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Meine Heimat

Pommern ist ein lang gestrecktes, stilles Land am Meer mit hochgewölbtem, weitem, blauem Himmel, wo Wälder, Wiesen und riesige Felder sich dehnen bis zum Horizont. Keine Berge verstellen den Blick, nur sanfte Hügel erheben sich aus der endlosen Ebene. Umgeben von Heide, Sand und Moor findet man zahlreiche Bauernhäuser mit tiefroten Ziegeln oder schilfgedeckten Dächern. Kleine Dörfer und Städte liegen eingebettet in weite Wiesenlandschaften. Im Frühling und wieder im Herbst konnte man das Trompeten der Wildgänse vernehmen, die hier für eine kurze Rast auf den saftigen, grünen Wiesen ihre Futterplätze fanden, bevor sie ihren Flug nach Norden oder in den Süden fortsetzten. Im Sommer dienten die Wiesen einer vielfältigen Vogelwelt als Brut- und Nistplätze. Auch die Störche, die sich auf den Scheunendächern in den Dörfern ihre Nester gebaut hatten, kamen gern auf die Wiesen geflogen, um sich dort ihre Froschschenkel zu holen. Im Spätherbst, bevor der langanhaltende Schnee kam, überschwemmten kleine Bäche mit ihrem Hochwasser die Wiesen und verwandelten sie mit dem ersten Frost zu riesigen Eisflächen. Jung und Alt waren dann auf den Beinen, Schlittschuhe angeschnallt, um ihre Geschicklichkeit zu demonstrieren oder einfach auf den spiegelglatten Eisflächen herumzuschliddern.

Die Menschen in den Dörfern und auf ihren vereinzelten Höfen lebten teilweise mehrere Kilometer voneinander entfernt, und doch fühlten sie sich keineswegs einsam. Aus der Arbeit auf dem Ackerboden ihrer eigenen Scholle und aus der Treue zur Heimat erwuchsen ihnen täglich aufs neue Kraft, Zufriedenheit, Selbstständigkeit und Freiheit.

Die Oder teilte Vor- und Hinterpommern; zwei Inseln, Usedom und Wollin, liegen vor dem Stettiner Haff. Von hier aus erstreckt sich die vielseitige Küstenlandschaft Hinterpommerns bis zur Mündung der Piasnitz mit weißen Stränden, einer bewaldeten Dünenlandschaft und vielen kleinen, lebhaften Badeorten. Entlang der Küste konnte man die kleinen Fischerkaten finden, entweder vereinzelt oder zu kleinen Ortschaften zusammengewachsen. Während größere Städte schon vom Wohlstand zeugten, bestimmte hier noch die Armut das Leben. Fischerfamilien führten ein mühseliges Dasein mit täglich harter Arbeit. Nicht immer zeigte sich die Ostsee von ihrer sanften Seite, ruhig und blau; sie konnte im Gegenteil auch sehr aufbrausend werden. Wenn Herbst- und Winterstürme übers Land fegten, wobei Windstärken von zehn bis zwölf keine Seltenheit waren, bedrohten Sturmfluten den ganzen Küstenstreifen. Manch ein Fischer ist in solchen Stürmen mit seinem Boot nie wieder heimgekehrt.

Man sagt von Pommern, es sei ein Land, wo Milch und Honig fließen. In der Tat, wenn auch nur für einige. In jedem vierten oder fünften Dorf gab es einen Großgrundbesitzer mit Gütern bis zu neuntausend Morgen Land. Viele davon führten den Titel „Rittergut“, da ihre Besitzer dem alten Adel angehörten – es waren Barone, Grafen oder Freiherren. Die Güter verfügten über enorme Viehbestände, wunderschöne Reitpferde, riesige Stallungen und Scheunen, sowie die dazugehörigen Herrenhäuser, die mit ihren Parkanlagen Schlössern glichen. Weite Pferdekoppeln vor den Anwesen machten die Szene komplett.

Wenn wir im Sommer mit der Eisenbahn durch die Landschaft fuhren oder mit unseren Fahrrädern durch die Gegend strampelten, fiel unser Blick auf endlose, wogende Roggenfelder, die sich silbergrün im Winde bewegten. Große Felder, so weit das Auge sehen konnte. Satte Wiesen, auf denen schwarz-weiß gefleckte Kühe weideten, mit kleinen Bächen und Flüssen, umrandet von Baumgruppen, die sich durch die Wiesen schlängelten. Dunkle Tannen- und Kiefernwälder am Horizont vervollständigten das Panorama. Gern denke ich zurück an diese Bilder, besonders aber an den Duft von frisch gemähtem Gras, an das wunderbare Aroma der Kiefernwälder oder den frischen Geruch der Erde nach einem Regenschauer.

Bis zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war Pommern ein stilles Land, abgeschieden von den historischen Ereignissen seiner Zeit. Überwiegend landwirtschaftliche Tätigkeiten bestimmten das Leben in der Provinz. Industrielle Veränderungen hatten die Region kaum berührt, und man nahm wenig Anteil an den politischen Ereignissen, die sich in den Großstädten abspielten. Doch Pommern war nicht immer „vergessenes“, schon im zwölften Jahrhundert war es sehr begehrt. Polen, Schweden und brandenburgische Fürsten kämpften um dieses Land mit einer Fläche von über dreißigtausend Quadratkilometern. Während des Dreißigjährigen Krieges wurde Pommern zum größten Teil zerstört, und es bedurfte fast zweier Jahrhunderte, sich von diesen Verwüstungen zu erholen. Im neunzehnten Jahrhundert brach ein neues Zeitalter an, es war die Renaissance für Hinterpommern: Das Land wurde eine Provinz des Preußischen Reichs.

Pommern zählte etwa 2,5 Millionen Einwohner, die landwirtschaftliche Produkte erzeugten für mehr als doppelt so viele Menschen. Wegen seines Reichtums an Getreide, Kartoffeln, Zuckerrüben, Milch und Fleischprodukten wurde Pommern offiziell zur Kornkammer Deutschlands ernannt. Die Hauptstadt Pommerns war Stettin, eine betriebsame, stolze Hafenstadt an der Odermündung. Neben der freien Hansestadt Danzig verfügte Stettin über den größten Hafen an der Ostsee. Begibt man sich weiter in östliche Richtung, findet man eine einsame, doch romantische Seenlandschaft, seinerzeit bekannt als die Pommersche Schweiz. Hier um Neustettin hat die Persante ihren Ursprung, von wo sie sich nach Belgard, dann weiter Richtung Köslin schlängelt, um in Kolberg in die Ostsee zu münden. Dort wurde sie zu einem Hafen ausgebaut für den Umschlag von Holz und Getreide und war schließlich Standort einer modernen Fischkutterflotte.

In der Pommerschen Schweiz findet man die Stadt Polzin, das Karlsbad des pommerschen Adels, den auch polnische Edelleute seit vielen Jahren vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ausgiebig besuchten. Zu jener Zeit die größte pommersche Stadt und gleichzeitig das berühmteste Ostseebad war Kolberg mit einer Einwohnerzahl von ungefähr 35.000. Während der Sommermonate konnte man dort mehr Badegäste als Einwohner zählen. 1938 stand Kolberg mit 45.000 Badegästen und hohen Übernachtungszahlen an der Spitze aller deutschen Kurorte.

Kolbergs Geschichte ist umfangreich. Als wichtiger Handelsplatz an der Ostsee gelangte die Stadt schnell zu wirtschaftlicher Blüte. Prächtige Patrizierhäuser um den Marktplatz und das Rathaus zeugten von diesem Wohlstand. Auch in kultureller Hinsicht war Kolberg als Bischofsitz mancher Stadt überlegen. In den Jahren 1280 bis 1320 wurde der Mariendom im gotischen Stil erbaut. Seine Mauern beherbergten Kunstschätze, die man sonst nirgendwo in Pommern fand.

Doch die Chroniken berichten auch von Kämpfen und Kriegen, von Not und Belagerungen. So mussten sich schon im Jahre 1119 die Bürger der Stadt gegen die Russen verteidigen, die in einer Nacht- und Nebelaktion versuchten, über die Ostsee in die Stadt einzudringen, um sie zu erobern. Im Siebenjährigen Krieg, 1756-1763, wurde Kolberg dreimal belagert. Auch 1807, während der Freiheitskriege, verteidigten sich die Kolberger erfolgreich unter der Führung von August Graf Gneisenau und dem damaligen Bürgermeister Joachim Nettelbeck gegen Napoleons Armee. Jedes Jahr, am 2. Juli, feierten die Kolberger dieses Ereignis, um ihre Ehrenbürger zu würdigen. Zum Dank wurde ihnen an der Nordseite des Domes ein Denkmal errichtet, das allerdings nach dem Krieg von den Polen entfernt wurde.

Das Beispiel von 1807 muss den Kolbergern 1945 die Kraft gegeben haben, die Stadt bis zum letzten Atemzug zu verteidigen. Mit der Unterstützung von Armee und Kriegsmarine hielten sie den Weg offen für etwa 80.000 Flüchtlinge, die über die Ostsee dem Ansturm der Roten Armee zu entrinnen hofften.

Die Pommern sind geprägt von ihrer Sprache, vom Meer und von der Weite des Landes. Man sagt ihnen nach, dass sie sehr konservativ seien. Sie standen im Ruf der Abgeschiedenheit und Rückständigkeit, aber zugleich schätzte man diese Menschen und ihre Arbeit hoch ein. Vor allem aber waren die Pommern bekannt für ihre entwaffnende Offenheit. Friedrich der Große sagte einmal: „Die Pommern sind von natürlicher Offenheit. Verschmitztheit und Gerissenheit liegt ihnen nicht. Pommern sind ausgezeichnete Soldaten, manchmal auch gute Finanzbeamte, aber Diplomaten lassen sich nie aus ihnen machen.” Zweifelsohne trifft das auf viele meiner Landsleute zu, im gewissen Maße auch auf mich.

In diesem Lande, das ich beschrieben, unter diesen Menschen, die ich geschildert habe, bin ich geboren. Mein Geburtsort war Großjestin, heute Goszino, etwa 16 Kilometer südlich von Kolberg. Mein Vater besaß früher einen kleinen Bauernhof in Arnsberg bei Treptow, ebenfalls in Pommern. Dort heiratete er meine Mutter, die gerade ihre Ausbildung als Hebamme absolviert hatte. Ein Rheumaleiden machte meinem Vater schwer zu schaffen, und somit hatte er große Schwierigkeiten, den alltäglichen Ansprüchen auf dem Hof nachzukommen. Er war etliche Jahre älter als meine Mutter. Als ich 1929 auf die Welt kam, hatte mein Vater schon sein 65. Lebensjahr erreicht. Meine Eltern beschlossen, den Bauernhof zu verpachten (und später zu verkaufen) und sich in Großjestin eine neue Existenz aufzubauen. Ich war der Jüngste von vier Geschwistern, einem älteren Bruder und zwei Schwestern. Heinz war der Älteste, danach kamen Gerda und Brunhilde (wir nannten sie immer Hildchen). Gerda erkrankte als Kleinkind an einer Hirnhautentzündung, die sie für den Rest ihres Lebens, sie wurde 72 Jahre alt, geistig in einem Kindesstadium zurückließ. Meine ältere Schwester Hildchen und ich waren in den Interessen zu unterschiedlich, und so haben wir beide eigentlich sehr wenig zusammen unternommen. Nach ihrem Schulabschluss begann sie eine kaufmännische Lehre in einem landwirtschaftlichen Ein- und Verkaufsverein. 1942 meldete sie sich freiwillig zum Reichsarbeitsdienst. Das hatte für sie zwei entscheidende Vorteile: Zum einen konnte sie sich ihren Standort auswählen, sie entschied sich für Thüringen, und zum anderen war sie damit freigestellt, um nicht später in der Rüstungsindustrie arbeiten zu müssen.

Gerda besuchte in den ersten Jahren noch die Volksschule, wegen ihrer Behinderung machte sie jedoch keine Fortschritte, und es wurde entschieden, dass sie zu Hause am besten aufgehoben sei.

Zwischen mir und meinem neun Jahre älteren Bruder gab es nie eine enge Beziehung. Als ich 1935 eingeschult wurde, hatte er schon eine Bäckerlehre angetreten. Er lernte das Bäcker- und Konditoreihandwerk bei dem Vater meines Freundes Gerhard. Da ich oft mit Gerhard zusammen war, nutzte ich gern die Gelegenheit, Heinz in der Bäckerei zu besuchen. Dort durfte ich zuschauen, wie die Bäcker damit beschäftigt waren, Brot und Kuchen zu backen. Die schönste Zeit für einen Besuch war immer kurz vor Weihnachten, wenn die Bäcker dabei waren, Lebkuchen in allen Variationen und Pfeffernüsse zu backen. Ich wurde dann immer reichlich beschenkt mit den wohlschmeckenden Pfeffernüssen, die, so hatte es den Anschein, in Unmengen gebacken wurden. Jedoch auch im Sommer hatte es seinen Reiz, meinen Bruder aufzusuchen. Der Betrieb machte ein leckeres Eis, das Heinz jeden Sonntag im Dorf verkaufen musste. Zum Verkauf diente ein weißer Karren auf Gummireifen, in dem sich zwei Sorten Eis befanden. Niemals hat mein Bruder gezögert, uns eine Tüte Eis zu schenken, schon allein aus Protest gegen seinen Lehrherrn, der ihm jeden Sonntag im Sommer seine Freizeit raubte.

Acht Jahre besuchte ich die Volks- oder Realschule, wie man es damals nannte. Die meisten Jahre meiner Schulzeit hatte ich Herrn Raguse als Lehrer. Herr Raguse war von stattlicher, kräftiger Figur mit einer hervorstechenden Glatze. Wir hatten ihn so gut kennengelernt, dass wir schon seinem Anzug und der Färbung seiner Glatze ansahen, in welcher Stimmung er an dem Tag sein würde. Herr Raguse*) war ein strenger Schulmeister, dessen Methoden man heute anprangern würde. Wir Schüler wurden nach unseren Leistungen in der Klasse platziert. Das heißt, der Klassenbeste fand sich immer auf dem ersten Platz direkt an der Tür, während der- oder diejenige mit den schlechtesten Noten ganz vorne saß. Wenn er eine Lektion abfragte, fing er mit dem Klassenersten an. Um zu antworten, mussten wir aufstehen. Wer die richtige Antwort nicht wusste oder gar keine gab, blieb stehen. Nachdem er die ganze Klasse abgefragt hatte, mussten alle, die noch standen, sich über ihr Pult beugen, um seine Züchtigung mit einem langen Zeigestock entgegen zu nehmen. Da wir zu viert auf einer Bank saßen, kamen die in der Mitte immer am schlechtesten dabei weg, weil man von seinen Hieben zweimal getroffen wurde. Obwohl seine Methoden nach heutigem Standard furchterregend sein mochten (geschweige denn erlaubt), haben sie uns auch nicht einschüchtern können. Wenn ich mal lernfaul war, dann ließ ich es eben darauf ankommen. Manchmal musste ich zur Strafe nachsitzen, das war aber nicht so schlimm, denn Herr Raguse war oft sehr beschäftigt und hatte wenig Zeit.

Kurzerhand forderte er uns dann auf, mit ihm nach Hause zu gehen, wo wir die uns aufgetragenen Arbeiten erledigten. Des Öfteren zog es ihn auf die Jagd, und er wäre uns am liebsten gleich los geworden. Ich nutzte diese Gelegenheiten aus und überredete ihn, mich mit auf die Jagd zu nehmen. Er rief dann bei meinem Vater an, um dessen Erlaubnis zu bekommen. Mein Vater bestand darauf, dass ich zuerst nach Hause komme, um etwas zu essen. Ich wusste dann schon, dass mit dem Essen ein Nachtisch von ein paar Ohrfeigen fällig war.

In meinen Schuljahren mangelte es nicht an Freunden. Wir fanden immer reichlich zu tun, und wir nahmen jede Gelegenheit wahr, in den ansässigen Handwerkerbetrieben etwas zu lernen. Schon auf dem Heimweg von der Schule war es die Tischlerei Radmer, wo wir einkehrten, um den Schreinern zuzuschauen, wie sie aus rohem Holz die schönsten Möbelstücke fertigten. Herr Radmer und mein Vater waren befreundet, und er war derjenige, der mich später, als mein Vater starb, so großartig unterstützte. Wir gingen den Schreinern bei ihrer Arbeit zur Hand, so gut wir konnten. Als Belohnung bekamen wir dann das für uns so heiß begehrte Balsaholz, aus dem man diverse Sachen basteln konnte.

Auch zu unserem Schmied, Herrn Kukies, ging ich gerne. Dort durfte ich verbogene Hufnägel wieder gerade klopfen. Es war immer interessant zu beobachten, wenn ein Pferd mit neuen Hufeisen beschlagen wurde oder einfach dabei zu sein, wenn Herr Kukies zusammen mit seinem Gesellen ein Stück heißes Eisen im Takt auf dem Amboss bearbeitete. Herr Kukies hielt dann das glühende Eisen mit einer Zange auf den Amboss, klopfte auf das Eisen mit einem kleinen Hammer, während der Geselle diesem Werkstück zu dem angegebenen Takt mit einem schweren Vorschlaghammer eine bestimmte Form gab.

Wir wohnten in einem Zweifamilienhaus zusammen mit Familie Freese. Herr Freese war Lokomotivführer bei der Kleinbahn, die zwischen Großjestin und Kolberg pendelte, sowie weiter südlich nach Regenwalde. Oft war Herr Freese zur Mittagszeit auf dem Bahnhof, und ich brachte ihm häufig sein warmes Mittagessen. Bei dieser Gelegenheit durfte ich auf der Lokomotive herumklettern, was für mich immer ein besonderes Vergnügen war. Des Öfteren habe ich ihn abends abgeholt, dann durfte ich mit ihm ins Rundhaus fahren, wo die Lok für die Nacht untergebracht war. Bevor Herr Freese nach Hause ging, wurden die Armaturen auf Hochglanz gebracht, wobei ich nach Kräften half. Der Geruch von Kohle und Schmieröl, der an der Putzwolle haftete, zieht mir heute noch durch die Nase.

Herr Freese zeigte mir auch, wie man Figuren aus Blei gießen konnte. Mit meinem ersparten Geld kaufte ich mir eine Form, mit der man tolle Reitersoldaten herstellen konnte. Das Blei besorgte ich mir in der Grube auf dem Schießstand des Schützenvereins neben einer alten Windmühle. Bei dem Bleigießen zündete ich einmal beinahe unser Wirtschaftsgebäude an. In meiner Dummheit wollte ich Benzin in eine Konservendose gießen, die Kelle mit Blei darauf und auf diese einfache Weise das Metall schmelzen. Irrtum! Als ich das Streichholz anzündete, stand der ganze Wirtschaftsraum auch schon in Flammen. So schnell ich konnte, lief ich raus. Dass ich nicht von der Stichflamme erfasst wurde, ist mir heute noch ein Rätsel. Ich holte meinen Vater zur Hilfe, der das Feuer sehr schnell unter Kontrolle brachte. Ich glaube, das war das einzige Mal, dass ich für meinen Unfug nicht bestraft wurde. Mein Vater sagte nur: „Ich hoffe, du hast daraus gelernt!"

Die Freeses hatten einen Sohn, der im Winter zum Urlaub nach Hause kam und dann des Öfteren auf seinen Skiern über die zugeschneiten Wiesen lief. Ich folgte ihm einmal eine Weile mit meinem Rodelschlitten, konnte aber nicht mithalten, da es zu schwierig war, in dem tiefen Schnee hinter ihm her zu laufen. Da kam ich auf die Idee, dass ich ebenfalls unbedingt ein paar Ski brauchte. Von meinen Eltern richtige Skibretter zu bekommen, war gar kein Thema, dafür hatten sie kein Geld. Meine Freunde und ich versuchten es zuerst mit Tonnenbrettern. Die Bretter konnten wir vom Böttcher Helwig bekommen, die er uns schmunzelnd schenkte. Er wusste schon warum. Die Bretter waren zu kurz und wir zu schwer, um damit über den Schnee zu gleiten. Eine andere Lösung musste her! Im Dorf hatten wir noch einen Stellmacher, der notwendig war, da alle Bauern mit Pferd und Wagen arbeiteten und im Winter Pferdeschlitten benutzten, um ihre Arbeiten zu verrichten. Hin und wieder brauchte jemand ein neues Wagenrad oder eine neue Kufe für den Schlitten. Auch den Stellmacher, Herrn Scheutzow, habe ich oft besucht, um ihm bei seiner Arbeit zuzuschauen. Ich war immer wieder aufs Neue begeistert zu sehen, wie er aus einem rohen Stück Holz in Handarbeit Wagenspeichen oder sogar ganze Wagenräder machen konnte. Im Winter durfte ich bei ihm den eisernen Ofen, der mitten in der Werkstatt stand, mit Holzabfällen und Spänen füttern, die es zur Genüge gab. Herr Scheutzow hat mich immer gerne in seiner Werkstatt gehabt, ich glaube, er brauchte das Lob und die Anerkennung, die er immer wieder von mir für seine Geschicklichkeit bekam. Heute weiß ich, wie wichtig solche Anerkennung ist, zu jener Zeit war mir das noch nicht bewusst.

Nachdem wir die Niederlage mit den Tonnenbrettern verarbeitet hatten, entschied ich mich, Herrn Scheutzow darum zu bitten, mir vielleicht die heißersehnten Skier zu machen, damit ich endlich den Schnee so richtig genießen konnte. Zu meiner Überraschung stimmte er zu. Er suchte sich einen Birkenstamm aus, den er auf seine Säge legte und davon Bretter ausschnitt, die für meine Größe passend waren. Die Bretter glättete er mit einem Hobel und formte Spitzen an einem Ende. Nachdem das fertig war, zog er beidseitig eine Rille über jedes Brett. Dieser ganze Prozess dauerte mehrere Tage, und ich konnte kaum die Zeit abwarten, bis ich wiederkommen durfte, um bei dem nächsten Arbeitsgang zuzuschauen. Nachdem all diese Arbeiten gemacht waren, durfte ich einen Eimer voll Wasser auf dem Ofen zum Kochen bringen. Er steckte die Bretter mit den Spitzen in das kochende Wasser, wonach sich die Spitzen dann mit Leichtigkeit in eine Halbmondform biegen ließen. Herr Scheutzow befestigte die Bretter mit den gebogenen Spitzen zwischen den Wasserrohren unter der Decke der Werkstatt. Dort blieben die Bretter ein paar Tage hängen, bis sie trocken waren und danach ihre Form hielten. Jetzt war ich der stolze Besitzer von ein paar Brettern ohne Bindung. Nun marschierte ich zu der Schmiede von Herrn Kukies, der behilflich war, ein Stück Blech so zu formen, dass die Spitzen der Schuhe hineinpassen würden. In diese Bleche bohrte er mir ein paar Löcher, damit ich sie an die Bretter schrauben konnte. Mit den Brettern und dem Anfang einer Skibindung, fehlten jetzt nur noch ein paar Ledergurte, damit die Schuhe einen festen Halt haben würden.

Die Ledergurte schnorrte ich mir bei unserem Sattler Kröhl. Auch er war begeistert von meinem Erfindergeist und gern bereit, mir weiter zu helfen. Er gab mir die nötigen Lederreste, die ich selbst zuschneiden durfte, dazu ein paar Schnallen und Nieten. Er machte mir vor, wie die Schnallen anzubringen waren und wie man Löcher in die Gurte stanzte. Herr Kröhl zeigte mir sogar, wie man den Gurten einen schönen Rand gibt, damit sie etwas professioneller aussahen. Jetzt musste nur noch Bienenwachs her, um den Brettern eine gute Rutschfähigkeit zu geben. Kurt Quades Großvater hatte eine Bienenzucht, und da er jedes Jahr Honig schleuderte, wusste ich, dass er auch Bienenwachs hatte. Kurt war mein Klassenkamerad, und so war es kein Problem, das Wachs zu bekommen.

Ich möchte erwähnen, dass Kurt und andere Klassenkameraden, unter anderen auch Gerhard Rattunde, nach dem Kriege weit nach Russland verschleppt wurden, wo sie Zwangsarbeit leisten mussten. Kurt ist nicht wieder zurückgekommen. Gerhard und seine Leidensgenossen haben ihn in der Wüste des russischen Lagers Nebit Dag, in der Nähe des Kaspischen Meeres, beerdigt. (Gerhard hatte Kurts Tagebuch retten können, und dessen Eintragungen wurden veröffentlicht in dem Büchlein „Großjestin – Ein Dorf im Kreis Kolberg – Körlin”.)

Wegen meiner Skiausrüstung wurde ich von meinen Freunden beneidet, und ich bin sicher, Herr Scheutzow hätte damit ein Bombengeschäft machen können. Seine gute Tat habe ich nie vergessen! Fragt mich nicht, was für Skistöcke ich benutzte, ich weiß es wirklich nicht mehr. Auf alle Fälle war ich jetzt gut gerüstet, um den Schnee so richtig mit meinen neuen Skiern auszunützen. Wenn es die Zeit erlaubte, zog ich mit meinen Freunden in die Lubahn, um von den kleinen Hügeln auf unseren Brettern hinunter zu gleiten. Von Bergen konnte kaum die Rede sein, wie ich ja schon in dem Kapitel über meine Heimat geschildert habe.

Die Lubahn war ein bewaldetes Stück Land nur ein paar Kilometer vom Dorf entfernt, wo wir uns oft und gerne aufgehalten haben, im Sommer wie im Winter. Für uns war es ein abwechslungsreiches Gebiet. Wenn wir nicht mit anderen Dingen beschäftigt waren, dann zog es uns immer wieder dort hin. Es gab vieles zu sehen und ebenso viel zu tun. In den Wäldern konnte man Rehe, Dachse, Hasen und manchmal die flinken Füchse mit ihren buschigen Schwänzen beobachten. Dort waren Teiche und kleine Bäche, in denen man angeln konnte. Wir wussten, wo wir natürliche Wasserquellen finden konnten, um unseren Durst zu löschen, und im Sommer konnte man jede Menge wilder Beeren finden. Sogar mein Vater war nicht abgeneigt, zu dieser Zeit der Lubahn einen Besuch abzustatten, um Blaubeeren, Himbeeren und Brombeeren zu sammeln. Wir Jungen hatten uns eine verborgene Lehmhütte gebaut, unser geheimer Zufluchtsort. Dort hatten wir uns eine Feuerstelle eingerichtet, an der wir frisch geerntete Kartoffeln rösteten, die wir auf dem Felde stibitzten. Wir versuchten sogar, unsere geangelten Fische zu räuchern. Das war aber nie recht erfolgreich, sie sind uns meistens ins Feuer gefallen.

Wir alle hatten Fahrräder, die wir, so gut wir konnten, in Schuss hielten. Wenn wir Schäden nicht selber beheben konnten, eine verbogene Felge, lose Speichen, oder ein defektes Radlager, dann musste unser Freund Siegfried ran, genannt Cheffi. Cheffi war der Experte für Fahrradreparaturen und konnte fast alles instandsetzen.

Im Sommer sind wir oft zum Kämitzsee gefahren, wo man herrlich schwimmen konnte. An diesem Gewässer, umrandet von alten Bäumen, lag ein Gasthaus, ein beliebtes Ausflugziel für Jung und Alt. Vom See hinauf zum Gasthaus war das Gelände terrassiert, besetzt mit Gartentischen und ihren rot-weiß karierten Tischtüchern und Stühlen. An Wochenenden war alles bis auf den letzten Platz belegt. Viele Leute brachten ihren selbst gebackenen Kuchen mit und bestellten sich dann den Kaffee dazu. Danach konnte man die alten Herren in ihren feinen Anzügen beobachten, wie sie genüsslich ihre Zigarren rauchten und sich das kühle Bier schmecken ließen. Der Besitzer hatte auch das Anglerrecht für den See, und so gab es dort die besten frischen Fischgerichte.

Mein Vater schickte mich einmal zum Kämitzsee, um ein paar Aale zu holen, die er dort bestellt hatte. Die Aale wurden in einen Leinensack gesteckt, den ich dann in meinem Rucksack verstaute. Auf dem Heimweg wurden die Aale auf meinem Rücken lebendig, sie tobten so sehr herum, dass ich mein Gleichgewicht verlor und mit dem Fahrrad stürzte, Gott sei Dank auf einen weichen Waldboden, so dass ich keinen Schaden erlitt - allerdings haben mir die Aale mit ihrer Kraft gehörigen Respekt eingeflößt!

Am liebsten fuhren wir mit unseren Fahrrädern nach Kolberg, wo wir in der Ostsee schwimmen konnten und den wunderschönen weißen Strand und die mit Ginster bewachsenen Dünen genießen durften. Es war eigentlich verboten, sich in den Dünen aufhalten, für uns aber waren sie wie Umkleidekabinen, und man konnte sich dort windgeschützt von der Sonne bräunen lassen.

Während der Sommermonate bekamen wir reichlich Regen und Gewitterschauer. Da konnte es schon mal vorkommen, dass uns beides auf der Heimfahrt überraschte. Wenn das passierte, zogen wir schnell unsere Kleider aus und die nasse Badehose wieder an, bündelten die Kleider in unsere Handtücher und fuhren dann im strömenden Regen nach Hause. Solche Eskapaden musste ich vor meinem Vater verheimlichen. Hätte er gewusst, dass ich bei strömendem Regen in der Badehose nach Hause gefahren bin, dann wäre mir eine Tracht Prügel sicher gewesen.

Mein Fahrrad diente ebenfalls dazu, meiner Mutter zu helfen. Als Landhebamme wurde sie sehr oft anstelle von Geld in Naturalien bezahlt. Häufig war es meine Sache, Muttis Wöchnerinnen zu besuchen, um die Schulden einzutreiben, eine Aufgabe, der ich gerne nachging. Die Leute, die ich besuchte, machten mir fast immer ein paar belegte Brote, die ich auf dem Heimweg verzehrte. Ich war immer stolz, wenn ich die Sachen vorzeigen konnte, die ich bekommen hatte. Da waren frisch geschlachtete Hühner, Eier, Hausmacherwurst, Schinken, Obst und was weiß ich noch alles. Als Belohnung für diese Beutezüge, wie ich sie gerne nannte, gab mir meine Mutter dann immer etwas Geld, das ich in den meisten Fällen in meiner Sparbüchse deponierte. Natürlich nicht immer. Es gab Gelegenheiten genug, um das Geld für nutzlose Sachen auszugeben. Zu meiner Zeit gab es noch keine LPs oder CDs, und bis zum Besitz eines Plattenspielers war es auch noch weit. Ein Plattenspieler mit einer Handkurbel war zu der Zeit noch der reine Luxus für die meisten Familien. Mein Geld gab ich aus für Karussellfahrten und andere unsinnige Dinge, wenn Jahrmarkt im Dorf war. Manchmal kaufte ich mir auch ein Buch, Science Fiction, meine Lieblingslektüre. Man las von Raketenflügen zum Mond, von der Erforschung des Weltalls und von Robotern. Nie hätte man in meiner Jugend geglaubt, dass so etwas noch im selben Jahrhundert Wirklichkeit werden würde.

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*) Klarnamen tauchen hier und an anderen Stellen des Buches nur auf, wenn das Einverständnis der betroffenen Personen vorliegt bzw. der Situation wegen unterstellt werden darf.

Es war anders damals!

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