Читать книгу Es war anders damals! - Horst Viergutz - Страница 8
ОглавлениеIm Kriegszustand
Es ist der 1. September 1939. Gerade vor einem Monat hatten wir meinen 10. Geburtstag gefeiert. Als ich mich fertig machte, um zur Schule zu gehen, hörte ich im Radio, dass die deutsche Armee in Polen einmarschiert sei. Angeblich hatten polnische Truppen mehrere Grenzverletzungen begangen und somit die Kriegserklärung provoziert. Deutschland ist ab heute im Krieg! Diese Durchsage überraschte mich. Was ist Krieg? Was bedeutet er für uns? Von dem, was uns noch bevorstand, hatte ich zu der Zeit gar keine Ahnung. Ich hatte keine Vorstellungen, was die Auswirkungen dieses Krieges für uns sein würden. In unserem alltäglichen Leben hatten wir kaum an den Geschehnissen teilgenommen, die die damalige Politik Deutschlands beeinflussten. Wir wussten nur wenig von den Verfolgungen der Nazis an der eigenen Bevölkerung, an den sogenannten „Staatsfeinden”. Ihre Aktionen rechtfertigten sie mit der Begründung, dass die allgemeine Bevölkerung gegen diese unerwünschten Elemente geschützt werden müsste. Diese „Staatsfeinde“ waren Kommunisten, Homosexuelle, geistig Behinderte, mongoloid Erkrankte, Zeugen Jehovas, Zigeuner und in der Mehrzahl Juden.
Wie fast alle zehnjährigen Buben bin auch ich ins Jungvolk eingetreten. Die wöchentlichen Treffen machten uns damals viel Spaß. Stolz trugen wir unsere Uniformen, und wir ließen uns von älteren Jungen, die unsere Anführer waren, herumkommandieren als wären wir Rekruten. Wir lernten im Gleichschritt zu marschieren, und sangen dabei patriotische Lieder, in denen wir unsere Bereitschaft bekundeten, unserem „geliebten Führer Adolf Hitler” zu folgen, wenn nötig in den Tod. Für Deutschland zu sterben, wurde hingestellt als die größte Ehre, die einem widerfahren könnte. Es hatte wenig Bedeutung für uns, schließlich waren wir ja gar nicht alt genug, dass uns jemals so eine fragwürdige Ehre zuteil werden würde. So dachten wir damals. Wir fuhren ins Zeltlager, nahmen Teil an Aufmärschen mit anderen jugendlichen Einheiten, und man unterrichtete uns in der Handhabung von Schusswaffen. Es dauerte nicht lange, und wir fingen an, uns mit den älteren Jungen zu identifizieren, die schon Uniformträger waren in den verschiedenen Waffengattungen der damaligen Streitkräfte.
Der Polenfeldzug endete fast so schnell, wie er angefangen hatte. In nur vierzehn Tagen hatten deutsche Truppen Polen in die Knie gezwungen. Zeitungen und Radio berichteten, wie glorreich unsere Soldaten in dem sogenannten „Blitzkrieg" gekämpft hatten. Über Gräueltaten gegen die polnische Zivilbevölkerung wurde kein Wort verloren. Es dauerte nicht lange, und die ersten polnischen Gefangenen kamen in unser Dorf. Sie wurden hauptsächlich zur Arbeit auf Bauernhöfe verteilt. Dass bald auch polnische Zivilisten kamen, schien nicht weiter ungewöhnlich. Schließlich waren sie unsere Feinde, so hatte man uns doch gesagt, und sie hatten diesen Krieg angefangen. Somit war es doch nicht verkehrt, dass sie jetzt eingesetzt wurden, um unsere Kriegsmaschine zu unterstützen. Ich bin weit davon entfernt, dies zu rechtfertigen, aber damals habe ich keine weiteren Gedanken daran verschwendet und das Erscheinen von polnischen Hilfskräften lediglich achselzuckend zur Kenntnis genommen.
Der Einmarsch deutscher Truppen in Polen hatte seine Folgen: Großbritannien und Frankreich erklärten Deutschland den Krieg. Dieser Abschnitt des Krieges wurde in der Hauptsache zur See und in der Luft durchgeführt. Die Luftwaffe bombardierte London, während sich die Engländer rächten und Bomben auf deutsche Städte hageln ließen. Wo wir wohnten, waren wir von den Bombenangriffen verschont, jedoch konnte man täglich englische Bomber beobachten, wie sie in Geschwadern Richtung Süden flogen, wo die Rüstungsindustrie konzentriert war. Wenn das Wetter gut war, konnte man unzählige silberne Kondensstreifen am blauen Himmel sehen. Sie standen über uns als stumme Zeugen dieser todbringenden Transporte. Unsere persönliche Teilnahme während dieser Phase des Krieges war beschränkt auf Nachrichten, die wir im Radio hörten oder in den Zeitungen lesen konnten.
1940 hatte Deutschland bereits Dänemark und Norwegen besetzt, deutsche Truppen marschierten in Frankreich ein, das berühmte Afrika-Korps kämpfte gegen die Engländer in Afrika und im Sommer 1941 begann der Feldzug gegen die Sowjetunion. Nichts deutete daraufhin, dass der Krieg bald zu Ende sein würde, im Gegenteil, wir waren jetzt engagiert in einem zweiten Weltkrieg, dem Krieg aller Kriege. Wie viel länger würde dies alles anhalten? Wäre es möglich, dass auch ich noch in diesem Krieg zum Einsatz kommen würde? Rhetorische Fragen eigentlich, denn letzten Endes war ich kaum zwölf Jahre alt. Jedoch mein Bruder Heinz, der ja zu der Zeit schon beim Militär war, wollte unbedingt dabei sein. Er meldete sich freiwillig zur Ausbildung als Fallschirmjäger.
Wir schrieben das Jahr 1943, einige meiner guten Freunde besuchten jetzt das Gymnasium. Der Besuch einer höheren Schule war nicht kostenlos, und natürlich musste man auch die nötige Begabung mitbringen. Die hatte ich wohl schon, aber meine Eltern waren nicht in der Lage, eine höhere Schulausbildung zu finanzieren.
Wie ich schon vorher erwähnte, hatte mein Vater nur ein geringes Einkommen (oder zu der Zeit vielleicht gar keines), während meine Mutter als Hebamme unseren Lebensunterhalt verdiente. Mit dem kargen Einkommen meiner Eltern konnten wir keinen großen Wohlstand nachweisen. Mein Vater tröstete mich mit dem Versprechen, dass er mich auf einer staatlichen Schule unterbringen würde. Ich wäre damals sicher gerne auf die national-politische Erziehungsanstalt gegangen, bekannt als NAPOLA. Da mein Vater jedoch niemals Mitglied in der NSDAP war, hatte ich keine Chance. Er beschloss für mich, dass ich auf eine Militärschule gehen sollte. Er war der Meinung, dass die Ausbildung dort genau so gut sein würde wie auf einem Gymnasium. Von dem, was ich heute weiß, würde ich dies bezweifeln. Ich würde also auf eine fliegertechnische Vorschule gehen.
Mitte März 1943, kurz vor meinem Schulabschluss, kam ich nach Hause und fragte wie üblich: „Wo ist Mutti?" Diese Frage war berechtigt, da meine Mutter ja als Hebamme sehr oft unterwegs war. Entweder machte sie Wochenbettbesuche oder war bei einer Entbindung. „In Warschau", sagte mein Vater. „Was macht sie in Warschau?“ fragte ich. Da sagte mein Vater mit Tränen in den Augen. „Heinz wurde schwer verwundet während eines Fallschirmeinsatzes in Russland, von wo man ihn in ein Lazarett in Warschau evakuiert hat". Dieser schreckliche Krieg hatte uns plötzlich persönlich in einer Weise getroffen, wie wir es uns niemals hatten vorstellen können. Die traurige Nachricht und die Liebe, die mein Vater für meinen Bruder, seinen ältesten Sohn, hatte, waren zu schmerzlich für ihn. Es brach sein Herz, er starb an einem Herzinfarkt, buchstäblich in meinen Armen. Was sollte ich jetzt tun? Ich war allein zu Hause mit meiner kranken Schwester. Hildchen, wie ich schon erwähnte, war im Arbeitsdienst in Thüringen. Noch nie zuvor war ich mit so einem traumatischen Problem konfrontiert. Ich rief Doktor Tolks an, jedoch konnte er nur noch den Tod meines Vaters feststellen. Er starb am 25. März. Ich setzte mich mit einem Freund meines Vaters in Verbindung: Herr Radmer hatte eine Schreinerwerkstatt, wo auch Särge hergestellt wurden. Er war sehr hilfsbereit und traf fast alle notwendigen Vorkehrungen für die Bestattung.
Gerda und ich wurden von unseren Nachbarn betreut bis zur Heimkehr meiner Mutter. Als sie aus Warschau zurückkam, wo sie mit meinem Bruder bis zu seinem Tode geblieben war, erstarrte sie vor Schreck, als sie den Sarg für meinen Vater vor der Tür stehen sah. Heinz starb am selben Tage wie mein Vater. Wir überführten Vater nach Arnsberg, um ihn in seiner alten Heimat zu beerdigen.