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Die Erfahrung der Abwertung als Frau
ОглавлениеMit Anfang siebzehn habe ich dann also in der Mädchenzuflucht Unterschlupf gefunden. Eineinhalb Jahre werde ich dort wohnen – die Betreuerinnen setzen sich sehr für mich ein, sie kennen die Problematik, mit der ich zu kämpfen habe. Von einer Anzeige raten sie mir ab – aus guten Gründen. Denn nur allzu oft werden Täter freigesprochen und die Opfer durch den Prozess und all die Befragungen retraumatisiert. Ich habe auch gar keine Kraft dafür, das durchzustehen, denn ich habe heftig mit meinem Trauma zu tun. Ständig rutsche ich weg und dissoziiere*, ich ritze mir die Arme auf und bin immer unruhig, immer auf „high alert“. Meine Gedanken sind gedrückt und ich habe überhaupt kein Körpergefühl – ist mir kalt, habe ich Hunger oder ist mir schwindelig? Ich kann es nicht einmal benennen, ich fühle nur, dass etwas nicht stimmt. Und oft nicht einmal das. Und ich habe andauernd Flashbacks und Trigger – bestimmte Schlüsselreize genügen, um mich emotional wieder mitten in die Vergangenheit zu katapultieren. Es reicht schon, wenn jemand die Treppe hochstapft, wenn es im Nachbarzimmer rumpelt, wenn jemand pfeift oder schmatzt – oder mir zu nahe kommt.
Und zu nahe kommen mir einige Männer. Wenn ich abends Musik hörend in der Kleinstadt herumlaufe, in der ich wohne, laufen sie mir hinterher und sprechen mich an. Denn ich bin jung und auffällig gekleidet: immer zu dünn angezogen, mit Gothic-Kleid und Netzstrümpfen – oder mit Hemd, Schlips und Minirock. Auch auf Partys werde ich oft angesprochen. Einerseits finde ich es schön, wenn Interesse an mir gezeigt wird – aber ich merke bald, dass dieses Interesse mit einer Abwertung einhergeht, die ich schon kenne. Und zwar in Form eines „Kompliments“: „Heiß siehst du aus, was für ein geiles Teil.“ Und noch bevor ich überhaupt das erste Mal Geschlechtsverkehr habe, stempeln sie mich als „Schlampe“ ab. „Du brauchst es hart“, sagen sie mir, wenn sie meine Narben auf den Unterarmen sehen. Und ich denke in diesen Momenten, dass das vielleicht stimmt, denn wenn sie mir auf die Pelle rücken, empfinde ich nichts, was irgendwie schön für mich wäre. Vielleicht, denke ich, ist das ein Zeichen dafür, dass ich es wirklich hart brauche? Vielleicht bin ich ja abgestumpft und merke erst dann etwas? Irgendetwas stimmt nicht mit dem, was manche Männer mit mir machen, aber ich kann es nicht richtig benennen, ich kann zu dem Zeitpunkt nicht mal benennen, was mein Stiefvater auf sexueller Ebene mit mir gemacht hat. „Was mache ich denn jetzt bloß mit dir?“, fragt mich ein Taxifahrer und fährt rechts ran. Und noch während er mit der Zunge schnalzt, springe ich raus und haue ab. Ich spüre, ich bin in Gefahr, aber sagen, in was für einer Situation ich konkret war, das kann ich nicht. Ich habe noch keine Worte dafür. Genau wie für all die Situationen, in denen Männer mir auf den Arsch hauen und mir Dinge sagen wie: „Na, wie eine Nonne schaust du ja nicht gerade aus!“ Und da im Jahr 2000 in Kleinstädten noch keine Aufklärung durch #MeToo stattgefunden hat, traue ich mich nicht, es als das zu benennen, als das ich es empfinde: unangenehme Belästigung. Einmal sitze ich mit einem Freund im Wald, als sich eine Gruppe von jungen Männern neben uns platziert und bald anfängt, Zoten und Witzchen zu reißen, die ich überhaupt nicht komisch finde. Einer sagt: „Den die da mithat, das ist ja so ein Hänfling, wenn wir wollten, rein theoretisch, könnten wir die jetzt vergewaltigen!“
Es sind nicht alle Männer, die das tun, aber viele. Zu viele. Ich habe das Gefühl, mich gegen zudringliche Männer nicht gut wehren zu können. Erstens, weil sie die Belästigung als Kompliment verpacken – als Kompliment mit Nachgeschmack. Und zweitens, weil sie mir das Gefühl geben, dass ich ihnen etwas schulde, weil ich ihre Aufmerksamkeit erregt habe. Schlage ich ihre Hände weg oder lache über ihre „Witze“ und „Komplimente“ nicht mit, kippt die Stimmung immer sehr schnell. Dann bin ich „prüde“ und „humorlos“ und werde beschuldigt, allen die Laune zu verderben. Manchmal werde ich dann auch als „Schlampe“ oder „Fotze“ beschimpft, oder auf mein „Nein!“ kommt es zu einem Übergriff. Es geht einfach nur um Macht. Irgendwie riechen Täter, dass sie bei mir leichtes Spiel haben. Ich bin auffällig angezogen, ich kann schlecht Grenzen setzen. Und ich weiß, auf das Zeigen von Schwäche oder Unsicherheit oder ein klares Nein kann ein Übergriff folgen. Oder eine Beschämung, oder noch mehr Druck. So ein Nein macht solche Männer schon aggressiv. Und für ein traumatisiertes Mädchen ist es sehr schwer, Nein zu sagen.
Meinen ersten Geschlechtsverkehr habe ich mit einem jungen Mann, der sich enttäuscht zeigt, als ich ihm kurz vorher sage, dass ich noch Jungfrau bin. Er ist angenervt, weil er jetzt auf mich eingehen muss und ich nicht weiß, wie es geht. Er jagt mich dennoch durch alle Stellungen, mal abgesehen von dem Schmerz zwischen meinen Beinen habe ich noch drei Tage Muskelkater. Und ich denke, das müsse anscheinend so sein. Ich muss also im Bett Leistung bringen, und ich habe rückzumelden, dass es mir gefällt. Sonst ist er enttäuscht. Dass es mir wehtut, finde ich eigentlich normal: Sex ist ja für die Männer da und nicht für mich. Ich habe bloß zu liefern. Bis vor ein paar Jahren hat mir Sex eigentlich immer wehgetan, aber befremdlich fand ich das nicht.
Bald mischt sich etwas anderes in die Belästigungen und Bedrängungen. Es ist die Vermutung der Männer, dass ich nicht nur eine „Schlampe“ bin, sondern sogar eine Hure. Als ich ein einjähriges Praktikum im Sozialwesen der Stadt mache, arbeite ich im Hort der Sonderschule, aber auch in einem Jugendclub, in dem städtische SozialarbeiterInnen den Jugendlichen ein Freizeitangebot stellen. Einer der Sozialarbeiter flirtet mit mir, und ich weiß nicht genau, wie damit umzugehen ist. Darf ich ihm sagen, dass es mir zu krass ist, wenn er mich drängt, mit ihm „in die Kammer“ zu gehen? Ich habe Neinsagen nicht gelernt und bin völlig aufgeschmissen.
Die Idee, mich zu prostituieren, kommt übrigens nicht von mir. Im Gegenteil, sie wird mir vorgeschlagen. Mich bringen die Äußerungen von Männern und Jungs, die nicht bei mir landen können, darauf, dass Prostitution eine Option für mich sein könnte. Als ein junger Mann, der im Jugendclub aushilft, mir erzählt, dass er ab und an mit seinen Freunden in die nächste Großstadt fährt, um dort auf dem Strich „Nutten zu guggn“, verziehe ich mein Gesicht vor Abscheu. Dieser Voyeurismus ekelt mich an. „Was schaust du so?“, fragt er. „Stehst du etwa auch manchmal dort? Echt jetzt, stehst du manchmal da?“ Das Glitzern, das sich dabei in seine Augen schleicht, kenne ich gut. Es ist irgendwas, das mit Geilheit und Demütigung zu tun hat. Ich kenne es von meinem Stiefvater.
Generell bemerke ich, dass Jungs und Männer sensationsgeil auf dieses Thema reagieren. Allein den Vorschlag, ich solle doch eine 0190-Nummer einrichten, weil meine Stimme so erotisch klinge, höre ich mehrfach.
Und so fange ich irgendwann an, auf Belästigungen rotzfrech mit „Verpiss dich, bei mir kostet es, und zwar zu viel für dich“ zu kontern, um sie mir vom Leib zu halten. Es ist für mich eine Möglichkeit, den Zugang zu mir zu regulieren und zugleich keine Aggressionen auf mich zu lenken – denn ich habe ja nicht Nein gesagt. Es sind die Umstände, die dafür sorgen, dass sie bei mir nicht mehr landen können. Und weil das Thema Prostitution für sie interessant ist, werden sie, anders als wenn ich ihnen einfach einen Korb gebe, nicht sauer, wenn ich ihnen dergestalt eine Absage erteile. Das ist außerdem der Punkt, an dem ich noch etwas sagen kann. Denn kommen sie mir noch näher, bin ich oft völlig angetriggert, rutsche weg und steige aus der Situation und aus mir selbst aus. Ich werde gleichzeitig hochgradig unruhig und ganz starr – und damit verletzlich, denn über jemanden, der sich kaum noch bewegt und sich körperlich nicht wehrt, kann man ja mal eben rüberrutschen. Dass das gefährlich ist, lerne ich, als mich ein Typ, der mich schon den ganzen Abend bedrängt hat, nach Hause bringt und mich auf einem Friedhof vergewaltigt. Ich bin wie in Schockstarre, und als er in mich eindringt, empfinde ich so einen Schmerz, dass ich ihm den Rücken zerkratze. Was ihn total geil macht – nachher fragt er mich, wo ich das gelernt hätte. „Du bist so wild, man könnte meinen, du kämst direkt aus dem Puff!“
Viele Männer behandeln mich, als wäre ich eine vermeintliche „Schlampe“, dabei ist mir in Wirklichkeit nach nichts weniger als nach dem für mich oft schmerzhaften Geschlechtsverkehr. Sie projizieren ihre Lust auf mich und werten mich dann ab. Das geht irgendwann so weit, dass mir unheimlich wird, wenn Männer nett zu mir sind und ich nicht weiß, was sie wirklich von mir wollen. Dann provoziere ich sie so lange, bis ich es weiß. Das in Verbindung mit meinem angesprochenen Gefühl, Männern, deren Aufmerksamkeit ich auf mich gezogen habe, etwas zu schulden, bringt mich oft in Situationen, die für mich schwer zu lösen sind. Ich bin jedes Mal enttäuscht, wenn es wieder bloß das eine ist, das sie von mir wollen. Darauf, dass mich jemand wirklich lieben könnte, komme ich gar nicht. Auch wenn es durchaus Jungs gibt, die das tun – aber die haben es schwer mit mir. Denn wie könnte ich daran glauben, dass mich jemand liebt, wenn es augenscheinlich noch nicht mal die Person tut, die mich geboren hat? Also setze ich weiterhin auf freche Sprüche, auf provokante Anspielungen, die Stärke vorspielen sollen. Verteile ich Körbe, setze ich auf einen ganz bestimmten Unterton. Meine Grenzen ziehe ich mit Sarkasmus, und weil ich die Männer nicht vor den Kopf stoßen will – denn ich weiß, das macht sie aggressiv –, gebe ich meiner Stimme dabei diesen leicht anzüglichen Touch. Das versöhnt sie manchmal wieder ein bisschen, sie halten das für ein Spiel. Das Vulgär-Rotzfreche wird zu meiner Maske, während ich mich innerlich halb totfriere, mich einsam fühle und sehr verletzt bin. Sex, so habe ich zu Hause gelernt, oder wenigstens eine sexuell aufgeladene Atmosphäre zu erzeugen, ist die einzige Art, Männer zu besänftigen, sie bei Laune zu halten und von weiteren Übergriffen abzuhalten.
Was mich zusätzlich belastet, ist die Situation im Hort der Förderschule, in dem ich eine Zeit lang im Rahmen meines einjährigen Praktikums bei der Stadt arbeite. Denn vor allem die kleinen Mädchen, die daheim sexuellen Missbrauch erleben, kommen wie von einem Magneten angezogen zu mir und berichten mir davon. Die kleine Martha erzählt mir mal ganz nebenbei, dass abends „der Papi zu uns Mädchen ins Bett kommt und dann schlimme Dinge mit mir macht“. Ein Mädchen mit Downsyndrom weint, weil sie nicht schwanger werden will und das aber passiert, „wenn mein Bruder das weitermacht“. Ich wende mich an die Hortleitung, bekomme von dort bloß zu hören, das Jugendamt sei ja schon in den Familien. Als ich frage, was es dort tue, heißt es: „Die Mütter bekommen einmal in der Woche eine Haushaltshilfe.“ Ich bohre weiter, aber es wird abgewiegelt: Man könne nicht allen helfen, und ich solle aufhören, im „Privatleben“ der Kinder rumzubohren. Es gehe mich nichts an. So ganz nebenbei bekomme ich mit, was der gesellschaftliche Umgang mit sexueller Gewalt zu sein scheint: Viele wissen es, aber alle tun so, als wäre nichts. Gehandelt wird nicht – die Erzählungen der Mädchen sind das Problem, nicht der Missbrauch selbst. Die Mädchen sollen aufhören zu reden. Nicht mal die staatlichen Stellen greifen ein.