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ОглавлениеGregor Pergande und Stefan Henningsen betraten die Polizeidienststelle in der Troplowitzstraße, die vom Brandort nicht weiter als einen halben Kilometer entfernt lag. Der Wachdienstraum, wo tagsüber reger Publikumsverkehr herrschte, wirkte schläfrig. Eine Schreibtischlampe beleuchtete einen älteren Polizeibeamten mit lichten grauen Haaren, schmaler Lesebrille und ausgeprägten Tränensäcken. Er war am telefonieren, während er einen Aktenordner nach etwas durchstöberte. Auf der Besucherbank lümmelte ein junger Mann mit längerem Haar. Der Kopf war ihm in den Nacken gefallen, die Augen geschlossen, der Mund offen. Aus einem Nebenraum tauchte ein Uniformierter mit athletischer Figur und einer weißblond gefärbten Kurzhaarfrisur auf. Nachlässig hielt er einen Becher dampfenden Kaffees in der Hand.
„Aha, die Brandermittler“, stellte er fest. Er nickte kurz und setzte sich an dem Computer am Publikumstresen, wo er dabei war, eine Vordruckmaske auszufüllen.
Pergande folgte ihm und legte seine College-Mappe auf dem Tresen ab. „Ihr habt es hier ja richtig gemütlich.“ Henningsen trat hinzu, murmelte aber nur ein sparsames „Moin, Moin“, weil er sah, dass die Kollegen in Gedanken ganz woanders waren.
„Von gemütlich kann keine Rede sein“, erwiderte der Blonde auch prompt. „Zwei Streifenwagen sind bei einem schweren Verkehrsunfall, der dritte unterstützt die 27er bei einer Schlägerei im Männerwohnheim. Und eine Wagenbesatzung muss ja nun euren Brandort bewachen.“
In Pergandes Gesicht stand ein Lächeln, aber hinter seiner Stirn lauerte die Lust zum Streiten. „Der Brandort von heute Nacht steht auf meiner Wunschliste auch nicht gerade ganz oben. Und wenn sie da eine Weile den Supermarkt bewachen, laufen sie nicht Gefahr, dass sie in einen viel schlimmeren Einsatz verwickelt werden.“
Der Blonde setzte gerade zu einer Erwiderung an, als Henningsen ablenkte: „Wir sind nicht zum Plaudern hier, wir wollen eure Festnahme verarzten. Wo ist der Kollege, der den Bericht fertigt?“
„Hinten, in den Schreibzimmern.“ Er vollführte eine vage Handbewegung zur gegenüber liegenden Seite vom Wachraum.
Sie fanden einen Kollegen in den Bericht vertieft, der andere saß neben ihm auf dem Schreibtisch und aß einen Apfel, indem er mit einem Küchenmesser Stück für Stück abteilte und in den Mund schob, ohne das Messer aus der Hand zu legen.
„Wir vom LKA 45 sind auch für tödliche Arbeitsunfälle zuständig“, bemerkte Gregor trocken, worauf er jedoch nur ein schiefes Lächeln erntete. Dann ließ er sich aber sofort das Wesentliche schildern, während Stefan die Computerauszüge studierte und feststellte, dass der per Haftbefehl gesuchte Ralph Knüpfer zwar zahlreiche Einbruchsdiebstähle begangen, aber nie einen Hang dazu gezeigt hat, die verräterischen Spuren durch Feuer zu vernichten. Gemeldet war er bei seiner Mutter in der Christian-Förster-Straße. Insofern vielleicht nicht überraschend, wenn er die Hoheluftchaussee herauf- und am Brandort vorbeikam.
Sein Kumpel, Sven Ortlieb, war 21. Zwei Jahre jünger als Knüpfer. Er hat bislang noch gegen kein Gesetz verstoßen.
„Weswegen der Haftbefehl?“ wollte Pergande wissen.
„Zur Strafvollstreckung“, antwortete der Uniformierte, dessen Apfel sich inzwischen auf ein säulenförmiges Kerngehäuse reduziert hat.
Henningsen und Pergande stimmten in ihrer Meinung überein, dass die beiden tatsächlich nur Schaulustige waren.
„Wenn Du nichts dagegen hast, Gregor, nehm’ ich mir den Knüpfer vor.“
„Wir nehmen ihn uns beide vor, den anderen lassen wir schlafen.
Der „Sichere Raum“ hatte zum Wachraum hin ein breites Fenster, durch das die Delinquenten stets unter Beobachtung waren. Knüpfer lag schlafend auf der Holzbank ausgetreckt. Seine nasse Jacke hing auf einem Holzstuhl. Als Henningsen die Tür öffnete, atmete der Raum warme Feuchtigkeit und den Geruch nach Alkohol, Schweiß und alten Socken aus.
Pergande rümpfte angewidert die Nase und stieß den Schlafenden unsanft an. Sein Blick war ungewohnt ernst. „Erheb’ dich mal, Freundchen. Wir möchten gern mit dir reden.“
Ein schmales, bleiches Gesicht wandte sich ihnen zu. Es dauerte eine Weile, ehe Knüpfers Erinnerungen einsetzten und noch eine weitere Weile, bis er aufrecht saß.
„Und?“ Er fuhr mit der Hand durch langes, dunkelblondes Haar, das strähnig über seine Schultern fiel. Der schmale Bartflaum über seinem schmalen Mund verlieh dem schmalen Gesicht etwas Verschlagenes. Wenn die Augen nicht wären. Sie wirkten, als würde Knüpfer ständig über etwas nachdenken, im Wissen, dass er sich der Lösung des Problems niemals annäherte.
„So ein seliger Dornröschen-Schlaf. Und alle Sorgen sind vergessen, stimmt’s?“ Pergande lächelte amüsiert. Sein Blick wirkte beinahe väterlich. „Als ich dich so friedlich schlummern sah, habe ich darüber nachgedacht, ob du’s nicht wusstest, oder ob deine Neugier so übermächtig war, dass du alle Vorsicht außer Acht gelassen hast.“
„Was soll ich nicht gewusst haben?“ Seine Stimme war belegt, er musste sich räuspern. „Sie müssen mir das schon irgendwie erklären.“
„Dass du uns ab jetzt noch eine ganze Zeit erhalten bleiben wirst.“
„Soll heißen...?“
„Du hast vor sechs Wochen deine Haftstrafe nicht angetreten, mein Lieber. So etwas sieht die Gerichtsbarkeit nicht gern. Deswegen hat sie einen Haftbefehl ausgestellt, und den werden wir jetzt gnadenlos vollstrecken.“
Im Nu straffte sich sein Körper und er war hellwach. Knüpfer suchte stotternd nach Ausflüchten, bis er sich innerhalb einer Minute mehrmals widersprach und Stefan Henningsen ihn unterbrach.
„Wir möchten gern von dir wissen, was euch heute Nacht in die Hoheluftchaussee geführt hat?“
Knüpfer kratzte ausgiebig seine Brust. Sein schwarzes T-Shirt war am Kragen eingerissen. „Ein warmes Bett. Zu Hause, bei Mama.“
„‘Bei Mama’.“ Gregor warf Stefan einen viel sagenden Blick zu. „Dann muss ja so ein warmes Feuer wie gerufen kommen.“
Knüpfer sah Pergande erst verständnislos an und schüttelte dann den Kopf. „Wir war’n auf ‘ner Party, Olli und ich. Haben einfach den Bus verpasst und sind zu Fuß nach Haus, das kurze Stück.“
„Wo auf 'ner Party?“, fragte Henningsen.
„Am Grindel. In den Hochhäusern.“
„Lässt sich das nachprüfen?“
„Klar lässt sich das nachprüfen.“
„Was war denn das da am Asia-Markt?“ Pergande warf Knüpfers Jacke auf den Tisch und zog den Stuhl zu sich heran. „Wer war zuerst da, ihr oder das Feuer?“
Es dauerte ein paar Augenblicke, ehe Knüpfer die Tragweite der Frage begriff. „Irgend so’n Kerl, der vorm Laden telefoniert hat. Mit der Feuerwehr oder so. Da konnte man im Laden schon Flammen sehen.“ Jetzt kratzte er sich den Rücken. „Olli hat ihn gefragt, ob er gesehen hat, wer’s war. Hat er aber wohl nicht.“
Gregor und Stefan ließen ihn noch eine Weile zappeln, wussten jedoch schon frühzeitig, dass Ralph Knüpfer und sein Freund weder mit der Brandstiftung zu tun noch etwas Verdächtiges beobachtet hatten. Der blonde Uniformierte schritt danach zielstrebig zu dem schlafenden Sven Ortlieb und weckte ihn unsanft. „Sieh’ zu, dass du nach Hause kommst, eh’ es bei uns was kostet.“ Ortlieb wohnte, nicht weit entfernt, in der Lenz-Siedlung.
Pergande erkundigte sich beim Wachhabenden nach dem Asia-Markt. Er wusste jedoch nichts Besonderes über das Geschäft zu berichten. Von Beschwerden, die sich gegen den Ladeninhaber richteten, war ihm nichts bekannt, und von der Geschäftsführung kannte er persönlich niemanden. Erst Montag würde der für dieses Viertel zuständige Kontaktbeamte wieder zum Dienst erscheinen.
Stefan ließ sich einen Internet-Rechner zeigen. Während Gregor sich in den Aufenthaltsraum setze und eine Tasse Kaffee trank, versuchte er etwas über das Geschäft heraus zu bekommen. Er fand tatsächlich eine Homepage. Sie war aber nicht besonders ausführlich und gab als Erreichbarkeit nur einen Festnetzanschluss und die bereits bekannte Mobilfunk-Nummer her. Kein Hinweis auf den Inhaber. Sehr dilettantisch, wie Stefan fand. Aber die Seite warb damit, dass jeden Donnerstag und Sonntag frische Ware zum Teil aus einem Direktimport angeliefert werde und Restaurants und kleinere Lebensmittelgeschäfte von Kiel bis Hannover zum Kundenstamm gehörten. Eine ganze Spalte bestand aus irgendwelchen asiatischen Schriftzeichen. Das alles half ihnen im Moment nicht weiter.
Er versuchte noch einmal, den Mobilanschluss zu erreichen. Auf dem Display stand, es werde angeklopft. Henningsen ließ ein paar Minuten verstreichen und versuchte es erneut. Der Ruf ging hinaus, das Gespräch wurde angenommen. „Hallo?“
Henningsen meldet sich.
„Hallo?“ Ein ‘Hallo’, dem das Fremdländische deutlich anzuhören war. Langgezogen und laut und trotzdem zu leise, weil die Hintergrundgeräusche vorherrschend waren. Geräusche, wie auf einer Party. Laute Stimmen, Gelächter.
„Hier spricht die Kriminalpolizei!“
„Hal-lo!“ Nach ein paar Sekunden schimpfte die Stimme ausgiebig und in einer fremden Sprache, dann wurde die Verbindung unterbrochen.
Henningsen starrte einen Augenblick irritiert auf den Telefonhörer, wählte dann die Nummer des Wachhabenden und stellte fest, dass das Gerät intakt ist. Einem weiteren Versuch unter der Mobil-Nummer folgte wieder eine automatische Ansage.
Diese einfachen Hindernisse in den Ermittlungen ärgerten ihn. Dann aber sah er die Gelegenheit, sich im Internet rasch über das aktuelle Kinoprogramm zu informieren. Er surfte über die Seiten von Cinemaxx, Abaton und Holi, als ihm das Autokennzeichen vom Lieferwagen einfiel. Stefan ärgerte sich, dass er nicht gleich daran gedacht hatte. Wenn der Supermarkt nicht gerade eine GmbH oder etwas ähnliches ist, womit eigentlich nicht zu rechnen war, hätten sie ja vielleicht ihren Inhaber ermittelt.
Er setzte sich an den Dienstrechner und rief die Leitung zum Kraftfahrtbundesamt auf. Das Resultat war ernüchternd. Der Computer wies auf einen Verbindungsfehler hin; die Seite vom KBA war zur Zeit nicht erreichbar. Vom Wachhabenden musste er hören, dass die Leitung schon seit den frühen Abendstunden unterbrochen war.
„Die Menschheit erschließt das Sonnensystem, aber eine einfache Datenautobahn bereitet Probleme“, stellte Henningsen fest. Frustriert folgte er seinem Kollegen in den Aufenthaltsraum. Die Stehlampe dort tauchte ihr Umfeld in behagliches Zwielicht und verlieh Pergandes Antlitz diabolische Züge. Aber der Kaffeeduft war verführerisch.
Stefan berichtete kurz, weshalb die Vorermittlungen ins Stocken geraten waren, aber Gregor schmunzelte nur. „Gönn dir erst mal einen schönen Bohnenkaffee, wer weiß, wann du dazu wieder Gelegenheit hast. Der Automat steht in der Küche. Pro Tasse 50 Cent.“
„Die Kollegen in der Lerchenstraße nehmen nur 30 Cent.“
„An der Davidswache habe ich ihn spendiert bekommen. Vermutlich finanzieren wir hier den nächsten Betriebsausflug.“
Henningsen orientierte sich gerade zur Küche, als das Signal vom Diensthandy ertönte. Pergande meldete sich. Er lauschte aufmerksam, und nach ein paar Sekunden war auch der letzte Funken Heiterkeit wieder aus seinen Augen verschwunden. Er klemmte das Gerät zwischen Ohr und Schulter ein, zog ein kleines Merkheft aus der Tasche und machte sich Notizen. Henningsen kehrte mit einem Becher Kaffee zurück und setzte sich zu ihm.
„Bei der alten Dame ist ein erneuter Herzstillstand eingetreten. Die Reanimation ist ohne Erfolg geblieben. Tja.....“ - so ernst hatte Stefan Henningsen seinen Kollegen lange nicht erlebt, „jetzt sind alle Kriterien erfüllt, dass der Fall in unseren Händen bleibt, richtig?“
„Ich habe nie daran gezweifelt, Gregor."
„Nicht?“ Pergande lächelte flüchtig, lehnte sich zurück und trank einen Schluck Kaffee. „Bianca hat veranlasst, dass die Verstorbene zur Obduktion überstellt wird. Und sie hat inzwischen mit den anderen Hausbewohnern gesprochen.“ Er blickte nachdenklich in den Trinkbecher. „Sag mal, schmeckt dir der Kaffee?“
Henningsen zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich steht er schon eine halbe Ewigkeit auf der Heizplatte. Härtet aber dafür gegen die Giftstoffe am Brandort ab.“ Wie zum Trotz trank er von der tiefschwarzen heißen Flüssigkeit. „Hat Bianca Näheres erzählt?“
„Nur angedeutet. Aber sie meinte, höchst merkwürdig, was sich da im Asia-Markt abspielt. Bianca hat von Marlene Kopp ein paar Sachen heraus bekommen.“
„Marlene Kopp?“
„Aus der oberen Etage. Die Familie, die zur Beobachtung eingeliefert wurde. Bianca kommt gleich zurück. Sie sagt, es gibt einiges zu erzählen. Und ich sage, die Geschichte nimmt langsam Form an.“
Stefan Henningsen streckte sich auf dem Lehnstuhl aus, als ginge es auf den Feierabend zu. „Du meinst, dass es auf eine Beziehungstat hinaus läuft?“
„Auf jeden Fall eine Brandstiftung, die mit dem Geschäft oder dem Inhaber in einem engen Zusammenhang steht.“
„Das ist dann ja alles viel zu einfach“, war Henningsens ironische Feststellung.
Bianca, die eine Viertelstunde später zu ihnen stieß, fand, dass der Kaffee wie ausgekochte Sportsocken schmeckte, aber auch sie trank einen, mit viel Milch und Zucker. „Ich weiß nicht, was man von der Geschichte halten soll“, begann sie und rührte bedächtig in der Tasse herum, „Frau Kopp erzählte, wie aufgeschlossen sie gegenüber asiatischen Spezialitäten sei. Sie hat sich gefreut, dass nahebei so ein Supermarkt aufmacht und war total enttäuscht, wie unpersönlich und geschäftsmäßig es darin zuging. Selbst die Herzlichkeit kam ihr aufgesetzt und geschäftsmäßig vor.“
„Alles kein Grund, um so einen Laden in Brand zu setzen“, warf Henningsen ein.
„Wenn Du mich zu Ende reden ließest...“
Er hob grinsend die Hand. „O.k., Bianca..., sorry.“
„Die Ware überteuert, verglichen mit einem Asia-Markt am Hauptbahnhof, die Beratung soll zwar fachmännisch geklungen haben aber manchmal deswegen kaum verständlich, weil die Geschäftsführerin nur rudimentär der deutschen Sprache mächtig ist.“ Bianca blies über den Kaffee und trank einen vorsichtigen Schluck. „Sie soll ziemlich herrschsüchtig sein und die Kassiererin und einen anderen Ladenmitarbeiter schon mal lautstark zur Schnecke gemacht haben, selbst wenn sich Kunden im Geschäft aufhielten. Deswegen seien dort eigentlich nur wenige zum Einkaufen gegangen. Frau Kopp meinte, gut könne der Laden nicht gelaufen sein.“
Ihre Kollegen sahen sich vielsagend an. Pergande rückte seine Brille zurecht und musterte Bianca prüfend. „Wenn wir jetzt noch erfahren, dass die Ladeninhaberin eine große Inventar- und Geschäftsausfall-Versicherung abgeschlossen hat, dann hätten wir eine erste Arbeitsgrundlage.“
„Wenn unsere beiden Probanden hier als Verdächtige ausscheiden, ist’s doch immerhin etwas.“ Biancas Miene blieb ernst. „Wir sind hier nicht im Tatort-Krimi, der nach neunzig Minuten aufgeklärt ist.“