zu lie­ben«, ver­setz­te die große Aqui­li­na spöt­tisch.

»Ich glaub­te, du seist nach­sich­ti­ger ge­gen das Mi­li­tär!« rief Eu­phra­sie la­chend.

»Wie glück­lich sind die Frau­en, daß sie sich so ih­rer Ver­nunft ent­äu­ßern kön­nen!« rief Ra­pha­el aus.

»Glück­lich?« frag­te Aqui­li­na, lä­chel­te mit­lei­dig und ent­setzt und warf den bei­den Freun­den einen furcht­ba­ren Blick zu. »Ach! ihr wißt nicht, was es heißt, mit ei­nem To­ten im Her­zen zum Ver­gnü­gen ver­dammt zu sein.«

Wer zu die­sem Zeit­punkt einen Blick in die Sa­lons ge­tan hät­te, der hät­te eine Vor­stel­lung von Mil­tons Pan­dä­mo­ni­um104 be­kom­men. Die blau­en Flam­men des Pun­sches mal­ten Höl­len­far­ben auf die Ge­sich­ter de­rer, die noch trin­ken konn­ten. Fre­ne­ti­sche Tän­ze, an­ge­peitscht von ei­ner wil­den Be­ses­sen­heit, er­reg­tem Ge­läch­ter und Ge­schrei, das los­bal­ler­te wie ein Feu­er­werk. Das Bou­doir und ein klei­ner Sa­lon sa­hen aus wie ein von To­ten und Ster­ben­den über­sä­tes Schlacht­feld. Die At­mo­sphä­re war vom Wein, der Lust und den vie­len Wor­ten durch­glüht. Rausch, Lie­be, Wahn­witz, Welt­ver­ges­sen­heit er­füll­te die Her­zen, war auf den Ge­sich­tern und stand auf den Tep­pi­chen ge­schrie­ben, präg­te das all­ge­mei­ne Wirr­warr und um­flor­te die Bli­cke mit Schlei­ern, die in der Luft be­täu­ben­de Düns­te se­hen lie­ßen. Flim­mern­der Staub wie in den Licht­bah­nen ei­nes Son­nen­strahls hing über al­lem und um­wölk­te die ab­son­der­lichs­ten For­men, die gro­tes­kes­ten Kämp­fe. Hier und da schie­nen Grup­pen ver­schlun­ge­ner Ge­stal­ten förm­lich eins ge­wor­den mit den wei­ßen Mar­mor­lei­bern ed­ler Kunst­wer­ke, wel­che die Ge­mä­cher zier­ten. Ob­wohl die bei­den Freun­de in ih­ren Ge­dan­ken und Sin­nen eine ge­wis­se trü­ge­ri­sche Klar­heit be­wahrt hat­ten, ein letz­tes Auf­zu­cken, ein un­voll­kom­me­nes Schein­bild des Le­bens, war es ih­nen un­mög­lich zu er­ken­nen, was an den bi­zar­ren Er­schei­nun­gen wirk­lich, was den über­na­tür­li­chen Bil­dern, die un­auf­hör­lich an ih­ren er­mü­de­ten Au­gen vor­über­zo­gen, mög­lich war. Die Schwü­le, die über un­se­ren Träu­men las­tet, die glut­vol­le An­mut, die die Ge­stal­ten in un­se­ren Vi­sio­nen ge­win­nen; vor al­lem eine son­der­ba­re, mit Ket­ten be­la­de­ne Leich­tig­keit, kurz­um, die un­ge­wohn­tes­ten Phä­no­me­ne des Schlafs stürm­ten so leb­haft auf sie ein, daß sie die Spie­le die­ser Or­gie für die Gau­kel­bil­der ei­nes Alp­drucks hiel­ten, wo die Be­we­gung ge­räusch­los ist und die Schreie vom Ohr nicht ver­nom­men wer­den. Zu die­sem Zeit­punkt ge­lang es ei­nem ver­trau­ten Kam­mer­die­ner, nicht ohne Mühe, sei­nen Herrn in das Vor­zim­mer zu zie­hen und ihm zu­zu­flüs­tern: »Mon­sieur, alle Nach­barn sind an den Fens­tern und be­kla­gen sich über den Lärm.«

»Wa­rum las­sen sie nicht Stroh vor ihre Tü­ren le­gen, wenn sie Angst vor dem Lärm ha­ben?« rief Tail­le­fer.

Un­ver­mit­telt brach Ra­pha­el lauthals in ein so un­an­ge­brach­tes Ge­läch­ter aus, daß sein Freund ihn nach der Ur­sa­che die­ses bru­ta­len Freu­den­aus­bruchs frag­te.

»Du wür­dest mich schwer­lich ver­ste­hen«, ant­wor­te­te er. »Zu­erst müß­te ich be­ken­nen, daß ihr mich ge­ra­de in dem Au­gen­blick auf dem Quai Vol­taire traft, als ich mich in die Sei­ne stür­zen woll­te, und du wür­dest zwei­fel­los die Be­weg­grün­de mei­nes Vor­ha­bens er­fah­ren wol­len. Aber wenn ich hin­zu­füg­te, daß sich kurz zu­vor, durch einen ans Fa­bel­haf­te gren­zen­den Zu­fall, die poe­tischs­ten Trüm­mer der ma­te­ri­el­len Welt vor mei­nen Au­gen zu ei­ner sym­bo­li­schen Ge­stalt der mensch­li­chen Weis­heit zu­sam­men­füg­ten, wäh­rend in die­sem Au­gen­blick die Trüm­mer al­ler in­tel­lek­tu­el­len Schät­ze, die wir bei Tisch durch­ein­an­der­war­fen, auf die­se bei­den Frau­en, die leib­haf­ti­gen Ur­bil­der der Tor­heit, hin­aus­lau­fen; und daß un­se­re tie­fe Un­be­küm­mert­heit um Men­schen und Din­ge nur als Über­gang zu den far­ben­präch­ti­gen Bil­dern zwei­er sich so dia­me­tral ge­gen­über­ste­hen­den Le­bens­wei­sen diente, wür­dest du da­von klü­ger sein? Wenn du nicht so be­trun­ken wärst, sä­hest du viel­leicht eine phi­lo­so­phi­sche Ab­hand­lung dar­in.«

»Wenn du nicht bei­de Füße auf die­ser hin­rei­ßen­den Aqui­li­na hät­test, de­ren Schnar­chen eine ge­wis­se Ähn­lich­keit mit dem Grol­len ei­nes na­hen­den Ge­wit­ters hat«, er­wi­der­te Émi­le, der sich sei­ner­seits da­mit ver­gnüg­te, Eu­phra­sies Haa­re zu­sam­men- und aus­ein­an­der­zu­rol­len, ohne daß ihm die­se un­schul­di­ge Be­schäf­ti­gung recht be­wußt war, »wür­dest du über dei­ne Be­trun­ken­heit und dein Ge­fa­sel scham­rot wer­den. Dei­ne bei­den Le­bens­wei­sen kann man mit ei­nem ein­zi­gen Satz auf einen Nen­ner brin­gen. Das ein­fa­che me­cha­ni­sche Le­ben führt zu ir­gend­ei­ner un­sin­ni­gen Weis­heit, in­dem es un­se­re In­tel­li­genz durch die Ar­beit er­stickt, wäh­rend das Le­ben, das man in der Lee­re der Abstrak­tio­nen oder in den Ab­grün­den der mo­ra­li­schen Welt ver­bringt, zu ir­gend­ei­ner när­ri­schen Weis­heit führt. Mit ei­nem Wort: die Ge­füh­le tö­ten, da­mit man alt wird, oder jung ster­ben, in­dem man das Mar­ty­ri­um der Lei­den­schaf­ten auf sich nimmt, das ist un­ser Ent­we­der-Oder. Al­ler­dings ist die­se Be­stim­mung un­eins mit den Tem­pe­ra­men­ten, die uns der stren­ge Spaß­vo­gel, dem wir das Mus­ter al­ler Krea­tur ver­dan­ken, mit­ge­ge­ben hat.«

»Esel!« un­ter­brach ihn Ra­pha­el: »Fah­re nur fort, dich selbst sol­cher­art auf Kurz­fas­sung zu brin­gen, und du füllst Bän­de. Wenn ich mir an­ge­maßt hät­te, die­se bei­den Auf­fas­sun­gen prä­zi­se und knapp zu for­mu­lie­ren, hät­te ich dir ge­sagt, daß der Ge­brauch des Ver­stan­des den Men­schen verdirbt, die Un­wis­sen­heit ihn läu­tert. Das heißt die Ge­sell­schaf­ten an­tas­ten wol­len? Aber ob wir mit den Wei­sen le­ben oder mit den Nar­ren zu­grun­de ge­hen, ist das Re­sul­tat nicht frü­her oder spä­ter das näm­li­che? Üb­ri­gens hat der Meis­ter aus­ge­klü­gel­ter Quint­es­sen­zen die­se bei­den Sys­te­me sei­ner­zeit in zwei Wor­ten aus­ge­drückt: Ca­ry­ma­ry, Ca­ry­ma­ra.«105

»Du machst mich an der All­macht Got­tes zwei­feln, denn dei­ne Dumm­heit über­trifft sei­ne All­macht«, er­wi­der­te Émi­le. »Un­ser teu­rer Ra­be­lais106 hat die­se Phi­lo­so­phie durch ein kür­ze­res Wort als ›Ca­ry­ma­ry, Ca­ry­ma­ra‹ aus­ge­drückt, und zwar: ›Vi­el­leicht‹, wo­her Mon­taig­ne107 sein ›Was weiß ich?‹ nahm. Au­ßer­dem sind die­se letz­ten Wor­te der Moral­phi­lo­so­phie nichts an­de­res als der Aus­ruf des Pyr­rhon,108 denn er blieb zwi­schen Gut und Böse, wie Bu­ridans Esel109 zwi­schen zwei Heu­hau­fen. Aber las­sen wir die­sen ewi­gen Streit, der heu­te doch nur auf ein Ja oder Nein hin­aus­läuft. Wel­che Er­fah­rung woll­test du denn ma­chen, als du in die Sei­ne sprin­gen woll­test? Warst du auf die hy­drau­li­sche Ma­schi­ne des Pont Notre-Dame nei­disch?«

»Ach, wenn du mein Le­ben kenn­test.«

»Oh! ich hät­te dich für we­ni­ger ba­nal ge­hal­ten, die Phra­se ist ab­ge­dro­schen. Weißt du nicht, daß wir uns alle ein­bil­den, weit mehr als die an­de­ren zu lei­den?«

»Ach!« seufz­te Ra­pha­el.

»Was bist du lä­cher­lich mit dei­nem dau­ern­den Ach! Was ist los? Zwingt dich eine Krank­heit der See­le oder des Lei­bes, durch eine Mus­kel­kon­trak­ti­on alle Mor­gen die Pfer­de vor­zu­füh­ren, die dich am Abend vier­tei­len sol­len, wie da­zu­mal Da­miens?110 Hast du dei­nen Hund roh und un­ge­sal­zen in dei­ner Dach­stu­be ver­zehrt? Ha­ben dei­ne Kin­der je­mals zu dir ge­sagt: ›Ich habe Hun­ger‹? Hast du die Haa­re dei­ner Ge­lieb­ten ver­kauft, um zum Spiel ge­hen zu kön­nen? Bist du je­mals in eine falsche Woh­nung ge­lau­fen, um einen auf einen falschen On­kel ge­zo­ge­nen falschen Wech­sel zu be­zah­len, mit der Furcht im Na­cken, zu spät zu kom­men? Nun, laß hö­ren! Woll­test du je­doch ei­ner Frau oder ei­nes ab­ge­wie­se­nen Wech­sels we­gen oder aus Lan­ger­wei­le ins Was­ser ge­hen, so wür­di­ge ich dich kei­nes Blickes mehr. Be­ken­ne, lüge nicht; ich ver­lan­ge kei­ne his­to­ri­schen Me­moi­ren von dir! Vor al­lem: sei so kurz, wie dein Rausch es er­laubt. Ich bin an­spruchs­voll wie ein Le­ser und schläf­rig wie eine Frau beim Abend­ge­bet.«

»Ar­mer Tor! Seit wann be­stim­men die Schmer­zen den Grad der Emp­find­sam­keit? Wenn wir in der Wis­sen­schaft ein­mal so weit sein wer­den, eine Na­tur­ge­schich­te der Her­zen auf­zu­stel­len, sie zu be­nen­nen, sie in Ar­ten, Un­ter­ar­ten, Fa­mi­li­en, in Krusta­zeen, Fos­si­li­en, Sau­ri­er, in Kleinst­le­be­we­sen – und was weiß ich noch al­les – ein­zu­tei­len, dann, lie­ber Freund, wird es be­wie­sen sein, daß es Her­zen gibt, die so zart und emp­find­lich sind wie Blu­men und gleich ih­nen von ei­ner leich­ten Berüh­rung ge­bro­chen wer­den kön­nen, die ge­wis­se ver­stei­ner­te Her­zen nicht ein­mal spü­ren.«

»Oh! ich bit­te dich, ver­scho­ne mich mit dei­ner Vor­re­de«, sag­te Émi­le mit ei­ner halb la­chen­den, halb kläg­li­chen Mie­ne und faß­te Ra­pha­el bei der Hand.

Palais-Roy­al: 1633 für den Kar­di­nal Ri­che­lieu er­bau­ter Palast in Pa­ris, der spä­te­re Wohn­sitz der Prin­zen des Hau­ses Or­léans, war ei­nes der Zen­tren öf­fent­li­chen Glückss­piels in Pa­ris <<<

Coatza­coal­co: Fluß in Me­xi­ko, an dem Frank­reich 1823 ver­suchs­wei­se eine Straf­ko­lo­nie ein­rich­te­te <<<

Dar­cet, Jean-Pier­re-Jo­seph (1777-1844): fran­zö­si­scher Che­mi­ker, Aka­de­mie­mit­glied, der sich un­ter an­de­rem mit der Zu­sam­men­set­zung von Kno­chen be­schäf­tig­te und die dar­aus ge­won­ne­ne Ge­la­ti­ne als bil­li­ges Grund­nah­rungs­mit­tel für die Ar­men­spei­sung emp­fahl <<<

Zer­be­rus: in der grie­chi­schen My­tho­lo­gie Hund, der den Ein­gang zum Ha­des, der Un­ter­welt, be­wacht <<<

Jean-Jac­ques Rous­seau (1712-1778): fran­zö­si­scher Schrift­stel­ler und Phi­lo­soph der Auf­klä­rung; durch sei­ne so­zi­al- und kul­tur­kri­ti­schen Schrif­ten wur­de er zum Weg­be­rei­ter der Fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on <<<

T­ren­te-et-Qua­ran­te: Glückss­piel mit Kar­ten <<<

Place de Grè­ve: Platz in Pa­ris, auf dem bis zur Re­stau­ra­ti­on die Hin­rich­tun­gen statt­fan­den <<<

Tan­ta­lus: nach der grie­chi­schen My­tho­lo­gie wur­de der Kö­nig Tan­ta­lus dazu be­straft, im An­blick des Über­flus­ses qual­voll Hun­ger und Durst lei­den zu müs­sen <<<

Ba­gno: Ge­fäng­nis der Ga­lee­ren­sträf­lin­ge in Tou­lon <<<

10 Na­po­le­on: Na­po­leon­dor, un­ter Na­po­le­on I. und Na­po­le­on III. ge­präg­te Gold­mün­ze im Wert von zwan­zig Fran­cs <<<

11 »Di tan­ti pal­pi­ti«: An­fangs­wor­te der Schluß­ka­ba­let­ta aus der Oper »Tan­kred« (1831) von Ros­si­ni <<<

12 Tui­le­ri­en: ehe­ma­li­ges Stadt­schloß der fran­zö­si­schen Kö­ni­ge in Pa­ris, Re­si­denz Na­po­le­ons und der nach­fol­gen­den Herr­scher Frank­reichs, mit ei­nem großen Park <<<

13 seit 1793: An­spie­lung auf die als »Schre­ckens­zeit« be­zeich­ne­te Pe­ri­ode der Fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on, in der die re­vo­lu­tio­när-de­mo­kra­ti­sche Dik­ta­tur der Ja­ko­bi­ner herrsch­te <<<

14 Lord Cast­le­reagh, Hen­ri Ro­bert Ste­wart, Mar­quis von Lon­don­der­ry (1769-1822): eng­li­scher Staats­mann, Be­voll­mäch­tig­ter Eng­lands auf dem Wie­ner Kon­greß, en­de­te durch Selbst­mord <<<

15 Au­ger, Louis-Si­mon (1772-1829): fran­zö­si­scher Li­te­ra­tur­kri­ti­ker, be­en­de­te sein Le­ben durch Selbst­mord. <<<

16 M­on­sieur Da­cheux: 1830 In­spek­tor der für die ers­te Hil­fe Er­trin­ken­der längs der Sei­ne er­rich­te­ten Ret­tungs­stütz­punk­te <<<

17 … Ta­ba­krauch be­reit­hal­ten: mit Hil­fe ei­ner be­son­de­ren Sprit­ze wur­de den aus dem Was­ser Ge­ret­te­ten Ta­ba­krauch durch den Af­ter in den Dick­darm ge­bla­sen <<<

18 Ca­li­ban: Ge­stalt aus dem Dra­ma »Der Sturm« (1611) von Sha­ke­s­pea­re (1564-1616) <<<

19 Ber­nard Pa­lis­sy (1510-1589 oder 1590): fran­zö­si­scher Glas­ma­ler, Kunst­töp­fer und Na­tur­wis­sen­schaft­ler; ent­deck­te das Ver­fah­ren, Ton­ge­fäße mit far­bi­gem Email her­zu­stel­len. Sei­ne de­ko­ra­ti­ven Zwe­cken die­nen­den To­n­ar­bei­ten schmück­ten tie­ri­sche und pflanz­li­che Dar­stel­lun­gen <<<

20 Ci­ce­ro, Mar­cus Tul­lus (106-43 v. Chr.): größ­ter Red­ner des rö­mi­schen Al­ter­tums, sei­ne phi­lo­so­phi­schen Schrif­ten wur­den zum Vor­bild für den klas­si­schen la­tei­ni­schen Stil <<<

21 Jaquo­tot, Ma­rie-Vic­toire (1776-1835): Por­zel­lan­ma­le­rin der Ma­nu­fak­tur von Sèvres (Ort an der Sei­ne, be­rühmt durch sei­ne 1763 im Park von Saint-Cloud er­rich­te­te Por­zel­lan­ma­nu­fak­tur) <<<

22 Se­sost­ris: grie­chi­sche Form ei­nes al­tägyp­ti­schen Kö­nigs­na­mens <<<

23 Du­bar­ry, Jean­ne Bécu, Com­tes­se du Bar­ry (1743-1793): loth­rin­gi­sches Bau­ern­mäd­chen, Mätres­se Lud­wigs XV., 1793 hin­ge­rich­tet <<<

24 La­tour, Mau­ri­ce Quen­tin de La Tour (1704-1788): fran­zö­si­scher Pas­tell­ma­ler, be­rühmt für sei­ne Por­trät­dar­stel­lun­gen <<<

25 T­schi­buk: lan­ge tür­ki­sche Ta­baks­pfei­fe <<<

26 Chi­mära: in der My­tho­lo­gie feu­er­spei­en­des Un­ge­heu­er mit Lö­wen­kopf, Zie­gen­leib und Schlan­gen­schweif <<<

27 Ti­tus Li­vi­us (59 v. Chr.-17 n. Chr.): rö­mi­scher Ge­schichts­schrei­ber <<<

28 ›Se­na­tus Po­pu­lus­que Ro­ma­nus‹: lat., der Se­nat und das rö­mi­sche Volk <<<

29 Bor­gia: mäch­ti­ges Adels­ge­schlecht im Ita­li­en des 15./16. Jahr­hun­derts <<<

30 Ben­ve­nu­to Cel­li­ni (1500-1571): ita­lie­ni­scher Gold­schmied und Bild­hau­er der Spätre­naissance; sei­ne Au­to­bio­gra­phie wur­de von Goe­the ins Deut­sche über­tra­gen <<<

31 Ka­bi­nett von Ruysch: Fre­drik Ruysch (1638-1731), nie­der­län­di­scher Ana­tom, ent­wi­ckel­te ein Ver­fah­ren zur Kon­ser­vie­rung ana­to­mi­scher Prä­pa­ra­te und grün­de­te ei­nes der äl­tes­ten ana­to­mi­schen Mu­seen. Sei­ne Samm­lung wur­de 1717 von Kö­nig Sta­nis­laus von Po­len und von Pe­ter dem Gro­ßen er­wor­ben <<<

32 La­ra: Ti­tel­held der gleich­na­mi­gen Ver­ser­zäh­lung von Lord By­ron (1814) <<<

33 Te­nier­s, Da­vid, gen. der Äl­te­re (1582-1649), und des­sen Sohn Da­vid, gen. der Jün­ge­re (1610-1690): flä­mi­sche Ma­ler <<<

34 Mie­ris, wahr­schein­lich Frans van Mie­ris der Äl­te­re (1635-1681): hol­län­di­scher Ma­ler, vor al­lem Por­träts und Gen­re­bil­der <<<

35 Sal­va­tor Ro­sa (1615-1673): ita­lie­ni­scher Ma­ler, Dich­ter und Mu­si­ker <<<

36 Ru­be­be: auch Re­bec, ur­sprüng­lich ara­bi­sches, auch mit­tel­al­ter­li­ches Gei­gen­in­stru­ment mit zwei oder drei Sai­ten <<<

37 Jean Gou­jon (geb. zwi­schen 1510 und 1514, gest. zwi­schen 1564 und 1569): fran­zö­si­scher Ma­ler des Ba­rock <<<

38 Clau­de Lor­rain, auch Le Lor­rain (1600-1682): fran­zö­si­scher Ma­ler, Meis­ter der Land­schafts­ma­le­rei <<<

39 Gérard Dou, auch Dow (1613-1675): nie­der­län­di­scher Gen­re­ma­ler <<<

40 Mu­ril­lo, Bar­to­lomé Es­te­ban (1617-1682): spa­ni­scher Ma­ler, der ne­ben Ma­don­nen- und Hei­li­gen­bil­dern auch rea­lis­ti­sche Gen­res­ze­nen schuf <<<

41 Ve­las­que­z, Die­go (1599-1660): spa­ni­scher Hof- und Por­trät­ma­ler <<<

42 By­ron, Ge­or­ge Noël Gor­don, Lord (1788-1824): eng­li­scher ro­man­ti­scher Dich­ter, nahm ak­tiv an der Car­bo­na­ri-Ver­schwö­rung und am grie­chi­schen Frei­heits­kampf teil <<<

43 Cor­reg­gio, An­to­nio (1489-1534): ita­lie­ni­scher Ma­ler, Meis­ter des Hell­dun­kel <<<

44 Cu­vier, Ge­or­ges, Baron (1769-1832): Be­grün­der der mo­der­nen Pa­lä­on­to­lo­gie und ver­glei­chen­den Ana­to­mie, ver­tei­dig­te die me­ta­phy­si­sche Auf­fas­sung von der Unab­än­der­lich­keit der bio­lo­gi­schen Ar­ten <<<

45 Kad­mos: Ge­stalt der grie­chi­schen My­tho­lo­gie, säte die Zäh­ne ei­nes von ihm ge­tö­te­ten Dra­chens, aus de­nen Krie­ger wuch­sen, mit de­nen er die Stadt The­ben grün­de­te <<<

46 in dem von Des­car­tes emp­foh­le­nen phi­lo­so­phi­schen Zwei­fel: René Des­car­tes (1596-1650), fran­zö­si­scher Ma­the­ma­ti­ker, Phy­si­ker und Phi­lo­soph des Ra­tio­na­lis­mus, zwei­fel­te an der Sin­ne­ser­kennt­nis, stell­te die Selbst­ge­wiß­heit (»ich den­ke, also bin ich«) als Prin­zip und Aus­gangs­punkt al­ler Wahr­heit dar <<<

47 Gay-Lussac, Louis-Jo­seph (1778-1850): fran­zö­si­scher Phy­si­ker und Che­mi­ker <<<

48 Ara­go, François (1786-1853): fran­zö­si­scher Astro­nom und Phy­si­ker <<<

49 Fu­n­am­bu­les: Théâtre des Fu­n­am­bu­les, Pa­ri­ser Thea­ter für Vau­de­vil­les <<<

50 Sie­gel Sa­lo­mons: Sa­lo­mo, Kö­nig von Is­rael (gest. um 925 v. Chr.), gilt als Ur­bild der Weis­heit und Be­herr­scher der Geis­ter; sein Sie­gel­ring, ein fünf­za­cki­ger Stern, spielt als Ta­lis­man der Weis­heit und der Zau­be­rei in der Kab­ba­lis­tik eine große Rol­le <<<

51 Swe­den­bor­g, Ema­nu­el von (1688-1772): schwe­di­scher Theo­soph und Na­tur­wis­sen­schaft­ler; lehr­te den or­ga­ni­schen und me­cha­ni­schen Zu­sam­men­hang al­ler Din­ge. Er soll eine Vi­si­on ge­habt ha­ben, bei der ihm Gott er­schie­nen sei und ihn als Pro­phe­ten aus­er­se­hen habe. Swe­den­borg lehr­te, daß Chris­tus die Drei­ei­nig­keit wäre und daß zwi­schen Gott und dem Men­schen eine un­sicht­ba­re Welt exis­tie­re, die er als eine geis­ti­ge Über­set­zung der mensch­li­chen Welt ver­an­schau­licht. Die­se Welt sei be­völ­kert von En­geln, die wie Men­schen leb­ten <<<

52 Leo­nar­da: Ge­stalt der Kö­chin aus dem Ro­man ›Gil Blas‹ (ers­te Auf­la­ge 1715) von Alain-René Le­sa­ge (1668-1747) <<<

53 Bouf­fons: Be­zeich­nung für die Opéra Co­mi­que, ein 1714 ge­grün­de­tes Pa­ri­ser Thea­ter, des­sen Re­per­toire Opern­par­odi­en und Sing­spie­le, spä­ter auch die fran­zö­si­sche ko­mi­sche Oper um­faß­te. 1762 ging die Opéra Co­mi­que in der Comé­die Ita­li­enne auf und wur­de 1801 als »Théâtre de l’Opéra Co­mi­que« neu­ge­grün­det. Die Opéra Co­mi­que war zwi­schen 1830 und 1870 ei­nes der be­deu­tends­ten Mu­sik­zen­tren Eu­ro­pas <<<

54 Sain­te-Péla­gie: Ge­fäng­nis in Pa­ris <<<

55 La For­ce: 1782 im ehe­ma­li­gen Hôtel de la For­ce ein­ge­rich­te­tes Ge­fäng­nis von Pa­ris <<<

56 … über den Pont-des-Arts ge­gan­gen: Auf dem Pont-des-Arts muß­te ein Sou Brücken­geld be­zahlt wer­den <<<

57 … wie der Staats­haus­halt sei­nen Sitz vom Fau­bourg Saint-Ger­main zur Chaus­sée-d ’An­tin ver­legt hat: d. h. vom Wohn­vier­tel des Adels, dem Fau­bourg Saint-Ger­main, zum Wohn­sitz der Finanz­bour­geoi­sie, Chaus­sée-d’An­tin <<<

58 Bür­ger­kö­nig: Louis-Phil­ip­pe (1773-1850), Kö­nig der Fran­zo­sen (1830-1848); von der fran­zö­si­schen Finanz­bour­geoi­sie zum Kö­nig pro­kla­miert, re­gier­te er in ih­rem In­ter­es­se bis zu sei­nem Sturz durch die Fe­bruar­re­vo­lu­ti­on 1848 <<<

59 Panur­ge: Ge­stalt aus dem Ro­man »Gar­gan­tua und Pan­ta­gruel« von François Ra­be­lais (um 1494-1553) <<<

60 mo­re ori­en­ta­li: lat., nach ori­en­ta­li­scher Sit­te <<<

61 Mi­ra­be­au, Ho­noré-Ga­bri­el Ri­que­ti, Com­te de (1749-1791): füh­ren­der Ideo­lo­ge des li­be­ra­len Adels und der Bour­geoi­sie, Ab­ge­ord­ne­ter des Drit­ten Stan­des; kon­spi­rier­te mit dem Kö­nig, um die kon­sti­tu­tio­nel­le Mon­ar­chie ge­gen die re­vo­lu­tio­näre Volks­be­we­gung zu si­chern, und wur­de des Ver­rats an­ge­klagt <<<

62 Tal­ley­ran­d, Charles-Mau­ri­ce de Tal­ley­rand-Pé­rigord (1754-1838): Bi­schof von Au­tun (1788), De­pu­tier­ter der Ge­setz­ge­ben­den Ver­samm­lung. Un­ter Na­po­le­on war Tal­ley­rand Au­ßen­mi­nis­ter (1797-1807); er in­tri­gier­te ge­gen den Kai­ser (1808) und fiel in Un­gna­de. 1814 kon­sti­tu­ier­te er eine Pro­vi­so­ri­sche Re­gie­rung, die Lud­wig XVIII. den Thron an­trug, was ihm un­ter der Re­stau­ra­ti­on wie­der das Au­ßen­mi­nis­te­ri­um ein­brach­te. Wäh­rend der Juli-Mon­ar­chie war Tal­ley­rand fran­zö­si­scher Bot­schaf­ter in Lon­don (1830-1835) <<<

63 Pit­t, Wil­liam (1759-1806): eng­li­scher Pre­mier­mi­nis­ter von 1784 bis 1801 und 1804; war die trei­ben­de Kraft des Kamp­fes ge­gen die Fran­zö­si­sche Re­vo­lu­ti­on und das na­po­leo­ni­sche Kai­ser­reich <<<

64 Met­ter­nich, Cle­mens Wen­zel Lo­thar, Fürst von (1773-1859): ös­ter­rei­chi­scher Staats­mann; ab 1809 Au­ßen­mi­nis­ter, 1821-1848 Staats­kanz­ler; wur­de nach dem Wie­ner Kon­greß (1815) Haupt der Re­ak­ti­on in Eu­ro­pa; un­ter­drück­te ge­walt­sam alle na­tio­na­len und li­be­ra­len Be­stre­bun­gen; durch die Wie­ner März­re­vo­lu­ti­on 1848 ge­stürzt <<<

65 Cri­spin: dreis­te und stets auf das ei­ge­ne Wohl be­dach­te Die­ner-Ge­stalt der fran­zö­si­schen Ko­mö­die <<<

66 Am­phi­try­on: sa­gen­haf­ter Kö­nig von The­ben, der eine Blut­schuld süh­nen muß­te, um die Hand Alk­me­nes zu er­lan­gen. Nach der gleich­na­mi­gen Ko­mö­die von Mo­liè­re gilt er als wohl­ha­ben­der, gern den Gast­ge­ber spie­len­der Mann <<<

67 Sa­tur­na­li­en: alt­rö­mi­sche Fes­te zu Ehren des Got­tes Sa­turn mit kar­ne­va­lis­ti­schem Trei­ben und dem Rol­len­tausch von Her­ren und Skla­ven <<<

68 ro­ter Kor­sar: An­spie­lung auf den Hel­den des Ro­mans »Der rote Kor­sar« (1827) von Ja­mes Fe­ni­mo­re Cooper (1789-1851) <<<

69 Bo­ta­ny Bay: große Bucht in der Nähe von Syd­ney, ur­sprüng­lich für die in Port Jack­son er­rich­te­te Straf­ko­lo­nie vor­ge­se­he­ner Stand­ort, auf die sich die An­spie­lung be­zieht <<<

70 ›De Vi­ris il­lus­tri­bus: lat., ›Ü­ber be­rühm­te Män­ner‹, Bio­gra­phien­samm­lung des rö­mi­schen Ge­schichts­schrei­bers Cor­ne­li­us Nepos (99-24 v. Chr.) <<<

71 Meis­ter Al­co­f­ri­bas: Ge­stalt aus dem Ro­man ›Gar­gan­tua und Pan­ta­gruel‹ von François Ra­be­lais. <<<

72 Saint-Si­mo­nist: An­hän­ger der Leh­re des fran­zö­si­schen So­zi­al­phi­lo­so­phen Clau­de-Hen­ri Com­te de Saint-Si­mon (1760-1825), ei­nem Haupt­ver­tre­ter des uto­pi­schen So­zia­lis­mus <<<

73 die be­rühm­te Lüge Lud­wigs XVIII.: Ein­tracht mit den Bo­na­par­tis­ten, Ver­ges­sen der kon­ter­re­vo­lu­tio­nären Ver­schwö­run­gen in der Ven­dée <<<

74 Cam­bacérès, Jean-Jac­ques Ré­gis de (1753-1824): wäh­rend der Fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on Prä­si­dent des Na­tio­nal­kon­vents, da­nach Mit­glied des Wohl­fahrts­aus­schus­ses und Zwei­ter Kon­sul nach Na­po­le­on; im Kai­ser­reich Erz­kanz­ler und Se­nats­prä­si­dent <<<

75 Bril­lat-Sa­va­rin, Anthel­me (1755-1826): fran­zö­si­scher Fein­schme­cker, be­kannt ge­wor­den durch sein Werk ›Phy­sio­lo­gie des Ge­schmacks oder Be­trach­tun­gen über das hö­he­re Ta­fel­ver­gnü­gen‹, ei­ner Hul­di­gung der Ga­stro­no­mie und der Ta­fel­freu­den <<<

76 Ros­si­ni, Gio­ac­chi­no (1792-1868): ita­lie­ni­scher Opern­kom­po­nist, fei­er­te wäh­rend der Re­stau­ra­ti­on große Er­fol­ge in Pa­ris <<<

77 Non ce­ci­dit ani­mus!: lat., Der Geist ist nicht ge­sun­ken! <<<

78 Bos­su­et, Jac­ques-Bé­nig­ne (1627-1704): fran­zö­si­scher Prälat, Schrift­stel­ler und be­rühm­ter Pre­di­ger; Bi­schof von Con­dom (1669) und Meaux (1681); Er­zie­her des Dau­phin; hat­te maß­geb­li­chen Ein­fluß auf die Kir­chen­po­li­tik Lud­wigs XIV <<<

79 Ballan­che, Pier­re-Si­mon (1776-1847): fran­zö­si­scher Schrift­stel­ler, war ei­ner mys­tisch-christ­li­chen Vor­stel­lungs­kraft ver­haf­tet und sah in dem kon­sti­tu­tio­nel­len Re­gime der Re­stau­ra­ti­on den end­gül­ti­gen Gip­fel­punkt der his­to­ri­schen Ent­wick­lung <<<

80 die Was­ser­lei­tun­gen von Main­te­non: un­ter Lud­wig XIV. be­gon­ne­ner, aber un­voll­en­de­ter Bau ei­ner Was­ser­lei­tung, die die Was­ser der Eure nach Ver­sail­les lei­ten soll­te <<<

81 Kon­vent: die fran­zö­si­sche Na­tio­nal­ver­samm­lung von 1792-1795, ver­ei­nig­te die le­gis­la­ti­ve und exe­ku­ti­ve Ge­walt <<<

82 Mon­bard: auch Mont­bars, gen. »Der Ver­nich­ter« (geb. 1645): be­rühm­ter fran­zö­si­scher Frei­beu­ter <<<

83 Per­raul­t, Charles (1628-1703): fran­zö­si­scher Schrift­stel­ler, be­kannt durch sei­ne Mär­chen­samm­lung <<<

84 Char­let, Ni­co­las (1792-1845): fran­zö­si­scher Ma­ler und Li­tho­graph, trug durch die Dar­stel­lung von Mi­li­tärs­ze­nen zum Na­po­leon­my­thos bei <<<

85 Cir­cu­lus vi­tio­sus: lat., Teu­fels­kreis <<<

86 Karl X. (1757-1836): Kö­nig von Frank­reich 1824-1830; Bru­der Lud­wigs XVI. und Lud­wigs XVIII., nach des­sen Tod er den Thron der Bour­bo­nen be­stieg. Sei­ne re­strik­ti­ve Po­li­tik führ­te zur Ju­li­re­vo­lu­ti­on, vor der er nach Eng­land floh <<<

87 vi­ce ver­sa: lat., um­ge­kehrt <<<

88 Ma­li­bran, Ma­ria-Fe­li­cia Gar­cia (1808-1836): seit 1828 ge­fei­er­te Opern­sän­ge­rin in Pa­ris <<<

89 Hein­rich IV. (1553-1610): Kö­nig von Frank­reich 1589-1610; wur­de von Ra­vail­lac er­mor­det <<<

90 La Fayet­te, Ma­rie-Jo­seph Mo­tier, Mar­quis de (1757-1834): un­ter­stütz­te als Ver­tre­ter der Li­be­ra­len 1830 die Thron­be­stei­gung von Louis-Phil­ip­pe <<<

91 »Ge­schich­te des Kö­nigs von Böh­men und …«: 1830 er­schie­ne­ne Er­zäh­lung von Charles No­dier (1780-1844) <<<

92 Cha­ren­ton: Ir­ren­an­stalt in der Nähe von Pa­ris <<<

93 »Re­vue des Deux Mon­des«: 1829 ge­grün­de­te Kul­tur­zeit­schrift. Die An­spie­lung be­zieht sich auf ih­ren da­ma­li­gen Be­sit­zer und Lei­ter, François Bu­loz, der sei­nes Schie­lens we­gen Ge­gen­stand all­ge­mei­nen Spot­tes war <<<

94 Cré­bil­lon, Pro­sper Jo­lyot, Sieur de Crais-Bil­lon, gen. Cré­bil­lon der Äl­te­re (1674-1762): fran­zö­si­scher Tra­gö­di­en­dich­ter; häuf­te in sei­nen nach an­ti­ken Stof­fen ge­stal­te­ten Stücken grau­si­ge, pa­the­ti­sche Sze­nen <<<

95 Bichat, Ma­rie-François-Xa­vier (1771-1802): fran­zö­si­scher Arzt und Phy­sio­lo­ge; grund­le­gen­de Be­trach­tun­gen zur Ge­we­be­leh­re und pa­tho­lo­gi­schen Ana­to­mie <<<

96 Pan­ta­gruel: Ti­tel­ge­stalt aus dem Ro­man »Gar­gan­tua und Pan­ta­gruel« von François Ra­be­lais <<<

97 Di­is igno­tis: lat., den un­be­kann­ten Göt­tern <<<

98 Os­si­an: sa­gen­haf­ter kel­ti­scher Sän­ger aus dem 3. Jahr­hun­dert, un­ter des­sen Na­men der schot­ti­sche Dich­ter Ja­mes Mac­pher­son (1736-1796) eine sei­ner­zeit hoch­be­rühm­te Ge­dicht­samm­lung ver­öf­fent­lich­te <<<

99 Le­bel, Do­mi­ni­que-Guil­lau­me (1696-1768): Kam­mer­die­ner Lud­wigs XV., der sei­nem Kö­nig die Mäd­chen zu­füh­ren muß­te <<<

100 Car­rac­ci: ita­lie­ni­sche Ma­ler­fa­mi­lie des 16. Jahr­hun­derts <<<

101 … aus dem »Ge­ret­te­ten Ve­ne­dig«: Aqui­li­na ist eine Ge­stalt aus der 1682 er­schie­ne­nen Tra­gö­die »Das ge­ret­te­te Ve­ne­dig« des eng­li­schen Dra­ma­ti­kers Tho­mas Ot­way (1652-1685) <<<

102 … die Ge­schich­te der vier jun­gen Män­ner von La Ro­chel­le: Der Feld­we­bel Bo­ries (1795-1822) und sei­ne Ka­me­ra­den Gou­bin, Pom­mier und Gou­pil­lon wur­den als Mit­glie­der ei­ner Car­bo­na­ri­grup­pe ver­ra­ten, die drei ers­te­ren 1822 in La Ro­chel­le zum Tode ver­ur­teilt und hin­ge­rich­tet <<<

103 Cla­mart: Pa­ri­ser Fried­hof, 1833 still­ge­legt <<<

104 Mil­tons Pan­dä­mo­ni­um: Reich der bö­sen Geis­ter in dem Poem »Das ver­lo­re­ne Pa­ra­dies« (1667) des eng­li­schen Dich­ters John Mil­ton (1608-1674) <<<

105 ›Ca­ry­ma­ry, Ca­ry­ma­ra‹: aus dem an­ony­men Schwank »Meis­ter Pier­re Pa­the­lin« (1461-1469); Zi­tat aus der Sze­ne, in der Pa­the­lin das De­li­ri­um si­mu­liert, um den Tuch­ma­cher zu prel­len <<<

106 Ra­be­lais, François (um 1494-1553): fran­zö­si­scher hu­ma­nis­ti­scher Schrift­stel­ler der Re­naissance, Ver­fas­ser der be­rühm­ten »Gar­gan­tua« (1534) und »Pan­ta­gruel« (1532) <<<

107 Mon­taig­ne, Mi­chel Eyquem de (1553-1692): fran­zö­si­scher Moral­phi­lo­soph, be­kannt durch sei­ne »Es­sais« <<<

108 Pyr­rhon (365-275 v. Chr.): grie­chi­scher Phi­lo­soph, Skep­ti­ker, ne­gier­te die Mög­lich­keit der Wahr­heits­er­kennt­nis <<<

109 Bu­ridans Esel: Dem fran­zö­si­schen Lo­gi­ker und Na­tur­phi­lo­so­phen Jean Bu­ri­dan (vor 1300 – nach 1358) zu­ge­schrie­be­ne Al­le­go­rie vom Esel, der zwi­schen zwei Heu­bün­deln steht, sich we­der für das eine noch für das an­de­re ent­schei­den kann und des­we­gen ver­hun­gern muß <<<

110 Da­miens, Ro­bert-François (1715-1757): wur­de nach ei­nem At­ten­tat auf Lud­wig XV. öf­fent­lich ge­fol­tert und ge­vier­teilt <<<

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke

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