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STATION III HILFLOS, VERZWEIFELT, UNVERSTANDEN

1956 – 1960

Diese Jahre waren ausschlaggebend für mein zukünftig schlechtes Verhältnis zu meinem Vater. Nach der vierten Klasse wurde ich vom Klassenlehrer der Volksschule zur höheren Schule vorgeschlagen. Nachdem ich die erforderliche Eignungsprüfung zur Realschule bestanden hatte, fand der Schulwechsel statt.

Hätte man mich gelassen, wäre es für mich ein Leichtes gewesen, diese Schule abzuschließen. Doch mein Vater entwickelte zu der Zeit an seinem Arbeitsplatz im Umgang mit seinen Kollegen und seinen Vorgesetzten durch chronischen Geldmangel und durch Neid auf das, was andere hatten, ein enormes Aggressionspotenzial und Frust. Er brauchte ein Ventil. Er brauchte einen Stellvertreter für alle, die er hasste, und alles, was er hasste. Ein noch vorhandenes Kriegstrauma und die Tatsache, dass der Krieg seine geplante Berufskarriere zunichte gemacht hatte, verstärkten seinen Unmut. Auch hasste er mich, weil ich der Grund war, aus dem er meine Mutter heiraten musste. Seine Trinkgewohnheiten nahmen ihm zusätzlich die letzten Hemmungen.

Mit größtem Interesse verfolgte er, mit diesem Negativpotenzial ausgestattet, alles das, was an dieser Schule unterrichtet wurde. Er suchte mit sadistischer Gründlichkeit meine Schwächen im Umgang mit dem Lehrstoff, um mich dann für diese Schwächen zu bestrafen. Vor allem die Hausaufgaben unterlagen seiner strengsten Kontrolle. Alles, was ich zu Papier brachte, wurde von ihm auf Fehler untersucht. Obwohl ihm jede Kompetenz fehlte, entwickelte er Erklärungsmodelle, die er dann natürlich selber nicht verstand. Sein Frust führte dazu, dass er fast täglich auf mich einprügelte und sich bei mir große Ängste entwickelten. Die meiste Zeit verbrachte ich nicht damit, zu lernen, sondern Strategien zu entwickeln, die mich vor ihm schützen sollten. Seine Aversion mir gegenüber übertrug sich auch auf andere Dinge des Alltags, sodass schon bei Banalitäten wie auch bei kleinen Unpünktlichkeiten nicht geschimpft, sondern gleich geprügelt wurde. Verbote und Einschränkungen meiner Freizeitmöglichkeiten gehörten dazu. Modische Kleidung wie die damals von den meisten meiner Mitschüler getragenen Jeans wurden strikt verboten. Um diesen häuslichen Qualen aus dem Weg zu gehen, bekam ich dann angeblich immer weniger Hausaufgaben auf.

Da ich mich nun, ohne Hausaufgaben gemacht zu haben, nicht in die Schule traute, entwickelte ich mich zum Schulschwänzer. An vielen Vormittagen lief ich durch die Stadt, immer in der Hoffnung, dass mich keiner sieht, der mich kennt. Die erforderlichen Entschuldigungen für die Schule schrieb ich selber. Die Handschrift und die Unterschrift meiner Mutter hatte ich gut geübt. Die Last auf meinen Schultern wurde immer schwerer, mein Leben immer unerträglicher.

Noch genau kann ich mich an die schrecklichen Magenschmerzen erinnern, an den schweren Stein in meinem Bauch, wenn ich morgens das Haus verließ, um in die Schule zu gehen. Wie schlecht ich mich fühlte, da ich manchmal in der Schulklasse als Depp der Einzige war, der die Aufgabe nicht verstand.

Die schlechten Leistungen in Mathematik glich ich immer wieder dadurch aus, dass ich in Deutsch und auch in einigen Nebenfächern so einigermaßen klarkam. Mit meinem Vater an meiner Seite aber hatte ich keine Chance.

Immer häufiger dachte ich daran, mich umzubringen. Während einer seiner Prügelattacken bat ich meinen Vater, mich totzuschlagen, was ihn dann noch wütender machte.

Mit der Zeit entwickelte er ausgeklügelte Bestrafungsrituale. Beginnend mit endlosen Monologen über meine bodenlose Dummheit und Faulheit endete es immer mit Schlägen.

Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich wollte weg. Planlos lief ich los mit der festen Absicht, nie wieder zurückzukommen. Am späten Abend fand ich mich vor dem Haus meines Onkels Hermann, dem Bruder meiner Mutter. Seine Familie beneidete ich um die Toleranz, die sie untereinander pflegten. Ich beneidete meine Cousine Doris um ihre Eltern.

Als ich auf das Garagendach stieg, konnte ich die Familie beim Abendessen beobachten. Nach einigen Minuten löste ich mich von diesem harmonischen Anblick. Beim Rückzug stieß ich mit dem Fuß gegen das metallene Garagentor. Das Geräusch veranlasste meinen Onkel, das Fenster zu öffnen und nachzusehen. Ich war schneller, versteckte mich hinter einem Busch und schlich dann davon. Die Polizei griff mich auf und brachte mich zu meinem Peiniger zurück. Dass Vater mich schlug, hatte ich nicht anders erwartet.

Zu dieser Zeit starb mein Großvater Hans, der Vater meines Vaters, mit nur 55 Jahren an Bronchialkrebs. Dafür, dass er im Nazi-Deutschland ein höherer Parteifunktionär war, saß er mehrere Jahre im Gefängnis. Als er 1950 entlassen wurde, war ich bereits fünf Jahre alt. Wenn ich an meinen Opa Hans denke, sehe ich immer die vielen Tabakblätter, die in seinem Gartenschuppen zum Trocknen aufgehängt waren, vor meinem geistigen Auge. Sehe ich immer genau den Gartenschuppen, der durch den selbstgebauten Brutofen seiner Küken Zucht Feuer fing und abbrannte. Während ich mich eher zu meinem Opa Hermann, dem Vater meiner Mutter, hingezogen fühlte, war Bruder Peter lieber bei Opa Hans. Überhaupt entspricht Peter eindeutig der Winkels- und ich der Schölwer-Linie.


Das Leben bestand damals, Gott sei Dank, nicht nur aus Schule und meinem Peiniger. Wäre es so gewesen, hätte ich wirklich nicht mehr weitergewusst.

Die Sommerferien verbrachten Peter und ich meist gemeinsam mit unserer Mutter fast immer in Metternich bei Vaters Schwester und ihrem Mann auf deren Bauernhof. Metternich ist ein Dorf im Vorgebirge zwischen Köln und Bonn. Hier lebten 1500 Menschen. Hier sollte ich irgendwann meine erste Drogerie eröffnen.

In den meisten Jahren brachte Vater uns mit seinem VW-Käfer-Standard mit Brezelscheibe hierher und holte uns dann nach einigen Wochen wieder ab.

Ich liebte diesen Bauernhof, den riesigen Obst- und Gemüsegarten hinter dem Haus, das Pferd Ella, die Kühe, Schweine und die unzähligen Hühner auf der Wiese. Die Gerüche nach frischem Heu, im Stall, in der Wohnstube, ich liebte den Duft von Nüssen und Äpfeln, die in unserem Schlafzimmer über der Hofeinfahrt getrocknet wurden. Selbst den Bullen mochte ich sehr, obwohl er immer mal ausriss und von Onkel Hubert wieder eingefangen werden musste. Dann durfte keiner das Haus verlassen.


Ich liebte die Tage auf dem Feld, die Kaffeepausen am Rande des Ackers, den Lanz Bulldog, das Heueinfahren, die riesige dorfeigene Dreschmaschine, die zum Hof meines Onkels gefahren wurde und dann tagelang lief, angetrieben vom Schwungrad des Lanz Bulldogs, bis die letzte Ähre gedroschen war.


Außerdem stand im Wohnzimmer das Klavier, ein Relikt aus der Zeit, als man beim Bauern für einen Perserteppich oder ein Klavier den Sack Kartoffeln bekam. Da ich einige Jahre Klavierunterricht hinter mir hatte, zu Hause aber eher ungern Klavier spielte, konnte ich hier unbefangen, ohne dass ich störte, fröhlich in die Tasten des herrlich verstimmten Instrumentes hauen.

Im Haushalt lebten außer meinem Onkel und meiner Tante die griesgrämige Mutter meines Onkels und deren unverheiratet gebliebene, skurrile Schwester „Tante Ann“ sowie meine Cousinen Christel und Inge. Tante Ann liebte „Klosterfrau Melissengeist“, wodurch sie ständig einen angetrunkenen Eindruck machte, denn das „Arzneimittel“ hat 70 Prozent Alkohol.

Inge, eine freche Göre, etwa fünf Jahre jünger als ich, konnten Peter und ich überhaupt nicht leiden. Ständig gab es Streit zwischen uns dreien. Christel dagegen, drei Jahre älter als ich, mochte ich sehr. Als ich mein 13. Lebensjahr erreicht hatte, tat ich die ersten Schritte in die Erforschung der Geheimnisse der Weiblichkeit. Wir Kinder verbrachten viele Stunden, vor allem wenn es regnete, in der Scheune, auf dem Heuboden. Als ich Christel dort eines Nachmittags alleine antraf, lag sie auf ihrem Arbeitskittel im Heu, hatte die Augen geschlossen und eine Hand unter ihrem Rock. Mit verklärtem Blick erkannte sie mich, machte aber weiter. Sie winkte mich zu ihr und nahm meine Hand. Mit leichten Bewegungen zeigte sie mir, wie ich es bei ihr machen sollte. Als sie ihren Höhepunkt erreichte, blickte sie mir verliebt in die Augen, richtete ihre Kleidung und ging.

In diesen Ferien gab es danach kaum einen Tag, an dem Christel nicht irgendwo, freudig erregt, auf mich wartete. Es war wie im Paradies, denn gleichzeitig – ich musste nur die Straße überqueren – wartete schon das nächste sexuelle Abenteuer auf mich.

Zwei Schwestern, eine in Christels Alter, eine etwas jünger, beide hellhäutig, blond, sommersprossig, dünn, zählten schon lange zu meinen Spielfreunden, als die ältere der beiden mich ansprach und mir sagte, dass ihre Schwester sich in mich verliebt hätte und nicht wisse, wie sie mir das sagen solle. Verlegen folgte ich ihr in das Gartenhaus der Familie. Da hier Gurken eingelegt wurden, roch es angenehm nach Essig und Gurkengewürz. Die kleine Schwester empfing mich und legte ihre Arme um meine Schultern. Sie drückte sich gegen mich. Das war mein erster Zungenkuss. Später stellte sich heraus, dass die jüngere die Wette gewonnen hatte, denn ich habe mich von ihr küssen lassen.

Bei jedem Glas Essiggurken, das ich öffne, denke ich noch heute an diese beiden Dorfschönheiten und den ersten Zungenkuss.


In diesem Jahr erlebte ich die erste, große, romantische Liebe meines Lebens. Dorothea Baum.

Wie aus heiterem Himmel war sie plötzlich da, wie aus dem Nichts tauchte sie auf, als neue Schülerin unserer Parallelklasse. Ihr puppengleiches Gesicht unter dem blonden Pony, die großen Augen, ihre wohlproportionierte Gestalt hatten es mir sofort angetan. Für sie hätte ich sterben können. Auf meinen ersten versuchten Blickkontakt reagierte sie positiv. Rein zufällig traf ich sie, nachdem ich fast zwei Stunden auf sie gewartet hatte, vor der Schule. Ich fragte sie, wo sie wohne – welch ein Zufall, ich musste auch in diese Richtung, also begleitete ich sie. In der Röckstraße, da, wo ich ungeboren unter den Trümmern des großelterlichen Hauses gelegen hatte, wohnte sie mit ihrer Mutter, die ich später auch kennenlernen durfte, in einem Haus, das man fast als Villa bezeichnen konnte.

Vom ersten Tag an, an dem ich Dorothea gesehen hatte, kreisten meine Gedanken nur noch um sie. Die Problematik im Umgang mit meinem Vater hatte sich nicht geändert. Nur konnte ich inzwischen gut damit umgehen. Das angestrebte Studium hatte ich mir inzwischen abgeschminkt und wollte nach Ende der allgemeinen Schulpflicht eine Lehre beginnen. Dieser Vorsatz entlastete mich enorm.

Wann immer es ging, trafen sich Dorothea und ich für angenehme Gespräche, bei langen Spaziergängen, eng umschlungen, im Stadtwald oder Schloss Berge am Buerschen Berger See. Im Berger Feld, einer Trümmerlandschaft als Rest einer Flakstellung aus dem Krieg, in der man sich gut verstecken konnte, schliefen wir das erste Mal miteinander. Ganz unromantisch, auf einer Betonplatte. Für sie war ich der Erste, auch für mich war sie die Erste, mit der ich richtigen Geschlechtsverkehr hatte.

Immer dann, wenn ich es mir leisten konnte, lud ich sie ins Eiscafé Venezia, Horster Straße, gegenüber der Schauburg, unserem Kino, ein – dahin, wo man sich damals nach der Schule oder auch sonst traf. Die große Liebe hielt drei wunderschöne Jahre.

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