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Zur Prostituierten ist man nicht geboren, zur Prostituierten wird man gemacht – und zwar so Trauma
ОглавлениеWeißt du noch, was du werden wolltest, als du klein warst? Während meiner vorpubertären Pferdemädchenphase wollte ich natürlich Pferdewirtin werden – und später dann Schriftstellerin. Nun, zumindest eins von beiden hat ja geklappt – Prostituierte zu werden, stand hingegen nie auf meinem Wunschzettel. Und trotzdem bin ich auch das zumindest eine Zeit lang mal gewesen. Wie konnte das passieren? Kein kleines Mädchen möchte Prostituierte werden, und doch sind einige von ihnen prädestiniert dafür, genau in dieses Milieu reinzurutschen. Und es braucht dafür nur drei Voraussetzungen. Die erste ist: eine erhebliche Vortraumatisierung.
Meine sah so aus, dass ich mich an etwas, das manche Menschen „normale“ (oder gar schöne) Kindheit nennen, gar nicht erinnern kann.
Ich bin zweieinhalb Jahre alt, als ich abends in meinem Kinderzimmer aus dem Schlaf schrecke, weil es nebenan rumpelt und poltert. Mein Stiefvater schreit. Es klatscht, ich höre dumpfe Schläge, Aufruhr und Gepolter. Und schwere Schritte, die sich in Richtung des elterlichen Schlafzimmers durch den Raum bewegen. „Bitte, bitte nicht, ich kann nicht, ich habe Kopfschmerzen“, wimmert meine Mutter. Ich liege ganz still, wie festgefroren. Was ist das? Was passiert hier? Etwas Schreckliches geschieht, das fühle ich, aber ich verstehe nicht, was es ist. Wieder Schläge. Meine Mutter weint. „Ach, du hast Kopfschmerzen? Du arme Sau!“, schreit mein Stiefvater. Dann knallt die elterliche Schlafzimmertür und es sind nur noch völlig undefinierbare Geräusche zu hören.
Ich bin noch zu klein, um zu verstehen, was ich da gehört habe. Später verstehe ich, dass ich der Vergewaltigung meiner Mutter zugehört habe. Es ist die erste, an die ich mich erinnere, aber nicht die letzte.
Ich bin das älteste Kind, Anfang der Achtziger geboren. Dass mein Stiefvater nicht mein leiblicher Vater ist, werde ich erst mit siebzehn erfahren. Zwei weitere Geschwister folgen: mein Bruder und meine Schwester, geboren Ende der Achtziger. Sehr viel später wird noch eine weitere kleine Schwester hinzukommen.
Meine Mutter bricht ihre Ausbildung ab, als ich unterwegs bin. Ich weiß nicht mal, ob sie einen Schulabschluss hat. Vermutlich aber schon. Mein Stiefvater hat Abitur, er möchte Lehrer werden, wird es aber nie. Stattdessen arbeitet er nach der Wende als Maurer – schwere körperliche Arbeit, die ihm jede Menge Muskelmasse und Kraft einbringt. Diese Kraft setzte er gegen uns ein, seine Familie. Das ist seine Erziehungsmethode Nummer eins: uns zusammenzuschlagen.
Ich bin fünf Jahre alt, als ich aus dem Schlaf gerissen werde. Schläge prasseln auf mich nieder, mein Stiefvater brüllt mich an. Ich werde aus dem Bett gezerrt und weiß im ersten Moment nicht, wo ich bin und was los ist. Er schleift mich an den Haaren durch den Flur und tritt mich ins Wohnzimmer, während er mit seinen Fäusten auf mich einprügelt. Es gelingt mir nicht, mich vor den Schlägen zu schützen, ich bin aus dem Traum in einen Albtraum gefallen, ich spüre nicht einmal Schmerz, nur Angst, riesengroße Angst. Als wir im Wohnzimmer ankommen, habe ich strammzustehen. Mein Stiefvater steht vor mir, über mich gebeugt, und schreit. Er ist völlig außer sich. „Weißt du, was du getan hast?!“, brüllt er. Ich bin wie zur Salzsäule erstarrt, begreife nichts. Da haut er mir erneut seine Faust ins Gesicht. Ich beginne zu weinen. „Antworte gefälligst!“, schreit er, und in meinem Kopf beginne ich panisch, nach einer Antwort zu suchen. Was habe ich falsch gemacht? Was habe ich getan? Es muss etwas wahnsinnig Schlimmes gewesen sein. Aber ich kann mich auf Teufel komm raus nicht erinnern und bleibe stumm, versuche nachzudenken, während ich immer und immer wieder ins Gesicht geschlagen werde. Aber in meinem Schädel ist nur Angst, da sind gar keine Gedanken, weswegen ich die richtige Antwort nicht finde, wie verzweifelt und panisch ich sie auch suche. Irgendwann, nach einer halben Stunde Strafgericht mit unzähligen weiteren Schlägen, holt mein Stiefvater einen Quellekatalog hervor, den ich am Nachmittag zum Malen verwendet habe. Ich habe kleine Strichmännchen neben die schönen Frauen darin gemalt, und Bäume. Er nimmt den Katalog und schlägt ihn mir ins Gesicht. „Tu das nie wieder, du Stück Dreck!“, schreit er.
Als ich endlich ins Bett gehen darf, zittern mir die Beine. In dieser Nacht schlafe ich nicht wieder ein. Nur für den Fall, dass er noch mal in mein Zimmer kommt.
Das Ratespiel „Was hast du falsch gemacht“ ist sein allerliebstes. Manchmal löst er die Frage nicht auf. Wenn er meine kleine Schwester im Urlaub über den Zeltplatz prügelt, wenn er meinem Bruder ins Gesicht schlägt, weiß man manchmal wofür, manchmal auch nicht. Manchmal, wenn es draußen geschieht und Leute dumm glotzen, brüllt er auch diese an. Dann bekommt man eine Erklärung. Sie lautet: „Das sind meine Kinder, und mit denen mache ich, was ich will!“
Schon als ich klein bin, kapiere ich, dass es besser ist, so zu tun, als wäre ich nicht da. Ich bin ein ganz leises, stilles Kind. Ich kann mich selbst beschäftigen. Ich versuche, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Aber das hilft oft nicht. Als ich vier bin und Mittagsschlaf machen soll, aber ewig nicht einschlafen kann, beginne ich, leise vor mich hin zu spielen. Denn ich kenne ein neues Märchen, es ist das Märchen vom Froschkönig. Ich wandle es ein bisschen um und bin nun die Froschprinzessin, sitze auf dem Kopfende und werfe eine Kugel in einen imaginären Brunnen. Plötzlich reißt mein Stiefvater die Tür auf, mit wenigen Schritten ist er am Bett und schlägt mich brutal zusammen. Als der Fäustehagel endlich vorbei ist, liege ich zusammengekrümmt in meinem Bett und nicht einmal ein Schluchzen kommt mehr aus mir heraus, so verspannt und zerschlagen bin ich. Später, am Kaffeetisch, kann ich immer noch nichts sagen. „Das Kind ist heute so ruhig“, sagt meine Oma. „Ist müde“, sagt mein Stiefvater.
In der Schule bin ich gut. Mit fünf kann ich schon lesen. Deutsch ist mein Lieblingsfach. Nur in Mathe bin ich schlecht. Ich bin schlecht darin, weil mein Stiefvater mir Nachhilfe gibt. Die Nachhilfe sieht so aus, dass wir in mein Kinderzimmer gehen und uns an meinen Kinderschreibtisch setzen. Während ich vor meinem Mathehausaufgabenheft sitze, zittere ich schon vor Angst. Mein Stiefvater sitzt ganz nah neben mir. Er erklärt mir nichts. Er schaut mir nur zu, wie ich mit flatternder Hand den Füller bewege, um die Lösung niederzuschreiben. Ist sie falsch, schlägt er mir aus kurzer Distanz mit dem knochenharten Handrücken ins Gesicht. Kurze, gezielte, sehr schmerzhafte Schläge, die so unerwartet kommen, dass ich nicht mal mehr meine Hände vor das Gesicht halten kann, um es zu schützen. Je länger wir dort sitzen, desto größer wird meine Angst. Sie blockiert mein Denken, und die Tränen in meinen Augen lassen die Aufgaben im Heft verschwimmen. Statt zu einer Lösung zu kommen oder von selbst zu kapieren, was ich falsch gemacht habe, bekomme ich immer mehr Schläge ins Gesicht und werde immer verzweifelter. Stunde um Stunde vergeht und es hört nicht auf. Warum bin ich nur so dumm und verstehe Mathe nicht?
Die Gewaltexzesse sind manchmal vorhersehbar und manchmal nicht. Wenn sie unvorhersehbar sind, zieht es mir jedes Mal den Boden unter den Füßen weg. Wenn er mit Dingen wirft, kommt das oft unvermittelt. Er versucht, uns zu treffen. Am liebsten an den Kopf oder ins Gesicht. Vier Jahre bin ich alt, als er plötzlich am Tisch eine Orange aus der Obstschale nimmt und sie mit voller Wucht nach meiner Mutter wirft. Er trifft nicht, die Orange zerplatzt an der Wand hinter ihr. Der Fleck ist riesengroß, die Kraft, mit der er geworfen hat, hat die Orange fast platt an die Wand geklatscht. Der Schock durchfährt mich wie ein Blitz. „Was glotzt du so blöde?“, schreit er mich an.
Und ich glotze wahrscheinlich wirklich blöde. Denn jedes Mal wenn er wieder aus dem Nichts explodiert, wenn er mich zusammenschlägt, meinen kleinen Bruder verdrischt, meine Mutter durch die ganze Wohnung prügelt oder meiner kleinen Schwester aus kürzester Distanz mit vollen Plastikflaschen ins Gesicht schlägt, friert meine Mimik vor lauter Entsetzen ein. Ich bin so fassungslos über das, was gerade geschehen ist, dass ich die Kontrolle über meinen Gesichtsausdruck verliere. Oft kann ich noch stundenlang danach keine Mimik zeigen. Später werde ich erfahren, dass dieses Phänomen einen Namen hat: „shell shock“.*
Mein Stiefvater jagt uns allen Todesangst ein. Er ist cholerisch, seine Wutausbrüche kennen keine Grenzen. Es ist eine rasende, unbändige, absolut außer Kontrolle geratene Wut, mit der er auf uns einprügelt. Ich kann nicht zählen, wie viele Gehirnerschütterungen er uns Kindern und auch meiner Mutter zugefügt hat. Gebrochene Rippen und bei mir auch eine gebrochene Nase. Von blauen Flecken, Quetschungen und Prellungen fange ich gar nicht erst an.
Jedes Mal wenn er einen Ausbruch hat, wenn er in seiner rasenden Wut auf uns zukommt, wenn seine Halsschlagader im Sekundentakt pumpt und seine Augen beinahe aus den Höhlen herausquellen, ist uns allen klar, dass dies das letzte Mal sein könnte, dass er uns verprügelt. Dass er dieses Mal vielleicht wirklich einen von uns totschlägt, wenn er mit seinen Fäusten völlig außer sich auf unsere Kinderköpfe eindrischt.
Manchmal legt er uns auch übers Knie, dann reißt er uns die Hosen runter, bugsiert uns auf seine Oberschenkel und schlägt minutenlang mit flacher Hand und voller Wucht auf unsere nackten Hintern ein, während wir schreien vor Schmerz und heulen. Das tut er so lange, bis wir aufhören, uns zu mucken, und nur noch wimmern. Ihm scheint das Spaß zu machen, wenn es richtig klatscht. Wir sind noch ganz klein, als wir uns etwas angewöhnen, das auch junge Hunde tun, wenn sie in Angst sind: Wir pinkeln uns an, schon bevor es losgeht. Schon während er auf uns zukommt. Und dafür bekommen wir jedes Mal noch eine Extratracht obendrauf.
Es gibt kein Entkommen vor dieser Gewalt. Für uns Kinder sowieso nicht. Aber auch für meine Mutter nicht. Wenn er sie wieder durch die Wohnung tritt, ihr die Fäuste ins Gesicht haut, sie zusammenschlägt, und sie es wagt, vor ihm aus der Wohnung zu fliehen, wechselt er das Schloss aus – wenn es sein muss, auch mitten in der Nacht. Oder er lässt den Schlüssel von innen stecken und legt sich einfach schlafen, lässt sie draußen in der Kälte stehen, in Sorge um uns. Er hat Zeit. Er hat die Kinder. Er verdient das Geld.
Und wer seiner Gewalt auszuweichen versucht, der hat kein Zuhause mehr. Sein Zuhause ist sein Reich. Hier hat er das Sagen und die volle Verfügungsgewalt über uns. Als er später unter der Woche als Lkw-Fahrer arbeitet, beginnt das Wochenende für uns damit, dass er uns nach seiner Heimkehr erst mal ordentlich durchprügelt. Einen Grund dafür braucht er nicht – Hauptsache, wir kapieren, dass hier jetzt wieder „Zucht und Ordnung“ herrschen.
Manchmal kann man seine Gewaltausbrüche also auch vorhersehen. Wenn er zu uns an den Tisch kommt und bereits hektische Bewegungen macht und sichtbar kurz vor einem Ausbruch steht. Oder wenn er sein Essen so reinschlingt, dass wir alle geschockt den Löffel fallen lassen, wissen wir schon, was geschieht. Gleich ist einer von uns dran. Dann springt er plötzlich auf und verdrischt meine Schwester. Oder er wirft meine Mutter so an die Tischkante, dass ihre Rippen anbrechen. Oder er prügelt meinen Bruder durch mehrere Zimmer. Oder mich. Danach müssen wir uns wieder an den Tisch setzen. Wer heult oder irgendeine Reaktion zeigt, ist der oder die Nächste.
Wir sind alle immer in Anspannung. Wir lernen, dass man sich nie sicher fühlen darf. Spätestens alle paar Tage, manchmal aber auch jeden Tag, entlädt sich seine Wut, von der keiner von uns weiß, woher sie stammt. Sind wir so schlimm, dass wir ihn dazu treiben? So erklären wir Kinder uns das Ganze zumindest. Irgendetwas stimmt mit uns nicht, dass man so mit uns umgehen muss. Noch als ich siebzehn bin, schlägt mein Stiefvater mich zusammen. Uns alle.
Ich weiß nicht mehr, wann ich damit begonnen habe, dazwischenzugehen. Mich selbst zu schützen, gelingt mir nicht. Aber ich versuche schon als kleines Kind, eine Blitzableiterfunktion einzunehmen und die unausweichliche Gewalt auf mich selbst zu lenken. Um die Ausbrüche vorauszuahnen, ist es wichtig, immer auf der Hut zu sein. Abends, wenn er meine Mutter anschreit, liege ich oft wach im Bett und versuche herauszufinden, ob er gleich handgreiflich werden wird oder nicht. Ich lerne zu lauschen. Manchmal stehe ich dafür im Nachthemd im Flur, stundenlang, und versuche, die Geräusche im Wohnzimmer einzuordnen. Wo im Raum befindet sich mein Stiefvater und wo meine Mutter? Er schreit sie bereits seit Stunden an, aber ist das ein Schreien, das gleich in tätliche Gewalt übergeht, oder nicht? Kommen die schweren Schritte daher, dass er rastlos im Raum umherläuft, während er brüllt, oder ist das schon die Art schneller Schritte, die dem Aufsichstürzen auf meine Mutter vorangehen? Ich lausche und lausche. Bis heute bin ich überempfindlich gegen Geräusche – denn ich nehme wirklich alles wahr. Den Filter, der im Gehirn unwichtige von wichtigen Geräuschen trennt, den habe ich nicht mehr. In meinem Kopf kommt jedes Geräusch – die Stimme von jemandem, der mit mir spricht, das Klappern von Besteck im Restaurant – als „gleich wichtig“ an. Denn auch Hintergrundgeräusche können ein Signal dafür sein, dass es gleich losgeht.
Und so laufe ich mit gespitzten Ohren durch meine Kindheit. Ich versuche, alles zu erfassen und einzuordnen, mich darauf zu konzentrieren, was Schlimmes geschehen könnte, mich auf die bevorstehende Gewalt zu konzentrieren, um rechtzeitig dazwischenzugehen. Es ist wichtig, genau in den wenigen Sekunden vor dem Angriff einzugreifen. Mich genau dann dazwischenzustellen, dazwischenzuwerfen, wenn er ganz, ganz kurz davor ist, sich auf sie zu stürzen. Verpasse ich diese Sekunden, werden meine Geschwister oder meine Mutter zusammengeschlagen. Greife ich aber zu früh ein, kann es sein, dass alles schiefgeht, dass alles noch schlimmer wird, dass wir alle dran glauben müssen. Oder dass er mich extra hart verdrischt, weil ich es wage, ihn hinzustellen, als würde er seiner Familie etwas antun.
Was in dem Moment geschieht, in dem ich dazwischengehe, ist schwer zu erklären. In mir baut sich eine derartige Anspannung auf, dass ich Adrenalinschübe habe, die man wahrscheinlich nur fühlt, wenn man auf Gleisen steht und bemerkt, dass da plötzlich ein D-Zug auf einen zukommt. Kurz vor dem Angriff wächst in mir ein Loch, im Magen. Entsetzen fühlt sich nicht wie etwas an, das einem den Körper füllt. Es breitet sich nicht in einem aus. Es ist eher wie ein schwarzes Loch, das im Bauchbereich wächst, und es zieht mit einer Art Unterdruck alles in sich hinein. Alles. Jeden Gedanken, jede nicht auf das Bevorstehende gerichtete Handlung. Der Fokus liegt nur noch auf diesem einen bevorstehenden Moment. Sogar meine Augen fokussieren sich: Ich bekomme einen Tunnelblick. Ich stehe in der Wohnzimmertür. Ich warte ab, bis er auf sie zustürzt. Ich sehe nur ihn. Um ihn herum ist alles schwarz. Er ist im Fokus. Das einzig Sichtbare. Da muss ich hin. Da muss ich dazwischen. Genau in die Angst rein. Denn es kann ja sein, dass er mich totschlägt.
Und trotzdem fühle ich in diesem Moment nichts. Oder vielleicht pure Angst, ich weiß es nicht. Das Adrenalin macht, dass ich wie in einer Art automatisiertem Handeln vorschieße und mich mitten in die Gewalt hineinwerfe. Ihn damit provoziere, dass ich dazwischengehe, und dafür selbst verprügelt werde. Aber immerhin lässt er für diesen Moment meine Geschwister und meine Mutter in Ruhe. Ich lerne: Da, wo die Gewalt ist, da muss ich hin. Ins Zentrum des Orkans. Dort ist mein Platz.
Denn es ist besser, alles selbst abzukriegen, als unter dem Gefühl zu leiden, Zeugin zu sein und nichts tun zu können. Versagt zu haben und sie nicht beschützt zu haben. All die vielen Male, die er über sie hergefallen ist, und immer gleich so krass und extrem. So ungezügelt. Aus dem Nichts. Ohne Begründung, manchmal ohne Vorwarnung. Der Anlass, an dem sich die Ausbrüche entzünden, muss nichts mit der Realität zu tun haben. Er entsteht oft in seinem eigenen Hirn. Und wenn er nichts findet, weswegen er uns verprügeln kann, dann erfindet er etwas.
Und ich muss da sein, immer da sein. Das Schlimmste ist für mich nicht, dazwischenzugehen, auch wenn ich mich jedes Mal fast oder auch real einpisse, wenn ich es tue. Jedes Mal mit meinem Leben abschließe, wenn ich seinen Zorn auf mich umgelenkt habe. Sondern das Schlimmste für mich ist, nicht da zu sein, wenn es geschieht.
Ich bin in der siebten Klasse und auf einer Jugendherbergsfahrt, als ich meine Mutter anrufe. Sie weint, ich kann durch ihr Schluchzen kaum hindurchhören, was sie eigentlich sagen will. Im Hintergrund ist das Gebrüll meines Stiefvaters zu hören, und ich weiß genau, was dort gerade läuft. Aber ich kann nichts tun, ich bin hundert Kilometer weit weg – und so verzweifelt, dass ich nach dem Auflegen für Stunden auf dem Klo der Jugendherberge verschwinde, wo ich mich einschließe und vor Verzweiflung zittere. Die LehrerInnen suchen mich – als sie mich nach Stunden finden, bringe ich es nicht über mich, ihnen zu sagen, warum ich verschwunden bin. Dass ich so ein selbstsüchtiges, egoistisches Stück bin, das aus vergnügungssüchtigen Gründen seine Mutter und seine Geschwister im Stich gelassen hat. In einer Gefahr gelassen hat, die sie vielleicht nicht überleben.
Ich sage nichts. Denn wie fasst man so etwas in Worte?
Im Laufe der Zeit wird das Dazwischengehen ein automatisiertes Verhalten. Und ich entwickle einen Selbstschutzmechanismus: Blackouts. Blackouts sind mein Freund. Je älter ich werde, desto häufiger kommt es vor, dass das Letzte, was ich beim Dazwischengehen sehe, mein Stiefvater ist, wie er in endlos entfesseltem Zorn und mit erhobenen Fäusten auf mich zugeht, weil ich etwas wie „Lass sie in Ruhe!“ geschrien und mich vor jemanden gestellt habe. Das Nächste, was ich mitbekomme, ist die Situation nach dem Gewaltausbruch. Wie ich vor der Wohnungs- oder Haustür stehe, weil ich nach dem Verprügeln rausgeschmissen wurde. Ich liege in einer Ecke. Ich habe blaue Flecken an mir und muss noch eine Weile strammstehen, weil er befindet, mich zusammenzuschlagen reiche nicht und ich müsse mir noch ein paar Stunden sein Gebrülle anhören.
Was dazwischenliegt, was dazwischen war? Ich habe keine Ahnung. Und dafür bin ich meinem Hirn unsäglich dankbar.
Tag für Tag diese Gewalt. Es ist schwer zu beschreiben, was während dieser Gewaltausbrüche in mir vorgeht. Es ist jedes Mal ein Schock bis tief ins Innerste. Ein erschütterndes Entsetzen, das in mir keinen Stein auf dem anderen lässt. Und es verändert mich grundlegend: Es trennt mich von der Welt, von den Menschen – und von mir selbst. Für immer.
Das Schlimmste aber sind für mich gar nicht die Gewaltausbrüche. Sondern die Zeit dazwischen. Das Warten darauf, dass etwas geschieht – es wird zum Terror. All die Verdrehungen, die Angst, die Folter, die Sexualisierungen – und das Anschreien.
Denn mein Stiefvater kann nicht normal mit uns sprechen. Er schreit – und das stundenlang. Und wenn ich „stundenlang“ sage, dann meine ich es so. Manchmal müssen wir drei oder vier Stunden vor ihm strammstehen und uns anbrüllen lassen, bis er heiser ist. Aber auch das hält ihn nicht davon ab weiterzubrüllen. Er beschimpft uns. Wir sind Schweine, Idioten, Schlampen. Zu nichts nutze, Stücke Scheiße, rotzendumm. Dreck und verkommene, verblödete Kretins. Wenn er nicht zu Hause ist, weil er Lkw fährt, schreit er uns über das Telefon an. Gehen wir nicht ran, lässt er es stundenlang klingeln.
Manchmal dürfen wir während dieser Zeit nicht antworten oder uns auch nur bewegen, zum Beispiel uns bequemer hinstellen, weil die Situation sonst eskaliert. Ab und an nimmt er uns auch ins Kreuzverhör. Zwingt uns, auf verdrehte Fragen zu antworten, macht uns fertig, bis wir aufhören, uns dagegen zu wehren, bis wir einsehen, dass wir Dreck und boshafte, unwürdige Kreaturen sind. Bis wir nicht mehr antworten, uns nicht mehr rechtfertigen, einfach resignieren. Ja, ich bin Dreck. Ja, du hast recht, ich bin vollkommen verblödet. Ja, alles an mir ist schlecht, grundschlecht. Erst dann ist wieder Ruhe.
Aber manchmal will er auch einfach nur reden. Vier bis fünf Stunden lang hält er endlose Monologe, kommt von einem Thema zum anderen. Zucken wir oder sagen etwas, schreit er uns an, wir sollen ihn nicht unterbrechen. In dieser Zeit lerne ich, mich während des Vollgelabertwerdens in mich selbst zu verkriechen. Denn in meinem Kopf ist eine ganze Welt, in die ich mich zurückziehen kann. Manchmal, wenn schon zwei oder drei Stunden des Strammstehens und Belabertwerdens rum sind, werde ich ohnmächtig und kippe einfach um.
Fast noch schlimmer als die körperliche Gewalt und das Strammstehen und Sich-anschreien-lassen-Müssen sind die permanenten Verdrehungen. Der Mindfuck. Bis heute kann ich nicht beschreiben, was während dieser Art der Kommunikation geschieht. Es zu benennen, fällt mir schwer. Es ist etwas, das unglaublich toxisch ist.
Da ich die bin, die öfter mal dazwischengeht, wenn es knallt, bin ich sein Lieblingsopfer. Alles, was ich sage und tue, ist schlecht. Als ich einmal all meinen Mut zusammennehme und ihm sage, dass er die Katze besser behandelt als uns, verbreitet er wochenlang in unserem Verwandtenkreis, „das Kind“ habe sich darüber „beschwert, dass ich die Katze nicht schlage, aber so was kann ich doch nicht tun, das ist doch grausam“. Wenn wir beim Kinderarzt sind und dieser sich nett mit mir unterhält, wird mir beim Rausgehen von meinem Stiefvater mitgeteilt, mit meiner Fähigkeit dazu, Small Talk zu betreiben, hätte ich es in dieser neuen Wirtschaftsordnung leicht, ich würde damit weit kommen – er selbst sei ja leider nicht so oberflächlich.
Alles, was er sagt, hat mindestens eine zweite Ebene. Nicht einmal „Guten Morgen“ kann er uns sagen, ohne dass ein Unterton mitschwingt, mit dem es sich uns gut niedermachen lässt. Sein „Guten Morgen“ klingt nach: „Du faules Schwein, stehst du auch mal auf“, oder nach: „Na, denkst du, es wäre ein guter Morgen? Das werden wir ja noch sehen.“ Und so läuft die ganze Kommunikation. Zu widersprechen oder sich zu rechtfertigen gegen all die Vorwürfe, die im Sekundentakt auf einen niederprasseln, ist zwecklos und verlängert das Elend nur.
Mit seiner Kommunikation vergiftet er uns und seine gesamte Umgebung. Unseren Omas und Opas, Onkeln und Tanten erzählt er Dinge von uns, die nicht stimmen und die den Eindruck erwecken, wir seien total verkommen. Und da diese Menschen uns nie darauf ansprechen, haben wir nie eine Chance, etwas richtigzustellen. Bis heute sind wir Kinder für die Familie furchtbare Menschen. Vor allem ich. Denn ich habe die Familie zerstört, als ich, aus reiner Bosheit, mit siebzehn weggelaufen bin. Jahrelang, so mein Stiefvater später, hätte ich auf diesen Zeitpunkt hingearbeitet, hätte mir Psychologiebücher aus der Bibliothek ausgeliehen, um zu erfahren, wie man Menschen manipuliert. Klingt verrückt? Aber die Verwandtschaft glaubt ihm. Und schenkt ihm ihr Mitleid.
Einmal, als er gerade meine Mutter durchs Haus prügelt, die sich schließlich zu mir ins Zimmer flüchtet, damit ich sie beschütze, klingelt das Telefon. Es ist meine Oma, seine Mutter. Und während wir beide zitternd auf der Bettkante sitzen und den Moment fürchten, in dem er auflegen wird, weint er am Telefon und ersäuft beinahe in Selbstmitleid. Wir würden ihn so schrecklich provozieren, den ganzen Tag ärgern, er wisse nicht mehr, was er tun solle – und ja, er gebe zu, es rutsche ihm auch mal die Hand aus, er sei am Boden zerstört. Er hat auf Lautsprecher gestellt, damit wir hören können, wie seine Mutter, unsere Oma, ihn tröstet und beschwichtigt. Das sei doch nicht so schlimm, sagt sie, und er habe es sehr, sehr schwer. Er schluchzt noch einmal. Dann legt er auf. Auf in die zweite Runde.
Es gibt nichts, was wir tun können, ohne dafür abgewertet zu werden. Alles, was wir tun, ist falsch – und vor allem: ein Vorwurf gegen ihn. Denn es dreht sich immer nur um ihn. Da wir sein Besitz sind, hat alles, was wir tun, mit ihm zu tun. Sage ich am Abendbrottisch, dass wir ab der sechsten Klasse bitte für den Matheunterricht ein Geodreieck mitbringen sollen, kassiere ich Schläge, weil ich mir einbilde, etwas zu sein oder vielleicht Abitur zu machen – denn das habe er auch, ich müsse gar nicht so arrogant tun. Teile ich nicht mit, dass wir in der Schule etwas mitbringen sollen – Vokabelhefte, Notenhefte für den Musikunterricht, was auch immer –, und bekomme einen Eintrag, kriege ich auch Schläge, weil man so was doch sagen muss, und warum will ich Schlampe auf Teufel komm raus meine Eltern vor den LehrerInnen schlecht dastehen lassen? Ich kann nichts richtig machen, auch wenn ich mir angewöhne, gar nichts zu sagen. Zwischen meinem zwölften und fünfzehnten Lebensjahr besitze ich exakt eine Hose, ich traue mich nicht, nach einer zweiten zu fragen. Dabei fällt die alte schon auseinander: Jeden Morgen muss ich sie im Schritt nähen, weil das Aneinanderreiben der Hosenbeine den durchscheinenden Stoff zerreißt. Aber ich wage nicht, Bedürfnisse zu äußern oder Ansprüche zu stellen. Jahrelang laufe ich in viel zu kleinen Klamotten rum, mein Spitzname in der Schule ist „Hochwasserhose“. Als ich mit fünfzehn doch eine neue Hose bekomme, tobt mein Stiefvater tagelang, ich würde ihm die Haare vom Kopf fressen, ich hätte zu hohe Ansprüche, immer solle er dieses kaufen und jenes, ich benähme mich wie eine Prinzessin, würde ihn behandeln wie einen Diener.
Das Schlimme ist, dass ich irgendwann wirklich glaube, schlecht zu sein und dauerhaft in schlechter Absicht zu handeln. Vor allem weil meine Mutter, als ich zwölf bin und gerade mal wieder ein paar Stunden strammgestanden habe, um mich anschreien zu lassen, in mein Zimmer kommt, meine Tränen sieht und nur meint: „Er hat recht. Ändere dich.“ Von da an bitte ich Gott jeden Abend, mir doch bitte, bitte endlich zu sagen, was mit mir nicht stimmt, damit ich es ändern kann. Denn ich will es doch so sehr: ein guter, ordentlicher Mensch sein. Aber Gott verrät mir nie, was genau mit mir nicht stimmt. Und meine Eltern verraten es mir auch nie. Da mein Kinderzimmer sich eine Wand mit der Küche teilt, höre ich jeden Abend, wie mein Stiefvater stundenlang über mich hetzt. Ich bin verzweifelt, denn ich kann nicht einfach in die Küche gehen und fragen, was es denn war. Oder mich rechtfertigen für irgendwas. Das würde nämlich bedeuten, dass ich wieder stundenlang strammstehen und mich anschreien lassen muss, bis ich resigniert aufgebe und einsehe, dass ich wirklich böse bin und alles nur ihm zum Schaden tue. Hinter der Wand werden Pläne über mich geschmiedet, die mir nicht mitgeteilt werden. Strafen und Sanktionen für Vergehen, die eigentlich keine waren.
Manchmal, wenn er Zeit hat und Langeweile, lässt er mich Dinge suchen, die es nicht gibt. Vor allem unser Keller ist absolut vollgemüllt, alles wird aufgehoben und ohne System verstaut. Dort lässt er mich Dinge suchen, die mal da sind und mal nicht. Finde ich sie nicht, bekomme ich Prügel und werde beschimpft, weil ich so dumm bin. Finde ich sie, bekomme ich ein vergiftetes Kompliment („Bist ja doch mal zu was nutze“, „Bist ja gar nicht so blöde, wie du aussiehst“) oder er ist beleidigt und tut, als hätte ich ihm etwas angetan. Als hätte ich die Dinge, die er mich hat suchen lassen, gefunden, um ihn zu verletzen. Jetzt, beim Niederschreiben, klingt das alles so unglaublich verrückt. Ein bisschen, als sei ich in einer Sekte groß geworden. Für mich war es Normalität. Für mich war es vollkommen alltäglich, mit dreizehn noch dafür verdroschen zu werden, dass meinem Stiefvater gerade eingefallen ist, wie ich mit eineinhalb Jahren darüber erschrocken war, dass er sich seinen Bart abrasiert hatte – weil ich ihn nicht mehr erkannt und gedacht habe, er sei ein fremder Mann. Denn, und davon war er überzeugt, das hatte ich nur getan, um ihn anzugreifen. Wie alles, was ich tue. Zum Beispiel, dass ich mit vierzehn aufhöre, Fleisch zu essen. Wochenlang versucht er, das Essen in mich hineinzuprügeln. Aber ich bleibe standhaft, ich weigere mich. Ich bleibe stundenlang am Tisch sitzen, wie er es mir befiehlt, aber ich rühre es nicht an. Ich will ums Verrecken keine toten Tiere mehr essen. Als er einsieht, dass er so nicht weiterkommt, nutzt er eine andere Taktik: Jedes Mal wenn wir essen, bekomme ich aufs Brot geschmiert, dass bei mir das Fleisch wegbleibt, weil ich mir einbilde, etwas Besseres zu sein. Manchmal erzählt er mir dann auch, dass er mir, als ich klein war, mal Pferdewurst untergejubelt hat und dass ich danach geweint habe. Das macht ihm Spaß. Ist aber Besuch da, stellt er sich in die Küche und brät mir einen Fleischersatz – etwas, das er sonst nie tut. „Die will immer eine Extrawurst“, sagt er dann. „Aber was tut man nicht alles für die Kinder.“ Ja, nickt die Verwandtschaft dann. So sind sie, die verwöhnten Blagen. Was tut man nicht alles.
Und manchmal tut er ja auch wirklich nichts. Vor allem dann, wenn wir verletzt sind. ÄrztInnen sind der Feind meines Stiefvaters. Wir dürfen nie in eine Arztpraxis. All die Prellungen, Hämatome, gebrochenen Nasen: Wir bleiben zu Hause. Als mein Bruder auf seinem Rad vor unserer Haustür mit einem Auto zusammenstößt, verletzt am Boden liegt und um Hilfe ruft, reagiert mein Stiefvater überhaupt nicht. Für ihn ist klar: Das Leben ist Kampf. Und der Schwächste verreckt halt.
Dass wir uns keine Hilfe von außen holen dürfen, sichert zudem, dass er die Kontrolle behält. Und zwar die totale Kontrolle: In die Türen unserer Kinderzimmer baut er Spione ein, um uns beobachten zu können. Meiner Schwester wird er später einreden, er habe ein Programm auf dem PC, mit dem er sie überall sehen kann, via Satellit. Als sie zwölf ist, wird wochenlang darüber gesprochen, welch ein Nichtsnutz sie sei, denn „früher“ haben Mädchen mit zwölf schon das dritte Kind bekommen, und zwar auf dem Feld, ohne Hilfe, und sind danach einfach wieder zur Arbeit gegangen. Und das war gut so! Ein Radunfall bricht mir die Kniescheibe an, da bin ich dreizehn. Zwei Monate lang muss ich im Bett liegen, ohne je einen Arzt oder eine Ärztin gesehen zu haben, während er jeden Abend in mein Zimmer kommt, den Hautlappen, der halb heruntergerissen wurde, aufklappt und mir einredet, da wüchse „wildes Fleisch – das müssen wir bei Gelegenheit mal rausschneiden“ – natürlich selbst, ohne Arzt. Das seien alles Pfuscher, meint er, er könne das besser. Und wenn wir krank sind, dann sowieso nur aus Bosheit ihm gegenüber oder wegen unserer ewigen „Arbeitsdrückerei“. Als ich in der Oberstufe sichtbar aus dem Ruder laufe, weil ich depressiv und immer müde bin, soll ich zur Psychiaterin gehen – doch er verbietet es. „Die weisen dich ein und dann überzeugen sie dich davon, dass Dinge geschehen sind, die gar nicht stattgefunden haben“, sagt er. Und tatsächlich bin ich mir nicht mehr sicher, ob das, was passiert, wirklich Realität ist. Denn ich lerne, dass mit meiner Wahrnehmung etwas ganz erheblich nicht stimmt.
Nach den Gewaltexzessen, bei denen von mir erwartet wird, dazwischenzugehen und den Blitzableiter zu spielen, wird immer öfter zur Tagesordnung übergegangen. Kaum habe ich meine Tracht Prügel bekommen, wird so getan, als sei überhaupt nichts passiert. Dann schreit er mich, die ich noch mit völlig eingefrorener Mimik und in endlosem Entsetzen dastehe, an, ich würde „eine Fresse ziehen“ und „schlechte Laune verbreiten“. Und so lerne ich, dass anscheinend nicht schlimm ist, was geschieht – schlimm ist nur, dass man es mir ansieht. Das Problem liegt anscheinend nicht an der Gewalt, die wir alle aushalten, das Problem bin ich und die Tatsache, dass ich es nicht aushalte. Irgendwann habe ich nur noch diesen einen Gesichtsausdruck – den „shell shock“. In der zehnten Klasse habe ich überhaupt keine Mimik mehr – als ich Mitte zwanzig bin, bringe ich mir selbst bei, Gefühle über mein Gesicht auszudrücken. Noch jahrelang wird sich das für mich anfühlen, als würde ich schauspielern.
Verletzt oder geschockt zu sein, das bedeutet in der Welt meines Stiefvaters, ihn anzugreifen. Als ich zehn bin, sind wir bei meiner Oma und ihrem neuen Mann in Westdeutschland zu Besuch. Mein fünfjähriger Bruder macht sich im Park selbstständig, wir müssen ihn suchen. Als wir ihn wiederfinden, legt mein Stiefvater ihn derart übers Knie, dass ich Angst habe, der immer wieder auf dem Boden aufprallende Schädel meines Bruders könnte brechen. Irgendwann sind die Prügel vorbei und wir gehen zurück. Ich fühle mich noch ganz zittrig, habe Nebel im Kopf, einen schwammigen Geschmack auf der Zunge. Mir ist, als würde ich sinken, die ganze Zeit. In mir wohnt der Schock. Und während wir also zurückgehen, als wäre dies hier immer noch ein friedlicher Spaziergang, überzeugen mich die Erwachsenen davon, dass ich mir alles eingebildet habe und dass ich das Problem bin. Denn: „Sie hat schon wieder schlechte Laune und keiner weiß warum“, sagt mein Stiefvater, „manchmal glaube ich, sie hasst mich, und das tut mir so weh.“ „Vielleicht kommt sie in die Pubertät“, sagt der Mann meiner Oma. „Man hat es wirklich nicht leicht mit den Kindern“, fügt meine Oma hinzu. Ich trotte hinterher und frage mich: Ist das hier gerade wirklich passiert? Habe ich mir das nur vorgestellt? Und wenn es wirklich geschehen ist, war es dann so schlimm und entsetzlich, wie ich es empfunden habe? Oder übertreibe ich wirklich, weil ich meinen Stiefvater hasse? Ist am Ende gar nichts passiert und ich drehe durch?
Später, in der Pubertät, als er mir mit Worten, Gesten und Blicken zu verstehen gibt, dass er Gedanken darüber hegt, mich zu vergewaltigen, wird er das wieder tun. Kommt er ins Zimmer und ziehe ich mir hektisch etwas an, brüllt er, ich solle nicht so tun, als würde er mich ficken wollen – und verbreitet in der Verwandtschaft, ich sei ein überaus manipulatives Kind, das ihm sogar unterstelle, er wolle sich an mir vergreifen. Was er natürlich niemals täte – wie kann das Kind so von ihm denken? Es muss die Boshaftigkeit in Person sein.
Ich kann dir nicht sagen, woher mein Stiefvater das konnte: einen davon überzeugen, dass die eigene Wahrnehmung nicht stimmt und dass dieser Terror gar nicht das Problem war, sondern dass man diesen Terror nur als solchen empfunden hat. Irgendwann mal, später, hat er mir gesagt, dass er bei der Stasi war, als sogenannter inoffizieller Mitarbeiter. Seitdem frage ich mich: Diese Verhöre, dieses Verdrehen aller Tatsachen, diese Art, Gespräche auf Nebengleise zu führen, aus jeder Aussage oder Tat etwas Boshaftes, Schlechtes herauszuinterpretieren, dieser Umgang, andere dazu zu bringen, sich permanent zu rechtfertigen, bis sie nur noch Matsche im Kopf haben, diese Lügen, Manipulationen, diese Verwirrung, Zersetzung und Manipulation – hat er das dort gelernt oder war er einfach ein Naturtalent? Ich weiß es nicht – aber wenn du so was kennst, möchte ich dich bestärken, deiner eigenen Wahrnehmung zu trauen. Wenn dein Bauch dir sagt, dass mit der Art der Kommunikation, die du gerade erlebst, etwas nicht stimmt, dann ist das immer so. Immer. Auch wenn du nicht benennen kannst, was gerade schiefläuft.*
Dass ich auf Hilfe von außen nicht zu hoffen brauche, lerne ich früh. Denn mein Stiefvater schafft es, mich emotional von meiner Mutter zu isolieren. Immer und immer wieder erzählt er ihr, dass ich alles, was ich mache, nur tue, weil ich ihn so hasse. Das vierjährige Mädchen, das im Bett liegt und hustet, wird dafür verdroschen, aber als die Mutter heimkommt, wird ihr mitgeteilt: „Deine Tochter hasst mich so sehr, dass sie sich nicht mal traut zu husten, wenn ich im Nebenraum bin.“ Meine Mutter schüttelt darüber nur den Kopf. So geht es jahrelang, wir dürfen nicht einmal im selben Raum sein, ohne dass er paranoid wird: „Na, zieht ihr wieder über mich her und schmiedet Pläne?!“ Und auch meine Mutter beginnt irgendwann, mich zu schlagen. Sobald sie die Hand hebt, zucke ich zusammen. Manchmal verwendet sie dann dieselben Psychotricks wie mein Stiefvater und lacht mich aus: „Meinst du etwa, ich würde dich schlagen wollen?! Wie lächerlich du bist!“ Und trotzdem existiert zwischen uns noch das unausgesprochene Bündnis, dass ich dazwischengehe, wenn er sie schlägt.
Immer wieder werde ich gefragt, warum meine Mutter nichts unternommen hat. Eine Psychologin meinte sogar mal zu mir, für sie sei das Verhalten meiner Mutter schlimmer als das, was mein Vater mit uns gemacht hat. Aber ich finde das nicht. Ich finde nicht, dass eine vergewaltigte, geprügelte, terrorisierte Frau, die ihre Kinder im Stich lässt, etwas Schlimmeres oder auch nur dasselbe tut wie ein Mann, der ohne Not seine Frau und seine Kinder misshandelt, foltert und missbraucht. Auch meine Mutter hat keine Hilfe bekommen. Einmal habe ich mitbekommen, wie sie ihrer Mutter erzählte, dass sie geschlagen wird. „Du musst lieber zu ihm sein“, hat sie zu hören bekommen. „Du darfst ihn nicht immer so provozieren.“ Und auch seine Mutter beschweigt, was offensichtlich ist: Als ich einmal all meinen Mut zusammennehme und ihr offenbare, dass ich furchtbare Angst vor den nächsten Schlägen habe, sagt sie nichts. Kein einziges Wort.
Der Rest der Verwandtschaft greift ebenfalls nicht ein. Habe ich ein blaues Auge, erzählt mein Stiefvater meinem Onkel, ich sei einfach „zu blöd zum Laufen“. Damit ist das Thema gegessen. Und zwar sogar dann, wenn sie die Gewalt live mitbekommen. Es wird einfach nicht darüber geredet, egal wie krass die Ausbrüche oder Drohungen sind. Ein Erlebnis, das mir meine Hilflosigkeit und Ohnmacht, mein Ausgeliefertsein absolut deutlich gemacht hat, ist dieses: Es ist Sonntagnachmittag und wir sitzen mit meiner Oma und meinem Opa am Kaffeetisch. Mein Stiefvater hackt darauf rum, dass meine Mutter gerade ihre Tage hat und für ihn sexuell nicht zur Verfügung steht. Und dann äußert er: „Man könnte meinen, du machst das mit Absicht. Aber wenn du nicht willst, nehm ich halt deine Große ran.“ Ich kann dir gar nicht mehr sagen, was ich in dem Moment gefühlt habe. Schock? Panik? Angst? Entsetzen? Ich erinnere mich nicht mehr daran. Aber ich weiß sehr wohl noch, was als Nächstes – nach einem ungefähr fünfminütigen, betretenen Schweigen – am Tisch geäußert worden ist, und zwar von meiner Oma: „Könnte mir bitte mal jemand den Zucker reichen?“
Die Lage ist klar. Niemand wird uns helfen. Die NachbarInnen sind Augen- und OhrenzeugInnen der Gewaltausbrüche und Brüllattacken, aber sie reagieren nicht – höchstens wenn mal eine Nachbarin auf mich zukommt und meint, ich möge meinem Vater doch bitte mal mitteilen, er solle mit diesem Geschrei aufhören. In solchen Momenten muss ich fast lachen. Meint diese Frau wirklich, ich könnte meinem Vater das sagen, ohne krankenhausreif geschlagen zu werden? Droht mein Stiefvater meinem Bruder im Garten hinterm Haus, er werde ihn mit dem Spaten erschlagen, wenn er nicht schneller schippe, steht unser Nachbar an der Hecke und schneidet in aller Seelenruhe weiter. Niemand, kein Nachbar, keine Nachbarin und erst recht niemand, der oder die auf der Straße ZeugIn geworden ist, hat jemals die Polizei gerufen. Und wenn wir doch mal zum Arzt müssen, kommt mein Stiefvater mit rein. Die kaputt geschlagene Zahnspange? „Ich bin die Treppe runtergefallen“, sage ich der Zahnärztin. „Bist wohl ein trotteliges Kind, was?“, schmunzelt die. Mein Stiefvater lacht.
Heute weiß ich um die Dynamik, die dafür gesorgt hat, dass mein Umfeld mir regelmäßig rückmeldete, dass das, was passiert, nicht geschehe, nicht so schlimm sei oder meine eigene Schuld: Sie alle hatten Angst zu handeln. Denn natürlich ist es leichter, sich mit dem Täter zu identifizieren als mit dem Opfer. Steht man an der Seite des Täters und gibt ihm recht, kann man passiv bleiben. Zeigt man sich aber solidarisch mit dem Opfer, müsste man handeln. Und das ist anscheinend häufig schwer. Und wenn es nur ist, die 110 zu wählen. Dann einigen sich lieber alle darauf, wer das Problem ist: das schwarze Schaf.
Und das bin ich.
Als ich zwölf bin, setzt mein Stiefvater sich in den Kopf, es müsse jetzt unbedingt ein Haus gebaut werden. Dabei haben wir überhaupt kein Geld dafür. So kommt es, dass fast nie Handwerker bei uns sind: Wir müssen alle selbst ran, ob es ums Fliesenlegen, Mauernhochziehen, Verputzen oder Betongießen geht. Das Haus wird niemals fertig werden – ich glaube, auch heute ist es das noch nicht. Jahrelang leben wir in einem Haus, in dem es nicht einmal Türen gibt. An den Wänden ist in vielen Räumen nur der raue Putz, in einigen Zimmern der blanke Betonboden. Es ist ein Gebäude, das einer unfertigen Ruine ähnelt. Und wir haben keine Freizeit mehr. Denn unser „Zuhause“ ist nun nicht mehr nur ein Straf-, sondern auch ein Arbeitslager. Bei minus zehn Grad schippen wir Kinder und meine Mutter Erde, reißen im Grundstück Disteln mit blanker Hand aus, schleppen Steine, während mein Stiefvater die Befehle gibt. Wenn er nett ist, stellt er mir einen Baustrahler hin, wenn ich sonntagabends noch nicht damit fertig bin, die Einfahrt zu pflastern – damit ich nicht im Dunkeln arbeiten muss. Wenn ich endlich fertig bin, darf ich für die Schule lernen oder auch nicht – heimlich bis tief in die Nacht beuge ich mich über meine Hefter. Denn wenn ich für Klausuren lerne, wird das als Drückebergertum verstanden. Ich darf nicht einfach so existieren. Ich bin nichts wert, ich bin ein Minusmensch. Meine bloße Existenz muss ich mit Arbeit kompensieren, ich habe ja etwas wiedergutzumachen. Und meine Arbeitskraft gehört nicht mir. Setze ich sie woanders ein, zum Beispiel bei meiner Lernerei, der kurzen Zeit, die ich in einer Eisdiele arbeiten darf, oder wenn ich mit anderen Mädchen im nahe gelegenen Gestüt Boxen ausmiste, ist mein Stiefvater sauer. Denn ich habe seine Zeit vertrödelt, meine Arbeitskraft woanders verschleudert – also muss ich zu Hause extrahart ran. Auch meine Tage zu haben, gilt als Minderung meiner Leistung. Dann muss ich, statt mit einer Wärmflasche im Bett zu liegen und irgendwie die Krämpfe zu überstehen, länger draußen und auf dem Bau arbeiten. Ich fühle mich wie eine Leibeigene.
Uns schwer körperlich arbeiten zu lassen, gehört zum Erziehungsprogramm meines Stiefvaters. Genauso wie sein Ziel, uns „abzuhärten“ – na ja, man könnte auch sagen, uns zu quälen. Denn diese Methode macht ihm sichtlich am meisten Spaß. Sein Erziehungsstil ist beinahe schon militärisch. Dazu gehören nicht nur die unzähligen Stunden, die wir damit verbracht haben, uns – mal angezogen, mal nackt – anschreien zu lassen, während wir strammzustehen hatten. Dazu gehört auch, dass wir nicht mit Namen gerufen werden. Sollen wir zu ihm kommen, ertönt ein schriller Pfiff: „Wänster, antreten!“ Dann gibt es entweder Dresche, Anschiss oder wir dürfen „Essen fassen“. Auf keinen Fall sollen wir verweichlichen. Jahrelang muss ich jeden Abend im Wohnzimmer antreten und unter seinem strengen Blick vierzig Liegestütze ableisten, während er auf mich herabblickt und zählt. Ist einer der vierzig Liegestütze nicht zu seiner Zufriedenheit ausgefallen, sagt er mir das – und ich muss noch mal vierzig machen. Breche ich zusammen, schreit er mich an. Überhaupt ist es gefährlich, Bedürfnisse zu äußern: Teilen wir mit, Hunger zu haben, Schmerzen oder Angst oder mal pinkeln zu müssen, bereitet es ihm größtes Vergnügen, eine Erlösung noch länger hinauszuzögern. Schon als kleines Kind verbringe ich Stunden damit, leise und verzweifelt vor mich hin zu heulen, weil das Badewasser meine Haut so ausgetrocknet hat, dass sie unerträglich juckt. Aber mit Eincremen fangen wir gar nicht erst an, denn Eincremen ist was für Weicheier.
Wir haben nichts zu wünschen, sondern zu funktionieren. Alle unsere Körperfunktionen haben ihm zu gehorchen: Wenn wir im Sommer bei vierzig Grad an die Ostsee fahren, dürfen wir nichts trinken, nicht pinkeln gehen und uns in den Kindersitzen nicht bewegen. Er hält nur an, wenn er uns verdreschen muss, weil einer von uns sich übergeben hat. Das dann aber sogar auf der Autobahn.
Wir lernen, das, was ich heute als Folter bezeichne, auszuhalten. Dazu gehört zum Beispiel sein Lieblingsspiel, als ich fünf Jahre alt bin: tauchen. Bin ich in der Wanne, kommt er ins Badezimmer, sagt: „Soundso viele Sekunden!“, und drückt blitzschnell und ohne dass ich noch mal Luft holen kann, mein Gesicht unter Wasser. Egal wie sehr ich in Atemnot bin und wie groß meine Panik ist: Die von ihm angegebene Zeit wird knallhart durchgezogen bis zur nächsten Runde. Ich darf ganz kurz auftauchen und Luft schnappen, dann werde ich sofort wieder unter Wasser gedrückt. So geht das abendelang. Ich dachte, sterben zu müssen, denn sein Griff lockerte sich nie, er hielt mich unerbittlich unter Wasser, viel zu lange. Und so habe ich gelernt, meine Panik zu unterdrücken: Denn wer panisch ist, verliert Luft. Und wer sich wehrt, strampelt, versucht zu entkommen, der bleibt noch länger unter Wasser. Es ist also besser, sich zu ergeben, stillzuhalten und zu hoffen, dass man nicht aus Versehen doch ertränkt wird. Und es ist besser, sich nicht zu wehren. Heute nennt man das, was er mit mir gemacht hat, Waterboarding. Und das ist eigentlich verboten. Aber mein Stiefvater war eben keine staatliche Institution, der auf die Finger geschaut wurde. ER war nur ein privater Familienvorstand, der mit seinem Besitz getan hat, was er wollte.
Und dass wir ihm gehören, zeigt er uns deutlich, zum Beispiel, wenn er uns als kleine Kinder hochnimmt und über die Balkonbrüstung oder aus dem Fenster hält. Zeigen wir Angst, Schwäche oder Verzweiflung, lockert er seinen Griff. Wer nicht spurt, der stirbt – das muss er uns nicht sagen, wir verstehen es auch so.
Sowieso wundert es mich ein bisschen, dass wir überlebt haben. Denn davon mal abgesehen, dass es gut hätte sein können – absichtlich oder aus Versehen –, totgeprügelt zu werden, waren die Methoden unseres Stiefvaters gemeingefährlich. Das Schwimmen zum Beispiel hat er mir in der Ostsee beigebracht. Wie? Nun, er nahm mich als Fünfjährige auf den Rücken, schwamm sehr weit raus, bis hinter die Bojen, warf mich dann weit von sich ins Wasser und schwamm, ohne sich noch einmal umzublicken, zurück. Der Schwächste verreckt halt.
Es macht ihm einfach Spaß, uns zu quälen. Hat meine Mutter Kopfweh (etwas, das meistens nach Vergewaltigungen auftaucht), stellt er die Musikanlage neben ihr Bett und dreht voll auf. Sind wir beim Essen, isst er so widerlich wie möglich, schlürft, schmatzt und katscht, bis wir nichts mehr runterkriegen. Liegt meine Mutter neben ihm im Bett, furzt er sie an. Hat er einen Schnupfen, redet er uns ein, dass es auch HIV sein könnte. Etwas, das uns mal so nebenbei zu verstehen geben soll, dass er mit anderen Frauen schläft, und zwar ohne Gummi. Ich habe bis heute den Verdacht, dass dies auf dem Straßenstrich geschehen ist, denn über die „Mädels“ dort ließ er sich am liebsten aus. Einen Test macht er aber nicht und sein Verhalten ändert er auch nicht. Nein, er vergewaltigt meine Mutter weiter und lässt uns in der Angst, sie könne infiziert sein und sterben. Er mag es, uns im Unklaren zu lassen – und im Klaren darüber, dass wir ihm gehören. Und dass er uns schlagen, misshandeln, ausbeuten, quälen und anstecken kann, wie er will.
Und wenn er möchte, auch umbringen. Er kündigt es mir mehrfach an („Irgendwann passiert mal was, und dann kannst du froh sein, wenn du noch lebst und als Zeugin der Anklage auftreten kannst vor Gericht!“). Aber er versucht es auch wirklich: Will meine Mutter vor seinen Schlägen davonlaufen, prügelt er uns alle ins Auto und beginnt eine seiner Amokfahrten. Er rast, fährt mit massiv überhöhter Geschwindigkeit in halsbrecherischer Manier, jede Kurve ein Zufall, ob er sie noch kriegt. Bei jedem Überholvorgang ist es dem Glück überlassen, ob es zu einem Zusammenstoß mit einem Auto auf der Gegenfahrbahn kommt. Bei jedem Baum am Straßenrand ist es Zufall, ob wir ihn treffen. Ich weiß nicht mehr, wie lange solche Aktionen immer gedauert haben. Ich weiß aber noch, dass es während dieser Fahrten im Auto unheimlich still war. Niemand sagte etwas oder bewegte sich auch nur. Alle – außer ihm – saßen da, starr vor Todesangst, und dachten: Okay, das wars jetzt. Irgendwann habe ich gelernt, mit Todesangst umzugehen. Das Einzige, was gegen die Angst hilft, ist radikale Akzeptanz der Situation. Nur der Gedanke „Okay, ich sterbe also jetzt, alles klar!“ hilft gegen die Panik. Panik hilft nicht. Panik macht alles nur noch schlimmer. Und niemand, wirklich niemand, möchte in Panik sterben. Denn das ist das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann.
Die Gewalt findet aber noch auf einer anderen Ebene statt: der sexuellen. Schon als kleines Kind muss ich früh, wenn ich meinen Stiefvater „wecken“ soll, zu ihm ins Bett kommen. Dort presst er sich nah an mich ran, hält mich fest, ich spüre seine Erektion. Zappeln oder mich rauswinden kommt nicht infrage – dann wird der Griff nur noch fester. Auch auf seinem Schoß muss ich stundenlang sitzen und mich „streicheln“ lassen, obwohl ich das nicht möchte. Er nutzt jede Gelegenheit dafür: zum Beispiel als mein kleiner Hamster stirbt und ich unendlich traurig bin. Ich sitze auf seinem Schoß, schlucke mein Weinen herunter und fühle, dass irgendetwas mit der Situation gerade nicht stimmt.
Ich finde Pornohefte in der Wohnung, verstehe die Bilder nicht, aber die Artikel, die kann ich schon lesen. Es sind verrückte Geschichten darüber, dass Frauen von der Straße wegentführt und dann von mehreren Männern vergewaltigt werden und schlussendlich doch Spaß daran finden. Auch ich selbst werde zur Herstellung pornografischen Materials genutzt. So gibt es ein Foto von mir, das aufgenommen worden sein muss, als ich wohl so sieben Jahre alt war. Ich bin splitternackt und stehe mit abgeknickter Hüfte, verstrubbelten Haaren und einem Gesichtsausdruck da, als wolle ich den Fotografierenden verführen, während ich in meiner kleinen Kinderhand in lockender Pose eine Halskette halte. An den Zeitpunkt der Aufnahme erinnere ich mich nicht, wohl aber daran, dass mein Stiefvater das Bild im Bekanntenkreis herumgezeigt hat. Dieser zeigte sich peinlich berührt, einzig mein Onkel wandte sich an meinen Stiefvater: „Na ja – wers nötig hat.“ Seine abfällige Art beschämte auch mich. In dem Moment verstand ich drei Dinge: erstens, dass daran etwas falsch war, zweitens, dass ich eine schlimme Sache getan hatte, und drittens, dass niemand meinen Stiefvater dazu bringen würde, mit diesen Sachen aufzuhören. Er hat das Bild sicher immer noch, und ich möchte gar nicht wissen, was er damit tut.
Schon mit sechs oder sieben Jahren bin ich völlig sexualisiert: Ich spiele mit meinen Freundinnen seltsame Spiele, in denen es um Vergewaltigung geht. Kämme ich mir die Haare wild zur Seite, schnalzt mein Stiefvater eklig mit der Zunge und meint in einem abstoßenden Unterton, ich sehe „sexy“ aus. Andere ältere Männer werden auf mich aufmerksam: Der Opa einer Klassenkameradin, der sie missbraucht, wie sich später herausstellen wird, liebt es, wenn ich zu Besuch bin. Wir gehen dann zu dritt in den Keller. Obwohl er mich nicht anfasst, fühlt sich irgendetwas merkwürdig an. Es sind dieselben Blicke, die ich auch von dem Vater einer Spielfreundin kenne: Auf einem Kindergeburtstag starrt er mich an, und prompt zeige ich mich „sexy“ und „verführerisch“. Ich kenne den Blick und benehme mich entsprechend. Zwar fühle ich mich schlecht dabei, aber ich glaube damals, ihm diese Posen zu schulden: Denn irgendwie habe ich seine Aufmerksamkeit erregt, und dann ist diese ganze Sache hier ja wohl meine Schuld.
Mein Stiefvater klärt mich auf, als ich zwölf bin. Er sitzt nackt auf meiner Bettkante, sichtlich erregt, trinkt Rotwein und erläutert mir, welche Stellungen es gibt, während ich mich so sehr schäme für das, was gerade geschieht, dass ich mich tot wünsche. Bald beginnt er, Situationen zu suchen, in denen ich nackt bin: Da in unserem Haus noch keine Dusche existiert, müssen wir uns in der Küche vor seinen Augen waschen, einmal die Woche fahren wir abends zu seiner Arbeitsstelle, in der es eine Gemeinschaftsdusche gibt, und reinigen uns dort, während er vor allem mich anstarrt und meine körperliche Entwicklung kommentiert. Dann fängt er an, abends in mein Zimmer zu kommen und sich beim Gute-Nacht-Sagen auf mich zu legen. Er ist schwer und ich bekomme kaum Luft, und während er mir das Gesicht ableckt, mir die Hände unter das Nachthemd schiebt oder versucht, mich zu küssen, merke ich, dass ich mich „wegmachen“ kann, indem ich ganz flach atme. So gelingt es mir, aus meinem Körper auszusteigen. Ich habe Blackouts. Wenn er von mir runtergeht, ist manchmal eine halbe Stunde vorbei – und ich habe keine Ahnung, was in dieser halben Stunde geschehen ist. Sie ist in meinem Gedächtnis einfach gelöscht – ich war gar nicht anwesend.
Tagsüber kommt er öfter auf mich zu, will „knuddeln“ oder „spielerisch kabbeln“, er wirft sich auf mich drauf, als wären wir junge Hunde, wirft sich über mich, unterwirft mich, fasst mich überall an. Seine Hände gehen unter meinen Pulli, streichen über meine Brüste, kneifen in meinen Po, seine Zunge fährt durch mein Gesicht. Manchmal trage ich Bissspuren davon.
Und er hat Phantasien über mich, die er mir gerne mitteilt. Stundenlang kann er sich am Kaffeetisch oder auf meiner Bettkante darüber auslassen, wie die Dorfnazis mich bestimmt irgendwann mal vergewaltigen werden, viele, und zwar „bis du blutest, und zwar aus allen Löchern“. Er kann stundenlang darüber schwadronieren und sich selbst die kleinsten Details ausmalen. Wenn seine Freunde zu Besuch sind und mit ihm saufen, kommt er danach in mein Zimmer und erzählt mir, es gebe ein Gastrecht, wonach der Hausherr den männlichen Gästen seine Frau und seine Töchter ins Bett legen dürfe, das gehöre sich so. Er macht sich einen Spaß daraus, nackt und mit deutlich sichtbarer Erektion stundenlang in den Wohnräumen umherzulaufen und darüber zu sprechen, dass er ja auch mal „die Große“ – also mich – rannehmen könnte, wenn seine Frau sich ihm „verweigert“. Er beschimpft mich immer wieder als „Schlampe“ und „Hure“, die männlichen Brieffreunde, die ich habe, seien sicher alles „ältere Herren“, deren „willenlose Sexsklavin“ ich sei. Ich sei pervers und verkommen, durchtrieben und notgeil, meint er. Auch gegenüber anderen tut er das, denn vor Publikum demütigt er am liebsten: Als ich einmal eine Erkältung habe, weil ich in der Nacht davor dazwischengegangen bin, als er meine Mutter verprügelt hat, und daraufhin verdroschen und bei Minusgraden vor die Haustür geworfen worden bin, wünscht der Handwerker mir auf mein Niesen „Gesundheit“ – und wird von meinem Stiefvater aufgeklärt: „Das hat sie sich selbst zuzuschreiben – wenn man sich halb nackt nachts draußen rumtreibt!“ Nun – rein technisch richtig.
Aber manchmal beschimpft er mich auch als „verklemmte Ziege“, und zwar dann, wenn wir wieder an den FKK-Strand an der Ostsee müssen, auf dem ich mich, wie in der Pubertät üblich, halb totschäme. Versuche ich, meine Brüste oder meine Scham zu verdecken, werde ich angeschrien, ich sei ein prüdes Stück und solle gefälligst zeigen, was ich habe – ihm, aber auch den anderen anwesenden Männern, vor denen er uns wie seinen persönlichen Harem herumzeigt. Generell achtet er auf Körperhaltung – Rücken gerade, Brust raus! Wir sollen zeigen, was wir haben! Tun wir Mädchen das nicht, resultiert das in Anschreien und Dresche – oder in „Körperkorrektur“: Einmal bindet er meiner Schwester einen Besen auf den Rücken, damit sie sich „endlich gerade hält“ und ihre Brüste sichtbar sind. Alles an unseren Körpern interessiert ihn. Ob ich mich rasiere oder nicht, ob ich meine Tage habe oder nicht – er weiß es. Generell weiß er von jedem weiblichen Familienmitglied, wann sie „dran“ ist – und das wird dann am Abendbrottisch auch thematisiert. Wir seien „blutende Pottsäue“, meint er. Meiner Mutter wirft er vor, ihre Tage absichtlich zu bekommen, damit er sie nicht anfasse, damit sie „Schonzeit“ erlange – so nennt er es. Mir wirft er vor, eine nichtsnutzige Lusche zu sein, weil ich erst mit vierzehn meine Periode bekomme. Nichts an unseren Körpern gehört uns selbst, er bestimmt alles: Manchmal holen meine Eltern mich ins Wohnzimmer, wo sie über meinen Kopf hinweg darüber sprechen, was ihnen an mir nicht passt: meine Haarfarbe, meine Haarlänge, meine Kleidung, mein Gewicht. Sie unterhalten sich darüber, was zu ändern ist, als wäre ich gar nicht anwesend.
Je älter ich werde, umso zudringlicher wird er. Mit meinem Stiefvater alleine zu sein, heißt, Angst vor einer Vergewaltigung zu haben. Diese Drohung schwebt immer im Raum. Denn ich bin Dreck, aber als Fotze wenigstens zum Ficken gut. Und er zeigt mir: Ich kann körperlicher Gewalt entkommen, wenn ich ihn ablenke und zulasse, dass er sich an mir aufgeilt. Dann vergisst er, dass er mich oder die anderen eigentlich verprügeln wollte.
Das Schlimmste für mich ist aber, dass meine Mutter von ihm vergewaltigt wird. Für das, was er an mir tut, habe ich lange keine Worte, kann es nicht benennen, und noch bis ich Ende zwanzig bin, habe ich Probleme damit, zu sagen: „Ich wurde sexuell missbraucht.“ Denn ich frage mich: Habe ich mir das eingebildet? War das, was er getan hat, vielleicht in Wirklichkeit okay, und nur meine dreckige Phantasie hat es als Missbrauch interpretiert? Denn ich bin ja eine Schlampe. Und schließlich passieren anderen Mädchen noch viel schlimmere Dinge. „Richtiger“ Missbrauch. So denke ich damals.
Das, was mit meiner Mutter geschieht, ist aber falsch, das weiß ich, seit ich in der Pubertät bin. Ich spüre die Scham am ganzen Körper, wenn er meine Mutter am Kaffeetisch auffordert, sich ihm nicht mehr zu „verweigern“. Auch uns Kinder bezieht er mit ein. Läuft im Radio das Lied Shut up and sleep with me, lässt er mich den Text laut übersetzen und nickt meiner Mutter dann schmierig grinsend zu. Er beruft sich darauf, dass die „ehelichen Pflichten“ im Gesetz verankert seien. Eine Verweigerung des ihm zustehenden Geschlechtsverkehrs sei, so sagt er, „seelische Grausamkeit am Mann“, seine Frau habe, wenn er, „der Herr und Meister“, nach Hause komme, bereits „freudig erregt an der Tür zu stehen“. So gehöre sich das und nicht anders, und sie habe beim Verkehr zu lächeln, denn die „Duldungsstarre“ genüge nicht.
Abends schaut er im Wohnzimmer Pornos, so laut, dass ich sie bis in mein Kinderzimmer höre. Er betrinkt sich dabei. Danach geht er hoch und dann wird es laut. Erst Schreie, dann Schläge, dann Gerangel und Gerumpel, dann Geficke. Jedes Mal wenn das passiert, krampfe ich völlig verzweifelt meine Hände in die Bettdecke und wage kaum zu atmen. Kommt meine Mutter danach runter, um sich im Bad zu waschen, könnte ich jedes Mal heulen vor lauter Ausweglosigkeit.
Am schlimmsten ist, dass ich kaum dazwischengehen kann. Denn ich bin zu feige dafür, ich spüre instinktiv, dass er in seiner rasenden Wut auch mich vergewaltigen würde, wenn ich in einem solchen Moment dort auftauchte. Für meine Feigheit schäme ich mich in Grund und Boden. Nur während der Urlaube, wenn wir alle im selben Zimmer oder im selben Zelt schlafen, traue ich mich manchmal und schreie „Lass sie in Ruhe!!!“, wenn ich die altbekannten Geräusche der Schläge und des rhythmischen Klatschens höre. Manchmal hört es dann auf. Am nächsten Tag werde ich dafür geschlagen, angeschrien und geschubst. Manchmal bestraft er uns alle, fährt einfach weg, lässt das Konto sperren und uns ein paar Tage ohne Geld und Essen sitzen. Wir sind nicht erleichtert: Wir wissen, dass er sich in der Zwischenzeit nicht abregt. Sondern seine Wut aufstaut. Das Wiedersehen ist nie ein schönes.
Puh. Jetzt ist ganz schön viel Aufgestautes raus. Danke, dass du bis hierhin gelesen hast.
Vielleicht fragst du dich, was mir geholfen hat zu überleben. Zum einen der Kontakt mit Tieren. Und Musik. Noch heute kann ich stundenlang mit Musik im Ohr durch die Gegend laufen und mein eigenes Kopfkino anschalten. In meinem Kopf laufen ganze Filme ab, und sie bilden ein Gegengewicht zu dem, was in der Realität passiert. Ich bin eine exzessive Tagträumerin. Schon mit fünf Jahren kann ich lesen. Ich nutze Bücher, um zu flüchten. Ich lese sie nicht, ich fresse sie regelrecht: Und weil ich so exzessiv lese, verbieten meine Eltern mir, als ich zwölf bin, in die Bibliothek zu gehen. Mit fünfzehn fange ich heimlich wieder an. Schleppe jeden Monat einen Rucksack und zwei große Beutel Bücher da raus. Das sind positive Erlebnisse – meine Ressourcen.
Es gibt auch negative Folgen meiner Kindheit. Denn ich beginne früh, mich selbst zu verletzen. Schnüre schon mit sechs meine Schnürsenkel so fest zu, dass es wehtut. Beiße in die Bettkante, wo sich bald die ersten Schabespuren zeigen werden, oder zerbeiße Gläser. Misshandelt zu werden, körperlich, sexuell und emotional, und auch, Zeugin davon zu werden, macht was mit einem. Manche Kinder werden BettnässerInnen oder essen sich eine Schutzschicht an. Verletzen sich selbst, werden zum Klassenclown oder ziehen sich ganz in sich selbst zurück. Ab der Pubertät ist meine Lieblingsfarbe Schwarz. Ich bin zu diesem Zeitpunkt bereits hochgradig depressiv, mir ist immer kalt, ich bin immer müde. Zu müde, um in die Schule zu gehen. Ich schwänze fast die gesamte Oberstufe.
Ich bin gerade siebzehn geworden, da weiß ich: Ich muss aus diesem Zuhause raus. Eines Nachts packe ich meine Sachen und haue in eine Mädchenzuflucht ab. Ich tue das nicht nur für mich: Ich will Hilfe holen. Irgendjemand muss es tun. Jahrelang habe ich darauf gewartet, dass irgendjemand eingreift. Meine Mutter, die NachbarInnen, LehrerInnen. Keine und keiner handelt.
Also muss ich es tun.
Und es wird etwas ändern.
Glaube ich zumindest.
Doch es wird anders kommen.
Vielleicht denkst du, meine Geschichte sei außergewöhnlich. Aber das ist sie nicht. Es gibt so viel Gewalt gegen Kinder und gegen Ehefrauen. Und sie war lange legitim. Auch das, was mein Stiefvater getan hat, war nur zu einem Teil strafbar: Denn Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 eine Straftat. Zuvor galt lange, was ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom 2. November 1966 (Az.: IV ZR 239/65) festgelegt hatte: dass die Ehefrau es ihrem Mann schuldet, mit ihm ins Bett zu gehen. Und zwar lächelnd: „Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, daß sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen lässt. Wenn es ihr infolge ihrer Veranlagung oder aus anderen Gründen, zu denen die Unwissenheit der Eheleute gehören kann, versagt bleibt, im ehelichen Verkehr Befriedigung zu finden, so fordert die Ehe von ihr doch eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen.“ Auch in der DDR hatte es den Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe nicht gegeben. Im Gegensatz zur BRD hatte dort aber immerhin die gewaltsame und erzwungene anale oder orale Penetration durch den Ehemann als sexuelle Nötigung gegolten.1
Auch Kinder haben erst seit dem Jahr 2000 das im Gesetz verankerte Recht auf gewaltfreie Erziehung.
Rund ein Viertel aller Frauen erleben mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Gewalt durch ihren Ehemann oder Lebenspartner, davon zwei Drittel schwere oder schwerste Gewalt.2 Besonders in Phasen der Trennung sind Frauen und Kinder gefährdet, durch den Ex-Partner/Vater/Stiefvater ermordet zu werden: Jeden dritten Tag bringt in Deutschland ein Mann seine Lebensgefährtin oder Ex-Lebensgefährtin um. Im Jahr 2017 waren 147 Frauen davon betroffen.3 Dass all dies immer noch allzu oft als üblich und normal angesehen wird, zeigt die verharmlosende Sprache der Medien, die in solchen Fällen nie benennt, was wirklich geschieht (Gewalt) und von wem diese in den allermeisten Fällen ausgeübt wird (von Männern), sondern die euphemistisch von „Sextätern“, „Ehestreits“ und selbst bei Mord von „Beziehungsdramen“ spricht.
Jede siebte Frau in Deutschland erlebt sexuelle Gewalt.4 Sexuellen Missbrauch erleben jedes vierte Mädchen und jeder zehnte Junge in Deutschland.5 Zur Anzeige kamen in Deutschland im Jahr 2019 allerdings nur 16 000 Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs, etwa 12 000 Fälle von Kinderpornografie und etwas mehr als 4000 Fälle von Kindesmisshandlung.6
Ich bin also bei Weitem nicht das, was man einen Einzelfall nennen könnte.*
Warum erzähle ich dir das, wenn es in diesem Buch doch um Prostitution geht? Ich hätte genauso gut ein Buch über Kindesmissbrauch schreiben können. Vielleicht tu ich das auch noch – aber jetzt geht es um Prostitution. Und Prostitution findet nicht im luftleeren Raum statt. Sie kommt nicht aus dem Nichts. Prostitution braucht genau das: Kinder, die misshandelt wurden, Mädchen, die sexuelle Gewalt erlebt haben.
Zwei Studien haben sich damit beschäftigt, welche Vortraumatisierungen bei Frauen in der Prostitution häufig vorkommen. Melissa Farley, eine Psychologin aus den USA mit dem Schwerpunkt der Erforschung von Prostitution und Menschenhandel, stellt in einer Studie fest, dass 49 Prozent der Frauen in der Prostitution in der Kindheit geschlagen und 57 Prozent in der Kindheit sexuell missbraucht worden sind.7 Die Psychotherapeutin Sybille Zumbeck kommt zu einem ähnlichen Ergebnis und benennt, dass 83 Prozent aller Frauen in der Prostitution ein Kindheitstrauma haben: 70 Prozent durch das Miterleben familiärer Gewalt, 65 Prozent durch körperliche Misshandlung in dem Maße, dass Verletzungen entstanden sind, und 48 Prozent durch sexuellen Missbrauch.8 Andere Quellen gehen davon aus, dass 80 bis 95 Prozent der betroffenen Frauen sexuelle Gewalt (also Vergewaltigung, Pädosexualität, Inzest) erlebt haben, bevor sie in die Prostitution eingestiegen sind.
Wenn du irgendetwas davon kennst, also sexuelle oder körperliche Gewalt in der Kindheit, erfüllst du schon zu einem Viertel die Voraussetzungen dafür, in der Prostitution zu landen. Die anderen Faktoren sind: die Abwertung als Frau, Armut und eine Person, die dir beim Einstieg „hilft“ – man nennt diese Menschen auch Zuhälter. Von diesen Faktoren erzähle ich dir in den nächsten Kapiteln.
Die Zahlen sind erschreckend, oder? Vielleicht sind wir gar nicht so verschieden, du und ich. Vielleicht haben wir zum Teil dieselben Erfahrungen. Vielleicht treffen die anderen Faktoren auf dich auch zu – oder eben nicht. Dann hast du Glück gehabt.
Ich schreibe dies, weil ich verdeutlichen möchte, dass es jeder passieren kann. Prostituierte sind nicht als kleines Mädchen eines Tages aufgewacht und haben gesagt: „Also, ich würde wirklich gerne mein Geld damit verdienen, Schwänze zu lutschen.“
Wir sind Frauen wie du.
Und ich persönlich habe keine einzige Prostituierte kennengelernt, die keine sexuelle Gewaltgeschichte hatte. Im Bordell wird die Zeit zwischen den Kunden manchmal lang. Dann sitzt man in der Küche oder im Aufenthaltsraum und schwatzt mit den Kolleginnen. Man lästert über die Freier, macht ein bisschen Small Talk oder erfährt Dinge über die anderen Frauen, die entsetzlich sind. Alle Frauen, die ich in der Prostitution kennengelernt habe, und auch die Frauen, die später zum Netzwerk Ella kamen und die Prostitutionserfahrungen hatten, erzählten im Grunde dieselbe Geschichte. Sie hießen Manuela, Silvana, Monika, Helen oder Anna. Und sie kamen aus Elternhäusern, in denen sie bereits als Kind prostituiert worden waren oder aus denen sie flohen, weil der Vater oder Stiefvater oder Partner der Mutter sie vergewaltigt, missbraucht oder sexuell belästigt hatte.
Das ist der Sumpf, aus dem sich Prostitution speist. Das sind die Orte, aus denen der Nachwuchs kommt, das „Frischfleisch“. Was ist das für ein Job, der grundlegend darauf angewiesen ist, dass es traumatisierte Frauen gibt, die ihn erledigen? Dass es Menschen gibt, die heftige Gewalterfahrungen gemacht haben?