Читать книгу ad Hans Kelsen. Rechtspositivist und Demokrat - Horst Dreier - Страница 6
Hans Kelsen (1881–1973) I. Lebensstationen: Von Prag über Wien und Köln nach Berkeley
ОглавлениеMehr als zehn Ehrendoktorate, darunter die der Universitäten Utrecht (1936), Harvard (1936), Chicago (1941), Berkeley (1952), Berlin (1961), Wien (1961), Paris (1963), Salzburg (1967) und Straßburg (1972); hohe und höchste Auszeichnungen, darunter das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst (1961) sowie der Ehrenring der Stadt Wien (1966); Übersetzungen der eigenen Werke in weit über 20 Sprachen, darunter englisch, französisch, italienisch, spanisch, portugiesisch, schwedisch, ungarisch, tschechisch, hebräisch, japanisch, koreanisch, chinesisch; drei ihm gewidmete Festschriften; geläufige und häufige Charakterisierung als der „Jurist des 20. Jahrhunderts“ – als Hans Kelsen am 19. April 1973 nahe der amerikanischen Pazifikküste starb, war er ohne Zweifel ein berühmter, vielgeehrter und in aller Welt hoch geachteter Mann der Wissenschaft1. Vorgezeichnet war ihm dieser Weg zweifelsohne nicht, als er am 11. Oktober 1881 in Prag als Sohn eines jüdischen Lampenhändlers geboren wurde, und auch nicht, als die Familie nach Wien übersiedelte, wo er nach der Matura 1900 und nach dem Studium der Rechtsund Staatswissenschaften an der Wiener Universität 1906 promoviert wurde2. Der eigenem Bekunden zufolge religiös indifferente Kelsen trat 1905, um sich eine akademische Karriere nicht zu verbauen, zum römisch-katholischen Glauben, 1912 kurz vor seiner Heirat mit Margarete Bondi wie diese wiederum zum evangelischen Glauben (Augsburger Bekenntnis) über3. Den Grundstein für seinen wissenschaftlichen Ruhm legte er dann 1911 mit seiner Habilitationsschrift4. Das grundlegend Neue dieser Arbeit blieb den Zeitgenossen nicht verborgen5, und in den nächsten Jahrzehnten erarbeitete Kelsen mit einer Vielzahl von Einzelpublikationen eine vollständige Neukonzeption der Rechtswissenschaft, die in dem 1934 erschienenen und „Reine Rechtslehre“ betitelten Werk ihre erste gültige Zusammenfassung finden sollte6. Doch liegen zwischen diesen beiden Jahreszahlen (1911, 1934) nicht nur wesentliche weltgeschichtliche Ereignisse, sondern auch wichtige Etappen im Leben und im Wirken Kelsens. Während des Ersten Weltkrieges war er krankheitsbedingt im Kanzleidienst tätig, vor allem im Kriegsministerium, wo er zuletzt als Referent des Kriegsministers Stöger-Steiner als Verfassungsexperte wirkte7. Staatskanzler Dr. Karl Renner zog ihn 1918 zur Mitarbeit am Entwurf einer neuen Verfassung heran. Kelsens verbreitete Charakterisierung als (gar alleiniger) „Schöpfer“ der österreichischen Bundesverfassung von 1920 geht sicher zu weit; man wird seiner Bedeutung eher gerecht, wenn man ihn als einen der wesentlichen Mitgestalter oder vielleicht als Architekten dieses Staatsgrundgesetzes apostrophiert8. Eine wesentliche Rolle hat er zweifelsohne bei der Etablierung einer Verfassungsgerichtsbarkeit gespielt, und zwar in Gestalt eines besonderen, institutionell verselbständigten Gerichtshofes mit der Kompetenz zur abstrakten und konkreten Normenkontrolle von Landes- und Bundesgesetzen9. Diesem Verfassungsgerichtshof gehörte er dann auf einen überparteilichen Vorschlag hin seit 1920 als „auf Lebenszeit“ gewählter Richter (und einer der wenigen ständigen Referenten) an10. Freilich führten in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre eskalierende politische Konflikte dazu, daß es bei der Bestellung auf Lebenszeit nicht blieb. Stein des Anstoßes vor allem für die konservativen Kräfte war die maßgeblich von Kelsen geprägte und verantwortete liberale Haltung des Gerichtshofs in der Frage der sog. Dispensehen11. In der Folge kam es zu einer unter der Flagge der Entpolitisierung segelnden Ablösung aller Verfassungsrichter; für eine Neuwahl (allein) auf Vorschlag der SPD stand Kelsen nicht zur Verfügung.
Auch in seinem akademischen Hauptamt kam es zu maßgeblichen Veränderungen. Er war seit 1919 als Nachfolger seines akademischen Lehrers, Edmund Bernatzik, ordentlicher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien; mit einigen seiner Kollegen hatte er sich in jenen Jahren zum Teil heftige wissenschaftliche Dispute geliefert12. Zudem dürften ihn die Anwürfe speziell aus katholischen Kreisen sowie die allgemein wachsende antisemitische Stimmung bedrückt haben. So nimmt er denn am 15. Oktober 1930 den Ruf auf den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie der Universität Köln (damals nach Berlin die zweitgrößte Preußens) an – ganze acht Monate nach seiner Entsetzung als Richter des Verfassungsgerichtshofs. Ungeachtet der auch bei dieser Berufung nicht ausgebliebenen Querelen13 folgt eine wissenschaftlich fruchtbare und befriedigende Phase14. Sie endet jäh. Während seiner Amtszeit als Dekan wird er am 12. April 1933 als einer der ersten Betroffenen auf Grund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 entlassen, wovon er aus der Zeitung erfährt15. Es beginnen schwierige Jahre. Zunächst lehrt er in Genf am „Institut universitaire des hautes études internationales“, ab 1936 hat er dann zusätzlich das Ordinariat für Völkerrecht an der Deutschen Universität in Prag inne, wo es jedoch bald zu antisemitischen Propagandaaktionen der Studentenschaft kommt, so daß seine dortige Lehrtätigkeit mit dem Ende des Wintersemesters 1937/38 endet16. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges emigriert er, mittlerweile 60jährig und der englischen Sprache kaum mächtig, im Juni 1940 in die USA17. Dort kann er zunächst als Lecturer an der Harvard Law School, zwei Jahre später als Lecturer in Political Science in Berkeley unterkommen, wo er bis an sein Lebensende blieb. Von 1945 bis zu seiner Emeritierung 1952 wirkt er als Full Professor am Political Science Department in Berkeley für „International law, jurisprudence, and origin of legal institutions“. Seine Abschiedsvorlesung widmet er der Frage der Gerechtigkeit18. Die Zeit der Pensionierung ist gekennzeichnet durch unvermindert rege und intensive wissenschaftliche Tätigkeit bei gleichzeitiger Pflege internationaler Kontakte. Vielfache Ehrungen und Einladungen führen ihn rund um die Welt, auch nach Deutschland und Österreich, ohne ihn dort in irgendeiner Weise wieder heimisch werden zu lassen. Seine Heimat war einzig die Wissenschaft. Im hohen Alter von über 90 Jahren stirbt er am 19. April 1973 in der Nähe von Berkeley und folgt damit seiner wenige Monate zuvor verschiedenen Frau Margarete nach, mit der er über 60 Jahre verheiratet war.