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Das Morgengrauen ging fast unmerklich vonstatten. Der Himmel war nach wie vor verhangen, aber es hatte zu regnen aufgehört. Es war nicht ganz fünf Uhr, als das Ermittler-Team die Brandortarbeit aufnahm. Von den uniformierten Kollegen bekam Pergande einen Schlüssel für die Wohnungstür der Verstorbenen ausgehändigt, den die Feuerwehr auf dem Küchentisch gefunden hatte. Dadurch stand ihnen ein Stromanschluss zur Verfügung, und sie konnten die beiden Halogenstrahler aufbauen.

Nachdem alle drei in dunklen Schutzanzügen und Gummistiefeln steckten und die gelben Atemschutzmasken übergestreift hatten, trugen sie das Equipment hinein und fluteten den Brandort mit gleißendem Licht. Die schwarzen, bizarr geformten Regale und Kühltruhen, die durch den Löschangriff durcheinander geworfene Ware, alles zeichnete sich in aufdringlicher Deutlichkeit ab. Ein Bombenanschlag könnte kaum eine größere Wirkung erzielen, dachte Bianca Jochens bei sich und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um nirgendwo hängen zu bleiben oder auszurutschen. Die Plastikflaschen mit Speiseöl und anderen Flüssigkeiten waren geschmolzen; der Inhalt bedeckte den gefliesten Boden, und man bewegte sich wie auf Glatteis.

Mit den Masken war ihr Gesichtsausschnitt eingeschränkt, weshalb sie alle nur langsam voran kamen. Aber es war deutlich ein einziger Brandschwerpunkt zu erkennen, der ihnen in diesem Falle anzeigte, wo das Feuer ausgebrochen sein dürfte. Dort, wo es am längsten und intensivsten gewütet hatte, wo die Schäden am stärksten ausgeprägt waren. Obwohl im angrenzenden Büro eine Menge Papiere herumlagen und Büromöbel standen, zeigte sich der Brandverlauf mehr zum Verkaufsraum und über eine offene Lagerfläche zum Hinterausgang hin, wo durch ein undichtes Fenster Sauerstoff hinein gelangte. Und als die große Schaufensterscheibe zersprang, loderten die Flammen gierig in genau diese Richtung.

Pergande zeigte auf ein paar Stellen mit scharfkantigen Verbrennungsspuren, die darauf hindeuteten, dass ein flüssiger Brandbeschleuniger eingesetzt worden ist. Von der Feuerwehr hatten sie ja auch schon erfahren, dass eindeutig Benzindämpfe wahrgenommen wurden. Deswegen verzichtete Pergande darauf, die Maske abzusetzen und sich selbst davon zu überzeugen, so wie er es entgegen der Arbeitsschutzbestimmungen sonst gerne tat.

Doch auch im Büro hat das Feuer großen Schaden angerichtet. Drei Computer-Monitore standen auf einem L-förmig aufgebauten Schreibtisch und waren deformiert. Stapel von Geschäftspapieren durchnässt, verwirbelt und größtenteils angebrannt. Die Rauchgase haben sich schwarz und giftig über die gesamte Büroeinrichtung gelegt, in derselben Intensität auch in den Schränken, was bedeuten konnte, dass sie beim Brandausbruch offen gestanden haben. In einem der Schränke lag der Einsatz der Registrierkasse. In allen Fächern lag Münzgeld. Daran waren die Täter offenbar nicht interessiert. Ob Geschäftsunterlagen durchwühlt wurden, war für sie nicht ohne weiteres ersichtlich, weil die Feuerwehr mit dem Löschwasser auch im Büro nicht gegeizt hat. Der hohe Druck hat viele Sachen auf den Boden gerissen. Henningsen überflog die Papiere, ohne dabei ihre Lage zu verändern. Das meiste waren Rechnungen von Lieferanten aus Bremen und Holland, sowie Cargounterlagen vom Hamburger Flughafen. Auf den ersten Blick entdeckte er nur den Firmennamen als Rechnungsadresse. Vielleicht boten die Ordner in den Büroschränken mehr Ermittlungsansätze. Die Ordnerrücken waren mit fernöstlichen Schriftzeichen oder unverständlichen Abkürzungen versehen.

Pergande begann bereits mit der Fotodokumentation. Er ging dabei sehr systematisch vor und kennzeichnete die Schüttspuren mit Pfeilen und Nummerntäfelchen. Das Team war sich einig, dass es den Tätern nur darum gegangen ist, im Supermarkt großen Schaden anzurichten; der Brandbeschleuniger wurde von einem Standort unweit des kleinen offenen Warenlagers, wo Reissäcke aufgeschichtet und Kartons gestapelt waren, zur Verkaufsfläche und zum Büroeingang hin ausgeschüttet. Ein paar leere Kartons wurden unterhalb des kleinen Altars mit Buddha-Statue bis zum ersten Warenregal hin in Brand gesetzt. Das war an den völlig verkohlten Überresten zu erkennen. Von hier haben die Täter, vielleicht war es auch nur einer, den Rückzug angetreten. Doch bis zur Hintertür hin waren absolut keine Spuren zu erkennen, die Anhaltspunkte auf sie boten. Kein Gegenstand, der nicht zum Laden gehörte, keine Spur, die auf eine überstürzte Flucht hindeutete und schon gar keine Fingerprints, weil jeder Quadratzentimeter mit einer schmierigen schwarzen Schicht überzogen war.

Nachdem alle wesentlichen und scheinbar unbedeutenden Details fotografiert waren, gingen sie daran und sichteten vorsichtig, um die verbliebenen Papiere zu erhalten, die Geschäftsunterlagen auf dem Schreibtisch, auf dem Fußboden und in den Aktenordnern. Bianca entdeckte eine fast leere und eine angebrochene Flasche Remy Martin im Schreibtisch. Auf dem Regal zwischen Tür und Sofa lagen Kinderbücher und Spielsachen. In einem der Büroschränke wurden mehrere Stangen Zigaretten aufbewahrt.

Als Henningsen einen Aktenordner aus dem Schrank zog, rutschte ein Heft im DIN-a-4-Format mit dickem Kunststoffeinband heraus und fiel auf den Boden. Er bückte sich danach und stellte fest: es war eine Speisenkarte. Restaurant Siam Park. Er legte sie schon auf den Schreibtisch, weil er vermutete, dass sich die Geschäftsführerin und Mitarbeiter ab und zu etwas zum Essen kommen ließen. Dann wurde ihm bewusst, dass es in diesem Stadtviertel kein Restaurant Siam Park gab und er nahm die Karte wieder in die Hand. Er schlug sie auf und hielt sie sich vor das Sichtfenster seiner Atemschutzmaske. Auch wenn die Hitze der Flammen den Kunststoffhüllen arg zugesetzt hat und er die zusammen geklebten Seiten erst voneinander lösen musste, einiges Wesentliche war noch zu erkennen. Die Fotos auf der Innenseite zeigten ein typisches Thai-Restaurant, gemütlich eingerichtet, mit einer kleinen Bühne, auf der Tänzerinnen in bunter, glitzernder Kostümierung zu sehen waren. Er blätterte die Seiten durch und stellte fest, dass dort eine stattliche Palette an Speisen, traditionellen Getränken und Cocktails angeboten wurden. Er blätterte wieder zurück und fand dann, wonach er suchte. Die Adresse vom Restaurant. Nahe Hauptbahnhof, Spadenteich 3. Und dann stockte ihm der gefilterte Atem.

„Hey, Leute - ich werd’ verrückt!“ Er hielt die Karte empor, und Bianca und Pergande sahen sich um. „ ...wer Inhaberin vom Restaurant ‘Siam Park’ ist!“

„Du, Stefan -“ Pergandes Stimme unter der Maske klang gedämpft, und seine Stimme hatte einen beschwichtigenden Tonfall, „wenn, dann suchen wir den Inhaber von diesem Supermarkt.“

Bianca war schon aufgeschlossener. „Wer ist es denn?“

Henningsen hielt ihnen die Karte entgegen. „Sriwan Friedlaender.“

„Wenn mich nicht alles täuscht, ist das...“

Henningsen sah durch das Sichtfenster in Pergandes Augen. „Ja, genau!“

Sie veranlassten eine Notverglasung und ließen die Türschlösser austauschen. Der Brandort blieb somit sichergestellt.

„Wir müssen jetzt umgehend in den Falkenried“, stellte Gregor Pergande fest, während er sich mit Stefan auf der Ladefläche des Ford Transit der Arbeitskleidung entledigte. Dazu blieb ihnen zwischen dem Stauraum nicht ganz ein Meter Platz. „Das siehst du doch auch so, oder?“

„Na klar.“ Henningsen hängte Jacke und Hose über einen Bügel und verstaute sie in seinem Fach, wo auch die anderen Ausrüstungsgegenstände auf engstem Raum zusammengestellt waren. „Ich frage mich wirklich, warum dieser Friedlaender sich am Brandort aufgehalten hat. Und geht anschließend nach Hause, als wär' es gar nichts, wenn der Supermarkt seiner Ehefrau abbrennt.“

„Zumindest hätte man erwarten können, dass die Verantwortlichen hier mal erscheinen. Kannst du nicht mal deine Stiefel wegstellen, Stefan? Ich möchte hier keinen Spagat machen müssen.“ Pergande quälte sich aus seinem Overall und sah Henningsen vorwurfsvoll an. „Sie müssten sich normal ja auch auf den Geschäftsbeginn vorbereiten.“

„Ich versuche mich gerade in die Leute hineinzuversetzen“, überlegte Stefan, an die Regalbretter des Stauraums gelehnt. Er beobachtete Gregor mit verhaltenem Lächeln, weil er von ihm den Spagat sehen wollte, nahm dann aber doch die Stiefel und stellte sie in sein Fach. „Daniel Friedlaender geht nach Hause und berichtet von dem Feuer. Die Ladeninhaberin wegen der bevorstehenden Ladenöffnung in heller Aufregung, zieht sich an und kommt umgehend her. Somit müsste sie also längst hier sein.“

„Wir wissen nur nicht, wen du vorhin telefonisch erreicht hast. War es die Inhaberin, auf einer Fete und sturzbetrunken?“

„Vielleicht die, von der die Nachbarn erzählt haben.“

„Aber irgendjemand müsste erscheinen.“

Henningsen und Pergande sprangen nacheinander ins Freie, wo Bianca in ihrem Bühnenoutfit stand und die Schutzkleidung über den Arm trug. „Wir müssen unverzüglich in den Falkenried“, drängte sie und warf ihre Sachen in den Transit. „Ich bin dabei.“

„Zu dritt wäre vielleicht etwas übertrieben“, stellte Pergande nachdenklich fest, „fahr du ruhig nach Hause. Wenn du nur einen kleinen Umweg über St. Georg machen könntest? Sieh dir mal das Restaurant an. Würde mich wirklich interessieren, was für ein Gourmet-Tempel das ist.“

Falkenried. Eine ruhige Wohnstraße zwischen Martinistraße und Lehmweg. Weiter unten, in dem Neubaugebiet vis-à-vis vom Isebekkanal, hatte Rafael van der Vaart mit seiner Frau Silvie gewohnt. Henningsen war darüber genau informiert, weil er erbarmungsloser HSV-Fan war. Der obere Straßenabschnitt, ab dem Eppendorfer Weg, zeichnete sich, zumindest im Sommer, durch gesunde, dicht belaubte Kastanienbäume und hohe Parkplatznot aus. Noch waren die Bäume, ohne positiven Einfluss auf die Parkplatznot, winterkahl. Die Wohnhäuser stammten fast alle aus der Gründerzeit. Das, vor dem sie nun standen, musste allerdings später entstanden sein und eine Lücke ausgefüllt haben. Die Fassade war grob verputzt und hellgelb übermalt. Rechts gab es eine Parterrewohnung mit kleinem Vorgarten, links eine Toreinfahrt zum Gewerbehof. Das schwarze schmiedeeiserne Doppeltor war geschlossen.

Pergande stellte den Transit vor dem Tor ab und legte das Schild „Kriminalpolizei“ auf das Armaturenbrett. Henningsen war bereits hinaus gesprungen und studierte das Klingelbrett. ‘Friedlaender’ stand unten rechts. Also wohnten sie in der Parterrewohnung. Nur wenige Fenster waren in dieser frühen Stunde erleuchtet. Aber dort brannte Licht, und es war auch Bewegung hinter den herabgelassenen Rollos zu erkennen.

Henningsen sah seinen Kollegen hinzu kommen. In seinem Blick Verwunderung darüber, warum er zögerte. Doch Stefan war stets zurückhaltend wenn es darum ging, unmittelbar nach einer Tat bei unklarem Hintergrund einen Betroffenen aufzusuchen und nicht zu wissen, welche Rolle er spielte. Andererseits konnte man mit dem obligatorischen „Beileidsbesuch“ heute Morgen noch keinen taktischen Fehler begehen.

Es hatte endgültig zu regnen aufgehört. Henningsen lief ein Schauer über den Rücken, als er einen jungen Mann im T-Shirt mit Brötchentüte und Tageszeitung die Straße hinunter kommen sah.

„Worauf wartest du?“ wollte Pergande wissen.

Henningsen klingelte. Drinnen ertönte leise eine elektronische Melodie. Fast augenblicklich wurde der Türöffner betätigt. Also keine hektische letzten Absprachen vor dem erwarteten Zusammentreffen.

Im Treppenhaus roch es angenehm. Dem Reinigungsmittel haftete unverkennbar eine Frühlingsnote an. Ein Lichtspalt fiel in den dunklen Hausflur und zeichnete sich auf einem alten schwarzen Fahrrad ab, das am Treppengeländer angeschlossen war.

Sie wurden von einer kleinen Asiatin erwartet. Vom Anblick eine Chinesin, aber nach der Einwohnerdatei war sie, wie Henningsen über Funk recherchiert hat, von thailändischer Herkunft. Sie trug eine dunkelblaue Winterjacke mit Kapuze und war damit beschäftigt, ihren Regenschirm einsatzbereit zu machen. Hinter ihr stand vermutlich ihr Mann, Daniel Friedlaender, einen Kopf größer, in T-Shirt und Boxershorts.

„Ich bin Stefan Henningsen, Kripo Hamburg, Brandermittlung.“ Aus dem Dunkel des Hausflurs, mit dem Anflug von einem wissenden Lächeln, trat Gregor Pergande hinzu. Stefan wich zur Seite. „Mein Partner, Herr Pergande.“

„Guten Morgen“, kam es leise von der Asiatin, die auch Henningsen nur bis an die Schultern reichte. „Ich gehen gerade zum Geschäft. Sie kommen wegen das Feuer?“

„Dann wissen Sie also schon davon.“

Sie warf einen Blick zurück. „Mein Mann hat mir erzählt.“ Ihre Stimme hatte einen zarten Klang und wirkte höflich und unaufgeregt. In ihren Augen konnte man nur wenig lesen, vielleicht eine Spur Unsicherheit, wie sie Ausländern zu eigen ist, wenn sie mit einer unerwarteten Situation und unklarer Rechtslage konfrontiert sind und sie Verständigungsprobleme befürchteten.

„Es wäre sehr hilfreich gewesen, wenn Sie dann auch umgehend zu Ihrem Laden gekommen wären“, ging Pergande in die Offensive.

„Wollen Sie nicht erst mal eintreten?“ Sie wich zur Seite und gab der Tür einen Schwung, dass sie gegen die Wand stieß. „Noch alles unordentlich“, fügte sie lächelnd hinzu, „und die Kinder noch schlafen. Bitte leise.“ Ein höfliches Lächeln, das nicht zur Situation passte und deswegen, wie Henningsen fand, etwas undurchsichtig wirkte.

Die Kriminalbeamten fanden sich in einer sehr kleinen Wohnung wieder. In dem winzigen, quadratischen Korridor hing links ein großflächiger Spiegel, in dem Henningsen sein übernächtigtes Gesicht mit den Augenringen betrachten konnte. Daneben stand ein Karton, darauf ein Berg aufgeschichteter Jacken. Nur zwei weitere Türen gab es. Bad und Schlafzimmer vermutlich.

„Ich versuchen erst meine Schwester zu erreichen“, erklärte die Asiatin, „im Laden ich bin Inhaberin, aber der Laden gehören meiner Schwester. Ich bin nicht sicher, was tun.“

Pergande musterte sie interessiert und blieb die Antwort schuldig. Stattdessen bückte er sich und nahm die feuchten Sportschuhe auf, die er auf einem Feudel neben der Wohnungstür stehen sah. Er roch an Sohlen und Gewebe. Der fragende Blick von Friedlaender war fast physisch zu spüren. Auch die Regenjacke, die zuoberst auf dem Karton lag, unterzog er einer Geruchsprobe. Benzinrückstände waren keine wahrzunehmen. Fragte sich nur, ob sie bei diesem Wetter nicht vielleicht ohnehin rückstandslos rausgewaschen worden wären.

"Was soll das jetzt bedeuten", fragte Friedlaender halb belustigt, halb ärgerlich.

"Ich finde, es riecht irgendwie verbrannt." Pergande verzog das Gesicht und schnüffelte ostentativ. "Aber wahrscheinlich hat sich der Geruch vom Brandort schon an meinen Nasenhaaren abgesetzt."

"Ich rieche nichts."

Pergande zuckte mit den Schultern. "Jetzt bin ich mir auch nicht mehr so sicher." Er drang weiter in die Wohnung vor und wandte sich an die Asiatin. „Wo wohnt Ihre Schwester, Frau Friedlaender?“

„Auch hier, mit der ganzen Familie. Der Laden von hier nicht so weit.“

Sie betraten das Wohnzimmer, in das vornean eine moderne Einbauküche integriert war. Über die verbleibende Fläche verteilten sich Spielsachen, zwei Sessel im altdeutschen Stil, zwei größere Schreibtische und ein kleiner, zwei Fernsehgeräte und ein ovaler, dunkler Cocktailtisch mit Sitzkissen. „Wo hält sie sich denn jetzt gerade auf, Ihre Schwester? Haben Sie sie inzwischen erreicht?“

„Sie hat Handy ausgeschaltet. Sie sehr müde und schlafen.“

„Meine Schwägerin führt noch ein Thailändisches Restaurant, ganz in der Nähe vom Hauptbahnhof.“ Daniel Friedlaender lehnte am Türrahmen und zeigte wegen des Feuers nicht die Spur von Aufregung oder Betroffenheit. „Ist bis fünf Uhr morgens geöffnet, und sie schläft dann ein paar Stunden im Büro, ehe sie zum Supermarkt fährt.“

„Sie sprechen sicher vom ‘Siam Park’ im Spadenteich.“ Henningsen musterte die Asiatin und ihren Ehemann eindringlich und versuchte sich in ihr Familienleben und ihre Gewohnheiten hineinzuversetzen. Und er dachte an Bianca, die gerade dorthin unterwegs war. Gregor offenbar auch, denn er hatte bereits sein Handy am Ohr und raunte ein paar Informationen in das Gerät.

„Eigentlich sind wir gekommen, um Ihnen die Nachricht von dem Feuer zu überbringen“, fuhr Henningsen fort, „und da wissen Sie’s schon. Wie kommt es, Herr Friedlaender, dass Sie sich bei strömendem Regen überhaupt in der Nähe vom Supermarkt aufgehalten haben?“

Er gähnte und kratzte sich ausgiebig am Hinterkopf. „Reiner Zufall. Ich brauchte einfach etwas frische Luft." Dann grinste er verhalten. "Mehr möchte ich dazu lieber nicht sagen. Wäre auch nicht wichtig.“

Hier im Wohnzimmer entdeckte Henningsen nichts, was als verdächtig einzustufen wäre.

„Ich habe meiner Frau gesagt, keine Eile mit dem Laden. Die Polizei hat alles sichergestellt und abgesperrt, wir kommen sowieso nicht hinein. Und die Kunden werden gewiss sehen, warum heute nicht wie normal um 10 geöffnet wird.“

Pergande durchschritt das Wohnzimmer und hinterließ dort, wo er länger verweilte, feuchte Flecken auf dem Laminatboden. Sein Blick schweifte von Daniel Friedlaender zu seiner Frau „Wieso wollen Sie eigentlich gar nicht wissen, wie es zu dem Feuer kommen konnte? Das sind doch sonst immer die ersten Fragen.“

„Und die ersten Antworten der Polizei sind immer: Das lässt sich so genau noch nicht sagen, die Ermittlungen sind ja gerade erst angelaufen.“

„Nicht irgendeine Vermutung?“

Friedlaender schüttelte den Kopf. Seine Frau schaute sie erwartungsvoll an. Ihr Lächeln war verschwunden. Sie spürte, dass die Lage ernst war. „Ich habe keine Ahnung. Können wir hingehen und gucken?“

„Na ja“, Pergande setzte sein belehrendes Lächeln auf, „es macht wirklich keinen Sinn, so kurz nach dem Feuer den Laden zu betreten. Je nach dem Grad der Frischluftzufuhr dauert es bis zu zwei Wochen, ehe man ungeschützt in die Räumlichkeiten hinein gehen sollte. Also später Vorsicht bei der Bestandsaufnahme. Sie ahnen nicht, wie hoch die Schadstoffkonzentration so kurz nach einem Brand sein kann.“

„Ich glaube Ihnen.“

Pergande legte den Kopf schief und fragte sich, ob sie ihn wirklich verstanden hat. Sein Blick wanderte zu Henningsen, als erwartete er von ihm ein Signal zum Vorstoß.

„Ich bräuchte von Ihnen die vollständigen Personalien. Haben Sie einen Reisepass griffbereit?“

„Selbstverständlich.“ Die Asiatin ging zu einem der Schreibtische und wühlte in ihrer Handtasche.

Pergande und Henningsen tauschten viel sagende Blicke aus, die dem Ermittlungsleiter die letzte Sicherheit gaben: Sie würden die Geschäftsinhaberin mit ersten Informationen konfrontieren.

„Hier, bitte.“ In ihren feingliedrigen Fingern hielt sie einen deutschen Personalausweis.

„Sriwan Friedlaender“, las Pergande und notierte die Daten, „geborene Chariyaporn...“ Nach einer Weile blickte er auf und musterte die Asiatin durchdringend. „Angenommen, Frau Friedlaender, unsere Ermittlungen ergeben, dass jemand Ihren Supermarkt absichtlich in Brand gesetzt hat. Wüssten Sie dann, wer so etwas tun würde?“

„Absichtlich? Meinen Sie?“ Sriwan Friedlaender sah ihn mit großen Augen an, was dann nicht einmal halb so groß war, wie bei Europäern.

„Ja. Jemand ist bei Ihnen eingebrochen und hat im Verkaufsraum Feuer gemacht. Wir glauben, es ist nichts gestohlen worden. Es ging nur darum, großen Schaden anzurichten und zu verhindern, dass Sie weiter Geschäfte machen können. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?“

Henningsen verfolgte unauffällig aber mit aller Konzentration, wie Daniel Friedlaender auf diese Eröffnung reagierte. Er blieb jedoch gelassen. Entweder bezähmte er seine Neugier oder dieser Hinweis interessierte ihn nicht. Beides bot Anlass, sich genauer mit ihm zu beschäftigen.

„Ja, ich verstehen...“

„Aber?“

„...ich weiß nicht. Ich keine Ahnung, wer...“

„Es ist nicht wahrscheinlich, dass diese Tat von einem potentiellen Brandstifter begangen worden ist“, trug Pergande weiter vor, „das, was sich in Ihrem Supermarkt abgespielt hat, hat eine Vorgeschichte. Haben Sie mich verstanden?“

„Ich verstehen, aber...“ Die Asiatin zuckte mit den Schultern.

„Und Sie, Herr Friedlaender?“ Pergande wölbte die Augenbrauen. „Hegen Sie einen Verdacht?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte er bestimmt, „sicher gibt es manchen Neider, aber keiner würde auf die Idee kommen, ein Feuer zu legen.“

„Zum Beispiel?“

Friedlaender wandte sich an seine Frau. „Du hast doch mal erzählt, dass sich der Inhaber von diesem Asia-Markt weiter unten so komisch verhalten hat.“ Er sah Pergande an. „Kurz vor der Hoheluftbrücke gibt’s einen Pakistani. Ein oder zwei Wochen nach der Eröffnung tauchte er mit seiner ganzen Familie im Supermarkt auf und hat sich angesehen, was wir alles im Angebot haben, wie unsere Preispolitik ist. Haben nichts gekauft, aber die Frau soll gesagt haben, warum wir den Supermarkt nicht an anderer Stelle hätten aufmachen können, stimmt’s, Siri?“

Sie schüttelte den Kopf. „Na ja, stimmt schon, aber sie dann nicht so machen. Sie machen kein Feuer.“

„Da haben Sie sicher Recht“, pflichtete Pergande ihr bei, „wenn ich mir überlege, wie viele Bäcker es bei uns in der Nähe gibt und bei keinem hat’s jemals gebrannt.“ Trotzdem prägte er sich den Gedanken ein. Irgendwo musste man ansetzen.

Henningsen interessierte etwas anderes. Er fragte Sriwan Friedlaender: „Haben Sie einen privaten Pkw?“

„Ja, wir haben. Einen Toyota.“

„Ah..... - und für den Notfall auch immer einen Reservekanister mit Benzin dabei?“

Sie sah ihren Mann fragend an, aber er verhielt sich zurückhaltend. Kein Protest, ob sie ihn etwa verdächtigten. „Nein", erwiderte sie zögerlich. "Nur einen Kanister mit Motoröl. Warum Sie fragen?“

Wie sie antwortete, klang es wahrheitsgemäß. Henningsen war auch nicht aufgefallen, dass mit dem kurzen Augenkontakt geheime Absprachen ausgetauscht wurden. Daniel Friedlaenders Mienenspiel blieb undurchsichtig.

Henningsen lächelte entschuldigend und zuckte mit den Schultern. „Reine Routine.“

Pergande telefonierte derweil noch einmal mit Bianca und erfuhr, dass das Restaurant geschlossen ist und auf Klopfen niemand öffnete. Als Sriwan Friedlaender die Büronummer noch einmal wählte, erhielt sie keinen Anschluss. Nur wieder die Ansage der Mobil-Box.

„Will Sie nicht um zehn im Geschäft sein?“ wollte Henningsen wissen.

„Nein, meistens gehen ich, wenn meiner Schwester bis morgen früh im Restaurant - oder umgekehrt.“

Stefan nickte und Pergande wies die Geschäftsinhaberin darauf hin, dass die Schlösser ausgetauscht seien und niemand von ihnen den Laden betreten darf, ehe der Fall nicht aufgeklärt ist. „Sie wohnen in Frankfurt, Herr Friedlaender?“

„Sehr richtig.“ Und als hätte er vermutet, worauf Pergande hinzielte, fügte er hinzu: „Ich fahre erst am Dienstag zurück.“

„Prima. Dann möchte ich, dass Sie alle drei am Montagvormittag“ - er überreichte ihnen eine Visitenkarte - „bei uns im Polizeipräsidium vorsprechen. Wir werden, glaube ich, eine Menge zu bereden haben."

Lodernder Hass

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