Читать книгу Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Оноре де'Бальзак, Honoré de Balzac, Balzac - Страница 33

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Nach­dem an­dert­halb Stun­den mit die­sem sinn­lo­sen Ge­wäsch hin­ge­bracht wa­ren, woll­te Bi­rot­teau auf­bre­chen, wäh­rend der ehe­ma­li­ge Ge­schäfts­rei­sen­de sich an­schick­te, ihm das Aben­teu­er ei­nes Volks­ver­tre­ters in Mar­seil­le zu er­zäh­len, der in eine Schau­spie­le­rin ver­liebt war, die die Rol­le der »Schö­nen Ar­se­nie« gab und von dem roya­lis­tisch ge­sinn­ten Par­terre aus­ge­pfif­fen wur­de.

»Er steht auf,« sag­te Cla­paron, »und stellt sich in sei­ner Loge vorn hin: Man ver­haf­te den, der ge­pfif­fen hat! … Ist es eine Frau ge­we­sen, so neh­me ich sie auf mich, ist es ein Mann ge­we­sen, so wird sich das wei­te­re fin­den; ist es we­der das eine noch das an­de­re ge­we­sen, so soll es das Don­ner­wet­ter ho­len! … Wis­sen Sie, wie die Sa­che aus­ge­gan­gen ist?«

»Adieu, Herr Cla­paron«, sag­te Bi­rot­teau.

»Sie müs­sen noch mal zu mir kom­men,« sag­te Cla­paron dar­auf, »das ers­te Wech­sel­chen von Cay­ron ist mit Pro­test zu­rück­ge­kom­men, und da ich ihn in­dos­siert habe, muß­te ich ihn ein­lö­sen. Ich wer­de des­halb zu Ih­nen schi­cken, erst kom­men die Ge­schäf­te.«

Die­se küh­le und heuch­le­ri­sche Lie­bens­wür­dig­keit griff Bi­rot­teau eben­so ans Herz wie die Här­te Kel­lers und der deut­sche Spott Nu­cin­gens. Die Ver­trau­lich­keit die­ses Men­schen und sei­ne vom Cham­pa­gner her­aus­ge­lock­ten gro­tes­ken Kon­fi­den­zen hat­ten den eh­ren­haf­ten Par­füm­händ­ler so nie­der­ge­drückt, daß er aus dem Zim­mer ei­nes ver­däch­ti­gen Wu­che­rers her­aus­zu­kom­men glaub­te. Er ging die Trep­pe hin­un­ter und be­fand sich auf der Stra­ße, ohne zu wis­sen, wo­hin er sich wen­den soll­te. Er ging die Bou­le­vards ent­lang, er­reich­te die Rue Saint-De­nis, er­in­ner­te sich Mo­li­neux’ und be­gab sich in den Hol­län­di­schen Hof. Hier stieg er die schmut­zi­ge Wen­del­trep­pe hin­auf, die er noch kürz­lich so sie­ges­ge­wiß und stolz hin­auf­ge­gan­gen war. Er dach­te an den hart­nä­cki­gen Geiz Mo­li­neux’ und emp­fand es pein­lich, ihn um et­was bit­ten zu müs­sen. Wie bei sei­nem ers­ten Be­su­che fand er den Haus­be­sit­zer am Ka­min­win­kel sit­zend vor, aber dies­mal nach dem Früh­stück; Bi­rot­teau brach­te sein An­lie­gen vor.

»Ei­nen Wech­sel über zwölf­hun­dert Fran­ken soll ich pro­lon­gie­ren?« sag­te Mo­li­neux und mach­te ein spöt­ti­sches, un­gläu­bi­ges Ge­sicht. »Das ist doch nicht Ihr Ernst, Herr Bi­rot­teau. Wenn Sie die­sen Wech­sel über zwölf­hun­dert Fran­ken am fünf­zehn­ten nicht ein­lö­sen kön­nen, dann wer­den Sie mir wohl auch mei­ne Mie­te nicht zah­len? Ah, das wür­de mir leid tun, denn in Geld­sa­chen ver­ste­he ich kei­nen Spaß, mein Ein­kom­men be­steht ja aus dem Miet­zins. Wie soll­te ich sonst mei­nen Ver­pflich­tun­gen nach­kom­men? Sie, als Kauf­mann, kön­nen solch ei­nem ver­nünf­ti­gen Grund­satz doch nur zu­stim­men. Geld nimmt kei­ne Rück­sicht auf Per­so­nen; Geld hat kei­ne Ohren, Geld hat kein Herz. Der Win­ter ist hart und das Holz ist schon wie­der teu­rer ge­wor­den. Wenn Sie am fünf­zehn­ten nicht zah­len, be­kom­men Sie am sech­zehn­ten um zwölf Uhr eine klei­ne Vor­la­dung. Oh, Ihr Ge­richts­voll­zie­her, der gute Mitral, ist auch der mei­ni­ge, er wird Ih­nen die Vor­la­dung im Ku­vert zu­stel­len mit al­ler Rück­sicht, die er Ih­rer ho­hen Stel­lung schul­dig ist.«

»Herr Mo­li­neux, ich habe noch nie­mals eine Vor­la­dung in ei­ge­ner An­ge­le­gen­heit er­hal­ten«, sag­te Bi­rot­teau.

»Jede Sa­che hat ein­mal ih­ren An­fang«, sag­te Mo­li­neux.

Be­stürzt über die­se Ro­heit des klei­nen Al­ten war der Par­füm­händ­ler völ­lig nie­der­ge­schla­gen und in sei­nen Ohren er­klang die To­ten­glo­cke des Bank­rotts. Und je­der Schlag er­in­ner­te ihn an die Auss­prü­che, die sein er­bar­mungs­lo­ses Rechts­ge­fühl ihn über die Bank­rot­ter hat­te tun las­sen. Mit feu­ri­gen Zü­gen preß­ten sich die­se Grund­sät­ze in die wei­che Mas­se sei­nes Ge­hirns ein.

»Ne­ben­bei be­merkt,« sag­te Mo­li­neux, »Sie ha­ben ver­ges­sen, auf die Wech­sel zu set­zen: ›Va­lu­ta in Mie­te er­hal­ten‹, wo­durch mein Vor­recht ge­si­chert wäre.«

»Mei­ne Stel­lung ver­bie­tet mir, ir­gend et­was zu tun, was mei­ne Gläu­bi­ger schä­di­gen könn­te«, sag­te der Par­füm­händ­ler, den der Blick in den Ab­grund, der sich vor ihm auf­tat, ganz stumpf ge­macht hat­te.

»Schön, Herr Bi­rot­teau, sehr schön; ich dach­te, ich wüß­te in Miet­sa­chen mit al­lem, was die Her­ren Mie­ter be­trifft, Be­scheid. Aber jetzt habe ich von Ih­nen ge­lernt, daß man nie­mals Wech­sel in Zah­lung neh­men soll. Aber ich wer­de kla­gen, denn Ihre Ant­wort be­weist zur Ge­nü­ge, daß Ihre Un­ter­schrift für Sie kei­ne Be­deu­tung mehr hat. Die­ser Fall ist von In­ter­es­se für alle Haus­be­sit­zer in Pa­ris.«

Als er weg­ging, war Bi­rot­teau des Le­bens über­drüs­sig. Es liegt in der Na­tur sol­cher zar­ten, wei­chen See­len, daß sie sich von der ers­ten Ab­wei­sung ab­schre­cken las­sen, eben­so wie der ers­te Er­folg ih­nen Mut macht. Cäsar setz­te sei­ne Hoff­nung nur noch auf den klei­nen Po­pi­not, an den er na­tür­lich den­ken muß­te, als er sich an dem Mar­ché des In­no­cents be­fand.

»Der arme Jun­ge! Wer hät­te mir das ge­sagt, als ich ihm vor sechs Wo­chen in den Tui­le­ri­en den neu­en Weg er­öff­ne­te!«

Es war un­ge­fähr vier Uhr, die Zeit, wo die Rich­ter den Jus­tiz­pa­last ver­las­sen. Zu­fäl­lig war der Un­ter­su­chungs­rich­ter zu sei­nem Nef­fen ge­gan­gen. Die­ser Rich­ter, ei­ner der scharf­sin­nigs­ten Psy­cho­lo­gen, be­saß eine Art zwei­ten Ge­sichts, das ihm ge­stat­te­te, die ver­bor­gens­ten Ab­sich­ten wahr­zu­neh­men, den Grund der ver­schie­dens­ten mensch­li­chen Hand­lun­gen, den Keim ei­nes Ver­bre­chens, die Wur­zel ei­nes De­likts zu er­ken­nen; er be­trach­te­te Bi­rot­teau, ohne daß die­ser es merk­te. Der Par­füm­händ­ler, dem es un­an­ge­nehm war, den On­kel bei dem Nef­fen vor­zu­fin­den, er­schi­en ihm ängst­lich, be­sorgt, nach­denk­lich. Der klei­ne Po­pi­not, im­mer stark be­schäf­tigt, die Fe­der hin­ter dem Ohr, war, wie stets, ganz Hin­ge­bung ge­gen den Va­ter sei­ner Cäsa­ri­ne. Hin­ter den all­täg­li­chen Re­dens­ar­ten, die Cäsar sei­nem So­zi­us ge­gen­über mach­te, schi­en sich dem Rich­ter ein wich­ti­ges An­lie­gen zu ver­ste­cken. An­statt weg­zu­ge­hen, blieb der schlaue Be­am­te bei sei­nem Nef­fen, trotz des­sen Wunsch, ihn los­zu­wer­den, zu­rück, denn er hat­te sich ge­dacht, daß der Par­füm­händ­ler ver­su­chen wür­de, sich sei­ner zu ent­le­di­gen, in­dem er sel­ber auf­brach. Als Bi­rot­teau fort war, ging auch der Rich­ter, aber er sah, wie Bi­rot­teau in dem Teil der Rue des Cinq-Dia­mants, der zu der Rue Au­bry-le-Bou­cher führt, auf und ab ging. Die­ser un­er­heb­li­che Um­stand er­reg­te bei dem al­ten Po­pi­not Ver­dacht über Cäsars Ab­sich­ten; er ver­ließ da­her die Rue des Lom­bards, und als er sah, wie der Par­füm­händ­ler wie­der zu An­selm hin­ein­ging, kehr­te auch er schnell dort­hin zu­rück.

»Mein lie­ber Po­pi­not,« hat­te Cäsar zu sei­nem So­zi­us ge­sagt, »ich kom­me, dich um einen Dienst zu bit­ten.«

»Was darf ich für Sie tun?« sag­te Po­pi­not mit hin­ge­ben­dem Ei­fer.

»Ach, du gibst mir das Le­ben wie­der«, rief der arme Mann aus, be­glückt durch die­se Her­zens­wär­me, die ihm mit­ten in der ei­si­gen At­mo­sphä­re, in der er sich seit drei Wo­chen be­weg­te, ent­ge­gen­strahl­te.

»Du sollst mir fünf­zig­tau­send Fran­ken auf mei­nen Ge­winnan­teil vor­schie­ßen, über die Zah­lung wer­den wir uns ver­stän­di­gen.«

Po­pi­not sah Cäsar starr an, die­ser schlug die Au­gen nie­der. In die­sem Au­gen­blick er­schi­en der Rich­ter wie­der.

»Mein Kind … Ah, Ver­zei­hung, Herr Bi­rot­teau! Mein Kind, ich habe ver­ges­sen, dir et­was zu sa­gen …« Und mit dem be­feh­len­den Wink des Be­am­ten zog der Rich­ter sei­nen Nef­fen mit auf die Stra­ße hin­aus und nö­tig­te ihn, der nur im Rock und ohne Hut war, ihn an­zu­hö­ren, wäh­rend sie nach der Rue des Lom­bards hin gin­gen. »Mein lie­ber Nef­fe, dein frü­he­rer Prin­zi­pal kann mit sei­nen Ge­schäfts­an­ge­le­gen­hei­ten sich viel­leicht bald in ei­ner der­ar­tig schlim­men Lage be­fin­den, daß er ge­nö­tigt sein wür­de, Kon­kurs an­zu­mel­den. Be­vor sie sich aber dazu ent­schlie­ßen, ma­chen es selbst Leu­te, die vier­zig Jah­re eh­ren­haf­ten Le­bens hin­ter sich ha­ben, die Mus­ter von Ehr­lich­keit sind, um der Er­hal­tung ih­rer Ehre wil­len wie die wil­des­ten Spie­ler; sie sind zu al­lem fä­hig; sie ver­kau­fen ihre Frau, sie ver­han­deln ihre Töch­ter, sie be­trü­gen ihre Freun­de, sie ver­set­zen frem­des Ei­gen­tum; sie ge­hen spie­len, sie wer­den zu Ko­mö­di­an­ten und Lüg­nern; sie ver­ste­hen, ei­nem et­was vor­zu­wei­nen. Ich habe da die un­glaub­lichs­ten Sa­chen er­lebt. Du bist selbst Zeu­ge ge­we­sen, wie harm­los sich Ro­guin zu ge­ben ver­stand, dem man das Abend­mahl ohne Beich­te ge­reicht hät­te. Ich will sol­che schar­fen Schlüs­se nicht be­züg­lich Bi­rot­te­aus zie­hen, ich hal­te ihn für einen Ehren­mann; soll­te er aber et­was von dir ver­lan­gen, was den Vor­schrif­ten des Han­dels­ge­setz­buchs wi­der­spricht, etwa Ge­fäl­lig­keits­ak­zep­te aus­zu­stel­len oder dich auf eine Wech­sel­schie­be­rei ein­zu­las­sen, die mei­nes Erach­tens der An­fang ei­ner Be­trü­ge­rei ist, denn das ist Falsch­mün­ze­rei in Pa­pier­geld, so ver­sprich mir, nichts zu un­ter­schrei­ben, ohne mich vor­her um Rat ge­fragt zu ha­ben. Über­le­ge dir, daß, auch wenn du sei­ne Toch­ter liebst, es nicht nö­tig ist, ge­ra­de im In­ter­es­se dei­ner Lie­be, dei­ne Zu­kunft zu ver­nich­ten. Wenn Herr Bi­rot­teau fal­len muß, warum sollt ihr bei­de fal­len? Wür­de das nicht be­deu­ten, daß ei­ner dem an­dern alle Aus­sich­ten ver­nich­tet, die dein Ge­schäft hat, das ein­mal dei­ne letz­te Zuf­lucht sein wird?«

»Ich dan­ke dir, lie­ber On­kel; ich wer­de mir das ge­sagt sein las­sen«, sag­te Po­pi­not, dem der herz­zer­rei­ßen­de Auf­schrei sei­nes Prin­zi­pals jetzt er­klär­lich er­schi­en.

Der Händ­ler mit sei­nen und an­dern Ölen kehr­te mit um­wölk­ter Stirn in sei­nen dunklen La­den zu­rück. Bi­rot­teau be­merk­te die Ver­än­de­rung.

»Er­wei­sen Sie mir die Ehre, mit mir in mein Zim­mer hin­auf­zu­kom­men, wir kön­nen dort bes­ser re­den als hier. Wenn die Kom­mis auch sehr be­schäf­tigt sind, so könn­ten sie uns doch hö­ren.«

Bi­rot­teau folg­te Po­pi­not, von ei­ner Angst ge­fol­tert, wie sie der Ver­ur­teil­te in der Er­war­tung der Kas­sa­ti­on des Ur­teils oder der Zu­rück­wei­sung sei­ner Be­ru­fung emp­fin­det.

»Mein teu­rer Wohl­tä­ter,« sag­te Po­pi­not, »Sie dür­fen nicht an mei­ner Er­ge­ben­heit für Sie zwei­feln, die ist blind. Ge­stat­ten Sie mir nur die Fra­ge, ob die­se Sum­me Sie auch wirk­lich ret­ten, oder ob sie nur die Ka­ta­stro­phe auf­schie­ben kann; wenn das zwei­te der Fall ist, wes­halb wol­len Sie mich mit hin­ein­zie­hen? Ich soll Drei­mo­nats-Wech­sel aus­stel­len. Ja, aber sie in drei Mo­na­ten ein­zu­lö­sen, bin ich si­cher­lich nicht im­stan­de.«

Bi­rot­teau wur­de blaß, er­hob sich fei­er­lich und blick­te Po­pi­not ins Ge­sicht.

Po­pi­not rief ent­setzt aus: »Wenn Sie es wol­len, will ich es tun.«

»Un­dank­ba­rer!« sag­te der Par­füm­händ­ler, in­dem er die­ses Wort mit dem Rest sei­ner Kraft An­selm ins Ge­sicht schleu­der­te, als ob er ihn mit dem Stem­pel der Schan­de zeich­nen woll­te.

Er ging zur Tür und ent­fern­te sich. Po­pi­not, als er von der Auf­re­gung, in die ihn die­ses fürch­ter­li­che Wort ver­setzt hat­te, wie­der zu sich ge­kom­men war, stürz­te die Trep­pe hin­ab, rann­te auf die Stra­ße, aber der Par­füm­händ­ler war nir­gends mehr zu se­hen. Cäsa­ri­nes Ge­lieb­ter hör­te im­mer noch den furcht­ba­ren Ur­teilss­pruch und sah be­stän­dig das ent­stell­te Ge­sicht des ar­men Cäsar vor sich, und so ging er her­um wie Ham­let, mit ei­nem ent­setz­li­chen Ge­s­penst an sei­ner Sei­te.

Bi­rot­teau tau­mel­te durch die Stra­ßen die­ses Vier­tels wie ein Be­trun­ke­ner. Schließ­lich be­fand er sich am Kai, ging an die­sem ent­lang und kam so nach Sèvres, wo er die Nacht in ei­ner Her­ber­ge ver­brach­te, un­emp­find­lich ge­gen den Schmerz ge­wor­den; sei­ne Frau wag­te, trotz ih­rer Angst, nicht, ihn su­chen zu las­sen. Bei sol­chem An­laß kann ein un­vor­sich­ti­ger Alarm ver­häng­nis­voll wer­den. Die klu­ge Kon­stan­ze op­fer­te ihre Un­ru­he dem Rufe der Fir­ma; sie war­te­te die gan­ze Nacht auf ihn un­ter Wei­nen und Be­ten. War Cäsar tot? Oder war er, auf der Spur ei­ner letz­ten Aus­sicht, von Pa­ris weg­ge­fah­ren? Am an­dern Mor­gen tat sie, als sei­en ihr die Grün­de für sei­ne Ab­we­sen­heit be­kannt; sie ließ aber ih­ren On­kel ho­len und bat ihn, nach der Morgue zu ge­hen, als sie sah, daß Bi­rot­teau um fünf Uhr noch nicht zu­rück­ge­kehrt war. Wäh­rend der gan­zen Zeit saß die tap­fe­re Frau in ih­rem Kon­tor, ihre Toch­ter mit ei­ner Sti­cke­rei ne­ben sich. Bei­de spra­chen mit ge­faß­tem Ge­sicht, we­der trau­rig noch fröh­lich, mit der Kund­schaft. Als Pil­ler­ault zu­rück­kehr­te, brach­te er Cäsar mit sich. Er hat­te ihn, als er von der Bör­se zu­rück­kam, im Palais Roy­al ge­trof­fen, wie er noch zö­ger­te, in den Spiel­saal zu ge­hen. Die­ser Tag war der vier­zehn­te. Bei Tisch konn­te Cäsar nichts es­sen. Sein ge­walt­sam zu­sam­men­ge­preß­ter Ma­gen ver­wei­ger­te die Auf­nah­me von Spei­se. Der Abend war wie­der­um furcht­bar. Der Kauf­mann mach­te zum hun­derts­ten Male den fürch­ter­li­chen Zu­stand zwi­schen Hoff­nung und Verzweif­lung durch, der die See­le die gan­ze Ska­la freu­di­ger Emp­fin­dun­gen hin­auf­führt, um sie dann bis zu dem Ge­fühl des grim­migs­ten Schmer­zes hin­ab­zu­drücken, und der da­mit sol­che schwa­che Na­tu­ren zer­stört. Da er­schi­en Der­ville, Bi­rot­te­aus An­walt, und stürz­te in den präch­ti­gen Sa­lon, in dem Kon­stan­ze ih­ren ar­men Mann mit al­ler Ge­walt fest­hielt, der sich im fünf­ten Stock schla­fen le­gen woll­te; »da­mit ich nicht die Zeug­nis­se mei­ner Tor­heit zu se­hen brau­che«, sag­te er.

»Ihr Pro­zeß ist ge­won­nen«, rief Der­ville.

Bei die­sen Wor­ten be­leb­te sich Cäsars star­res Ge­sicht, aber sei­ne Freu­de er­schreck­te den On­kel Pil­ler­ault und Der­ville. Die Frau­en ent­fern­ten sich be­trübt, um sich in Cäsa­ri­nes Zim­mer aus­zu­wei­nen.

»Dann kann ich also Geld auf­neh­men«, rief der Par­füm­händ­ler.

»Das wäre un­vor­sich­tig,« sag­te Der­ville; »die Geg­ner ap­pel­lie­ren, der Ge­richts­hof kann den Spruch um­sto­ßen; aber in ei­nem Mo­nat wer­den wir das Ur­teil ha­ben.«

»In ei­nem Mo­nat!«

Cäsar ver­fiel in einen Er­schöp­fungs­zu­stand, aus dem ihn nie­mand auf­zu­rüt­teln ver­such­te. Die­se Art er­neu­ter Starr­sucht, bei der der Kör­per leb­te und litt, wäh­rend die Geis­te­stä­tig­keit aus­setz­te, die­se vom Ge­schick ver­gönn­te Gna­den­frist, wur­de von Kon­stan­ze, Cäsa­ri­ne, Pil­ler­ault und Der­ville als eine himm­li­sche Wohl­tat an­ge­se­hen, und ihre An­sicht war rich­tig. Bi­rot­teau konn­te so die Er­re­gung der Nacht, die ihn sonst auf­ge­rie­ben hät­te, aus­hal­ten. Er lag auf ei­nem Lehn­ses­sel in dem einen Ka­min­win­kel; in dem an­dern saß sei­ne Frau, die ihn auf­merk­sam be­ob­ach­te­te, mit ei­nem zärt­li­chen Lä­cheln auf den Lip­pen, je­nem Lä­cheln, wel­ches be­weist, daß die Frau­en der Na­tur der En­gel nä­her ver­wandt sind als die Män­ner, und in das sie eine Mi­schung von un­end­li­cher Zärt­lich­keit und tiefs­tem Mit­ge­fühl zu le­gen wis­sen, ein Ge­heim­nis, das nur die En­gel be­sit­zen, die ei­nem zu­wei­len in den Träu­men er­schei­nen, mit de­nen die Vor­se­hung in lan­gen Zwi­schen­räu­men die Mensch­heit be­glückt. Cäsa­ri­ne saß auf ei­nem klei­nen Ta­bu­rett zu Fü­ßen ih­rer Mut­ter, be­rühr­te von Zeit zu Zeit mit ih­rem Haar die Hän­de ih­res Va­ters und ver­such­te, in die­se Zärt­lich­keit alle Emp­fin­dun­gen hin­ein­zu­le­gen, die bei sol­chen Zu­stän­den Wor­te auf­dring­lich er­schei­nen las­sen.

Auf­recht in sei­nem Ses­sel, wie der Kanz­ler de L’Ho­spi­tal in dem sei­ni­gen in der Vor­hal­le der De­pu­tier­ten­kam­mer, trug das Ge­sicht Pil­ler­aults, die­ses auf al­les ge­faß­ten Phi­lo­so­phen, den er­ken­ne­ri­schen Aus­druck des Ant­lit­zes der ägyp­ti­schen Sphinx, wäh­rend er sich lei­se mit Der­ville un­ter­hielt. Kon­stan­ze hat­te sich ent­schlos­sen, den Ad­vo­ka­ten um sei­nen Rat zu bit­ten, des­sen Dis­kre­ti­on über je­den Ver­dacht er­ha­ben war. Da sie die Ge­schäfts­la­ge aus­wen­dig wuß­te, hat­te sie Der­ville lei­se die Si­tua­ti­on klar­ge­legt. Nach ei­ner Kon­fe­renz von etwa ei­ner Stun­de, die un­ter den Au­gen des stum­men Pil­ler­ault ab­ge­hal­ten wur­de, schüt­tel­te der An­walt den Kopf und sah Pil­ler­ault an.

»Gnä­di­ge Frau,« sag­te er mit der schreck­li­chen Kalt­blü­tig­keit des Ge­schäfts­man­nes, »es muß Kon­kurs an­ge­mel­det wer­den. An­ge­nom­men selbst, daß Sie mit ir­gend­ei­nem Kunst­griff mor­gen zah­len kön­nen, es sind doch min­des­tens drei­hun­dert­tau­send Fran­ken zu be­zah­len, be­vor man die Ter­rains be­lei­hen kann. Ge­gen­über den Pas­si­ven von fünf­hun­dert­fünf­zig­tau­send Fran­ken ha­ben Sie Ak­ti­va, die sehr schön, sehr ge­winn­brin­gend, aber nicht rea­li­sier­bar sind, und in ab­seh­ba­rer Zeit muß der Zu­sam­men­bruch doch er­fol­gen. Nach mei­ner An­sicht ist es bes­ser, aus dem Fens­ter zu sprin­gen, als sich die Trep­pe hin­ab­fal­len zu las­sen.«

»Das ist auch mei­ne Mei­nung, mein Kind«, sag­te Pil­ler­ault.

Frau Kon­stan­ze und Pil­ler­ault be­glei­te­ten Der­ville hin­aus.

»Du ar­mer Va­ter«, sag­te Cäsa­ri­ne, die sich lei­se er­ho­ben hat­te, um einen Kuß auf Cäsars Stirn zu drücken. »An­selm hat also nicht hel­fen kön­nen?« frag­te sie, als der On­kel und die Mut­ter zu­rück­ka­men.

»Der Un­dank­ba­re!« rief Cäsar, der von die­sem Na­men an der ein­zi­gen Stel­le sei­nes Ge­dächt­nis­ses, die noch Emp­fin­dung hat­te, ge­trof­fen wur­de, wie eine Kla­vier­tas­te er­klingt, wenn der Ham­mer ihre Sai­ten an­ge­schla­gen hat.

Von dem Au­gen­blick an, da die­ses Wort ihm wie ein Fluch ent­ge­gen­ge­schleu­dert wor­den war, hat­te der klei­ne Po­pi­not nicht einen Mo­ment Schlaf oder Ruhe ge­habt. Der un­glück­li­che Jun­ge ver­wünsch­te sei­nen On­kel und be­gab sich zu ihm. Um des­sen alte Ju­ris­ten­er­fah­rung zu wi­der­le­gen, wand­te er die Be­red­sam­keit des Lie­ben­den auf und hoff­te, da­mit einen Mann um­stim­men zu kön­nen, an dem Men­schen­wor­te ab­glit­ten wie Was­ser an ei­nem Wachs­tuch, einen Rich­ter!

»Vom Stand­punk­te des Kauf­manns aus«, sag­te er, »ist es all­ge­mein ge­stat­tet, daß der tä­ti­ge Ge­sell­schaf­ter dem stil­len Ge­sell­schaf­ter einen ge­wis­sen Be­trag auf den Ge­winn im vor­aus aus­zahlt, und un­se­re Ge­sell­schaft wird Ge­winn brin­gen. Nach ge­nau­er Prü­fung mei­ner Ge­schäfts­la­ge füh­le ich mich stark ge­nug, die vier­zig­tau­send Fran­ken in drei Mo­na­ten zah­len zu kön­nen. Cäsars Ehren­haf­tig­keit läßt kei­nen Zwei­fel dar­über zu, daß er die vier­zig­tau­send Fran­ken zum Ein­lö­sen sei­ner Wech­sel ver­wen­den wird. Wenn er also auch Kon­kurs an­mel­den müß­te, so könn­ten uns die Gläu­bi­ger kei­ner­lei Vor­wür­fe ma­chen! Und im üb­ri­gen, lie­ber On­kel, will ich lie­ber vier­zig­tau­send Fran­ken ver­lie­ren als Cäsa­ri­ne. In die­sem Au­gen­blick hat sie si­cher schon mei­ne Wei­ge­rung er­fah­ren und wird mich ver­ach­ten. Ich habe ge­sagt, ich wol­le für mei­nen Wohl­tä­ter mein Blut hin­ge­ben! Ich ste­he jetzt so wie ein jun­ger Ma­tro­se, der beim Schiff­bruch sei­nem Ka­pi­tän die Hand hin­reicht, wie ein Sol­dat, der mit sei­nem Ge­ne­ral fal­len will.«

»Du bist ein bra­ves Herz, aber ein schlech­ter Kauf­mann, mei­ne Ach­tung bleibt dir«, sag­te der Rich­ter und drück­te sei­nem Nef­fen die Hand. »Ich habe viel über die Sa­che nach­ge­dacht,« fuhr er fort, »ich weiß, daß du bis über die Ohren in Cäsa­ri­ne ver­liebt bist, ich glau­be, es ist doch mög­lich, daß du den For­de­run­gen des Her­zens wie des Han­dels­rechts ge­nü­gen kannst.«

»Ach, lie­ber On­kel, wenn Sie einen sol­chen Aus­weg ge­fun­den ha­ben, so ret­ten Sie mir mei­ne Ehre.«

»Schie­ße Bi­rot­teau fünf­zig­tau­send Fran­ken vor, in­dem du dir gleich­zei­tig ein Rück­kaufs­recht auf sei­nen An­teil an eu­rem Öl­ge­schäft ver­trags­mä­ßig si­cherst, das ein Ei­gen­tums­recht dar­stellt, ich wer­de dir den Ver­trag auf­set­zen.«

An­selm um­arm­te sei­nen On­kel, eil­te nach Hau­se, stell­te Wech­sel über fünf­zig­tau­send Fran­ken aus und rann­te von der Rue des Cinq-Dia­mants nach der Place Ven­dô­me, wo er in dem Au­gen­blick ein­traf, als Cäsa­ri­ne, ihre Mut­ter und der On­kel Pil­ler­ault den Par­füm­händ­ler an­blick­ten, über­rascht von dem Gra­be­ston, mit dem er das Wort »Un­dank­ba­rer!« als Ant­wort auf die Fra­ge sei­ner Toch­ter aus­ge­spro­chen hat­te. Die Tür öff­ne­te sich und Po­pi­not er­schi­en.

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke

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