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Wie das Haus uns gefunden hat

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Le meraviglie nascono senza seminarle. Die Wunder wachsen, ohne dass man sie säen muss.

Zugegeben, es gehört auch Glück dazu. Aber Glück ist nicht so selten, wie man glaubt. Die meisten Menschen merken nur nicht, wenn es sich ihnen anbietet. Genau genommen muss man Glück haben, um Glück zu erkennen. Das ist dann eine Sternstunde. Uns schlug eine auf der Autobahn zwischen Florenz und Pisa. Da ging uns das Benzin aus. Das heißt, der Benzinanzeiger stand schon geraume Zeit auf null, aber keine der Tankstellen auf dem Weg war offen: Streik. Also nichts wie runter von der Autobahn.

Gleich nach der Abfahrt fanden wir auch eine Tankstelle, die nicht bestreikt, aber zur Stunde wegen Siesta geschlossen war. Dafür war das Espresso daneben offen. Dankbar schlürften wir unseren Cappuccino und freuten uns, da zu sein. Vor uns lag eine Pinienallee, die allmählich im leichten Bodennebel verschwand, dennoch ein strahlend blauer Himmel und dazwischen, sanft aus dem Nebel aufsteigend, Weingärten, Olivenhaine, darüber wie eine Krone aus grauem Stein und roten Dachziegeln, Campanile zwischen Zypressen, ein toskanisches Dorf auf der Kuppe eines Hügels. Es war November, und doch hatten die Weinstöcke noch ihre Blätter, in Farben, als hätte Gucci sie aufeinander abgestimmt, Gelb, Ocker, Braun in allen Nuancen. Die Olivenhaine blinkten in Grün und Silber im Wind, der aus dem Apennin kam. Er roch nach Frost.

Dass wir das nun alles sahen, rochen und schmeckten, war nichts als Zufall oder Glück, was in Sternstunden auf das Gleiche kommt. Die Fahrt war nicht beabsichtigt gewesen. Sie war ein Akt der Selbstbefreiung, Ausbruch aus Arbeit, Hektik, Verdruss. Nichts wie weg, so weit es eben geht in den vier Tagen zwischen Allerseelen und dem nächsten Sonntag.

Jemand sagte Italien. Im Herbst? Jemand sagte Toskana. Vielleicht. Falls aber doch, dann sind wir auch dort, hier ist die Telefonnummer: Ruft uns an, kommt auf eine Jause. Wo seid ihr? In Benevento. – Das herausgerissene Notizblatt mit der Telefonnummer steckt noch in der äußeren Tasche meines Rockes. Ein Zufall – der Rock sollte gar nicht mit auf diese Reise. Und wer weiß schon, wo Benevento liegt. Wir wussten es nicht und hatten auch nicht nachgesehen. Hätte das Benzin gereicht, säßen wir jetzt nicht in dem Espresso, würden den Kellner nicht nach Benevento fragen. Benevento war der Ort über uns, aus grauem Stein, roten Dachziegeln, Campanile zwischen Zypressen. Zufall. Wir riefen an. Sie kamen, uns zu holen. Sie waren Gäste bei jemandem, der ein Haus hatte, gleich unterhalb der Stadtmauer von Benevento, mit einer traumhaften Sicht über die toskanischen Hügel bis hinüber zu den Pisaner Bergen. Als Gäste der Gäste erhielten wir die in Wien versprochene Jause und wunderten uns über die Zufälle, die uns bis hierher und da herauf geführt hatten.

Schließlich verabschiedeten wir uns, standen schon vor der Türe, da läutete das Telefon. Erwartete Gäste, die sich entschuldigten, sie seien noch in Bozen mit Motorschaden, kämen heute nicht mehr und wahrscheinlich auch nicht morgen. Das zweite Gästezimmer wäre nun frei, ob wir nicht bleiben wollten? Es sei ohnedies schon dunkel, die Weiterfahrt würde nichts mehr bringen. Wir blieben, kosteten den Wein des Hauses, saßen vor dem offenen Kaminfeuer, diskutierten fröhlich in die Nacht hinein und schliefen herrlich.

Am nächsten Tag hätte es regnen können, oder der Nebel hätte, wie hier so oft in dieser Jahreszeit, die Hügel hochsteigen und die Sicht verschlingen können. Aber als wir die Fensterläden öffneten, war es, als hätte Botticelli eine Landschaft ohne Vordergrund gemalt. Aus dem Morgennebel in den Tälern ragten, in goldgelbes Licht getaucht, die toskanischen Hügel mit Dörfern, die wie Schwalbennester an ihnen klebten oder wie Adlerhorste ihre Gipfel beherrschten. Entlang der sanften Rücken aber standen Pinien und Zypressen wie Morsezeichen aneinandergereiht – Punkt, Punkt, Strich, Strich, Punkt, Strich –, als wollten jene, die sie gepflanzt haben, uns Nachricht geben. Beugte man sich aber aus dem Fenster, gab es auch einen Vordergrund: An der Wand des Hauses wuchsen Orangenbäume als Spalier hinauf und an den Fenstern seitlich vorbei und boten ihre goldgelben Früchte an, als wären sie ein lebender Korb. Wir sogen alles ein, Landschaft, Vordergrund, Licht, Luft, Farben, und kamen berauscht zum Frühstück. Wir sprachen von Traum, von Pracht, von Paradies, von einem Haus, das man hier haben müsste. – Ein Haus? In den Hügeln gäbe es noch immer verlassene Bauernhäuser. Man brauche sich nur eines auszusuchen.

„Wenn man von Traum und Paradies spricht, sollte man nicht so wörtlich genommen werden“, meinte ich. „Weshalb eigentlich nicht?“, meinte meine Frau. Eine Stunde später fuhren wir in einer kleinen Wagenkolonne durch die benachbarten Hügel, von Bauernhaus zu Bauernhaus. Das erste war unbewohnt, aber niemand kannte den Besitzer. Im zweiten wohnte ein Bauer, der sofort bereit war, es uns zu verkaufen, nur müsste er danach weiter darin wohnen dürfen, denn wohin sonst sollten er, seine Frau und seine Kinder ziehen? Das dritte stellte uns auf die Probe.

Trotzig lag es da, auf einer vorspringenden Terrasse inmitten eines großen Olivenhains. Der Einfahrt in den Hof wandte es eine graue, abweisende Steinmauer zu, die nur oben im ersten Stock von einer Reihe von Fensterhöhlen durchbrochen war, und von einer Schießscharte, die auf die Einfahrt zielte. An der türlosen Wand darunter klebte ein halb zusammengebrochener Stall. Auf dem Hof türmte sich ein längst zu Humus gewordener Misthaufen, übersät mit Brennnesseln. Links davon eine lang gezogene Scheune, oben offen, darunter ein paar Ställe für Schweine, Hasen und Hühner.

Das war das Haus, wie ich es sah. Meine Frau sah es anders. Nicht von der Einfahrt her, sondern von vorne, von der Terrasse aus. Und da umarmte es uns mit zwei gewaltigen Zitronenbäumen, die die Wände des Hauses hochwuchsen, die gesamte Mauer bedeckten und die auch noch die Türen und Fenster zugewachsen hatten. Eine der Türen gab nach, und wir betraten den wichtigsten Raum jedes toskanischen Bauernhauses, die Cantina, den Weinkeller. Ein Keller zu ebener Erde, ein fensterloser Saal, in dem auf mächtigen Balken die Bottiche stehen, in denen der Wein gemacht wird, und die Fässer, in denen er lagert. Die Balken hier waren längst morsch und eingeknickt, die Bottiche und Fässer hatten sich aufgelöst, die Eisenringe, die sie einst zusammengehalten hatten, lagen wirr ineinander verhakt, und die Holzsegmente ragten aus ihnen heraus wie Gerippe.

Von der Cantina ging es über Steinstufen in den Nachbarraum, der einst die Küche war. Eine offene Herdstelle, im Kamin darüber der rußige Haken, an dem die Kochtöpfe ins Feuer gehängt wurden. Neben der Feuerstelle ein steinerner Waschtrog, eine seiner Wände, hochgezogen und quer gerillt, hatte als Waschbrett gedient. Von der Decke hing ein Draht, an dessen Ende eine kaputte Glühbirne baumelte. Sonst war da nichts mehr. Nicht, dass man dies dem Raum ansah, aber in alten toskanischen Bauernhäusern geht es immer von der Küche in die gute Stube des Hauses. Und von dort in die Vorratskammer und von dieser in den Stall. So war es auch hier. In der Vorratskammer stand ein riesiges Tongefäß, eine Coppa, in der das Olivenöl aufgehoben worden war, eingeritzt im Ton die Jahreszahl 1870, und am Boden des Gefäßes noch zwei fingerhoch Öl. Genießbar.

Im Stall lag Stroh, aber es roch nicht mehr nach Stall. Da hatten schon lange keine Tiere mehr gestanden. Zurück in die Küche. Zwischen ihr und der Cantina führte eine Steintreppe in den ersten Stock. Vierzehn Stufen, dann stand man unter dem steil aufragenden Dachstuhl in einem großen Raum mit altem Ziegelboden. Die satte dunkle Farbe der Ziegel verriet, dass hier Oliven gespeichert worden waren, Jahr um Jahr, so wie die Ernte eingebracht wurde, abgestreift und abgeschlagen von den bizarren Olivenbäumen in die darunter ausgebreiteten Netze, in Butten heimgetragen und gelagert, bis die Menge groß genug war, um die Säcke zu füllen zum Transport in die Ölmühle.

Bog man aber von der Treppe nach der anderen Seite des Hauses, betrat man dessen wohl ältesten Teil, der ein Turm gewesen sein musste. Drei kleinere Zimmer, hier hatten sie geschlafen, die Bauern, und ihre Familien waren nicht klein. Einer der letzten Bewohner des Hauses hatte sich ein wenig Komfort geleistet, die Wand durchbrochen und an der Außenseite ein Plumpsklo angeklebt. Die Wände zeigten dicke Sprünge, durch einen konnte man sogar den Himmel sehen. Über den Zimmern gab es noch einen Dachboden. Als wir ihn betraten, löste sich ein Dutzend Fledermäuse von den Dachbalken. Aber sie flohen nicht, sondern verteidigten ihr Zuhause gegen uns Eindringlinge, indem sie uns immer wieder wütend anflatterten.

In einem Teil des Dachbodens hingen Drähte von der Decke mit Drahthaken. Hier wurden die Trauben zu Rosinen getrocknet, aus denen dann der süße Wein gepresst wird, den die Bauern „Vin Santo“ nennen, wohl, weil die Pfarrer die kräftige Trockenbeerauslese dem leichten Rebensaft dieser Gegend als Messwein vorzogen. Beugte man sich aus den offenen Bodenfenstern, blickte man auf das Dach und den Schornstein eines großen, gemauerten Brotbackofens. Hob man den Blick, stand man verzaubert da: Da war sie wieder, die ganze Pracht der Toskana mit ihren Hügeln und Dörfern und Campanile und Villen, ihren Pinien und Zypressen und ihren Wäldern von Edelkastanien.

Als wir wieder vor dem Haus standen, sahen wir einander fragend an. Was war davon zu halten? „Wenig“, meinte ich. „Viel“, meinte meine Frau. „Alles“, meinten unsere Gastgeber. Ein derart schönes Haus werde man nicht bald wieder finden. – Aber es ist doch eine Ruine oder doch beinahe eine. – Keineswegs. Die paar Risse ließen sich leicht wieder zusammenschrauben, tatsächlich mit meterlangen Schrauben, die von Wand zu Wand gespannt werden. Zu beachten hingegen seien die zumindest drei verschiedenen Bauphasen, in denen man das Haus offenbar in Abständen von vielen Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, errichtet hatte. Das ergäbe die vielen Winkel und Stufen, die verschieden hoch gelegenen Ebenen der Fußböden und der Balkendecken, die reizvolle Verschränkung mehrerer Dächer.

Selbst die Scheune mit ihrem Schweine- und Hühnerstall hatte Stil. Das Haus, erklärte unser Gastgeber, müsse man schon wegen der einzigartigen Zitronenbäume kaufen, die als dichtes Spalier seine Wände bedeckten. Aber den Ausschlag gab dann ein Fund zwischen den Brennnesseln auf dem verrotteten Misthaufen im Hof. Da standen dicht gedrängt ein Dutzend Parasolpilze von einer Größe, Dicke und Gesundheit, wie wir sie alle noch nie gesehen hatten. Für Pilznarren wie wir ein fast zwingendes Omen.

Im Übrigen ließ man uns kaum noch eine Wahl: Bei dem nächsten Nachbarn erfuhren wir, welchem „Padrone“ das Haus gehörte, einem Conte Anzilotti, dem hier alle Häuser gehörten und auch alle Olivenbäume und Weinstöcke dazwischen. Aber obwohl die meisten Bauern, die hier zuerst als Halbsklaven, dann als Pächter in diesen Häusern gewohnt hatten, in die Industrie abgewandert seien, habe der Conte bisher keines der Häuser verkauft. Außerdem sei er kaum jemals da. Seine Villa stünde zwar nicht weit von hier, aber er wohne in Florenz und komme nur alle heiligen Zeiten einmal vorbei. Und selbst dann bekäme ihn kaum jemand zu Gesicht. Er sei alt und menschenscheu.

Doch die Kette der Zufälle riss nicht ab. Wir fuhren zu der Villa, das Tor stand offen, der Conte war da und sogar bereit, mit uns zu reden. Das Haus, meinte er, das Haus sei nicht zu haben. Weil erstens ihm die Idee eines Verkaufs gar nicht erst kommen würde. Weil zweitens er erst seine Töchter fragen müsste, ob sie damit einverstanden wären, dass er sie um einen, wenn auch zugegeben kleinen Teil ihres Erbes sozusagen bringe, indem er es verkaufte, wobei er das Geld solcherart noch vor seinem Tod auch durchbringen könnte. Man müsse verstehen, meinte die graue dürre Gestalt in dem großen Lehnsessel mit abgeschabtem Seidenbezug, dass die Töchter in Anbetracht solcher Auspizien ihre Zustimmung gewiss verweigern würden. Und drittens würde er auch nicht verkaufen, weil er schon einmal einen Preis für das Haus genannt hatte, das sei vor zehn Jahren gewesen, als sich ebenfalls jemand für das Haus interessierte, und dieser Preis sei damals als zu hoch zurückgewiesen worden. Er sei doch kein Wucherer! Niemals werde er daher je wieder einen Preis nennen, denn er lasse seine Preise nicht als zu hoch zurückweisen.

Erleichtert wollte ich mich schon mit Dank empfehlen – erleichtert, denn mittlerweile war mir vor diesem doch sehr plötzlichen Hauskauf recht unheimlich zumute geworden. Doch der uns begleitende, mit unseren Gastgebern befreundete Bauer, der uns zu dem Haus geführt hatte, dachte gar nicht daran, so schnell aufzugeben. Und nach zehn Minuten zähen Argumentierens hatte er den Conte so weit, dass dieser bereit war, zumindest zu sagen, welchen Preis er vor zehn Jahren für das Haus verlangt hatte. Es war ein niedriger Preis.

Zu unserer Überraschung aber meinte der Conte, er wolle von uns gar keinen Kommentar zu diesem Preis hören, denn wir würden ihn heute wohl genauso wenig akzeptieren, wie er vor zehn Jahren vom damaligen Interessenten akzeptiert worden sei. Sollten wir das so verstehen, dass der Preis heute noch derselbe sei wie damals? Wie denn sonst! Bei ihm gäbe es kein Handeln, weder hinunter noch hinauf. Also fänden wir den Preis ganz in Ordnung? Ja. Ob er da nicht doch mit seinen Töchtern reden könnte, wir wären sehr interessiert. Nun, das müsse er sich noch überlegen. Und selbst wenn er es täte, glaube er nicht, dass sie damit einverstanden wären. Sollten sie es aber wider Erwarten doch sein, so würde er morgen um zehn Uhr vormittags zu uns hinüberkommen, bereit, zum Notar zu gehen. In diesem Fall erwarte er zehn Prozent Anzahlung bei Unterschriftleistung unter den Vorvertrag, den Rest in drei Monaten bei Unterzeichnung des Vollvertrags. Sagte er und entließ uns mit einer Handbewegung, so, als sei seine Geduld mit uns nun endgültig zu Ende. Es war eine Nacht des Bangens. Ich wünschte inständig, der Conte würde um zehn Uhr nicht erscheinen. Was sollten wir denn mit einem Haus in der Toskana, noch dazu mit einer – da ließ ich mich nicht bekehren – Halbruine. Meine Frau wünschte inständig, der Conte würde Punkt zehn Uhr vor der Tür stehen, das Haus hatte sie bereits völlig in seinen Bann gezogen. Unsere Gastgeber wünschten von unseren Überlegungen nichts mehr zu hören: Die Entscheidung liege nicht mehr bei uns, käme der Conte, werde gekauft, käme er nicht, wäre das leider sehr traurig. Doch auch wenn der Preis, wie alle meinten, sehr vorteilhaft sei, so hätte ich doch die Anzahlung nicht bei mir, versuchte ich sachlich dagegenzuhalten. Keine Sorge, die Anzahlung strecke man uns gerne vor, boten die Gastgeber an. Dennoch könnte ich mich gegen einen Kauf entscheiden, meinte ich, kein Vertrag, kein Kaufzwang. Falsch, wir hätten den Preis akzeptiert, somit einen Vertrag geschlossen. Aber der Conte habe sich seine Entscheidung doch noch offen gelassen. Er ja, wir nicht. Argumentieren half da nichts mehr, nur noch hoffen.

In dieser Nacht hoffte jeder von uns auf etwas anderes.

Um Punkt zehn Uhr stand der Conte vor der Tür.

Um elf Uhr beglaubigte uns der Notar, dass wir soeben ein Haus gekauft hatten, von dessen Existenz wir vor 48 Stunden noch keine Ahnung gehabt hatten. Da war uns erst das Benzin auf der Autobahn ausgegangen.

Die Olive und wir

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