Читать книгу Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Оноре де'Бальзак, Honoré de Balzac, Balzac - Страница 35

9

Оглавление

»Zwan­zig Jah­re bin ich in ei­nem Trau­me be­fan­gen ge­we­sen, heu­te bin ich er­wacht mit mei­nem Knüt­tel in der Hand«, sag­te Cäsar, der wie­der der alte Bau­er aus der Tou­rai­ne ge­wor­den war.

Als er die­se Wor­te ver­nahm, um­arm­te Pil­ler­ault sei­nen Nef­fen. Jetzt be­merk­te Cäsar sei­ne Frau, An­selm und Cöles­tin. Die Pa­pie­re, die der ers­te Kom­mis in der Hand hielt, sag­ten al­les. Cäsar be­trach­te­te mit ru­hi­gem Ge­sicht die Grup­pe, aus der alle Bli­cke trau­rig, aber vol­ler Lie­be auf ihn ge­rich­tet wa­ren.

»Ei­nen Au­gen­blick!« sag­te er, nahm sein Or­dens­kreuz ab und reich­te es dem Abbé Loraux, »Sie wer­den es mir wie­der­ge­ben, wenn ich es wie­der in Ehren tra­gen darf. Cöles­tin,« füg­te er hin­zu, »set­zen Sie mein Ent­las­sungs­ge­such als Bei­ge­ord­ne­ter auf. Der Herr Abbé wird Ih­nen den Brief dik­tie­ren, da­tie­ren Sie ihn vom vier­zehn­ten und las­sen Sie ihn von Ra­guet zu Herrn von Bil­lar­diè­re brin­gen.«

Cöles­tin und der Abbé Loraux gin­gen hin­un­ter. Eine Vier­tel­stun­de lang herrsch­te tie­fes Schwei­gen in Cäsars Zim­mer. Sei­ne Stand­haf­tig­keit über­rasch­te die Fa­mi­lie. Als Cöles­tin und der Abbé zu­rück­ka­men, un­ter­zeich­ne­te Cäsar sein Ent­las­sungs­ge­such. Als aber der On­kel Pil­ler­ault ihm die Bilanz vor­leg­te, konn­te der arme Mann ein furcht­ba­res ner­vö­ses Zu­sam­men­zu­cken nicht un­ter­drücken.

»Mein Gott, er­bar­me dich mei­ner«, sag­te er, als er un­ter­schrieb und das Schrift­stück Cöles­tin hin­reich­te.

»Herr Bi­rot­teau,« sag­te jetzt An­selm Po­pi­not, und über sei­ne Stirn er­goß sich ein hel­les Leuch­ten, »gnä­di­ge Frau, er­wei­sen Sie mir die Ehre, mir die Hand Fräu­lein Cäsa­ri­nes zu be­wil­li­gen.«

Bei die­sen Wor­ten füll­ten sich die Au­gen al­ler An­we­sen­den mit Trä­nen, nur Cäsars nicht, der sich er­hob, An­selms Hand er­griff und mit hoh­ler Stim­me zu ihm sag­te: »Mein Kind, du wirst nie­mals die Toch­ter ei­nes Bank­rot­teurs hei­ra­ten.«

An­selm sah Bi­rot­teau scharf an und er­wi­der­te: »Herr Bi­rot­teau, wol­len Sie mir in Ge­gen­wart Ih­rer gan­zen Fa­mi­lie ver­spre­chen, so­fern das Fräu­lein mich zum Man­ne ha­ben will, in un­se­re Hei­rat ein­zu­wil­li­gen an dem Tage, wo die Bank­rott­er­klä­rung zu­rück­ge­nom­men sein wird?«

»Ja«, sag­te die­ser end­lich.

An­selm mach­te eine un­merk­li­che Be­we­gung, als wol­le er Cäsa­ri­nes Hand er­grei­fen; sie reich­te sie ihm hin und er küß­te sie.

»Auch Sie wil­li­gen ein?« frag­te er Cäsa­ri­ne.

»Ja«, sag­te sie.

»So ge­hö­re ich also end­lich zur Fa­mi­lie und habe ein Recht dar­auf, mich mit ih­ren An­ge­le­gen­hei­ten zu be­fas­sen«, sag­te er mit ei­gen­ar­ti­gem Aus­druck.

An­selm stürz­te fort, um sei­ne Freu­de, die all­zu­sehr mit dem Schmer­ze sei­nes Prin­zi­pals in Kon­trast ge­stan­den hät­te, nicht zu zei­gen. An­selm war ge­wiß nicht etwa froh über den Kon­kurs, aber die Lie­be ist so rück­sichts­los, so egois­tisch! Auch Cäsa­ri­ne emp­fand eine Her­zen­ser­re­gung, die mit ih­rer bit­te­ren Be­trüb­nis nicht in Ein­klang stand.

»Da wir ein­mal so weit sind,« sag­te Pil­ler­ault lei­se zu Kon­stan­ze, »so wol­len wir auch gleich al­les ins rei­ne brin­gen.«

Frau Bi­rot­teau ließ einen Laut des Schmer­zes, nicht der Zu­stim­mung, hö­ren.

»Lie­ber Nef­fe,« sag­te Pil­ler­ault und wand­te sich an Cäsar, »was ge­denkst du nun zu tun?«

»Mein Ge­schäft wei­ter­be­trei­ben.«

»Ich bin an­de­rer Mei­nung«, sag­te Pil­ler­ault. »Li­qui­die­re, ver­tei­le die Ak­ti­va an dei­ne Gläu­bi­ger und eta­blie­re dich nicht wie­der in Pa­ris. Ich habe mich oft in eine Lage wie die dei­ni­ge ver­setzt … (Oh, im Ge­schäfts­le­ben soll man auf al­les ge­faßt sein! Der Kauf­mann, der nicht da­mit rech­net, daß er auch ein­mal bank­rott wer­den kann, ist wie ein Ge­ne­ral, der als si­cher an­nimmt, daß er nie­mals ge­schla­gen wer­den kann, er ist nur ein hal­ber Kauf­mann.) Ich wür­de nie­mals das Ge­schäft wei­ter­füh­ren. Wie? Im­mer vor den Leu­ten er­rö­ten müs­sen, die man ge­schä­digt hat, ihre miß­traui­schen Bli­cke, ihre stil­len Vor­wür­fe er­tra­gen! Ich kann auch die Guil­lo­ti­ne be­grei­fen! … Ein Au­gen­blick, und al­les ist vor­über. Aber zu emp­fin­den, wie Ei­nem der Kopf neu wächst und je­den Tag wie­der ab­ge­schla­gen wird, das ist eine Mar­ter, der ich mich ent­zie­hen wür­de. Ge­wiß set­zen vie­le Leu­te ihr Ge­schäft wie­der fort, als ob gar nichts pas­siert wäre! Um so bes­ser für sie! Dann sind sie wi­der­stands­fä­hi­ger als Jo­seph Pil­ler­ault. Kaufst du ge­gen bar, so sa­gen sie, du hast et­was hin­ter­zo­gen; hast du nichts, dann kannst du nie­mals wie­der in die Höhe kom­men. Mach ein Ende! Gib ih­nen dei­ne Ak­ti­va hin, laß sie dein Ge­schäft ver­kau­fen und fang et­was an­de­res an.«

»Aber was?« sag­te Cäsar.

»Su­che dir doch eine Stel­lung«, sag­te Pil­ler­ault. »Du ver­fügst doch über Pro­tek­ti­on! Da sind der Her­zog und die Her­zo­gin von Le­non­court, Frau von Morts­auf, Herr von Van­den­es­se, schreib ih­nen, su­che sie auf, sie wer­den dich schon bei Hofe mit ei­nem Ge­halt von etwa tau­send Ta­lern un­ter­brin­gen; dei­ne Frau wird eben­so­viel ver­die­nen, dei­ne Toch­ter viel­leicht auch. Dei­ne Lage ist also nicht ver­zwei­felt. Zu dritt könnt ihr etwa zehn­tau­send Fran­ken jähr­lich zu­sam­men­brin­gen. Dann kannst du in zehn Jah­ren hun­dert­tau­send Fran­ken ab­zah­len, denn von dem, was ihr ver­dient, wirst du doch nichts für dich be­hal­ten wol­len; die bei­den Frau­en be­kom­men von mir fünf­zehn­hun­dert Fran­ken für ihre per­sön­li­chen Aus­ga­ben, und was dich selbst an­langt, so wird sich schon Rat fin­den.«

Kon­stan­ze, aber nicht Cäsar, ließ sich die­sen klu­gen Vor­schlag durch den Kopf ge­hen. Pil­ler­ault be­gab sich zur Bör­se, die da­mals in ei­ner pro­vi­so­ri­schen run­den, aus Holz er­rich­te­ten Hal­le ab­ge­hal­ten wur­de, de­ren Ein­gang sich an der Rue Fay­deau be­fand. Der Kon­kurs des be­kann­ten und be­nei­de­ten Par­füm­händ­lers, der sich schon her­um­ge­spro­chen hat­te, ver­ur­sach­te all­ge­mei­ne Auf­re­gung bei den Groß­händ­lern, die da­mals zur kon­sti­tu­tio­nel­len Par­tei ge­hör­ten. Die­se li­be­ra­len Kauf­leu­te be­trach­te­ten Bi­rot­te­aus Fest als einen ke­cken An­griff auf ihre An­schau­un­gen. Die Op­po­si­tio­nel­len be­an­spruch­ten für sich das Mo­no­pol der Po­pu­la­ri­tät. Den Kö­nig zu lie­ben, das soll­te den Roya­lis­ten ge­stat­tet sein, aber das Va­ter­land zu lie­ben, das war das Pri­vi­leg der Lin­ken; das Volk ge­hör­te ihr zu ei­gen. Die Re­gie­rung hat­te nicht das Recht, durch ihre Or­ga­ne ein Fest fei­ern zu las­sen aus ei­nem An­laß, den die Li­be­ra­len aus­schließ­lich für sich aus­beu­ten woll­ten. Der Sturz ei­nes Schütz­lings des Ho­fes, ei­nes Re­gie­rungs­an­hän­gers, ei­nes un­ver­bes­ser­li­chen Roya­lis­ten, der am 18. Ven­dé­mi­aire die Frei­heit be­schimpft hat­te, in­dem er ge­gen die glor­rei­che fran­zö­si­sche Re­vo­lu­ti­on kämpf­te, die­ser Sturz wur­de mit Freu­den­tän­zen und Bei­falls­be­zeu­gun­gen von der Bör­se be­grüßt. Pil­ler­ault woll­te sich ein­ge­hend über die herr­schen­den An­sich­ten un­ter­rich­ten. In der lär­mends­ten Grup­pe sah er du Til­let, Go­ben­heim-Kel­ler, Nu­cin­gen, den al­ten Guil­lau­me und sei­nen Schwie­ger­sohn Jo­seph Le­bas, Cla­paron, Gi­gon­net, Mon­ge­nod, Ca­mu­sot, Gob­seck, Adolph Kel­ler, Pal­ma, Chif­fre­ville, Ma­ti­fat, Grin­dot und Lour­dois.

»Wie vor­sich­tig man sein muß!« sag­te Go­ben­heim zu du Til­let, »es hat nur an ei­nem Haar ge­han­gen und mei­ne Schwä­ger hät­ten Bi­rot­teau einen Kre­dit ge­währt!«

»Ich sit­ze mit zehn­tau­send Fran­ken drin, die er von mir vor vier­zehn Ta­gen ent­lie­hen hat, und die ich ihm auf sei­ne blo­ße Un­ter­schrift ge­ge­ben habe«, sag­te du Til­let. »Aber er hat mir frü­her mal einen Dienst er­wie­sen, ich wer­de um den Ver­lust nicht trau­ern.«

»Er hat es ge­macht wie alle an­dern, Ihr Herr Nef­fe,« sag­te Lour­dois zu Pil­ler­ault, »er hat Fes­te ge­ge­ben! Daß ein Schwind­ler Sand in die Au­gen zu streu­en ver­sucht, um das Ver­trau­en zu er­hö­hen, das ver­ste­he ich; aber wie kann ein Mann, der zu der Aus­le­se der recht­schaf­fe­nen Leu­te ge­zählt wur­de, zu die­sem Kö­der des al­ten Char­la­ta­nis­mus grei­fen, auf den wir im­mer noch an­bei­ßen!«

»Wie die Blut­egel«, sag­te Gob­seck.

»Man darf nur Leu­ten trau­en, die in sol­chen Lö­chern woh­nen wie Cla­paron«, sag­te Gi­gon­net.

»Na,« sag­te der di­cke Baron von Nu­cin­gen zu du Til­let, »Se ha­ben mir wol­len spie­len ’n Scha­ber­nack, daß Se mir ha­ben ge­schickt den Pi­rot­teau. Ich weiß nich,« fuhr er fort, in­dem er sich an Go­ben­heim, den Fa­bri­kan­ten, wand­te, »warum er sich nich hat ho­len las­sen von mir funf­zig­tau­send Fran­ken, ich hätt se ihm ge­ge­ben.«

»Ach nein, Herr Baron«, sag­te Jo­seph Le­bas. »Sie wuß­ten recht gut, daß die Bank sei­ne Wech­sel nicht neh­men woll­te, Sie ha­ben sie ja vom Auf­sichts­ra­te zu­rück­wei­sen las­sen. Die An­ge­le­gen­heit die­ses ar­men Man­nes, für den ich im­mer noch die größ­te Ach­tung hege, hängt mit ganz be­son­de­ren Um­stän­den zu­sam­men …«

Pil­ler­ault drück­te Jo­seph Le­bas die Hand.

»Es ist in der Tat un­mög­lich,« sag­te Mon­ge­nod, »sich zu er­klä­ren, wie das ge­kom­men ist, wenn man nicht an­nimmt, daß hin­ter Gi­gon­net Ban­kleu­te ste­cken, die das Ter­rain­ge­schäft an der Ma­de­lei­ne rui­nie­ren wol­len.«

»Es ist ihm ge­gan­gen, wie es im­mer Leu­ten ge­hen wird, die aus ih­rem ei­gent­li­chen Wir­kungs­krei­se her­austre­ten«, un­ter­brach Cla­paron Mon­ge­nod. »Hät­te er sein Hui­le Cé­pha­li­que selbst her­aus­ge­bracht, an­statt sich dar­auf zu le­gen, uns die Pa­ri­ser Ter­rains zu ver­teu­ern, dann hät­te er zwar sei­ne hun­dert­tau­send Fran­ken bei Ro­guin ein­ge­büßt, aber er wäre nicht in Kon­kurs ge­ra­ten. Er wird jetzt un­ter Po­pi­nots Na­men wei­ter ar­bei­ten.«

»Dann paßt auf Po­pi­not auf«, sag­te Gi­gon­net.

Ro­guin hieß bei die­ser Ge­sell­schaft von Kauf­leu­ten der »un­glück­li­che Ro­guin«, der Par­füm­händ­ler der »arme Bi­rot­teau«. Der eine galt als ent­schul­digt durch eine große Lei­den­schaft, der an­de­re als der Schul­di­ge­re we­gen sei­ner Prä­ten­tio­nen. Von der Bör­se ging Gi­gon­net durch die Rue Per­rin-Gas­se­lin, be­vor er in die Rue Grenélat zu­rück­kehr­te, und be­gab sich zu Frau Ma­dou, der Frucht­händ­le­rin.

»Na, mein dickes Müt­ter­chen,« sag­te er mit sei­ner schreck­li­chen Leut­se­lig­keit, »wie geht un­ser klei­nes Ge­schäft?«

»Es geht so sach­te«, er­wi­der­te Frau Ma­dou re­spekt­voll und bot dem Wu­che­rer ih­ren ein­zi­gen Ses­sel mit un­ter­tä­ni­ger Freund­lich­keit an, wie sie sie nicht ein­mal ih­rem »teu­ren Verb­li­che­nen« er­wie­sen hät­te.

Mut­ter Ma­dou, die einen wi­der­spens­ti­gen oder zu un­ver­schäm­ten Fuhr­mann zu Bo­den ge­wor­fen hät­te, die sich nicht ge­fürch­tet hät­te, am 10. Ok­to­ber den Sturm auf die Tui­le­ri­en mitz­u­ma­chen, die schließ­lich auch im­stan­de ge­we­sen wäre, im Na­men der Markt­hal­len­wei­ber vor dem Kö­ni­ge das Wort zu füh­ren, An­ge­li­ka Ma­dou emp­fing Gi­gon­net mit dem tiefs­ten Re­spekt. In sei­ner Ge­gen­wart war sie kraft­los, sie zit­ter­te un­ter sei­nem ste­chen­den Blick. Die Leu­te aus dem Vol­ke wer­den noch lan­ge vor dem Hen­ker zit­tern, und Gi­gon­net war der Hen­ker des Han­dels­stan­des. In den Ver­kaufs­hal­len wird kei­ne Macht hö­her ge­ach­tet als die des Man­nes, der den Geld­kurs macht. Alle an­dern mensch­li­chen Ein­rich­tun­gen be­deu­ten ne­ben ihm nichts. Selbst die Jus­tiz ver­wan­delt sich hier in den Po­li­zei­kom­missar, eine Per­son, mit der man sich an­freun­det. Aber der Wu­cher, der hin­ter sei­nen grü­nen Map­pen sitzt, der mit angst­vol­lem Her­zen an­ge­fleht wird, läßt den Scherz erster­ben, preßt die Keh­le zu, läßt den stol­zen Blick sich sen­ken und macht das Volk ehr­er­bie­tig.

»Wün­schen Sie et­was von mir?« sag­te sie.

»Ach nichts, eine Klei­nig­keit; hal­ten Sie sich be­reit, Bi­rot­te­aus Wech­sel ein­zu­lö­sen, der gute Mann hat Bank­rott ge­macht, al­les wird ein­klag­bar, ich wer­de Ih­nen mor­gen die Abrech­nung zu­schi­cken.«

Frau Ma­dous Au­gen zo­gen sich erst zu­sam­men wie die ei­ner Kat­ze, dann brach eine Flam­me aus ih­nen her­vor.

»Ach, die­ser Lump! Ach, die­ser Ver­bre­cher! Und da is er sel­ber zu mir ge­kom­men und hat zu mir ge­sagt, daß er Bei­ge­ord­ne­ter is, und hat mir was vor­ge­schwin­delt. So geht’s Ei­nem beim Ge­schäft! Auf die Bür­ger­meis­ter kann man sich nicht mehr ver­las­sen und die Re­gie­rung be­trügt uns auch. Aber war­te, ich wer’ mir mein Geld schon ver­schaf­fen …«

»Na ja, mein gu­tes Kind, beim Ge­schäft sieht je­der, wo er bleibt!« sag­te Gi­gon­net und hob sei­nen Fuß mit ei­ner leich­ten Be­we­gung wie eine Kat­ze, die eine schmut­zi­ge Stel­le pas­sie­ren will, und der er auch sei­nen Spitz­na­men ver­dank­te. »Es gibt klu­ge Leu­te, die es ver­ste­hen, sich bei so et­was her­aus­zu­zie­hen.«

»Schön, schön! Ich wer­de mich mit mei­nen Nüs­sen auch schon her­aus­zie­hen. Han­ne-Ma­rie! Mei­ne Über­schu­he und mei­nen Ha­sen­fel­lum­hang, aber schnell, oder dir sol­len mei­ne fünf Fin­ger auf der Ba­cke bren­nen.«

»Das wird die gan­ze Stra­ße in Aufruhr brin­gen«, sag­te Gi­gon­net zu sich und rieb sich die Hän­de. »Du Til­let wird zu­frie­den sein, wenn es Skan­dal in dem Vier­tel gibt. Ich weiß nicht, was ihm die­ser arme Teu­fel von Par­füm­händ­ler ge­tan hat, mir tut er nicht mehr leid als ein Hund, der sich das Bein ge­bro­chen hat. Das ist kein Mann, der ist nicht im­stan­de, sich durch­zu­set­zen.«

Wie ein Auf­lauf im Fau­bourg Saint-An­to­i­ne voll­zog sich das Er­schei­nen der Frau Ma­dou um sie­ben Uhr abends vor der Tür des ar­men Bi­rot­teau, die sie mit wü­ten­der Ge­walt auf­riß, denn der Weg hat­te sie noch mehr in Auf­re­gung ver­setzt.

»Ich muß mein Geld ha­ben, ihr ver­fluch­te Ban­de, ich will mein Geld ha­ben! Ihr werd’ mir mein Geld ge­ben, oder ich nehm’ mir die Riech­kis­sen, die sei­de­nen Kin­ker­litz­chen, die Fä­cher, und über­haupt Wa­ren für mei­ne zwei­tau­send Fran­ken! Hat man schon mal ge­se­hen, daß die Bei­ge­ord­ne­ten die Bür­ger­schaft be­steh­len? Wenn ihr mich nicht be­zahlt, bring’ ich ihn auf die Ga­lee­ren, ich geh’ zum Staats­an­walt, ich mach die Jus­tiz mo­bil! Ich geh’ hier nich weg ohne Geld!«

Und sie schick­te sich an, die Schei­ben ei­nes Schran­kes zu öff­nen, der kost­ba­re Ge­gen­stän­de ent­hielt.

»Die Ma­dou packt zu«, sag­te Cöles­tin lei­se zu sei­nem Nach­bar.

Aber die Händ­le­rin hat­te das Wort ge­hört, denn im Par­oxys­mus der Lei­den­schaft wer­den die Or­ga­ne schwä­cher oder schär­fer, je nach der Kon­sti­tu­ti­on des Be­tref­fen­den – und die derbs­te Ohr­fei­ge, die je in ei­nem Par­fü­me­ri­e­la­den aus­ge­teilt wur­de, brann­te auf Cöles­tins Ba­cke.

»Das wird dich leh­ren, wie man mit Frau­en um­zu­ge­hen hat, mein En­gel,« sag­te sie, »und daß man nich noch mit dem Na­men von de­nen, die man bes­tiehlt, Spott treibt.«

»Frau Ma­dou«, sag­te Frau Bi­rot­teau und kam aus dem hin­te­ren Teil des La­dens nach vorn, wo sich zu­fäl­lig auch ihr Mann, den der On­kel Pil­ler­ault ab­ho­len woll­te, be­fand, und der, um dem Ge­setz zu ge­nü­gen, sei­ne Selbs­t­ent­äu­ße­rung so­weit trieb, daß er sich ver­haf­ten las­sen woll­te; »um Him­mels wil­len, Frau Ma­dou, ru­fen Sie doch kei­nen Auf­lauf der Passan­ten her­vor.«

»Mö­gen sie doch rein­kom­men!« sag­te das Weib, »ich wer’ ih­nen die Sa­che schon er­zäh­len, eine Ge­schich­te zum La­chen! Oh ja! Mei­ne Ware und mei­ne im Schweiß mei­nes An­ge­sichts zu­sam­men­ge­kratz­ten Ta­ler sind dazu da, da­mit ihr Bäl­le gebt. Und Sie, Sie gehn hier rum, an­ge­zo­gen wie die Kö­ni­gin von Frank­reich, und die Wol­le dazu, die neh­men Sie von ar­men Läm­mern, wie ich eins bin! Je­sus! Ge­stoh­le­nes Gut, das wür­de mir ja die Schul­tern ver­bren­nen! Ich hab nur ein Ha­sen­fell auf mei­nem Leich­nam, aber das ge­hört mir! Gebt mir mein Geld, ihr Bri­gan­ten, oder …«

Und sie stürz­te sich auf ein schö­nes Käst­chen mit ein­ge­leg­ter Ar­beit, das kost­ba­re Toi­let­ten­ge­gen­stän­de ent­hielt.

»Las­sen Sie das lie­gen, Frau Ma­dou«, sag­te Cäsar, der her­an­ge­tre­ten war. »Al­les hier ge­hört nicht mir, son­dern mei­nen Gläu­bi­gern. Mir ge­hört nur noch mei­ne Per­son; wol­len Sie die ha­ben und mich ins Ge­fäng­nis brin­gen, so gebe ich Ih­nen mein Ehren­wort« (da­bei tra­ten ihm die Trä­nen in die Au­gen), »daß ich Ihren Ge­richts­voll­zie­her hier er­war­ten wer­de, eben­so den Be­am­ten des Han­dels­ge­richts und sei­ne Leu­te …«

Der Ton und die Ges­te stan­den in sol­chem Ein­klang mit die­sen Wor­ten, daß Frau Ma­dous Zorn ver­rauch­te.

»Mein Ver­mö­gen ist mir von ei­nem No­tar un­ter­schla­gen wor­den, ich bin un­schul­dig an dem Un­glück, das ich ver­ur­sa­che«, fuhr Cäsar fort; »aber mit der Zeit wer­den Sie Ihr Geld zu­rück­be­kom­men, und soll­te ich mich tot ar­bei­ten und Ta­ge­löh­ner oder Last­trä­ger in der Markt­hal­le wer­den.«

»Na, na, Sie sind ein bra­ver Mann«, sag­te die Ma­dou. »Neh­men Sie mir nich übel, Ma­dam, was ich ge­sagt hab; aber ich muß ja ins Was­ser gehn, Gi­gon­net läßt mich nich lo­cker, und ich kann für Ihre ver­damm­ten Wech­sel nur and­re ge­ben, die erst in zehn Mo­na­ten fäl­lig sind.«

»Kom­men Sie mor­gen früh zu mir,« sag­te Pil­ler­ault, der sich jetzt zeig­te, »ich wer­de Ihre Sa­che von ei­nem mei­ner Freun­de mit fünf Pro­zent ord­nen las­sen.«

»Ei, das is ja der bra­ve Va­ter Pil­ler­ault! Ach ja, das is ja Ihr On­kel«, sag­te sie zu Kon­stan­ze.

»Ach, ihr seid wirk­lich an­stän­di­ge Leu­te, da wer ich nischt ver­lie­ren, nich wahr? Also auf mor­gen, mein Al­ter!« sag­te sie zu dem frü­he­ren Ei­sen­händ­ler.

Cäsar woll­te durch­aus in den Räu­men sei­ner zer­trüm­mer­ten Exis­tenz aus­har­ren und er­klär­te, er wol­le sich hier mit al­len sei­nen Gläu­bi­gern aus­ein­an­der­set­zen. Trotz der Bit­ten sei­ner Nich­te stimm­te der On­kel Pil­ler­ault bei und ließ ihn hin­auf­ge­hen. Dann eil­te der schlaue Alte zu Herrn Hau­dry, stell­te ihm Bi­rot­te­aus Lage vor und er­hielt von ihm das Re­zept für einen Schlaf­trunk; die­sen ließ er her­stel­len und kehr­te dann zu­rück, um den Abend bei sei­nem Nef­fen zu ver­brin­gen. Im Ein­ver­ständ­nis mit Cäsa­ri­ne nö­tig­te er Cäsar, mit ih­nen zu trin­ken. Das Nar­ko­ti­kum schlä­fer­te die­sen so ein, daß er vier­zehn Stun­den spä­ter im Zim­mer des On­kels Pil­ler­ault in der Rue des Bour­don­nais er­wach­te, von dem Al­ten ein­ge­schlos­sen, der sel­ber auf ei­nem im Sa­lon auf­ge­stell­ten ei­ser­nen Bett ge­schla­fen hat­te. Als Kon­stan­ze den Wa­gen, in dem Pil­ler­ault Cäsar weg­brach­te, fort­fah­ren hör­te, ließ sie ihre Tap­fer­keit im Sti­che. Gar oft wer­den uns­re Kräf­te von der Not­wen­dig­keit auf­ge­sta­chelt, ein schwä­che­res We­sen als wir auf­recht er­hal­ten zu müs­sen. Jetzt wein­te die arme Frau, die sich al­lein mit ih­rer Toch­ter zu­rück­ge­blie­ben sah, als ob Cäsar ge­stor­ben wäre.

»Mama,« sag­te Cäsa­ri­ne, die sich auf die Knie der Mut­ter setz­te und sie, wie es die Frau­en nur un­ter sich zu ma­chen ver­ste­hen, wie ein Schmei­chel­kätz­chen lieb­kos­te, »du hast mir doch ge­sagt, daß, wenn ich einen tap­fe­ren Ent­schluß fas­sen woll­te, auch du die Kraft fin­den wür­dest, dem Un­glück zu wi­der­ste­hen. Also wei­ne nicht mehr, liebs­te Mut­ter. Ich bin be­reit, eine An­stel­lung in ei­nem Ge­schäft an­zu­neh­men, und ich wer­de nicht mehr dar­an den­ken, was wir ge­we­sen sind. Ich will das wer­den, was du in dei­ner Ju­gend warst, eine ers­te Ver­käu­fe­rin, und du sollst von mir kein Wort der Kla­ge oder des Be­dau­erns zu hö­ren be­kom­men. Und dann habe ich ja noch eine Hoff­nung. Hast du nicht ge­hört, was Herr Po­pi­not ge­sagt hat?«

»Der lie­be Jun­ge; er wird nicht mein Schwie­ger­sohn sein …«

»Aber, Mama! …«

»Son­dern in Wahr­heit mein Sohn.«

»Das Un­glück«, sag­te Cäsa­ri­ne und um­arm­te die Mut­ter, »hat we­nigs­tens das Gute, daß es uns un­se­re wah­ren Freun­de ken­nen lehrt.«

Es ge­lang Cäsa­ri­ne schließ­lich, den Kum­mer der ar­men Frau zu be­sänf­ti­gen, in­dem sie sie, wie eine Mut­ter ihr Kind, be­ru­hig­te. Am nächs­ten Mor­gen be­gab sich Kon­stan­ze zu dem Her­zog von Le­non­court, ei­nem der ers­ten Kam­mer­her­ren des Kö­nigs, und hin­ter­ließ einen Brief für ihn, in dem sie bat, ihr eine Au­di­enz zu ei­ner be­stimm­ten Stun­de an die­sem Tage zu ge­wäh­ren. In­zwi­schen ging sie zu Herrn von La Bil­lar­diè­re, er­klär­te ihm, in wel­che Lage die Flucht des No­tars Cäsar ver­setzt hat­te, und bat ihn, sie bei dem Her­zog zu un­ter­stüt­zen und ihr Für­spre­cher zu sein, da sie fürch­te­te, sich nicht an­ge­mes­sen aus­drücken zu kön­nen. Sie woll­te eine An­stel­lung für Bi­rot­teau er­bit­ten. Bi­rot­teau wür­de si­cher der ehr­lichs­te al­ler Kas­sie­rer sein, wenn es be­züg­lich der Ehr­lich­keit über­haupt Un­ter­schie­de gäbe.

»Der Kö­nig hat so­eben den Gra­fen von Fon­taine zum Ge­ne­ral­di­rek­tor im Haus­mi­nis­te­ri­um er­nannt, wir dür­fen kei­ne Zeit ver­lie­ren.«

Um zwei Uhr stie­gen La Bil­lar­diè­re und Frau Kon­stan­ze die große Trep­pe des Palais Le­non­court in der Rue Saint-Do­mi­ni­que hin­auf und wur­den zu dem be­vor­zug­tes­ten Edel­mann des Kö­nigs ge­führt, so­fern der Kö­nig Lud­wig XVIII. über­haupt je­man­den be­vor­zug­te. Die freund­li­che Auf­nah­me durch die­sen Grands­eigneur, der zu der klei­nen An­zahl wah­rer Edel­leu­te ge­hör­te, die das vo­ri­ge Jahr­hun­dert dem uns­ri­gen hin­ter­las­sen hat, er­füll­te Frau Bi­rot­teau mit Hoff­nung. Die Frau des Par­füm­händ­lers zeig­te sich groß und na­tür­lich in ih­rem Kum­mer. Der Schmerz adelt auch die ein­fachs­ten Men­schen, denn er trägt sei­ne Grö­ße in sich, und um von sei­nem Glanz über­strahlt zu wer­den, braucht man bloß wahr zu sein. Und Kon­stan­ze war eine durch und durch wahr­haf­ti­ge Per­sön­lich­keit. Es han­del­te sich jetzt dar­um, schnell mit dem Kö­ni­ge zu re­den.

Mit­ten in die­ser Be­spre­chung wur­de Herr von Van­den­es­se ge­mel­det und der Her­zog rief aus: »Da kommt Ihr Ret­ter!«

Frau Bi­rot­teau war die­sem jun­gen Man­ne nicht un­be­kannt, da er schon ein- oder zwei­mal bei ihr ge­we­sen war, um ei­ni­ge Klei­nig­kei­ten zu kau­fen, die oft bei großen Din­gen eine so wich­ti­ge Rol­le spie­len. Der Her­zog setz­te ihm nun aus­ein­an­der, was La Bil­lar­diè­re vor­hat­te. Van­den­es­se ging so­fort mit La Bil­lar­diè­re zu den Gra­fen von Fon­taine und bat Frau Bi­rot­teau, auf ihn zu war­ten. Der Graf von Fon­taine war, eben­so wie La Bil­lar­diè­re, ei­ner je­ner tap­fe­ren Edel­leu­te der Pro­vinz, je­ner fast un­be­kann­ten Hel­den, die den Auf­stand der Ven­dée ge­macht hat­ten. Bi­rot­teau war ihm nicht fremd, er hat­te ihn einst­mals in der Ro­sen­kö­ni­gin ge­se­hen. Die Män­ner, die für die Sa­che des Kö­nigs ihr Blut ver­gos­sen hat­ten, ge­nos­sen zu die­ser Zeit Pri­vi­le­gi­en, die der Kö­nig ge­heim hielt, um die Li­be­ra­len nicht vor den Kopf zu sto­ßen.

Herr von Fon­taine, ei­ner der Günst­lin­ge Lud­wigs XVIII., galt als sein in­ti­mer Ver­trau­ter. Der Graf ver­sprach nicht nur die An­stel­lung ganz fest, son­dern er such­te auch noch den Her­zog von Le­non­court auf und bat ihn, ihm noch am Abend einen Au­gen­blick Ge­hör beim Kö­ni­ge zu ver­schaf­fen und für La Bil­lar­diè­re eine Au­di­enz bei Mon­sieur zu er­bit­ten, der die­sen al­ten Di­plo­ma­ten aus der Ven­dée be­son­ders gern hat­te.

Noch an dem­sel­ben Abend be­gab sich der Graf von Fon­taine zu Frau Bi­rot­teau und teil­te ihr mit, daß ihr Mann nach dem Ver­gleich mit den Gläu­bi­gern of­fi­zi­ell zu ei­nem Be­am­ten bei der Schul­den­til­gungs­kas­se mit zwei­tau­send­fünf­hun­dert Fran­ken Ge­halt er­nannt wer­den wür­de, da alle Dienst­stel­len beim Haus­halt des Kö­nigs da­mals mit ad­li­gen An­wär­tern be­setzt wa­ren, mit de­nen man ent­spre­chen­de Ab­re­den ge­trof­fen hat­te.

Die­ser Er­folg er­gab sich aus nur ei­nem Teil von Frau Bi­rot­te­aus Be­mü­hun­gen. Die arme Frau ging auch in die Rue Saint-De­nis, in die »ball­spie­len­de Kat­ze«, zu Jo­seph Le­bas. Auf die­sem Wege kam ihr in ei­ner präch­ti­gen Equi­pa­ge Frau Ro­guin ent­ge­gen, die of­fen­bar Ein­käu­fe mach­te. Ihre Au­gen be­geg­ne­ten de­nen der schö­nen No­tars­frau. Das Scham­ge­fühl, das die rei­che Frau an­ge­sichts der rui­nier­ten nicht ver­ber­gen konn­te, mach­te Kon­stan­ze Mut.

»Nie­mals wür­de ich für an­de­rer Geld in ei­ner Equi­pa­ge fah­ren«, sag­te sie zu sich.

Freund­lich von Jo­seph Le­bas auf­ge­nom­men, bat sie ihn, ih­rer Toch­ter eine Stel­lung in ei­nem an­ge­se­he­nen Ge­schäfts­hau­se zu ver­schaf­fen. Le­bas ver­sprach nichts di­rekt; aber acht Tage spä­ter hat­te Cäsa­ri­ne Tisch, Woh­nung und tau­send Ta­ler Ge­halt bei dem reichs­ten Mo­de­wa­ren­hau­se von Pa­ris, das da­mals eine Fi­lia­le im Quar­tier des Ita­li­ens er­rich­te­te. Die Kas­se und die Auf­sicht über das La­ger wur­den der Toch­ter des Par­füm­händ­lers an­ver­traut, die, über der ers­ten Ver­käu­fe­rin ste­hend, die Chefs des Hau­ses zu ver­tre­ten hat­te.

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke

Подняться наверх