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STATION IV DANKE OMA, DANKE OPA. ENTDECKUNG UNGEAHNTER FÄHIGKEITEN

1960 – 1968

Nach Beendigung meiner Schulpflicht suchte ich eine Lehrstelle. Da mein Großvater zu der Zeit der erste Vorsitzende des Buerschen Fußballvereins „Buer 07“ war, kannte er natürlich den einen oder anderen, der eventuell seinem Enkel einen Ausbildungsplatz bieten könnte. In die engere Wahl kamen ein befreundeter Optiker und ein Drogist, dessen Gehilfe daran dachte, in nächster Zeit seine eigene Drogerie zu eröffnen. Optiker, als Handwerksberuf, lag mir nicht. Aber Drogist, das konnte ich mir vorstellen.

Beim Vorstellungsgespräch bei der Drogerie Josef Kortmann in Buer-Erle lernte ich meinen zukünftigen Chef und Lehrherren, Herrn Friederich Luttmann, kennen. Eine biedere, sehr konservative Person, wahrscheinlich streng gläubig, aber sympathisch. Herr Kortmann führte mich durch sein Geschäft. Fasziniert zählte ich hunderte Schubladen, Glasbehälter, Flaschen mit allen möglichen Tees, Chemikalien, Tinkturen, einfach allem, was der Drogist so anzubieten hatte. Jeder einzelne dieser vielen tausend Artikel verströmte seinen eigenen Duft, der sich mit dem Duft edler Seifen, Parfüms, Badezusätze usw. zu einer einzigartigen Komposition vereinte, die damals und bis in die 70er Jahre von jeder Drogerie ausging.

Heutige Drogeriemärkte haben mit den Drogerien, wie es sie früher gab, leider nichts mehr zu tun.

Meine Lebensbedingungen veränderten sich schlagartig, als der Arbeitsplatz meines Vaters nach Essen verlegt wurde. Von nun an lebte ich bei meinen Großeltern in Gelsenkirchen-Buer. Das heißt, wochentags bei den Großeltern, samstags und sonntags bei meinen Eltern in Essen.

Die Arbeit in der Drogerie machte mir Spaß. Die Berufsschule packte ich, ohne die „Hilfe“ meines Vaters, mit links.

Das Leben war nun unkompliziert, ich merkte, dass Oma und Opa mich liebten. Endlich konnte ich die Hosen tragen, die ich mir wünschte. An diese angenehme, tolerante, neue Atmosphäre musste ich mich erst gewöhnen. Es gab keine unberechtigten Vorhaltungen, kein Versagen irgendwelcher normalen Ansprüche, alles war gut.

Zu den Wochenenden versuchte ich jedes Mal, in Gelsenkirchen-Buer zu bleiben, denn in Essen, bei meinem Vater, wurden die alten Repressalien, die mich fast kaputtgemacht hatten, zum Teil sofort wieder aufgenommen. Nur geschlagen wurde nicht mehr, denn mein Vater musste damit rechnen, dass zurückgeschlagen würde.

Damals hatte ich bei der Tanzschule Seidel im Goldberghaus zusammen mit Dorothea einen Tanzkurs gebucht. Der fand einmal in der Woche statt. Jeden Samstagabend gab es außerdem den Tanzabend für ehemalige und aktuelle Tanzschüler. Wann immer es ging, waren Dorothea und ich dabei. Man trug Cocktailkleid und Anzug mit Krawatte. Es waren immer schöne Abende bei Standardtanz und Rock ‘n‘ Roll.

Wie an den meisten Samstagabenden hatte ich mich auch am 12. August 1961 mit Dorothea zum Tanzen verabredet. Auf dem Weg zu ihr musste ich an einer Straßenkreuzung warten. Ein linksabbiegender Pkw übersah wohl ein entgegenkommendes Motorrad, das dann gegen den Pkw krachte. Der Mann auf dem Rücksitz des Motorrads flog über den Pkw und mir vor die Beine. Ihm war dabei nichts passiert. Bei mir jedoch kam es zu einer komplizierten Fraktur des rechten Sprunggelenks.

Es stellte sich heraus, dass der Motorradfahrer und sein Sozius italienische Gastarbeiter waren.

Allgemein ging man spontan davon aus, dass ich dem Sozius durch meine Präsenz das Leben gerettet habe. Nachdem man mich mit dem Krankenwagen ins Marienhospital in Buer gebracht, geröntgt und gegipst hatte, erwartete mich im Krankenzimmer eine mindestens 20-köpfige Gesellschaft italienischer Herkunft. Man brachte dem Lebensretter alles, was die italienische Esskultur zu bieten hat, überhäufte mich mit Geschenken.

Als ich dann am nächsten Morgen, dem 13. August, in meinem Krankenzimmer erwachte, erreichte mich als Erstes die Schreckensnachricht, dass die DDR-Führung damit angefangen hatte, eine Mauer zu bauen. Zunächst mitten durch Berlin. Die allgemeine Angst und Verwirrung überall in der Bevölkerung waren deutlich zu spüren.

Dass ich dann irgendwann – in Berlin am 22. Dezember 1989, 28 Jahre später – live mit dabei sein würde, wenn diese Mauer wieder fällt, ahnte ich damals noch nicht.

Mein Krankenhausaufenthalt dauerte zwei Wochen. Währen dieser Zeit verging kaum eine Stunde der Tageszeit, in der nicht mindestens drei Italiener an meinem Krankenbett saßen, um mich zu unterhalten.


Die Prüfung zum Drogisten schaffte ich als Klassenbester, obwohl ich mich nie anstrengen musste.


Die Beziehung zu Dorothea bestand zu diesem Zeitpunkt schon seit zwei Jahren nicht mehr. Irgendwann hatte sie sich für einen Mann entschieden, der um drei Jahre älter war als sie, denn sie wurde viel schneller vom Mädchen zu einer jungen Frau als ich vom Knaben zum Mann.


Mit nun 19 Jahren wohnte ich wieder bei meinen Eltern und leitete eine Filiale eines mittleren Essener Drogerieunternehmens.


Mein Bruder Peter, der sich noch in der Ausbildung zum Autoschlosser befand, spielte in seiner Freizeit in einer Beat-Band Schlagzeug. Die „German Thunderbirds“ spielten Stücke der Beatles, der Stones, der Hollies und anderer populärer Bands, so wie das damals üblich war in den Gesellschaftsräumen irgendwelcher Gaststätten. Hier machte ich die eine oder andere Bekanntschaft. Dabei versuchte ich immer, dem Peter nicht jedes Mädchen auszuspannen.

Die angesagteste Disco war damals das Kaleidoskop an der Essener Synagoge, Nähe Porscheplatz. Hier, im „Kalei“, mit der einzigartigen Flower-Power-Atmosphäre, traf ich auf genau die Leute, die meinem Geschmack entsprachen. Hier spürte ich den Geist der 60er. Im Taumel dieser Zeit hörten wir die Songs der Beatles, Beach Boys, von Deep Purple, den Rolling Stones, Bob Dylan, The Mamas & The Papas, Simon & Garfunkel, Jimi Hendrix, Bob Marley, Sonny & Cher … Die Liste könnte noch um einige Protagonisten der damaligen Zeit, in der alles möglich zu sein schien, erweitert werden.

Zu meinem neuen Freundeskreis zählten einige sehr interessante Leute, die mich über Jahre begleiteten und ausnahmslos berufliche Karrieren machten. Der Wichtigste von allen dürfte Janis Martin sein, der später zum Prokuristen eines großen Unternehmens aufstieg, gefolgt von Wulf Klingenstein, der Zahnmedizin studierte, Bernd Kawka, dem Diplomingenieur, Helmut Stratmann, der die Spedition seines Vaters weiterführte, und vielen anderen.

Unter den Damen fühlte ich mich zu Renata Bertelmann, einer Nichte des damals populären Schlagersängers Fred Bertelmann, besonders hingezogen. Es gab noch einige andere hübsche Mädchen, deren Namen ich nicht mehr weiß, weil sie, ausnahmslos, Bestandteil meiner Orientierungsphase waren.

Nachdem Renata eine Zeit mit mir „gegangen“ war, fand sie den Janis dann doch besser, bis sie bei Burghardt Donnep gelandet war, einem Sohn der damaligen Justizministerin von NRW. Burghardt studierte Jura, heiratete Renata und machte Karriere bei Coca Cola. Wie ich glaube, lebt die Familie mit zwei erwachsenen Töchtern heute in Brasilien.


Da ich nun den Führerschein besaß, brauchte ich ein Auto. Viel Auswahl hatte ich nicht, denn meine finanziellen Möglichkeiten waren sehr bescheiden. Als mir ein Lloyd Alexander TS für nur 200 DM angeboten wurde, griff ich zu. Nun war ich der Erste und Einzige unserer Clique, der ein Auto besaß. Dieses Auto wurde nun offiziell zum Truppentransporter erklärt. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie viele Personen in so ein kleines Auto passen.

Wichtig ist auch zu wissen, dass ich nicht die Pappversion des Lloyd Alexander, sondern die Luxusvariante aus richtigem Blech fuhr. Der Nachteil bei Blech ist natürlich, dass es rostet.

Das Auto hat viel Freude gespendet, aber auch Stress gemacht. So kam es, dass Renata und ich zu einem Konzert in den Essener Saalbau wollten. Beide chic gekleidet, fuhren wir mit dem frisch gewaschenen und polierten Auto durch die Essener Innenstadt. In Höhe der Kettwiger Straße, an einer Ampel, würgte ich den Wagen ab. Sämtliche Versuche, das abgesoffene Auto neu zu starten, misslangen. Hinter uns bildete sich eine lange Schlange wild hupender Autos. Renata, neben mir, kochte vor Wut. Als ich sie nun auch noch darum bat, auszusteigen und mich anzuschieben, verließ sie unter Protest den Wagen und rannte, so schnell sie konnte, mit hochrotem Kopf und schickem Kleid davon. Durch dieses Erlebnis mit mir war sie wieder einmal einige Schritte von mir weg in Richtung Janis Martin gegangen.


Mein Bruder Peter und unser Freund Miele, Hubert Milinski (Miele weiß, was Frauen wünschen, denn Miele hat die längste Erfahrung), standen eines Samstagvormittags in meiner Drogeriefiliale und baten um meinen Autoschlüssel. Abends war bei Eva, der verrückten Eva, Freundin von Helmut, eine Party. Zu der musste unbedingt ein Kasten Bier gekauft und transportiert werden.

Miele hatte einen Führerschein, Peter aber noch nicht. Schweren Herzens händigte ich Miele den Autoschlüssel aus. Man versprach, mich zu Geschäftsschluss, also gegen 14 Uhr, abzuholen. Von meinem Arbeitsplatz aus, durch das Schaufenster, konnte ich auf die auf der anderen Straßenseite befindliche Bushaltestelle sehen. Als ein Bus gegen 14 Uhr hielt, stiegen zu meinem Erstaunen Peter und Miele aus. Miele, mit eingegipstem Arm, den Peter im Schlepptau, betrat die Drogerie. Peter ergriff das Wort und machte mir klar, dass sie sich zwar überschlagen hätten, dass das mit dem Auto aber nicht so schlimm sei, man könne es gut reparieren. Allmählich kam heraus, dass nicht Miele, sondern Peter gefahren war. Der Unfall passierte auf der Ruhrallee, einer Schnellstraße, gut 30 km vom nächsten Getränkemarkt entfernt. Gott sei Dank glaubte die Polizei, dass Miele am Steuer saß.

Als ich am Nachmittag in den Hof meines Elternhauses trat und den Totalschaden sah, flippte ich fast aus. Der verbliebene Schrott wurde einige Tage später auf den Hof der Spedition von Helmut Stratmanns Vater transportiert, geschweißt, ausgebeult, gespachtelt und in Mercedes-Lkw-Blau lackiert.

Das, was ich da mit meinem Bruder Peter erlebt hatte, hat in abgeschwächter Form früher schon einmal stattgefunden.

Drei Jahre zuvor verfügte ich endlich über das Geld, um mir ein gebrauchtes, kleines Motorrad, eine rote Panther, zu kaufen. Es stand in der Garage meiner Eltern und wurde nur bewegt, wenn ich mal in Essen und nicht bei den Großeltern in Buer war. Immer wenn ich mit meiner Panther unterwegs war, trug ich meine wunderschöne hellbeige Windjacke aus Popeline. Damit machte ich bei den Mädels mächtig Eindruck.

Eines Tages, als ich losfahren wollte, stellte ich fest, dass es unmöglich war, das Motorrad in der Spur zu halten. Es war lebensgefährlich, weiterzufahren. Was war passiert?

Bruder Peter hatte sich, natürlich auch ohne den erforderlichen Führerschein zu besitzen, meine Maschine ausgeliehen, um damit in einen Straßengraben zu krachen. Hierbei verzog sich der Rahmen derart, dass eine Reparatur nicht mehr möglich war. Die Panther musste verschrottet werden. Zu allem Überfluss hatte er bei dem Unfall natürlich meine schicke, hellbeige Popelinejacke getragen, die ich später, zerfetzt in einer Ecke von Vaters Garage versteckt, gefunden habe.

1965 musste ich für 18 Monate zur Bundeswehr, zur Marine. Die dreimonatige Grundausbildung fand in Glückstadt statt. Als Erstes wurde ich meiner wunderbaren Haartracht beraubt. Hier herrschte Zucht und Ordnung. Neben blödsinnigen Märschen mit viel zu viel Gepäck – oft bis zu 15 km am Stück – auch morgendliches Antreten mit lauter Schreierei, völlig überflüssige Spindapelle und nächtliche Alarmzustände.

Was mich hier am meisten irritierte, war der Ernst, mit dem dieser Blödsinn vermittelt wurde.

Nach der Grundausbildung ging es zur Marineversorgungsschule nach List auf Sylt. Hier bekam ich als Sanitätsmatrose eine Ausbildung zum Sanitäter. Es fällt mir heute schwer, mich dabei an Einzelheiten und Ausbildungsinhalte zu erinnern. Es wird wohl nicht viel gewesen sein.

Das wirklich Positive an Sylt war das Klavier. Da auf dem Flur unserer Kaserne ein altes Klavier, wohl noch aus der Zeit der Kriegsmarine, stand und ich ganz gut darauf spielen konnte, musste ich, wenn meine Kriegskameraden den Fußboden des Kasernenflures schrubbten, darauf spielen bzw. üben. Unser Kompaniechef hatte beschlossen, dass ich eine kleine Combo mit anderen Kameraden, die auch ein Instrument spielten, zusammenstellte. Eine Combo wurde es nicht, wohl aber ein Trio.

In Gemeinschaft mit einem Gitarristen und einem Schlagzeuger fingen wir damit an, quasi als Kulturbotschafter der Bundesmarine, an die Öffentlichkeit zu gehen. In der Nähe unserer Kaserne, am Lister Ellenbogen, im „Möwenflug“, einem Lokal, in dem überwiegend Marinesoldaten, aber auch Einheimische und Touristen verkehrten, spielten wir auf.

Unser Repertoire umfasste gängige Schlager, Walzer, aber auch Boogie und Rock ‘n‘ Roll. Die Gage war lächerlich. Wichtig waren die Mahlzeiten und das Bier, das wir bekamen, und vor allem dass wir nicht, so wie unsere Kameraden, schon um zehn abends in der Kaserne sein mussten. Ungünstig war für mich jedoch, dass wir in diesen blödsinnigen Matrosenanzügen spielten.


So kam ich heil und unbeschadet durch die Marineversorgungsschule List auf Sylt.

Die letzte Station meiner Militärzeit war das Militärkrankenhaus Eckernförde. Hier war ich unserem Marine-Stabsarzt Dr. med. Werner unterstellt. Dr. Werner war mir sehr sympathisch, denn er zeigte menschliche Schwächen. Als Kettenraucher und Vieltrinker liebte er es, seine Sekretärin sooft zu vögeln wie nur möglich.

Als Drogist steckte man mich in den Keller, woraufhin Dr. Werner mich nur noch als Kellerassel titulierte. Es war kaum zu glauben: Im Keller befand sich die Krankenhausapotheke, deren Leitung man mir, einfach so, übertrug. Nun war Matrose Horst Winkels, Herr über tausende Anabolika, Antibiotika, Analgetika, Pflaster und Mullbinden.

Um nun Ordnung in den Laden zu bringen, entwickelte ich ein kompliziertes Verwaltungssystem mit Karteikarten, auf denen der Bestand eines jeden Artikels genauestens verzeichnet war. Jeder – ein anderer Sanitäter oder Vorgesetzter, selbst Dr. Werner – musste gegenzeichnen, wenn er etwas mitnahm. Der Einzige, der nicht gegenzeichnen musste im ganzen Krankenhaus, war der Sanitätsmatrose Winkels.

Dr. Werner fand meine Leistung so toll, dass es zu einer Belobigung vor der ganzen Kompanie kam.


Höhepunkte innerhalb dieser Zeit waren immer die Ausflüge ins Marine-Sanitätslager nach Kiel. So alle zwei Wochen musste Nachschub rangeschafft werden, die Regale in meiner Apotheke mussten wieder aufgefüllt werden. Der Einzige, der wirklich wusste, was gebraucht wurde, war ich. Also musste ich mit.

Immer wenn wir losfuhren, saß Dr. Werner neben dem Fahrer des Jeeps, hinten, auf der Rückbank, seine Sekretärin und ich. Es war immer das Gleiche. Aus zufälligen Berührungen unserer Hände entwickelte sich im Laufe der Fahrt eine muntere Fummelei. Dr. Werner bekam nie etwas mit. Auch wenn seine Geliebte mal so zwischendurch, zu Hause, im Krankenhaus, den Schreibtisch verließ, um die arme Kellerassel zu besuchen, fiel das nie auf. Der Einzige, dem das Verhalten der Sekretärin suspekt war, war wohl ihr eifersüchtiger Ehemann, denn an manchem Morgen kam sie mit einem blauen Auge und ziemlich verheult an ihren Arbeitsplatz.


Irgendwann war die Zeit in Eckernförde leider vorbei. Nur noch einen Nachtdienst sollte ich machen. Da ich aber für diesen Abend den Abschied von Gisa, meiner Eckernförder Freundin, geplant hatte, bat ich einen Kollegen, für mich einzuspringen. Dr. Werner fand das gar nicht gut. So kam es, dass ich nicht als Sanitätsgefreiter, sondern nur als Sanitätsmatrose Winkels entlassen wurde.

Nach der Militärzeit wohnte ich wieder bei meinen Eltern in Essen, nahm den alten Arbeitsplatz und auch frühere Lebensgewohnheiten wieder auf.

Dann, Anfang 1968, trat Ursula in mein Leben. Ursula, meine erste Frau und Mutter unserer gemeinsamen Tochter Miriam. Sie war zunächst eines der vielen Mädchen, die man häufiger im Kaleidoskop traf. Aber ihre Art und ihr attraktives Äußeres machten sie für mich wie auch für die meisten meiner Mitbewerber sehr interessant. Ihr mondänes, gestyltes Auftreten und ihr Parfüm „Pino Sylvestre“ passten hervorragend zu ihrem schicken, weißen Opel-Coupé mit den roten Kunstledersitzen.

Im Frühsommer verbrachten Ursula und ich einen gemeinsamen Urlaub auf Ibiza. Unter blauem Himmel machte ich ihr den Heiratsantrag. Wir verlobten uns bei Rotwein, Weißbrot und Tomaten und genossen unbeschwerte Tage.

Wieder in Deutschland planten wir unsere gemeinsame Zukunft. Am 20. Juli 1968 wurde geheiratet. Wir kannten uns gerade fünf Monate. Heute glaube ich, dass sie, wie auch ich, diese Chance nutzte, um bei den Eltern auszuziehen. Beide hatten wir vom Hotel Mama wohl die Nase gestrichen voll.

Die kirchliche Trauung fand in einer kleinen Kapelle in Kettwig statt. Uschi trug, ganz im Stil der damaligen Hippiezeit, ein schlichtes, weißes Kleid, Orchideenblüten im Haar, ein tiefes Rückendekolleté und nackte Füße in goldfarbenen Sandalen. Ein toller Anblick, obwohl die eine oder andere alte Tante meinte, das gehöre sich nicht. Gefeiert wurde im Haus meiner Eltern. Ein riesiges Fest. Alle waren eingeladen, vor allem unsere Freunde. Schwiegervater Josef (Sepp) spielte auf seiner Mandoline und sang dazu Lieder aus seiner Jugend. Schwiegermutter Emmi saß schweigend daneben und dachte wohl darüber nach, wie schön das Leben für sie gewesen wäre, wenn sie ihren Sepp nicht geheiratet hätte.

Meine Mutter spielte mit Überzeugung die Rolle einer Mutter, die gerade ihren Sohn verloren hat. Vater gab lauthals Ratschläge für unsere Zukunft.

Wir planten, gemeinsam eine Drogerie zu eröffnen. In Metternich, wo Vaters Schwester und Schwager den Bauernhof bewirtschafteten. Da, wo Peter und ich, als Kinder, ihre Ferien verbrachten.

Das Ladenlokal war schnell gefunden und angemietet. Nachdem ich mein Angestelltenverhältnis beendet hatte, war Zeit, die Einrichtung des Geschäftes zu gestalten. Es musste fast alles improvisiert werden, denn ausreichend Geld war nicht vorhanden. Bereits vorhandene Theken und Schränke stammten noch aus der Zeit, als hier Haushaltwaren verkauft wurden. Die durften wir nutzen. Alle anderen Einrichtungsgegenstände baute ich selbst. Alte Bretter wurden beim Schreiner abgeschliffen, zu Wandregalen verschraubt, Eichenfarben gebeizt und mit schwarzen Umleimern versehen.

Uschi und ich fanden die Regale schön. Teedosen, Standgefäße, eine dekorative Apothekerwaage und eine mechanische Registrierkasse durfte ich dem Fundus meines letzten Arbeitgebers entnehmen.

Den ersten Warenbestand bestellte ich bei der Drogisten-Genossenschaft „ESÜDRO“ auf Kredit. Ware, die nur direkt, also ausschließlich vom Hersteller gekauft werden konnte, führte ich noch nicht, oder lieh sie mir beim früheren Arbeitgeber. Herr Luttmann, mein Lehrherr, kam am 3. September 1968 zur Geschäftseröffnung. Er brachte die Artikel mit, die noch auf meiner Wunschliste standen, um sie uns, quasi statt Blumen, zur Eröffnung zu schenken.

Mit Stolz weise ich darauf hin, dass das Startkapital für unsere Selbständigkeit aus 4000 DM bestand, von denen 2000 von meinem Vater stammten. Von diesen 2000 holte er sich schon nach einem Monat 1000 zurück, weil er vergessen hatte, dass er doch mit meiner Mutter zum Hochzeitstag eine Reise durch die Eifel machen wollte. Da wir die 1000 DM nicht mehr hatten, musste ich einen Kredit bei der ortsansässigen Raiffeisenbank aufnehmen.

Über dem Ladenlokal befand sich eine kleine Wohnung, die im Mietpreis enthalten war. Möbliert wurde mit dem, was wir in der Nachbarschaft zusammengeschnorrt hatten.

Meine Großmutter Maria starb vor der Eröffnung meines ersten Geschäftes mit 67 Jahren an Dickdarmkrebs. Es machte mich sehr traurig, vor allem weil ich ihr nun nicht mehr das zeigen konnte, was sie sicher stolz gemacht hätte. Mit Recht, denn die Großeltern haben wesentlich dazu beigetragen, dass ich das Selbstbewusstsein erlangt hatte, das man braucht, um sich mit 23 Jahren, praktisch ohne Geld, selbständig zu machen.


Am Eröffnungstag hatten wir 600 DM in der Kasse. Die verkaufte Ware hinterließ in den Regalen große Lücken, da bei der Erstbestellung maximal zwei Stück eines jeden Artikels eingekauft worden waren.

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