Читать книгу ad Hans Kelsen. Rechtspositivist und Demokrat - Horst Dreier - Страница 11
III. Interpretationslehre und Verfassungsgerichtsbarkeit
ОглавлениеDer Zusammenhang zwischen der Stufenbaulehre und der Interpretationstheorie Kelsens44 liegt auf der Hand. Denn wenn es jeweils höhere und niedrigere Stufen der Normerzeugung mit unterschiedlichem Konkretisierungsgrad gibt, dann ist unmittelbar evident, daß die höherrangigen Normen wie etwa die Bestimmungen der Verfassung über Inhalt, Form und Verfahren der Gesetzgebung die darunter liegende Normerzeugung, also die vom Parlament beschlossenen Gesetze selbst, nicht vollständig determinieren, sondern nur in gewisser formeller und materieller Weise vorstrukturieren, ihnen gleichsam einen Rahmen geben kann. Und was für das Verhältnis von Verfassung und Gesetz gilt, gilt Kelsen zufolge auch für die weiteren Stufen, etwa für die Verordnunggebung, die sich im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben halten muß, oder noch stärker für die Anwendung des Gesetzes auf einen Einzelfall. Abstrakter gesprochen:
„Das Verhältnis zwischen einer höheren und einer niederen Stufe der Rechtsordnung, wie zwischen Verfassung und Gesetz oder Gesetz und richterlichem Urteil, ist eine Relation der Bestimmung oder Bindung; die Norm höherer Stufe regelt […] den Akt, durch den die Norm tieferer Stufe erzeugt wird […] Diese Bestimmung ist aber niemals eine vollständige.
Die Norm höherer Stufe kann den Akt, durch den sie vollzogen wird, nicht nach allen Richtungen hin binden. Stets muß ein bald größerer, bald geringerer Spielraum freien Ermessens bleiben, so daß die Norm höherer Stufe im Verhältnis zu dem sie vollziehenden Akt der Normerzeugung oder Vollstreckung immer nur den Charakter eines durch diesen Akt auszufüllenden Rahmens hat.“45
Daraus ergibt sich zwingend, daß es bei der interpretatorischen Anwendung einer Norm eine einzige richtige Entscheidung nicht geben kann, woraus wiederum folgt, daß die nicht selten anzutreffende Einordnung Kelsens als Vertreter der Begriffsjurisprudenz vollständig in die Irre geht46. Er selbst hat sich aufgrund seiner ausgeprägten Skepsis gegenüber der disziplinierenden Kraft der gängigen Interpretationsmethoden eher der Freirechtsschule zugeordnet47. Jedenfalls ist für ihn klar, daß jeder Rechtsanwendungsvorgang auch und zugleich ein Rechtserzeugungsvorgang ist, in dem – in unterschiedlicher Mischung der Bestandteile – volitive und kognitive Elemente zusammentreffen. Interpretation ist somit teils Erkenntnis, teils Willensakt, Kognition und Dezision zugleich, was Adolf Merkl in das plastische Bild vom „doppelten Rechtsantlitz“ gekleidet hat48. Vorstellungen von Rechtsanwendung als einem mechanischen, sich sozusagen automatenhaft vollziehenden Vorgang sind ihm ebenso fremd wie der Mythos von der einen, einzigen richtigen Entscheidung. Von einem simplen Subsumtionsschluß oder von Interpretation als einem Akt reiner Logik kann bei ihm keine Rede sein. Ganz im Gegenteil öffnet Kelsen das Tor weit für das subjektive, von Werturteilen geprägte Ermessen des jeweiligen Rechtsanwenders, der eben immer zugleich auch Rechtsschöpfer ist49. Mit der Unterscheidung zwischen authentischer und rechtswissenschaftlicher Interpretation wird einerseits die geringe Bedeutung, die Kelsen der Wissenschaft für die konkrete Rechtspraxis beimißt, evident, andererseits der politische Charakter des Handelns der Rechtsanwender, zuvörderst der Richter, offengelegt, die sich nicht länger hinter der Vorstellung wertfreier, unpolitischer Normanwendung verschanzen können50.
Auch zwischen Stufenbaulehre und Kelsens Konzeption einer Verfassungsgerichtsbarkeit als einer Normprüfungsinstanz besteht ein evidenter Zusammenhang, den er bei seinem Wiener Staatsrechtslehrervortrag deutlich expliziert hat51. Wenn die Frage der Konformität eines Rechtsaktes oder einer Norm mit den Vorgaben einer ranghöheren Norm juristischer Überprüfung zugänglich ist und wenn es insbesondere der Idee des Rechtsstaates entspricht, gemäß dem tradierten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung das Handeln der Verwaltung gerichtlich auf Übereinstimmung mit den förmlichen Gesetzen hin überprüfen zu können – dann gibt es keinen prinzipiellen Grund, die Gesetze ihrerseits als Normen einer höheren, aber wiederum unter der Verfassung stehenden Stufe von einer solchen, strukturell gleichen Prüfung auszunehmen. Die in der politischen Diskussion der Weimarer Zeit außerordentlich umstrittene gerichtliche Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von (Reichs-)Gesetzen52 erscheint auf einsichtige und geradezu elegante Art und Weise funktionell als gedanklich zwingende Komplettierung der (allgemein akzeptierten) Überprüfung von Verwaltungsakten auf ihre Übereinstimmung mit dem Gesetz. Neben die Verwaltungsgerichtsbarkeit tritt eine „Gesetzgebungsgerichtsbarkeit“53. Demgemäß hat Kelsen davon gesprochen, daß die österreichische Verfassung von 1920 von Anbeginn Garantien „nicht nur für die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, sondern auch für die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung“ enthalte54. Weil er aber um die Schwierigkeiten effektiver Hegung rechtsinterpretatorischer Gerichtsmacht wußte, drängte er sowohl auf die Konzentration entsprechender Gesetzesüberprüfungskompetenzen bei einem eigens dafür geschaffenen Gerichtshof (einschließlich eines eng umrissenen Kreises von Antragstellern) als auch auf unbedingte Vermeidung von generalklauselartigen Bestimmungen in der Verfassung selbst; präzise Kontrollmaßstäbe sollten eine Machtverschiebung vom demokratisch gewählten Parlament hin zur Judikative vermeiden55. Das in der Weimarer Republik von vielen propagierte (diffuse) allgemeine richterliche Prüfungsrecht56 erachtete er hingegen angesichts der bekannten sozialen Rekrutierung der meisten Richter und ihrer entsprechenden politischen Einstellung als „Selbstmord der Demokratie“57.