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1. Das Wissenschaftsprogramm

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Mit der Reinen Rechtslehre intendiert Kelsen, wie es im Vorwort zur ersten Auflage programmatisch heißt, die „Jurisprudenz auf die Höhe einer echten Wissenschaft, einer Geistes-Wissenschaft zu heben“ und die Rechtswissenschaft dem „Ideal aller Wissenschaft, Objektivität und Exaktheit, soweit als irgend möglich anzunähern“24. Gefährdungspotential für dieses Wissenschaftsprogramm25 erblickt Kelsen zum einen in der Vermengung von Aussagen über das Recht mit (rechts-)politischen Auffassungen und persönlichen Wertungen bis hin zu der tief eingewurzelten „Gewohnheit, im Namen der Wissenschaft vom Recht […] politische Forderungen zu vertreten“. Die Nähe zu Max Webers Konzept der Werturteilsfreiheit ist unverkennbar26. Genauso wie jener erhebt er insofern nicht die Forderung, auf Werturteile zu verzichten, sondern lediglich, wissenschaftliche Aussagen und politische Meinung voneinander zu trennen27. Und ebensowenig wie jener leugnet Kelsen keineswegs die politischen, ökonomischen, sozialen und sonstigen Kausalfaktoren bei der Entstehung und Durchsetzung des Rechts28. Kelsen propagiert nicht die Reinheit des Rechts im Sinne seiner illusionären Enthobenheit von realen gesellschaftlichen Prozessen. Gefordert wird vor dem Hintergrund eines in neukantianischer Tradition29 scharf herausgearbeiteten Dualismus von Sein und Sollen vielmehr die Reinheit der rechtswissenschaftlichen Behandlung des Rechts. Die Reine Rechtslehre will nicht Lehre des reinen (guten, richtigen, gerechten) Rechts, sie will vielmehr reine (unverfälschte, objektive) Lehre des Rechts sein30. Die Entpolitisierungsforderung bezieht sich allein auf die Wissenschaft vom Recht, nicht auf das Recht selbst, um dessen wertungsabstinente Rekonstruktion und Darstellung es geht.

Bei der Bewältigung dieser Aufgabe befindet sich Kelsen in einer doppelten Frontstellung31 einerseits gegenüber den Kausalwissenschaften, insbesondere der Rechtssoziologie, andererseits gegenüber allen Strömungen, die das positive Recht einer höheren, nichtjuristischen Normsphäre unterwerfen wollen, wie das vor allem für das Naturrecht gilt. Kelsen hält auf der einen Seite die Sollensdimension des Rechts gegen alle Versuche fest, rechtswissenschaftliche Normbeschreibung durch Explikation kausaler Zusammenhänge zu ersetzen oder zu verdrängen. „Die Faktizität sagt juristisch eben gar nichts.“32 Das Recht ist ein normatives Deutungsschema realer Vorgänge, das diesen einen bestimmten Sinn verleiht. Deswegen lehnt Kelsen auch „realistische“ Konzeptionen ab, die – wie beispielsweise der skandinavische Rechtsrealismus33 – die Sollenskomponente letztlich leugnen bzw. in psychische Zwangsvorstellungen auflösen wollen. Speziell der Rechtssoziologie wird freilich die Existenzberechtigung nicht abgesprochen, doch besteht Kelsen auf klarer Abgrenzung der verschiedenen Disziplinen mit entsprechendem Bewußtsein für deren je spezifische Methoden sowie ihre unterschiedliche Erklärungsweite und -richtung. „Rechts- und Staatssoziologie sind durch Kelsens Theorie nicht ausgeschlossen, sie sind nur als Soziologie zu betreiben.“34

Komplettiert wird das Bemühen um die Reinheit rechtswissenschaftlicher Erkenntnis durch die Ablehnung des Naturrechts. Ungeachtet der Vielfalt von Aussagen und Argumenten, die Kelsen im Laufe seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Naturrecht vorgebracht hat, steht auch hier der Gedanke im Vordergrund, das Erkenntnisobjekt so klar wie möglich zu erfassen. Resultierte die Gefährdung durch die Kausalwissenschaften aus einem drohenden Verlust der Sollenssphäre, so resultiert sie nun aus der Überlagerung der Rechtssphäre durch eine andere, als höherrangig angesehene Sollenssphäre eines wie auch immer näher begründeten und ausgeformten Naturrechts. Einer solchen Vermengung normativer Welten und Systeme hält Kelsen die Position entgegen, daß die Rechtswissenschaft das positive, vom Menschen gesetzte Recht ohne relativierende oder korrigierende Beimischung anderer Normensysteme zu erkennen und zu erfassen habe, worin zugleich ein Antidot gegen ideologische Aufladungen des Rechts gesehen wird35. Es geht, dem Objektivitätsideal der Wissenschaft entsprechend, um das Recht, wie es ist, nicht, wie es sein sollte. Rechtswissenschaft soll das Recht weder billigen noch mißbilligen, sondern erkennen und beschreiben36. Auch das fehlerhafte, unsittliche Recht gehört dem Normensystem Recht an und kann – und muß unter Umständen – vom Standpunkt der Ethik und der Moral kritisiert werden. Die Qualifizierung einer effektiven Zwangsordnung menschlichen Verhaltens als Rechtsordnung sagt Kelsen zufolge über deren Dignität und Anerkennungswürdigkeit nichts aus, schon gar nicht ziehen die Rechtsnormen eine Gehorsamspflicht nach sich37. Die Frage, ob das Recht zu befolgen ist oder ob man dagegen revoltieren sollte, kann nicht vom positiven Recht selbst beantwortet werden. Diese Antwort überläßt die Reine Rechtslehre der autonomen Entscheidung eines jeden Einzelnen und seiner religiösen, weltanschaulichen, politischen oder sonstwie geprägten Werthaltung.

ad Hans Kelsen. Rechtspositivist und Demokrat

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