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STATION II UNBELASTET

1951 – 1956

Mit sechs Jahren, also 1951, wurde ich eingeschult. Es ging in die Volksschule am Buerschen Brößweg. Auch hier gab es keine Besonderheiten. Schnell erkannte ich damals schon, dass mir musische Fächer wie Musik, Geschichte, Geografie mehr lagen als alles Naturwissenschaftliche.


Als mein Bruder Peter eingeschult wurde, war ich bereits in der zweiten Klasse. Von uns beiden war ich eindeutig der ruhigere Typ. Wenn irgend möglich ging ich aufkommenden Konflikten aus dem Weg. Ganz anders Peter. Wo auch immer versuchte er, seinen Kopf durchzusetzen, neigte zu Jähzorn und fand sich in Situationen, die für ihn ungünstig waren, sehr schwer zurecht. Wenn es zwischen ihm und anderen zum Streit kam, drohte er stets mit seinem großen Bruder. So kam es, dass ich regelmäßig in seine Kleinkriege mit einbezogen wurde und den einen oder anderen Schlag auf die Nase bekam, der eigentlich ihm gegolten hatte. Trotzdem verstanden wir uns meistens gut.


Damals waren wir uns einig, dass wir später einmal als Artisten oder Akrobaten Weltruhm erlangen würden. Um das zu erreichen, übten wir täglich, wobei wir uns an der Camilla-Mayer-Truppe orientierten, die zu der Zeit internationalen Ruf genoss und häufig in Ruhrgebietsstädten auf Marktplätzen auftrat. Die zeigten in erster Linie gewagte Hochseilakrobatik, die wir auch, aber noch besser bringen wollten.

Da wir uns zunächst einmal mit den vorhandenen Übungsmaterialien zufriedengeben mussten, genügte uns der Küchentisch, auf den man zwei Stühle aufeinanderstellte. Als Peter nun nach Akrobatenmanier auf diesen Stühlen den Handstand versuchte, rutschte der obere Stuhl ab und Peter schlug mit dem Unterkiefer auf die Tischkante. Als er mich ansah, war ich entsetzt. Unterhalb seiner Unterlippe klaffte ein stark blutendes Loch, durch das man die untere Zahnreihe sehen konnte, als er mir sagte, dass er die Übung nochmal machen wolle. Im Krankenhaus wurde genäht und die Camilla-Mayer-Truppe ging weiter.

Die kleine Narbe ziert noch heute wie ein Studentenschmiss recht vorteilhaft sein Gesicht.

Unser gemeinsames Kinderzimmer befand sich unter der Dachschräge, mit dem Fenster zur Straße. Eines schönen Tages stand unsere Mutter am Küchenfenster und blickte auf die Straße. Es irritierte sie, dass sich auf der anderen Straßenseite eine Menschenansammlung gebildet hatte. Alle schauten und zeigten mit den Fingern nach oben. Einige hatten vor Entsetzen die Hände vor ihre weit geöffneten Münder gelegt. Mutter ahnte Schlimmes, rannte die Treppe hoch … das Kinderzimmer war leer, das Fenster weit geöffnet …

Für Peter und mich war das die erste Vorstellung vor Publikum. Stolz balancierten wir über die Dachspitze und winkten den Menschen auf der Straße freundlich zu. Anstatt tosenden Applauses erfolgte ein spitzer Schrei unserer Mutter. Vorsichtig, mit zitternden Beinen, auf allen Vieren, durch den Schrei unserer Mutter verschreckt, hangelten wir uns, möglichst nicht nach unten schauend, in Richtung Dachfenster. Den Traum von der Hochseilakrobatik gab es nun für uns nicht mehr.

Stationen der Erinnerungen 1945 bis 2016 - Eine Autobiografie

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