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Zur Einführung

I.

Hans Kelsen gilt nicht wenigen als der bedeutendste Jurist des 20. Jahrhunderts. Dieser Ruhm verdankt sich in erster Linie seiner epochalen „Reinen Rechtslehre“ (1. Aufl. 1934, 2. Aufl. 1960)1, der gewiß scharfsinnigsten und elaboriertesten Theorie des Rechtspositivismus. Darin besteht zweifelsohne das zentrale Vermächtnis Kelsens. Dennoch ist er sehr viel mehr als ein außerordentlicher Jurist und überragender Rechtstheoretiker. So war er maßgeblich an der Ausarbeitung der österreichischen Bundesverfassung von 1920 beteiligt, die zum ersten Mal in der modernen Verfassungsgeschichte die Einrichtung einer organisatorisch und funktionell selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit vorsah. Zwei Jahrzehnte später verfaßte Kelsen eine große soziologische Studie über „Vergeltung und Kausalität“ (1941), die dem Wandel der Denkstrukturen von den frühen archaischen Stammesgesellschaften über die klassische Antike bis hin zur Neuzeit und der Moderne nachspürt. Zeit seines Lebens setzte er sich kritisch mit allen denkbaren Erscheinungsformen des Naturrechts auseinander, angefangen von den griechischen Klassikern Platon und Aristoteles über die christlichen Denker des Mittelalters bis hin zu Vertretern der Sozialphilosophie der Aufklärung und der Neoscholastik. Davon legt neben vielen weiteren Schriften nicht nur seine Abschiedsvorlesung über die Frage: „Was ist Gerechtigkeit?“ (1953) Zeugnis ab, sondern auch die postum erschienene Monographie „Die Illusion der Gerechtigkeit“ (1985). Breiten Raum nimmt in seinem Gesamtwerk zudem das Völkerrecht ein, wobei er nicht nur dessen theoretische Grundlagen traktierte, sondern auch den ersten, knapp tausend Seiten starken Kommentar zur UN-Charta von 1945 verfaßte („The Law of the United Nations“, 1950). Besonders in seinen frühen Schaffensperioden hat er sich immer wieder verfassungspolitischen Fragen gewidmet, namentlich Problemen des Wahlrechts, der bundesstaatlichen Organisation und der Verfassungsreform, und diese in engagierten Beiträgen kommentiert. Vor allem aber ist Kelsen ein eminenter Demokratietheoretiker, dessen Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ (2. Aufl. 1929) auf den Prämissen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Pluralität aufbaut und schon darin ihre Modernität und Aktualität offenbart. Sie gilt zu Recht als eine der wichtigsten Demokratiebegründungsschriften überhaupt.

II.

Die vorliegende Zusammenstellung von drei Aufsätzen zu Kelsen kann und will nicht den Anspruch erheben, sein riesiges und facettenreiches Gesamtwerk auch nur annähernd zu durchdringen und umfassend darzulegen. Es geht vielmehr darum, zu zentralen Elementen seines Œuvres einen ersten Zugang zu eröffnen und dadurch seine Positionen und Leistungen ansatzweise erkennbar werden zu lassen. In diesem Sinne einer Hin- und Einführung bietet der erste Beitrag („Hans Kelsen 1881–1973“) neben einer knappen biographischen Skizze einen Überblick über die wichtigsten Aspekte seines Schaffens. Im Mittelpunkt steht naturgemäß die „Reine Rechtslehre“, deren zentrale Elemente (wie die Stufenbaulehre und die Interpretationstheorie) ebenso vorgestellt werden wie die schillernde Figur der Grundnorm, die in dieser Theorie des Rechtspositivismus eine ähnliche Rolle spielt wie die volonté générale in Jean-Jacques Rousseaus „Contrat Social“.

Die beiden folgenden Beiträge konzentrieren sich auf Kelsens Demokratietheorie. Diese Schwerpunktsetzung verdankt sich zum einen der Überlegung, daß seine diesbezüglichen Schriften gerade in Deutschland sehr spät (fast noch später als seine ebenfalls lange Zeit entweder kaum beachtete oder geschmähte Rechtstheorie) rezipiert worden sind, nämlich erst in den 1980er Jahren. In der Politikwissenschaft hat es noch einmal zwei Jahrzehnte länger gedauert, bis auch dort die Bedeutung und Modernität von Kelsens pluralistisch-liberaler Demokratiekonzeption erkannt und gewürdigt wurde. Zum anderen scheint es gerade in unseren Tagen angesichts bedrohlicher antiliberaler und antidemokratischer Tendenzen selbst im Herzen Europas wichtiger denn je zu sein, sich auf die Grundlagen einer demokratischen Ordnung, ihre gedanklichen Prämissen und ihre konzeptionellen Tragpfeiler zu besinnen. Der Beitrag über „Kelsens Demokratietheorie“ entfaltet demgemäß vor allem die sozialphilosophischen Grundlagen und systemtragenden Strukturelemente von Kelsens Demokratieverständnis, die durch die Kontrastierung mit dem Gegenmodell Carl Schmitts noch einmal stärkeres Profil gewinnen.

Der dritte und letzte Beitrag widmet sich vertieft dem Wertrelativismus als einem zentralen Element in Kelsens Demokratiebegründung. Hier dient als Kontrastfolie vornehmlich die Position des überaus prominenten Wertrelativismus-Kritikers Josef Kardinal Ratzinger, des späteren Papst Benedikt XVI. Diese Gegenüberstellung liegt nicht allein deswegen nahe, weil der katholische Theologe Ratzinger sich wiederholt dezidiert kritisch zu Kelsen geäußert hat, sondern auch, weil Kelsen sich in seinen einschlägigen Schriften mehrfach auf die im 18. Kapitel des Johannes-Evangeliums geschilderte biblische Szene bezieht, in der Jesus vor dem römischen Statthalter Pontius Pilatus erscheint und dieser die berühmte Frage „Was ist Wahrheit?“ an ihn richtet. Die Pointe liegt darin, daß Kelsen aus dieser Geschichte und ihrem Fortgang ein Argument für den Wertrelativismus zu schmieden versteht.

III.

Einführungen in die Werke bedeutender Autoren wollen erste Einblicke gewähren, aber vor allem auch zu vertieftem weiteren Studium anregen. Diesem Zweck dienen zum einen die Anmerkungen zu den drei Beiträgen, zum anderen die Auswahlbibliographie Kelsens sowie die Hinweise zur Sekundärliteratur. Dieses Material findet sich am Ende des vorliegenden Büchleins und soll eine gezielte Vertiefung ermöglichen. Besondere Hervorhebung verdient hierbei die jüngste dort verzeichnete Publikation, nämlich die 2020 erschienene, rund tausend Seiten starke Biographie Kelsens von Thomas Olechowski („Hans Kelsen – Biographie eines Rechtswissenschaftlers“)2. Für Leben und Werk Hans Kelsens stellt dieses maßstabsetzende Buch mit seiner geschickten Verschränkung von Lebens- und Werkgeschichte eine unerschöpfliche Fundgrube dar. Kelsen war ein langes, ein bewegtes – und auch bewegendes – Leben beschieden. Es war ein weiter Weg vom Wien des fin de siecle bis nach Kalifornien in Zeiten von flower power. Allein die Spanne seiner Publikationen erstreckt sich über mehr als sechs Jahrzehnte: die erste Veröffentlichung erschien 1905, die letzte 1968. Diese sechs Jahrzehnte sind durch gewaltige politische Zäsuren und tiefgreifende gesellschaftliche Wandlungsprozesse gekennzeichnet. Im Rückblick erstaunt nicht zuletzt angesichts des phasenweise unsteten Schicksals und der Unsicherheit von Kelsens akademischer Position der hohe Grad an thematischer Kontinuität seines wissenschaftlichen Werkes und die ausdauernde Beharrlichkeit seiner Arbeit daran. Auch wenn man ihn nicht als den Juristen des 20. Jahrhunderts ansehen mag – ein Jahrhundertjurist war er ohne jeden Zweifel.

1 Die genauen bibliographischen Angaben zu den im folgenden genannten Werken finden sich in der Auswahlbibliographie Kelsens am Ende dieses Bandes.

2 Vgl. dazu meine Rezension: Das Recht, so wie es ist, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 194 vom 21. August 2020, S. 10.

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