Читать книгу Richard Wiedendoms verstörender Wendegewinn - Hubert Schem - Страница 6

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„Wie findest du Richard in der letzten Zeit, Thomas? Kommt er dir nicht auch verändert vor“?

„Verändert? – Nein, nicht wirklich. Wir telefonieren alle zwei bis drei Wochen miteinander. Jedes Mal bemüht er sich tapfer, mich nicht danach zu fragen, warum ich ausgezogen bin. Ich hätte sogar Verständnis dafür. Wenn ich auch nicht in der Lage wäre, ihm das plausibel zu machen. Also, frag du mich lieber nicht, Bernd. Du bist sowieso noch zu jung dazu.“

„Alter Witzbold. Ich habe dich nicht gefragt und werde dich auch nicht fragen. Deine Sache.“

„Danke. Jedenfalls macht Richard einen sehr fitten Eindruck auf mich. Ungewohnt lebhaft, schlagfertig, sogar witzig. Insofern hast du Recht. Ist es seine große neue Liebe? Oder hat ihn die Sache mit dem Grundstück in Rostock so mobilisiert?

„Vermutlich beides.“

„ Ich kann das mit dem Grundstück noch gar nicht richtig unterbringen. Für uns hier ist der Osten Deutschlands immer noch so weit weg wie Sibirien. Österreich und die Schweiz vor der Tür, Frankreich und Italien nicht weit, aber Rostock? Ein Punkt auf der Fernseh-Wetterkarte ganz oben im Nordosten, mehr nicht. Übrigens, deine neue Freundin sitzt doch vor Ort. Weiß sie irgendwas über das Grundstück? Können wir uns bald kontemplativ zurücklehnen im Vertrauen auf die große Erbschaft?“

„Nanu, Bruder, seit wann ist deine berüchtigte Ironie auch noch makaber? Ich versuche das vollkommen zu verdrängen. Hab’ genug im Kopf mit meiner Aufgabe hier. Wir wissen ja von Monat zu Monat nicht, ob es weitergeht mit dem Projekt. Aber vielleicht solltest du direkt mit Barbara sprechen. Richard hat sie letzte Woche besucht, zusammen mit seinem seltsamen Freund Schnippenholz. Barbara war tief beeindruckt von dem. Was das für ein Typ ist, war mir nie klar. Irgendwie schräg. Wenn man es ihm auch nicht ansieht. Du müsstest ihn besser kennen als ich. Wie auch immer. Der ist anscheinend emeritiert und vertritt Richard in dem Rückgabeverfahren. Na ja, weiß nicht recht, ob das so angesagt ist. Aber geht mich auch nichts an. Richard würde ich es natürlich gönnen, wenn er plötzlich Millionär wäre. Ich will mich lieber selber durchschlagen.“

„Mensch, Bernd, hast du einen personality change hinter dir? Das klingt so musterknabenhaft.“

„Soll das heißen, ich hätte mich bisher gekonnt durchgeschnorrt, großer Bruder?“

„Hilfe, nein, das soll es wirklich nicht heißen, Bernd. Vielleicht habe ich mehr an mich gedacht als an dich. Personality change hin, personality change her - ich würde lieber heute als morgen die Brocken hinschmeißen und was Neues anfangen. Wenn ich nur wüsste was und wie. Das wird von Tag zu Tag drängender. Irgendwer oder irgendwas zieht mir den Boden unter den Füßen weg.“

„Klingt ja richtig dramatisch, Mann. Was ist denn los?“

„Wenn ich das genau wüsste! - Verstöße gegen Denkverbote. Demotivation des Motivators. Entfremdung, wenn dir das noch was sagt. Ich kann es nicht in eine griffige Formulierung pressen. Ein Sabbatjahr wäre jetzt ein Geschenk des Himmels. Abstand gewinnen. Nachdenken. Dösen. Vielleicht neu entscheiden. Oder auch nicht. Vielleicht auch nur das eine Jahr voll genießen und dann im vertrauten Trott weitermachen. Egal, es ist sowieso nur eine schöne Illusion bei meinen finanziellen Verhältnissen.“

„Ist das dein Ernst? Bei deinem Einkommen. Was soll ich denn sagen mit meinen mickrigen Mäusen?“

„Zwei Haushalte für eine Familie sind finanziell einfach ein Desaster. Da kann ich noch so bescheiden leben. Außerdem – bevor ich ein Sabbatjahr mache, ist erst mal Hanna dran. Vierzehn-, fünfzehnjährige Hauptschüler sind harte Brocken. Die schaffen eine engagierte und sensible Lehrerin wie Hanna in wenigen Jahren. Es ist ein Jammer. Also werde ich mit meiner tollen Motivlage weiter unsere Führungskräfte motivieren. Damit komme ich schon zurecht. – Ist es nicht verrückt, Bernd, ich verliere den Boden unter den Füßen und bin nicht wirklich traurig drüber, während du anscheinend alles daran setzt, endlich festen Boden unter die Füße zu bekommen.“

„O Mann, Thomas, das klingt gar nicht gut. Wir sollten uns wirklich bald sehen. Vielleicht kann ausnahmsweise der jüngere Bruder mal Aufbauhilfe leisten. Ich bin tatsächlich so gut drauf wie noch nie – trotz der unsicheren Berufssituation.“

„Na klar, frisch verliebt wie du bist.“

„Das auch. Aber das ist noch nicht alles. Meine Arbeit macht Spaß. Sinnvoll, neuartig, viel Gestaltungsfreiheit, eine Menge Kontakte. Und ich bin so gesund wie seit Jahren nicht mehr. In jeder Beziehung.“

„Ich gönn es dir von Herzen. Und glaub ja nicht, ich wäre total am Boden. Ich muss mich nur neu orientieren. Im Beruf und in der Familie. Nur. So was kommt leider immer zur Unzeit. Und meistens gleichzeitig. Nicht schön der Reihe nach zum Abarbeiten. Aber diese Übergangszeit hat auch ihre Reize. Die Zwillinge sind in einer wunderbaren Phase. Womöglich die schönste ihres ganzen Lebens. Mit Hanna geht es immer besser. Seit ich ausgezogen bin. Oder weil ich ausgezogen bin. Wir sehen beide wieder mehr das Positive in unserer Beziehung. Keine täglichen Reibereien. Wir reden wieder lange und vernünftig miteinander, wenn es notwendig ist oder sich ergibt. Ich habe meine Techniken, bestimmte Themen zu vermeiden. Sie hat wahrscheinlich ihre. So läuft es viel besser als nur erträglich, manchmal sogar sehr gut. Mal abwarten, wie sich das entwickelt.“

„Schade, dass wir fast tausend Kilometer zwischen uns haben.“

„Ja, finde ich auch, Brüderlein. – Wie geht es deiner Mutter?“

„Else? Unser Kontakt ist ziemlich spärlich geworden. Habe ich dir schon erzählt, dass sie nicht mehr allein lebt?“

„Nein, hast du nicht. Hat sie endlich ihre große Liebe gefunden?“

„Das kann ich kaum glauben. Stell dir vor, er ist ein passionierter Golfer. Das genügt mir schon. Ich verstehe nicht, wie ausgerechnet Else mit einem solchen Typen zusammenziehen kann. Bei ihrer politischen Einstellung. Keine Ahnung, womit der ihr den Kopf verdreht hat. Vielleicht ist sie einfach kampfesmüde geworden, hat alle ihre Grundsätze über Bord geworfen und versucht, sich in einem sorgenfreien bürgerlichen Leben einzukuscheln. Nach allem was sie durchgemacht hat, bedingt verständlich. Aber ich glaube nicht, dass es ihr gelungen ist oder je gelingen wird. Und es steht ihr einfach nicht. Es steht ihr wirklich und wahrhaftig überhaupt nicht. Es macht mich nur traurig, wenn ich daran denke.“

„Das wäre was für Hanna. Schick deine Mutter mal zu ihr. Hanna dreht sie wieder um und macht eine Latenz-Sozialistin aus ihr.“

„Eine was?“

„Hanna träumt immer noch von ihren alten Ideen. Niemand darf verhungern. Niemand darf sich rücksichtslos bereichern. Niemand darf andere ausbeuten. Die lebenswichtigen Güter müssen weltweit so gesteuert werden, dass sie immer rechtzeitig dort sind, wo sie wirklich gebraucht werden. Kapitalismus und Marktwirtschaft schaffen das nicht. Sie sind irrational und ungerecht. Unzählige Hungernde, Obdachlose, Ausgebeutete ohne ein Fünkchen Hoffnung – von den Verhungerten, Erfrorenen und auf andere Weise vorzeitig Verreckten ganz zu schweigen. Wer das nicht akzeptieren will, muss für ein anderes Verteilungssystem kämpfen, ein im Kern gerechtes Verteilungssystem, weil von der Vernunft gesteuert. Und das ist nun mal einzig und allein der Sozialismus. Wer behauptet, der Sozialismus sei mausetot, weiß nichts von der Überlebensfähigkeit der großen Menschheitsideen. Er mag zwar seit einigen Jahren nahezu ohne Wirkungsmacht sein. Aber das ist aus der Sicht eines zukünftigen Historikers lediglich eine Art Latenzperiode. Irgendwann ist er wieder voll vital und wird mit der überlegenen Kraft der menschlichen Vernunft zur Macht drängen. Dann wird die große Zeit der Menschheit anbrechen. Die Vernunft wird regieren. Das Streben nach Gerechtigkeit wird nicht wie heute als Ausdruck niedriger Neidinstinkte gelten, sondern als die für das menschliche Zusammenleben notwendigste Voraussetzung. – So etwa die Latenzsozialistin Hanna Wiedendom-Wagner.“

„Ein weiterer Grund, dass wir uns mal wieder sehen müssen. Und zwar unbedingt mit Hanna. Findest du das denn alles Schrott, Thomas?“

„Wenn ich es könnte, ginge es mir besser. Ich war ja schließlich selbst einer von den vielen Saisonsozis im Westen. Mal regelrecht romantisch, mal mit Wut im Bauch kampfbereit und manchmal sogar mit kühlem Kopf. Aber nie konsequent und dauerhaft. Ich weiß nicht, ob ich zutiefst doch zu bürgerlich war oder einfach zu skeptisch, um an den Erfolg zu glauben und dafür zu kämpfen. Aber wenn ich ehrlich bin, muss ich gestehen, dass ich trotz aller Skepsis und aller Horrormeldungen aus dem kommunistischen Block zutiefst gehofft habe, die im Osten würden schließlich doch eine Alternative zum Kapitalismus zustande bringen, die sich sehen lassen könnte. Ich gehöre auch heute noch nicht zu denen, die eine Gänsehaut vor Ehrfurcht kriegen, wenn das hohe Lied des Kapitalismus und der freien Marktwirtschaft intoniert wird. Obwohl ich mir immer wieder eingeredet habe, total illusionslos zu sein, ist jetzt irgendwas in mir enttäuscht. Ich bin sogar richtig sauer, dass das Experiment im Osten so mickrig ausgegangen ist. Dabei muss man wirklich froh sein. Keine Atomraketen gezündet, kein einziger Schuss, kein Tropfen Blut. Wer hätte das vor zehn, fünfzehn Jahren gedacht!“

„Da war ich politisch noch ein Analphabet. Keine Ahnung, was da wirklich los war.“

„Gut für dich. So musst du dich mit dem Wirrwarr der damaligen Zeit gar nicht mehr befassen. Man war sich nie sicher, auf welcher Seite die Ideologen und Fantasten und auf welcher die Realisten waren. – Wie kamen wir eigentlich darauf? Ach so ... Hanna. Was mich immer wieder auf die Palme gebracht hat, war nicht ihre Überzeugung an sich, sondern die Ignoranz, mit der sie alle negativen Erfahrungen abtat. Die Geschehnisse im Ostblock in den letzten Jahrzehnten hatten gar nichts mit dem echten Sozialismus zu tun. Ein historisch betrachtet kurzer Irrweg unter falscher Flagge. Der Mensch ist und bleibt gut und vernünftig. Egoismus, Korruption und Machtrausch sind keine bedeutsamen Komponenten, die man in der Politik berücksichtigen müsste. Die Millionen Opfer gehen nicht zu Lasten der Idee, sondern sind allein den Führern zuzuschreiben, die die Idee verraten oder nie richtig verstanden haben. Die Wirklichkeit, die wirtschaftlichen, die gesellschaftlichen, die psychischen Realitäten sind nur dann von Bedeutung, wenn sie sich in das Ideengerüst einpassen lassen. Ansonsten sind es krude Tatsachen, die man mit idealistischem Hochmut ignorieren darf. Das Bewusstsein prägt das Sein. Als hätte es Marx und die anderen Materialisten in der europäischen Philosophie nie gegeben. Das ist platonischer Sozialismus, wenn dir das was sagt. Diese von schwäbischen Pfarrern und Lehrerinnen kultivierte Ignoranz kann mich immer wieder zur Weißglut bringen. – Ach, nimm es nur nicht zu ernst, Bernd. Das war mal wieder einer meiner psychischen Brechanfälle, die mich seit einiger Zeit manchmal attackieren. Ich weiß selbst am besten, dass Hanna keineswegs so simpel ist. Halt du ihr nur die Stange. Ich bin der Letzte, der etwas dagegen hätte.“

Als er aufgelegt hatte, merkte er, dass der kalte Schweiß von seinen Achselhöhlen fast den Gürtel erreicht hatte. Ein freundliches und doch nicht belangloses Gespräch unter Brüdern wie schon lange nicht mehr. Warum nur, verdammt noch mal, dann dieser schwitzige Anfall von Eifer, dachte er. Verständnissuche ausgerechnet beim kleinen Bruder? Oder das Zusammentreffen von Erinnerungen an eine paradiesische Zeit mit dem Bewusstsein für die Verknotungen aus Missverständnissen und fehlgeschlagenen Klärungsversuchen in einer späteren Phase?

Thomas blickte auf seine Armbanduhr. Zehn vorbei. Zu früh, ins Bett zu gehen, zu spät, noch etwas geistig Anspruchsvolles zu beginnen. Er ging zu seinem Bücherregal und suchte nach dem Schuhkarton mit den Photos, den er bei seinem Auszug aus der Familienwohnung problemlos mitgenommen hatte. Um den Inhalt dieses Kartons konnte es keinen Streit geben. Er hatte sie in den gemeinsamen Hausstand eingebracht, er nahm sie wieder in seine Junggesellenwohnung mit. Die Zwillinge hatten dem angestaubten Karton vor Jahren neues Leben eingehaucht. Immer wieder schleppte einer ihn an und ließ sich erklären, wer genau wer sei, wo, wann und unter welchen Umständen die Bilder entstanden seien. Meistens kam der andere bald hinzu. Es hatte sich eine Art von Ritual daraus entwickelt. Photos anzuschauen war für Kinder eine Entdeckungsreise, verbunden mit dem nie versiegenden Genuss, von der größten Autorität bestätigt zu bekommen, wie gut man sich schon auskannte in der Familie. Thomas selbst hatte es immer vorgezogen, sich seine Erinnerungen unabhängig von Schnappschüssen oder gestellten Photos zu bewahren und zu gestalten. Jetzt fühlte er sich so ausgewrungen, dass kein Einwand seinen Impuls unterdrückte.

Wahllos nahm er einen Packen Photos heraus. Die Zwillinge hatten längst jedes System aufgelöst. Thomas starrte auf die Bilder, ohne richtig hinzusehen, ließ sich beeindrucken, ohne wirklich beeindruckt zu sein und hörte nicht auf, als er merkte, wie sein mattes Interesse an seiner eigenen Kindheit überlagert und vermischt wurde von den Stimmen der Zwillinge, die eifrig im Wechsel das Gesehene beschrieben, immer wieder seine eigenen Worte und Sätze benutzend. Die aufkommende Müdigkeit, eine schwache Ausprägung von Nostalgie und die Vorstellung von den Zwillingen in Aktion, die mit wellenartigen Attacken alles andere verdrängte, erzeugten eine behaglich-traurig-rührselige Stimmung. Thomas merkte zwar, dass er in einen Zustand stark verminderter Selbstkontrolle hinüberglitt, ließ sich aber ohne Gegenwehr von dem angenehmen Sog in seine private Zufluchtshöhle ziehen.

Rückzug aus der vordersten Linie des Bewusstseins. Die Konturen verschwimmen lassen. Darauf verzichten, Vorgänge, Gedanken und Gefühle zu registrieren, zu bewerten und in Systeme einzuordnen. Die genaue Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich auflösen lassen. Tatsachen und Phantasien beliebig vermischen. Die Namen, das Aussehen, den Charakter von Personen nach Lust und Laune verändern, auswechseln, miteinander verbinden. Eigenschaften und Geschehnisse ausschmücken. Das Spiel mit wechselnden Möglichkeiten variieren. Keinen Druck zur Selbstkontrolle und Rechtfertigung spüren. - Thomas liebte diesen Zustand. Ein störungsfreies Milieu in einer streng privaten Zufluchtshöhle. Aber er wusste jederzeit, dass diese Höhle keine wirkliche Zuflucht sein konnte, dass es nur ein Spiel war. Ein Spiel, das ihn für kurze Zeit beherrschte, weil er sich beherrschen lassen wollte.

War es nicht übertrieben gewesen, was er Bernd über seine berufliche Situation erzählt hatte? fragte sich Thomas jetzt. Hatte er wirklich den Boden unter den Füßen verloren? Wieso hatte er diese dramatische Formulierung gegenüber Bernd gebraucht? Er konnte sich nicht an ein Ereignis erinnern, das sein gelassenes berufliches Engagement radikal in Frage gestellt hätte. An keinen Zusammenstoß mit einem Vorgesetzten oder Kollegen. An keine spektakuläre Information. Auch an keinen außergewöhnlichen Diskussions- oder Denkprozess. Schon gar nicht an eine alles umstürzende plötzliche Gefühlsattacke.

Thomas erinnerte sich, wie er gelegentlich sein höchst privates Spiel in die berufliche Sphäre zu übertragen versucht hatte. Nachdem er seine Anfangsillusionen über den Sinn seiner Tätigkeit bereits über Bord geworfen und akzeptiert hatte, dass es bei den Führungskräfteschulungen nicht darum ging, den Menschen im Unternehmen in seiner ganzen Tiefe und Breite herauszufordern und zu fördern. Als Diplompsychologe und Soziologe im Personalwesen hatte er schnell und ohne bleibenden Schaden die Feuertaufe der betrieblichen Praxis überstanden. Er hatte akzeptiert, dass sein Beitrag innerhalb der Schulungen nicht darin bestand, Erkenntnisse über das menschliche Zusammenleben zu vermitteln, auch nicht darin, zu lehren wie man seine ganz individuellen Methoden entwickeln kann, das eigene Lebenspotenzial zu mobilisieren und Probleme zu bewältigen. Es ging einzig und allein darum, tüchtige Führungskräfte noch tüchtiger zu machen, damit sie die ihnen gesetzten Teilziele innerhalb des großen Unternehmensziels erreichten.

Wenn Thomas es gewagt hatte, den Führungskräften sein privates Spiel als Mittel zur beruflichen Motivation zu empfehlen, dann in einem Anfall von Übermut. Ein mäßig riskantes Spiel mit dem Feuer. Die grobschlächtigen Aktivisten unter den Teilnehmern und auch die immer auf der Lauer liegenden Kritiker, denen der Scharfsinn aus den Augen blitzte, hielt er mit dem Schlagwort „schöpferischer Rückzug“ in Schach. Schöpferischer Rückzug - dagegen durfte in einem innovativen Unternehmen niemand ernsthaft argumentieren und agieren. Alle Führungskräfte und Mitarbeiter waren verpflichtet, am nie abgeschlossenen Schöpfungsprozess aktiv teilzunehmen. Das Unternehmen konnte nur überleben, wenn ständig neue Ideen geboren wurden. Und allen Methoden, die der Kreativität förderlich sein konnten, galt es eine Chance der Erprobung zu geben. Hüten Sie sich vor der Fixierung des Tunnelblicks, meine Damen und Herren! Vergewissern Sie sich immer mal wieder, dass Sie noch fähig sind, weit ins Land zu schauen. Vergessen Sie nie, dass aus Träumen etwas sehr Handfestes entstehen kann. Für Thomas war es ein reizvolles Spiel gewesen, die Führungskräfte derartig zu verunsichern, um anschließend zu beobachten, wie schnell und auf welche Weise sie zum Wohlvertrauten zurückkehrten.

Thomas hatte immer Wert darauf gelegt, keinem Guru anzuhängen, sondern alle Angebote auf dem Markt der Betriebspsychologie kritisch zu prüfen. Aus den zahllosen Angeboten hatte er die besten Komponenten ausgesucht, miteinander kombiniert und eigene Zusätze angefügt. Mit dem Echo der Seminarteilnehmer war er meistens gut bis sehr gut zufrieden gewesen. Also auch mit sich selbst.

All dies ging ihm jetzt durch den Kopf, während sich allmählich die Müdigkeit ausbreitete. Wieso hatte er dann davon gesprochen, auch in einer beruflichen Krise zu sein? Entsprach das überhaupt seiner eigenen Erkenntnis? Oder war es das Ergebnis eines unkontrollierten psychischen Vorgangs bei dem Gespräch mit dem Halbbruder, der erst am Anfang seines Berufslebens stand? Das schien ihm abwegig. Sah nach Flucht vor einer unangenehmen Einsicht aus. Er konnte sich nicht selbst täuschen und leugnen, dass seine berufliche Motivation kein sicheres Fundament mehr hatte. Vielleicht auch nie gehabt hatte? Woraus hatte das Fundament denn bestanden? Hatte er nicht einfach agiert und reagiert, sich von diesem oder jenem antreiben, ziehen, drängen lassen, ohne sich dessen bewusst zu sein und ohne sich oder anderen Fragen zu stellen? Hatte er das, was er in seinen Beiträgen innerhalb der Führungskräfteseminare mit Fachautorität verkündete, in seinem eigenen Berufsleben je ernsthaft erprobt? Er spürte die Unlust, sich in seinem jetzigen Zustand mit solchen Fragen herumzuschlagen. Fest stand, dass es ihm seit einigen Monaten schwer fiel, an fünf Tagen in der Woche für acht bis zehn Stunden ein anderer Mensch zu sein als in der übrigen Zeit. Irgendetwas ist in dem System in Unordnung geraten, stellte er jetzt ironisch-resignativ fest. Psychische Materialermüdung? Ein Synapsendefekt? Ein unerkannter Virus, der sein Unwesen mit progressiver Gewalt treibt? Oder doch eine lange verdrängte Erkenntnis?

Als ihm der Kopf nach vorne wegsackte und ein Packen Photos auf den Fußboden rutschte, straffte Thomas seinen Körper reflexartig. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte der Schlaf ihn übermannt. Wieso saß er hier? Der Fernseher dunkel. Keine leere Bierflasche in der Nähe. Sekundenschnell hatte er sich gefangen. Beim Einsammeln der Photos fiel sein Blick auf ein Bild im Großformat. Er brauchte sich nicht über die Entstehungszeit zu vergewissern. Jede Einzelheit stand ihm noch vor Augen wie vor siebzehn Jahren. Die große Schlussaufnahme der Kleinfamilie Wiedendom im April des Jahres 1980 vor der Haustür der sogenannten Villa in Spandau. Rechtsaußen Else mit dem Mantel über dem Arm. Dem Befehl der fotografierenden Nachbarin folgend, war sie bemüht, ein Lächeln zu zeigen. Es hatte keine Ähnlichkeit mit ihrem verständnisvollen Lächeln, das für Thomas so oft eine Quelle des Trostes gewesen war. Auf Abstand neben ihr der damals zehnjährige Bernd. Keine Spur von einem Lächeln. Man musste nicht dabei gewesen sein, um zu sehen, wie er tapfer mit den Tränen kämpfte. Dann er selbst, ein wenig blasiert in die Kamera blickend. Der Student in den Semesterferien. Und schließlich der Vater, dessen Gesicht einen von Thomas nie zuvor und auch nie nachher beobachteten Ausdruck zeigte.

Thomas hatte dieses Foto schon so häufig in der Hand gehalten, dass er kaum noch hinsehen musste, um alle Details vor Augen zu haben. Er hatte es inzwischen längst aufgegeben, den Gesichtsausdruck des Vaters beschreiben zu wollen. Für ihn war dieses Gesicht einzig und allein Ausdruck der ganz konkreten Situation fünf Minuten bevor Else und Bernd sich ins Auto setzten und damit eine Epoche der Familie Wiedendom in Berlin-Spandau deutlich sichtbar beendeten. Familie Wiedendom? Thomas ertappte sich sofort. Was für eine bezeichnende Anmaßung! Familie Wiedendom-Dambek? Auch das war missverständlich für Außenstehende. Wiedendom/Dambek? Eine papierene Konstruktion, resistent gegen das Aussprechen und rätselhaft in ihrer Bedeutung. Bernd hatte als Achtjähriger den Ehrgeiz entwickelt, einen gemeinsamen Familiennamen zu konstruieren. Doch seine Versuche mit Wiedendam, Dombek, Damdom und Wiedenbek blieben chancenlos. Schließlich gab er es auf, mit Silben zu experimentieren und wandte sich den Buchstaben zu. Eines Tages verkündete er triumphierend, von den Abermillionen Namen in der Welt komme nur ein einziger in Frage, ein Zweisilber mit der scheinbar schlichtesten Bedeutung. Kleine - das kleine e in Wiedendom und Dambek als verbindender Bestandteil. Hartnäckig bestand er darauf, sich Bernd Kleine zu nennen und als Bernd Kleine angesprochen zu werden. Die übrigen Familienmitglieder spielten dieses Spiel mit - ihm zuliebe oder aus Bequemlichkeit, denn der Achtjährige war äußerst hartnäckig bei der Verfolgung seiner kindlichen Marotten.

Auch Thomas hatte dem Kleinen diesen Gefallen getan. Ein Spiel in einer brüderlichen Beziehung, die von einer fast grenzenlosen Freundlichkeit geprägt war. Er selbst ein achtzehnjähriger Gymnasiast, dessen Gefühlshaushaushalt jahrelang zwischen den Extremen geschwankt hatte und noch nicht wieder neu austariert war. Mit undramatischen Rollenspielen, offensichtlichen Übertreibungen, burlesken Parodien und harmlos ironischen Verzerrungen versuchte er seine Gefühlsschwankungen auszubalancieren. Er vertraute unbegrenzt darauf, dass die nächsten Angehörigen dies alles genau richtig einzuordnen wussten und niemals bewusst missverstehen würden. Selbst als er einige Male provokativ die unsichtbare Grenze überschritt, blieben die erwarteten Folgen aus. Keine lauten Zusammenstöße mit dem Vater oder dessen neuer Lebensgefährtin. Und auch nicht diese ekligen Situationen, die Heranwachsende mehr hassen als jeden richtigen Streit: Der Provozierte zeigt demonstrativ sein tiefes Verständnis für die Handlungsweise des Provokateurs, beleidigt ihn damit aber aufs Schlimmste, weil er ihn zum Bestandteil einer Kategorie macht, statt die Einzigartigkeit seiner Probleme auch nur im entferntesten zu verstehen. Der zehn Jahre jüngere Halbbruder in einer Verfassung, dass ihm alle Herzen zufliegen. Hübsch anzusehen mit seinem unschuldigen Milchgesicht, wissbegierig, mitteilungsfreudig, erstaunlich virtuos im Umgang mit der deutschen Sprache, nach Ansicht der Eltern mit deutlichen Anzeichen von Kreativität. Keine Spur mehr von den in der Familie gefürchteten Jährzornsanfällen, die ihn als Vier- und Fünfjährigen und mit ihm alle Anwesenden immer wieder total erschöpft hatten. Zwischen den Brüdern eine ganz große Liebe, die allerdings niemand so nennen durfte. Beim Kleinen dazu die grenzenlose Bewunderung des großen Bruders, den er ungehemmt nachahmte, so gut er nur konnte.

Der Große lebte seinen elementaren Beschützerinstinkt aus, genoss es, seinen Erfahrungsvorsprung pädagogisch zu verwerten und fand sich wiederholt beim Zusammensein mit seinem Bruder in einer so vorbehaltslosen Friedfertigkeit, dass es ihn dazu drängte, seine Zuneigung mit etwas ungelenken Berührungen auszudrücken. Kleine Neckereien und die seltenen Streitigkeiten hatten das Verhältnis nie länger als einige Stunden beeinträchtigen können.

Thomas sollte sich später immer wieder fragen, welcher Teufel ihn geritten hatte, als er den Bruder eines Mittags mit jenem Vers begrüßte, der diesen paradiesischen Zustand für immer beendete. Vertrauen darauf, dass der Kleine auch diese Spontandichtung des Großen als Ausdruck brüderlicher Zuneigung deuten werde? Ausdruck einer uneingestandenen Kränkung durch die Versuche des Bruders, eine neue Sprachregelung für den Familienverbund zu finden? Eine dämonische Lust , den liebsten und unschuldigsten Menschen, den er kannte, zu verletzen? Oder einfach die Unfähigkeit, eine so unbeschwerte, im besten Sinne heitere Beziehung auf Dauer auszuhalten? Nie hatte der Psychologe Thomas Wiedendom später eine befriedigende Erklärung gefunden. Als der Bruder ihm wie häufig die Wohnungstür geöffnet hatte, strahlend und mit einem Hallo!, das den verstocktesten Missetäter für Sekunden zum Heiligen machen musste, blickte Thomas ihn herablassend wie ein fremdes Kind an und gab sich überrascht: „Hallo, du Kleiner! Wie heißt denn du? Dich kennt hier keiner!“ – Bernd sah ihm sekundenlang fragend in die Augen. Thomas schaffte es, seinen eigenen kalten Blick einzufrieren und keinen Gesichtsmuskel zucken zu lassen. Ein fassungsloser Schreck im Gesicht des Bruders. Die Augen plötzlich voller Tränen. Seine Bemühungen, das Weinen zu unterdrücken, führten schließlich zu einem nicht enden wollenden herzzerreißenden Schluchzen. Alle stammelnden Versuche von Thomas, ihn zu trösten oder wenigstens zu beruhigen, blieben ergebnislos. Bernd rollte sich schluchzend und wimmernd auf dem Flurboden zusammen und schüttelte die Hand von Thomas unwillig ab.

Thomas stand sekundenlang ratlos über ihm. Als er merkte, wie eine maßlose Wut in ihm hoch stieg, dass er am liebsten auf den kleinen Bruder eingeprügelt hätte, bis er wieder der alte war, ging er wortlos in sein Zimmer. Der Zauber war vorbei. Ein für allemal. Unwiederholbar. Thomas spürte es mit großer Gewissheit. Er hätte selbst heulen mögen oder besinnungslos wüten. Beides war seinem Alter nicht mehr gemäß. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und sah zum Fenster hinaus, eine halbe Stunde lang unbeweglich und absolut gefühllos. Zum ersten Mal in seinem Leben versteinert, wie er später als angehender Psychologe diagnostizieren sollte.

Nach einigen Tagen verbissenen Schweigens ließ Bernd zwar wieder vernünftig mit sich reden, und es gab Stunden, die an die Zeit vor dem Vorfall erinnerten. Aber die paradiesische Heiterkeit stellte sich nicht mehr ein. Thomas merkte, dass der Kleine ihn anders als früher beobachtete und auf harmlose Bemerkungen empfindlich reagierte. Ihm selbst wurde die Anhänglichkeit des Kleinen immer häufiger lästig. Oder er bemühte sich, sie lästig zu finden. Sorry, ich hab jetzt keine Zeit. Zwei, drei Abweisungen dieser Art genügten, dass der Kleine sich in seine altersgemäßen Kreise zurückzog. Nach der Auflösung des Familienverbunds quälte sich Thomas jahrelang immer wieder mit Anfällen der Zerknirschung über sein unverständliches Spiel, im Wechsel mit Anfällen der Wut über die kindische Spielverderberei des Kleinen. Erst nachdem er sein Psychologie-Studium abgeschossen hatte, konnte Thomas sich an sein damaliges Verhalten erinnern, ohne seine Fassung wieder zu verlieren. Und irgendwann stellte er mit einer eigenartigen Mischung aus Erleichterung und Betrübnis fest, dass ihn die Erinnerung an den Vorfall emotional nicht mehr berührte.

Beim Zähneputzen fiel Thomas das Telefonat mit seinem Bruder wieder ein. Er erinnerte sich, wie ihn mitten im Gespräch eine Welle der Zuneigung überspült hatte. Bezog sich dieses weiche Gefühl wirklich nur auf den Bruder oder hatte Bernd ein Bedürfnis nach den sozialen Sicherheiten und der besonderen Atmosphäre in der Familie in ihm erweckt? Vielleicht sollte er die Initiative zu einem Familientreffen ergreifen. Mit allen Ehemaligen. Und mit den Hinzugekommenen und möglicherweise Hinzukommenden? In Berlin? In Konstanz? In Hamburg? In Friedrichshafen? Wie wäre es mit Rostock? Ohne Else wäre es kein wirkliches Familientreffen. Aber musste man dann auch die Anwesenheit ihres jetzigen Lebensgefährten in Kauf nehmen? Kurz vor dem Einschlafen schwor Thomas sich darauf ein, seinen spontanen Abendeinfall nicht wie so manchen ähnlichen Einfall in der Morgenschwere wieder zu verwerfen.

Richard Wiedendoms verstörender Wendegewinn

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