Читать книгу Richard Wiedendoms verstörender Wendegewinn - Hubert Schem - Страница 2

Оглавление

2

„Papa, erzählst du uns mal wieder von Großvater?“

„Von eurem oder von meinem?“

„Du weißt schon.“

„Was wollt ihr denn hören?“

„Wie das genau war, als er die Raketen an der Ostsee gebaut hat.“

„Da habt ihr mich ganz falsch verstanden. Er hat keine Raketen gebaut. Er hat nur den Kies verkauft für die Anlagen.“

„Was für Anlagen?“

„Erst die Fabriken für die Raketen und dann die Bunker mit den Abschussanlagen.“

„Und wohin wurden die Raketen geschossen? Zum Mond oder schon zum Mars?“

„Weder noch.“

„Wohin dann?“

Während Thomas noch überlegte, welche Antworten er vermeiden musste, um dem unerbittlichen Weiterfragen der Zwillinge nach Einzelheiten des Zweiten Weltkriegs auszuweichen, drängte sich Hannas Stimme leise und energisch dazwischen: „Bitte keine Kriegsfolklore, Thomas! Und bitte auch keine puren Vermutungen.“

Thomas starrte sie kurz ausdruckslos an, unentschlossen, wie er reagieren sollte. Dann ging eine Mischung aus Grinsen und Lächeln über sein Gesicht. „Vielen Dank für die pädagogische Intervention.“ Sofort bemerkte er, dass seine Stimme nicht so gelassen klang wie gewollt. Und er sah die Wirkung in den Augen seiner Kinder. „Also gut, nichts über Raketen. Habe ich euch schon die Geschichte erzählt, wie mein Großvater Rache dafür genommen hat, dass sein ältester Sohn nicht aus dem Krieg zurückgekehrt ist?“

„Großvaters ältester Sohn? Wie hieß der?“

„Wilhelm, genannt Willi. Der Bruder eures Berliner Opas.“

„Bitte erzähl uns die Geschichte.“

„Willi war zehn Jahre älter als euer Opa. Wenn er noch lebte, wäre er euer Onkel Willi, euer Großonkel natürlich. Als Junge und junger Mann war er ein Superkerl. In der Schule immer unter den Besten, ohne sich besonders anzustrengen. In jeder Sportart, die damals betrieben wurde, Spitze. Bei den Geländespielen - das waren Geschicklichkeits- und Kampfspiele im Freien – nahezu unbesiegbar. Und – sein besonderes Markenzeichen - wenn er seine Fanfare blies, stiegen den Zuhörern Tränen in die Augen oder sie kriegten eine Gänsehaut. Nach dem Abitur musste er für ein halbes Jahr zum Reichsarbeitsdienst. Das war damals so. Sein wichtigster Ausrüstungsgegenstand war ein Spaten. Ich glaube, er hat in der Nähe von Berlin mit seinen Kameraden Splittergräben ausgehoben. Gräben, in die die Leute bei Fliegerangriffen springen sollten, um sich vor Bombensplittern zu schützen. Kurz vor der Entlassung vom Arbeitsdienst wurden alle Arbeitsmänner medizinisch untersucht. Keiner wusste genau, um was es ging. Willi gehörte zu einer kleinen Gruppe von körperlich besonders fitten Typen. Jeder von ihnen wurde anschließend in einem persönlichen Gespräch gefragt, ob er sich freiwillig zur Waffen-SS melden wolle. Eine ganz schlimme Nazi-Truppe, von der ich euch vielleicht später mal erzählen werde, wenn ihr einige Jahre älter seid. Was Nazi bedeutet, wisst ihr ja wohl schon.

Willi lehnte das Ansinnen ohne lange zu überlegen ab. Als er vom Arbeitsdienst entlassen worden war, fiel seinen Eltern auf, dass er sich in seinem Verhalten total verändert hatte. Er lief mit einem verschlossenen Gesicht herum und wich den Eltern so gut wie möglich aus. Wenn sie ihn mal erwischten und versuchten herauszukriegen, was mit ihm los war, wurde er unwirsch oder behauptete, es sei überhaupt nichts Besonderes mit ihm los. Das hatten sie bei ihm noch nie erlebt. Sie machten sich beide große Sorgen und redeten nachts im Bett oft darüber, was Willi so bedrücken könnte, dass er wie ein Zwangseinquartierter mit ihnen unter einem Dach lebte und nicht wie der geliebte und bewunderte Sohn. Euer Urgroßvater vermutete, es sei Liebeskummer. Aber eure Urgroßmutter wollte diese Erklärung nicht akzeptieren. Sie sagte so energisch: ‚Nein, nein, das ist nie und nimmer Liebeskummer, da kennst du dich nun wirklich nicht aus!’, dass der Urgroßvater sie nur mit höchster Verwunderung ansah und schwieg. Noch nie hatte seine Frau ihm auf diese Weise widersprochen.

Eines Abends beim Essen trafen sich die Blicke von Willi und seiner Mutter, die er über alles liebte. Sie sah wieder, wie er sich quälte, und ihm entging nicht, wie traurig sie war. Plötzlich liefen ihr Tränen aus den Augen. Und auch Willi konnte dann seine Tränen nicht zurückhalten. Nachdem er sich gefangen hatte, erzählte er seinen Eltern, dass er vor seiner Entlassung aus dem Arbeitsdienst immer wieder zur Führungsbaracke befohlen worden sei, wo zwei SS-Werber auf ihn eingeredet hätten. Zuerst hätten sie ihm Honig ums Maul geschmiert. Wen die Natur so gesegnet habe, der müsse sich einfach freiwillig zur Waffen-SS melden.

Willi wollte unter keinen Umständen zu dieser Truppe und weigerte sich hartnäckig. Allmählich hätten die Kerle dann mit versteckten Drohungen angefangen, berichtete er. Das habe ihn noch ziemlich kalt gelassen. Beim letzten Mal hätten sie jedoch mehr oder weniger offen damit gedroht, den Vater zu ruinieren, wenn Willi sich weiter weigere. Er müsse doch wissen, wie mächtig die SS sei. Mein Großvater hatte, das wisst ihr ja schon, die größte Baustoffhandlung von Berlin und Umgebung. Er hatte dieses Unternehmen als junger Mann selbst gegründet, es nicht nur durch schwierigste Zeiten gebracht, sondern in den dreißig Jahren seit seiner Gründung enorm vergrößert. Für ihn war es längst ausgemacht, dass Willi eines Tages sein Nachfolger werden würde. Wenn man ihm das Unternehmen weggenommen oder ihn tatsächlich ruiniert hätte ... gar nicht auszudenken, was dann passiert wäre.

Nachdem Willi seinen Eltern alles erzählt hatte, überlegten die drei tagelang, wie man der Gefahr begegnen könne. Schließlich schlug der Vater vor, Willi solle sich tatsächlich freiwillig melden. Aber nicht zur Waffen-SS, sondern zu den Pionieren. Ihr müsst dazu wissen, dass Willi, wenn er sich nicht freiwillig gemeldet hätte, in wenigen Monaten sowieso zu den Soldaten einberufen worden wäre. Dagegen hätte er nichts machen können. Der Vater meinte nun, bei den Pionieren könnte Willi am ehesten das tun, was er bisher immer gerne gemacht hatte. Pioniere sind Soldaten, die im Krieg hauptsächlich technische Aufgaben zu bewältigen haben, beim Vormarsch vor allem Behelfsbrücken bauen, auf denen die anderen Soldaten mit Panzern, Kanonen und Lastwagen nachrücken können, beim Rückzug die gerade von den eigenen Truppen passierten Brücken sprengen, um den Feind aufzuhalten. Willi ließ sich vom Vater überzeugen, dass dieser Vorschlag der einzige Weg sei, die Kerle von der SS loszuwerden. Schon am nächsten Morgen meldete er sich freiwillig zu den Pionieren. Als die deutschen Soldaten dann im Juni 1941 Russland überfielen, war Willi, wie ein Kamerad später an die Eltern schrieb, noch vor der vordersten Linie dabei. Seitdem hat niemand mehr etwas von ihm gehört. Er wurde wenige Wochen später offiziell als vermisst gemeldet.“

„Wo kann er denn geblieben sein?“ Das Gesicht des Mädchens war gerötet. Ihre Augen sahen den Vater ängstlich an.

Er zögerte und warf einen flüchtigen Blick auf die Mutter der Zwillinge. Sie hatte ihren Stuhl zum Fenster gerückt, hantierte mit ihren großen hölzernen Stricknadeln und schien in das Dämmerlicht des Wintertags zu träumen. Die schneebedeckten Berge an der jenseitigen Talseite lagen im hellgrauen Dunst. „Euer Onkel Willi? Der ist ganz sicher tot. Erschossen, von einer Granate oder einer Mine zerrissen oder in russischer Gefangenschaft gestorben. Keiner wird je wissen, wann, wo und wie er gestorben ist. Viele, viele tausend Soldaten sind im Krieg wie er als vermisst gemeldet worden. Keiner hat ihre Leiche gefunden und sie beerdigt. Sie sind einfach auf Nimmerwiedersehen vom Erdboden verschwunden.

Aber davon wollte ich gar nicht so ausführlich erzählen. Es ist eigentlich nur die Vorgeschichte von dem, was ich euch erzählen wollte. Als der Großvater, euer Urgroßvater also, die Nachricht erhielt, dass sein ältester Sohn als vermisst gemeldet sei, vergoss er keine Träne. Er wurde aber kreidebleich, und er murmelte mit versteinerten Gesicht etwas Unverständliches vor sich hin. Zwei Wochen später ist im Nordhafen von Berlin-Spandau eine große Motoryacht explodiert. Den Augenzeugen und den Arbeitern und Angestellten im Hafen, die den Knall gehört oder sogar die Erschütterung gespürt hatten, fiel auf, dass dieser Vorfall weder im Radio noch in den Zeitungen erwähnt wurde. Aber dass wirklich etwas sehr Ungewöhnliches passiert war, konnte jeder, der Augen hatte, im Hafengelände feststellen. Immer wieder erschienen Gruppen von fremden Männern, die nicht nur durch ihr Benehmen auffielen, sondern auch versuchten, mit Schiffern und Arbeitern ins Gespräch zu kommen, ohne es für nötig zu halten, sich selber vorzustellen. Von einigen Augenzeugen wurde hinter der vorgehaltenen Hand geflüstert, zum Zeitpunkt der Explosion seien mindestens fünf Menschen an Bord gewesen. Die hätten nicht das Fitzelchen einer Chance gehabt zu überleben. Das Schiff sei vollgestopft gewesen mit technischen Anlagen, die kein Mensch zum Betrieb einer Yacht brauchte. Im Hafen gab es zwei oder drei Leute, die wissen wollten, das Schiff sei eigens für die SS gebaut worden. Über den Zweck gab es vor und nach der Explosion die wildesten Gerüchte. Dabei durfte keiner laut sagen, was er angeblich wusste oder vermutete. Das Schiff war offiziell eine Yacht für Sportzwecke gewesen. Nie war ein SS-Mann in Uniform aufgetaucht. - Na, habt ihr eine Ahnung, wie es zu der Explosion gekommen sein kann?“

„Die haben wahrscheinlich gefährliche Experimente auf dem Schiff gemacht und sich dabei in die Luft gesprengt. Oder ... oder es war gar kein Unglück. Du hast doch angefangen, vom Urgroßvater zu erzählen. Also, hätte der...? Aber wie denn? Der wäre doch niemals an das Schiff herangekommen.“

„Und wenn ich dir sage, dass mein Großvater ein Sporttaucher war?“

„Wirklich ...? Also er ...?“

„Die Nazis haben behauptet, es sei der Anschlag einer Gruppe von ehemaligen Kommunisten gewesen. Ich muss euch auch ein anderes Mal erklären, was Kommunisten waren. Jedenfalls wurden sie von den Nazis erbarmungslos verfolgt. Viele wurden eingekerkert und hingerichtet. Einige kämpften im Untergrund gegen die Nazis. Wer den Nazis als früherer Kommunist bekannt war, gehörte immer zu den Verdächtigen, wenn wieder ein Anschlag verübt worden war. So wurden einige Wochen nach der Explosion im Spandauer Hafen vier als ehemalige Kommunisten bekannte Siemens-Arbeiter vom Band weg verhaftet. Nach kurzem Prozess wurden alle vier zum Tode verurteilt und wenige Tage später geköpft. In Spandau gab es einige Leute, die wissen wollten, dass die Nazis einfach vier unschuldige Menschen umgebracht hätten, um zu demonstrieren, dass keiner ihrer Feinde ihnen entkomme und dass keiner eine Chance habe zu überleben. Nach dem Ende des Krieges wurde offen das Gerücht verbreitet, es sei in Wirklichkeit ein Einzeltäter gewesen, der sich im Hafen bestens ausgekannt habe. Er habe unter Wasser eine Mine am Rumpf des geheimnisvollen Schiffs angebracht und sie mit Hilfe eines Drahtes aus der Ferne gezündet. Der Name Wiedendom wurde hinter der vorgehaltenen Hand getuschelt. Großvater selbst hat nie ein Sterbenswörtchen über den Vorgang verloren.“

„Und woher weißt du, dass er es war.“

„Ein Geheimnis. Ich weiß es eben, Punktum!“

Er sah wieder zu ihr hinüber. Sie lächelte in sich hinein, ohne aufzuschauen.

Am Abend war sie es, die sich ihm zuwandte: „Tut mir übrigens leid, dass ich mich eingemischt habe. Ich weiß nicht, was ich befürchtet hatte. Jedenfalls warst du richtig gut. Die Geschichte ist mir ans Herz gegangen, wenn sie auch vermutlich nicht viel Wahres enthält.“

„Wahres ...? Wenn ich das wüsste. Ich kann dir nicht einmal genau sagen, woher ich das habe. Es gab Zeiten, da wurde viel erzählt im Hause Wiedendom.“

„Vor oder nach dem Tod deiner Mutter?“

„Vorher. Aber Mutter hat solche Geschichten nicht erzählt. Sie kannte die Spandauer Gerüchteküche überhaupt nicht. Sie war ja keine Berlinerin, sondern stammte aus Düsseldorf.“

„Ich weiß. Also war dein Vater der Geschichtenerzähler?“

„Nein, nein, der erst recht nicht. An solchen Spekulationen hätte der sich niemals beteiligt. Das waren für ihn Lügengeschichten, solange nicht jede Einzelheit als Tatsache bewiesen war. Und Mutter war in der Beziehung übrigens genau so. Phantastereien lagen ihr nicht, trotz ihres heiteren Gemüts. - Nein, das waren Küchengeschichten im wahrsten Sinne des Wortes. Damals hatten wir noch eine Hilfe. Das heißt, eigentlich die Großeltern. Bei uns hat sie nur gekocht, weil die Großeltern mittags herunterkamen und mit uns zusammen aßen. Und es gab Onkel Pankoke. Ein Ur-Spandauer. Der war nicht viel jünger als Großvater. Aber er kümmerte sich immer noch um den riesigen Garten. Und vormittags schälte er oft in der Küche Kartoffeln oder putzte Gemüse. Er und Sosi – ich weiß nicht, wie sie wirklich hieß - das waren damals meine Haupterzieher, denke ich. Er immer noch drahtig und mit tausend Falten im Gesicht, mit dem Kartoffelkörbchen auf dem Schoß neben dem Spülstein sitzend. Sie rund und rotbackig am Herd hantierend. Onkel Pankoke mit einer supertiefen Stimme – wie aus den tiefsten Tiefen einer Märchenhöhle. Sosi mit einem fast silberhellen Sopran, wenn sie sang. Und sie musste jeden Morgen irgendein Lied singen, deutsch oder polnisch, sonst war sie unglücklich. Oder aber mir fehlte etwas am vollen Tagesglück. Wenn sie sprach, konnte man noch die Überreste ihres östlichen Akzents hören. Sie war 1940 als sogenannte deutschblütige Polin heim ins Reich, wie die Nazis das nannten, verschubt worden. Fünfundzwanzig und mit einem Polen verlobt, der in deutscher Kriegsgefangenschaft war. Kein Grund, sie dort zu lassen, wo sie verwurzelt war. Ab mit der ganzen Großfamilie ins Brandenburgische. Und ich saß in meiner Lieblingsecke auf der Bank hinter dem Tisch. Die Gruselgeschichten von Scheintoten, von Gespenstern. Von einem nach seinem Tod ruhelos an den Stätten seines üblen Wirkens herumgeisternden Werber für die Garde der Langen Kerls, die der kleine preußische König Friedrich Wilhelm I. als persönliche Marotte aufstellen ließ. Ein Werber dessen List und Tücke die aller anderen in die deutschen Lande ausgeschwärmten Werber übertraf. Geschichten über Märtyrer aus Sosis Mund, von Kriegshelden – allerdings nur von 70/71 oder früher - aus dem Mund von Onkel Pankoke. Sosis vermenschlichte Version der Urgeschichte vom Kadavergehorsam. In ihrer Version fand Abraham immer neue Tricks, die ihm befohlene Ermordung seines Sohnes ohne offene Revolte nicht auszuführen. Er wetzte das Messer, prüfte seine Schärfe an einem Zweig, wetzte von neuem, prüfte, ließ sich eine lange Anrufung Gottes einfallen, wetzte noch einmal, prüfte wieder, rief seinen Herrn in anderen verschlungenen Sätzen an, erzählte ihm von den Talenten, der Anmut und der Liebenswürdigkeit seines spätgeborenen Sohnes Isaak, erfand immer neue Geschichten, bis sein Gott sich endlich rühren ließ und einen Bock als Ersatzopfer akzeptierte. Onkel Pankoke, der zahlreiche Strophen eines seltsamen Gedichts über eine Episode mit dem Alten Fritz aufsagte. Wie der König nach einer gewonnenen Schlacht durch die Straßen ritt und die zusammenlaufenden Kinder erzürnt in die Schule schicken wollte, von ihnen aber lauthals ausgelacht wurde. Ich kann die letzten Verse noch auswendig: Der ganze Chor fiel jubelnd ein: Der Alte Fritz will König sein und weiß nicht, dass zu dieser Frist des Mittwochs keine Schule ist! - Ich weiß bis heute nicht, wer und was für eine Absicht hinter diesen Versen steckt. - Na ja, und manchmal erzählte Onkel Pankoke auch etwas von Großvater und Großmutter. Und von dem sagenhaften Onkel Willi. Nichts von meinem Vater. Das war für ihn wohl aus irgendwelchen Gründen ein Tabu. Ob die Geschichten reine Tatsachen oder reine Gerüchte waren, ob Tatsachen oder Gerüchte mehr oder weniger mit den Phantasieprodukten des Erzählers ausgeschmückt wurden oder ob es sich um eine Mischung aus den verschiedensten Quellen handelte - ich konnte es damals nicht beurteilen und weiß es heute so wenig wie damals. Meine späteren Versuche, mit Vater darüber zu sprechen, waren absolut erfolglos. So freundlich und offen er sonst zu mir war, sobald ich diese Themen anschnitt, ging bei ihm der Rollladen runter. – Na ja, ich bin inzwischen aus der Phase heraus, wo es mir so wichtig war, genau zwischen Tatsachen und Fiktion zu unterscheiden. Ich bin nun mal kein Richter. Von meiner Entscheidung, ob eine Behauptung wahr oder unwahr ist, hängt glücklicherweise nicht das Wohl und Wehe eines Menschen ab. Warum nicht einfach ein bisschen spekulieren. Familiengeschichten sind doch immer auch Lügengeschichten.“

„Lass das nicht meine Schülerinnen und Schüler hören. Ich versuche gerade mühsam, ihnen beizubringen, wie wichtig es ist, Tatsachen und Phantasien exakt auseinander zu halten.“

„Versprochen! Und im übrigen besteht jetzt keine ernsthafte Gefahr mehr.“

„Ja, leider!“

„Höre ich gerade ‚leider’?“

„So war meine Rede. - Und soll ich dir noch etwas sagen?“

Ihre Stimme verriet ihm, dass ein höchst angenehmer Themenwechsel anstand. „Etwas Wahres oder ...?“

„Was hältst du von einer multimethodischen Fortsetzung in meinem Bett?“

Er brauchte nur eine Sekunde für seine Entscheidung. Dann zog sein breites Lächeln über sein Gesicht: „Überredet nicht, nicht im geringsten überzeugt; aus dunklen Gründen aber total überwältigt. Wohlan denn!“

Richard Wiedendoms verstörender Wendegewinn

Подняться наверх