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Ämter, Angst und Armut

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Den ersten Kontakt mit einem Amt habe ich, kurz nachdem ich von zu Hause abgehauen und in die Mädchenzuflucht gekommen bin. Denn danach steht natürlich ein Gespräch auf dem Jugendamt an. Meine Bearbeiterin heißt Frau Schulze, und zunächst findet ein Gespräch zwischen mir, ihr und einer der Sozialpädagoginnen aus dem Mädchenhaus statt. Ich soll berichten, warum ich meiner Meinung nach nicht mehr nach Hause zurückkann, und das kostet mich unheimlich großen Mut. Während des Gesprächs sagt Frau Schulze mehrfach, sie finde das, was ich erzähle, „unglaublich“. Dass sie damit „nicht glaubhaft“ meint, wird beim zweiten Treffen deutlich, als es ein sogenanntes Konfrontationsgespräch gibt, bei dem auch meine Eltern anwesend sind – also meine Mutter und mein Stiefvater. Hier erfahre ich, dass mein Stiefvater mein Stiefvater ist – bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich geglaubt, er sei mein Erzeuger.

Es ist ein schreckliches Gespräch, das ich nur eine Stunde durchhalte, bevor ich weinend rauslaufe. Denn Frau Schulze wechselt mit einem Schlag die Seiten. Zunächst eröffnet sie das Gespräch mit der Bitte, ich möge doch meinen Eltern einmal schildern, warum ich nicht nach Hause zurückmöchte. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, ich bin total verkrampft und habe das Gefühl, mir vor Angst gleich in die Hose zu pinkeln. Ich soll meinem Stiefvater ins Gesicht sagen, was er uns angetan hat. Wenn das hier nicht hinhaut, wenn ich nach so einer Aktion wieder nach Hause muss, dann, das weiß ich genau, kann ich froh sein, wenn er mich nur krankenhausreif und nicht totprügelt. Ich spreche also aus, dass ich die Schläge, die mich und alle anderen Familienmitglieder getroffen haben, nicht mehr aushalte. Und das Schmierentheater beginnt.

Denn meine Mutter fängt an zu weinen. Und mein Stiefvater, ganz der überraschte, aber verständnisvolle Papa, nimmt ihre Hand und tätschelt sie: „Sie meint das nicht so.“ Und dann wendet er sich an mich. Er sei erstaunt, dass ich so etwas sage, er habe uns doch nie geschlagen. Wo ich so etwas herhätte? Und warum ich das sagen würde? Ich würde doch sehen, wie sehr das meine Mutter verletze. Wenn ich mit der Höhe des Taschengelds nicht einverstanden sei, müsse ich doch nicht solche Dinge erfinden. Man könne doch über alles reden. Oder doch, ja – es stimme, ich hätte recht. Jetzt, da ich es sage, erinnere er sich! „Doch, doch, es ist wahr, was sie sagt – mir ist vor ein paar Jahren wirklich mal die Hand ausgerutscht! Ich hatte das schon total vergessen – und es tut mir ja so leid!“

Ich sitze da und kann es nicht fassen. Es passiert schon wieder: Alles wirkt wie im Film. Bin ich überhaupt real? Ist das hier real? Bin ich verrückt?

Da wendet Frau Schulze sich mir zu und fragt: „Ja, stimmt das denn, was deine Eltern sagen? Was sagst du denn dazu? Bist du weggelaufen, weil du zu wenig Taschengeld bekommen hast, ist das so, ja?“

Mir ist so anders, dass ich glaube, gleich ohnmächtig zu werden. Da nimmt unterm Tisch die Mädchenhaussozi meine Hand – und drückt fest zu. Und ich verstehe. Jemand glaubt mir. Ich bin nicht verrückt, egal wie hundeelend ich mich gerade fühle, aber ich bin nicht verrückt. Es ist alles wirklich passiert und ich habe es mir nicht eingebildet. Und so wiederhole ich, was ich schon zuvor gesagt habe: In dieser Familie werden wir alle regelmäßig windelweich geprügelt.

Dass die Jugendamtstante mir nicht glaubt, realisiere ich sehr wohl. Dass meine Eltern bereit sind, mich als Lügnerin hinzustellen und einfach alles, was passiert ist, zu leugnen, ist ebenfalls deutlich. Aber neben mir sitzt jemand, der mir glaubt. Und die Psychologin aus dem Mädchenhaus ist auch dabei. „Das Mädchen ist dermaßen misshandelt und verwahrlost, dass es bereits körperliche Symptome gibt. Sie kann nicht mal mehr für die Schule lernen, weil diese ständige Anspannung bei ihr einen Dauerkopfschmerz ausgelöst hat, der bereits seit über einem Jahr anhält“, gibt sie zu bedenken. Aber meine Eltern haben auch dafür eine Lösung: Unter meinem Bett, so sagen sie, hätten sie einen alten Apfelgriebs gefunden. Und man wisse ja, dass Schimmelsporen Kopfschmerzen auslösen. Mit irgendeiner Art von Gewalt, so beteuern sie, sichtlich getroffen und verletzt ob meiner ach so unfassbaren Äußerungen, habe das überhaupt nichts zu tun. Die habe niemals stattgefunden. Dann versuchen sie, es so hinzudrehen, als wäre ich weggelaufen, weil ich vorher schon herausgefunden hätte, dass mein Stiefvater nicht mein leiblicher Vater ist. Mein Stiefvater fängt sogar zu weinen an: „Ich habe sie behandelt wie meine eigene Tochter, ich habe nie einen Unterschied gemacht!“ Ja, rein technisch richtig: Denn auch seine leiblichen Kinder, meine Geschwister, hat er ja immer wieder zusammengeschlagen. Und: „Das verletzt mich jetzt sehr. Nur weil wir nicht verwandt sind, haben wir doch trotzdem eine Bindung! Als sie klein war, habe ich ihr sogar die Windeln gewechselt!“ Ja, das. Und mehr.

Bei diesem Jugendamtsgespräch fühle ich mich, als wäre ich die Täterin. Ein missratenes Kind, das lügt, seine lieben Eltern beschuldigt – und verletzt. Meine Mutter weint die ganze Zeit. „Ich bin so enttäuscht von dir, du machst die ganze Familie kaputt, indem du uns hier das Jugendamt auf den Hals hetzt!“, sagt sie. Als ob diese Familie nicht schon das Kaputteste wäre, was wir alle jemals erlebt haben. Nicht einen einzigen Moment hält die Jugendamtsmitarbeiterin zu mir. Immer wieder versucht sie, mir einzureden, es sei doch nicht so schlimm. Über jedes Stöckchen, das meine Eltern ihr hinhalten, springt sie. Über die Höhe des Taschengelds könne doch geredet werden. Dass er nicht mein leiblicher Vater sei, wäre doch nicht so schlimm, ich solle doch mal sehen, was er für mich getan habe.

Dabei geht es um all diese Themen gar nicht. Ich fühle mich schrecklich. Und plötzlich hört meine Mutter auf zu weinen, blinzelt ihre Tränen weg und zischt mir zu: „Und was jetzt? Jetzt sitzt du da also in diesem Heim und versuchst, ein Mensch zu werden, oder was?“ Unter dem Tisch hält Betreuerin Kathi aus dem Mädchenhaus noch immer meine Hand. Sie drückt. Ich drücke zurück. „Ich bin schon ein Mensch“, wage ich zu sagen. Dann überkommen mich die Tränen und ich stürme aus dem Raum.

Ich warte draußen. Als die Mädchenhausbetreuerin und die Psychologin aus dem Zimmer kommen, ist eine geschlagene Stunde vorbei. Ich fühle, dass sie unfassbar geladen sind. „Du bleibst bei uns, das haben wir durchgesetzt“, sagen sie. Aber ich ahne, dass es dort drinnen laut geworden ist und dass sie das bitter erkämpft haben. Gegen meine Eltern. Und gegen Frau Schulze. Die mir immer noch nicht glaubt.

Dass solche Vorfälle regelmäßig auf Jugendämtern vorkommen, lerne ich in den Jahren danach. Denn im Mädchenhaus wohnen Mädchen, die von zu Hause abgehauen sind, weil sie sexuell missbraucht oder körperlich misshandelt wurden. Und um sie alle kämpfen die Betreuerinnen dort. Gegen das Jugendamt, das „familienzusammenführend“ arbeitet – was bedeutet, dass die Kinder, sobald es geht, wieder in die Familie zurücksollen. Und „sobald es geht“ ist ein dehnbarer Begriff. Ein Mädchen, das von seinem Vater regelmäßig vergewaltigt wird, sitzt mit ebenjenem in einem „Konfrontationsgespräch“ auf dem Jugendamt. Ihr Vater gibt alles zu und bittet um Verzeihung. „Da hörst du es“, sagt die Fallbearbeiterin. „Er hat sich entschuldigt und gesagt, dass er es nie wieder tun wird. Wie schön, da kannst du ja jetzt wieder nach Hause gehen!“

Dass die Mädchenhausmitarbeiterinnen sich so für uns einsetzen, hat seinen Preis.* Ein paar Jahre später wird ihnen von der Stadt das Recht entzogen werden, Inobhutnahmen aufzunehmen – also Mädchen zu beherbergen, die von zu Hause abgehauen sind. Jetzt dürfen sie nur noch Mädchen aufnehmen, die ihnen vom Jugendamt zugeteilt werden.

Das Mädchenhaus, in dem ich bin, ist ein großes Haus mit mehreren Etagen. Ungefähr zehn bis zwölf Mädchen wohnen dort, es ist wie eine große Wohngemeinschaft, in der jede ihr eigenes Zimmer hat. Je zwei Mädchen teilen sich ein Bad, und die Küche und der Gemeinschaftsraum sind für alle offen. Es ist immer eine Betreuerin anwesend, und einmal die Woche haben wir die Möglichkeit, allein mit der Psychologin zu sprechen – Frau Schneider. Ungefähr eineinhalb Jahre, also bis ich knapp 19 bin, darf ich dort bleiben. In dieser Zeit mache ich mein Abitur – und das, obwohl ich den größten Teil der Oberstufe geschwänzt habe. Irgendwie kriege ich es nicht mehr hin, in die Schule zu gehen. Nur wenn eine Klausur ansteht, lasse ich mich dort blicken. Den Stoff dafür lerne ich selbstständig am Abend zuvor aus den Schulbüchern.

Meine Eltern interessiert das nicht, denn sie haben nach dem Gespräch auf dem Jugendamt den Kontakt zu mir abgebrochen. Später haben mir meine Geschwister erzählt, dass meine Eltern ihnen auch nicht erklärt haben, wo ich bin und warum ich nicht mehr da bin. Ihnen wurde nur gesagt, dass ich nicht mehr da bin, und anschließend wurden die Aufgaben, die ich im Haushalt übernommen habe, auf die beiden verteilt. Das älteste Kind ist weg, wer macht jetzt die Wäsche?

Dass meine Eltern nie nach mir fragen, macht mich fertig. Denn ich bin ja nicht nur wegen meines eigenen Wohls weggelaufen. Ich hatte Hilfe holen wollen. Ich hatte wirklich ernsthaft gedacht, wenn ich weglaufe und mich an jemanden wende, dann werden die Dinge anders. Stattdessen ändern meine Eltern jetzt permanent ihre Telefonnummer und sie gehen nicht mehr direkt ran. Sie warten so lange, bis der Anrufbeantworter sich einschaltet, hören dann, wer es ist – und wenn ich es bin, heben sie nicht ab.

Anfangs darf ich meine Geschwister auf Drängen meiner Mädchenhaussozi noch einmal die Woche sehen, später dann nicht mehr. Denn meine vier Jahre jüngere Schwester haut eines Tages ebenso ab – zu uns ins Mädchenhaus. Da meine Mutter und die Jugendamtsfallbearbeiterin mich für einen schlechten Einfluss halten, darf meine kleine Schwester nicht bei uns bleiben. Sie kommt in ein anderes Heim – und von da direkt zurück nach Hause.

Dass ich das Böse in Person bin, zeigt mir nicht nur das Verhalten meiner Eltern, die sich von mir abschotten. Nein, das zeigen mir auch die anderen Erwachsenen meiner Familie. Meine Omas befinden, es sei besser, wenn wir uns nicht mehr sehen, „wegen dem Mist, den du da machst“. Ich sei, so schreiben sie mir, egoistisch, und es mache sie so unfassbar traurig, dass ich meinen Eltern „das antue“. Und ich solle dringend aufhören zu lügen.

Erst mit Mitte dreißig werde ich wieder ein bisschen Kontakt zu meiner Mutter haben. Denn dann wird sie sich von meinem Stiefvater getrennt und einen neuen Mann geheiratet haben. Und so bekomme ich eine ganz kleine Schwester, die die 22 Jahre Altersunterschied zwischen uns megaspannend findet und mich unbedingt regelmäßig sehen will. Ich rede bis heute mit meiner Mutter und meinen Omas nicht über das, was geschehen ist. Dass ich das schwarze Schaf bin, ein Mensch, der nichts auf die Reihe kriegt und der lügt wie gedruckt, das denken sie bis heute. Und dass sie das tun, tut immer noch weh. Dass ich zur Täterin und Aussätzigen abgestempelt wurde, weil ich Hilfe holen wollte, prägt mich bis heute. Genau wie die Eiseskälte im persönlichen Umgang. Irgendwann später werde ich herausfinden, dass meine Mutter jahrelang dachte, ich hätte heroinabhängig auf dem Drogenstrich gestanden. Aber selbst diese Vermutung war für sie kein Anlass, mich zu kontaktieren – nur der Beweis dafür, dass ich verkommen bin. Man hat es ja schon immer gewusst, das Kind war ja von Geburt an irgendwie komisch.

Von Heroin abhängig war ich nie und auf dem Strich habe ich auch nie gestanden. Stattdessen waren es Koks, Crystal, sehr viel Gras und Alkohol und Wohnungsbordelle sowie Escortdates. So weit von der Wahrheit war meine Mutter also mit ihrer Vermutung dann doch nicht entfernt.

Irgendwann geht auch das einjährige Praktikum, das ich nach dem Abitur mache, dem Ende zu. Und ich muss aus der Mädchenzuflucht ausziehen. Das bedeutet für mich, einen Umzug in die nächstgelegene Großstadt zu planen. Denn dort möchte ich gern studieren.

Normalerweise gibt es in einem solchen Fall etwas, das sich „Nachbetreuung“ nennt. Die Jugendliche zieht aus dem Wohnheim aus und bekommt beim Gang zu Ämtern und Behörden Hilfe. Einmal die Woche (oder bei Bedarf öfter) bekommt sie Besuch von einer Sozialarbeiterin aus dem Mädchenhaus, und bei dieser Gelegenheit kann alles besprochen werden, was so anliegt. Auch die Therapie fortzuführen ist möglich. Die Miete, die Kaution und eine Möbelerstausstattung übernimmt in einem solchen Fall das Jugendamt, um einen guten Start zu gewährleisten. Dass man Hilfe vom Jugendamt bekommt, kann der Fall sein, bis man 27 Jahre alt ist. Ich kenne Mädchen aus dem Mädchenhaus, die diese Nachbetreuung haben. Sie wohnen in unserer Kleinstadt, haben eine eigene Wohnung und gehen ihrer Ausbildung nach.

Die Mädchenhausmitarbeiterin und die Psychologin Frau Schneider versuchen, all das auch für mich beim Jugendamt zu beantragen. Doch es wird alles mit zwei Begründungen abgelehnt: „Erstens ist die junge Volljährige für sich selbst verantwortlich. Zweitens zieht sie in eine andere Stadt und damit ist das hiesige Jugendamt nicht mehr zuständig.“

Der Auszugstermin rückt immer näher, und noch immer habe ich keine Wohnung, in die ich ziehen könnte. Denn um als junger Mensch einen Mietvertrag zu bekommen, braucht es Einkommensbescheide, die ich nicht habe. Ich habe keine Ahnung, wovon ich zwischen Auszugstermin und Beginn des Studiums die Miete zahlen soll. Das Jugendamt, normalerweise dafür zuständig, verweigert mir diese Hilfeleistung. Und die Bürgschaft, die ErstmieterInnen vorlegen müssen, kann ich erst recht nicht beschaffen. So etwas bekommt man normalerweise von den Eltern. Oder von einem solventen Erwachsenen, mit dem man in einem guten Vertrauensverhältnis steht. Ich kenne keine Erwachsenen, auf die das zutrifft oder die das für mich tun würden. Woher soll ich mehrere Hundert Euro Kaution nehmen? Woher kann ich jetzt die Miete bekommen für die Monate, in denen ich in der neuen Wohnung wohnen werde, ohne dass das Studium begonnen hat und ich damit Anspruch auf BAföG habe?

Also suche ich anstatt nach Wohnungen nach WGs – vielleicht ist es einfacher, dort reinzukommen? Ich fahre immer wieder in die nächstgelegene Großstadt, in die zu ziehen ich mir vorgenommen habe, um mir Wohngemeinschaften anzuschauen und mich dort zu bewerben. Ich stecke in einem Dilemma: ohne Einkommensnachweise keine Unterkunft, aber ohne Unterkunft zuckt auch kein Amt. Möbel, die ich in ein WG-Zimmer stellen könnte, habe ich auch nicht. Und wer würde überhaupt den Umzug finanzieren?

Und wenn ich mir für die paar Monate einen Job suche? Aber als Ungelernte müsste es Vollzeit sein und wer stellt da jemanden für zwei oder drei Monate ein? Ich bin verzweifelt. Ich weiß nicht, wie das alles geht.

Plötzlich stehe ich vor einem Berg von Formularen und Ämterzuständigkeiten, die ich nicht durchblicke. Aus all meinen Träumen von einer Wohnung und einem Studienbeginn werden Anträge. Bevor ich aus dem Mädchenhaus ausziehe, kommt es zu mehreren Terminen auf dem Jugendamt, die sämtlich katastrophal verlaufen.

Eine Wohnung würde ich so nicht finden, sagt man mir, unterstützen würden sie mich allerdings auch nicht, sie seien einfach nicht mehr zuständig. Die MitarbeiterInnen geben mir noch ein paar Tipps, mit denen ich überhaupt nichts anfangen kann – ich glaube nicht, dass sie meinen Fall wirklich verstehen. Während dieser Gespräche bekomme ich regelmäßig das Gefühl, ein Störenfried zu sein, und die Schwarzmalerei der Jugendamtsmenschen nutzt mir überhaupt nichts. „Ist denn nichts geerbt worden?“, fragt mich Frau Schulze. „Und kannst du nicht deine Oma fragen, ob sie dir aushelfen und deinen Lebensunterhalt für ein paar Monate bestreiten kann?“ Neben mir sitzt die Psychologin des Mädchenhauses, die sich sehr einsetzt und schwer atmet. „Haben Sie überhaupt mal in die Akte dieses Mädchens geschaut?!“, ruft sie. Es nutzt nichts, und ich werde immer verzweifelter und trauriger. Was soll ich denn jetzt machen? Ich sitze vor einem Haufen Anträge, die mir rein gar nichts bringen, weil keiner, einfach keiner zuständig ist für mich. Immer wieder werde ich auf meine Eltern verwiesen. „Deine Eltern sind zuständig“, sagt Frau Schulze. „Die müssen sich kümmern.“

Ja.

Tun sie aber nicht.

Durch die ewige Telefonnummerwechselei habe ich nicht mal mehr die Möglichkeit, sie zu erreichen. Das betone ich auch immer wieder. „So was gibt es nicht, das haben wir hier noch nie erlebt“, bekomme ich daraufhin gesagt. Das gibt es aber und ich sitze mittendrin. Und bekomme das Gefühl, richtiggehend ausgesetzt zu werden. Von einem Amt, das doch eigentlich täglich mit Menschen in Extremsituationen konfrontiert wird. „So was hatten wir hier noch nie“, „Das kann ich mir ja gar nicht vorstellen“, „Da weiß ich jetzt auch nicht weiter“, bekomme ich zu hören.

Der Auszugstermin rückt immer näher. Ich fühle mich ausgesperrt, ausgegrenzt. Nur schnell weg mit diesem Mädchen, hat sowieso immer zu viel Arbeit gemacht. Ich werde einfach abgestempelt – Hauptsache, der Stempel prangt unter dem richtigen Antrag. Es fühlt sich an wie eine gezielte Desozialisierung. Ich erkundige mich bei weiteren Ämtern, aber keines will mir Informationen darüber geben, was ich beantragen könnte, was mir zustünde. „Wohnen Sie denn schon hier? Haben Sie eine Wohnung? Nein? Dann sind wir auch nicht zuständig.“ Ich könnte heulen. Mir wird klar, dass ich völlig auf mich allein gestellt bin. Während andere in diesem Sommer mit der Unterstützung ihrer Eltern in neue Städte ziehen, habe ich nicht mal eine Wohnung oder ein Zimmer. Und mir wird klar: Die MitarbeiterInnen der Ämter verstehen meine Lage nicht. Die sind überfordert mit mir. Und ich bin es auch. Wenn das so weitergeht, stehe ich mit dem Auszugstermin auf der Straße. Aber ich will überleben. Ich weiß, wie das geht. Ich muss handeln.

In dieser ausweglosen Situation kommt mir die Idee, anschaffen zu gehen. Ich muss hier raus, aber ich habe kein Geld und keinen Durchblick und niemand hilft mir. Die Cousine eines Mädchens aus der Zuflucht ist Prostituierte. Und ich überlege, ob ich das wohl auch könnte. Irgendwie scheint das für mich die einzige Lösung zu sein, denn in diesem Wirrwarr blicke ich nicht mehr durch, und egal wie oft ich meine Lage schildere, entweder wird sie nicht verstanden oder man ist nicht zuständig. Ich frage mich, ob sich das, was die jungen Männer sonst mit mir machen, so sehr von dem unterscheidet, was man Prostitution nennt. Es tut mir doch nichts, denn ich bin ja kaum richtig anwesend. Und augenscheinlich ist das der Platz, der für Menschenmüll wie mich vorgesehen ist, oder? Das ist der Eindruck, der sich in mir verfestigt.

Und so beginne ich, den „Glotz nicht so, bei mir kostets was und so viel hast du eh nicht“-Spruch, den ich öfter bringe, wenn ich belästigt werde, ernst zu meinen. Pfeift mir auf der Straße einer hinterher, zeige ich ihm nicht mehr den Mittelfinger. Sondern ich gehe hin und sage: „Soundso viel Euro.“ Schon zwei Wochen später geht der erste Mann darauf ein. Er heißt Bahir, kommt aus Bosnien und lacht erst mal, als ich ihm sage, dass es bei mir was kostet. Dann wird er ernst. Wir setzen uns auf eine Parkbank und handeln. Ich sage ihm nicht, dass dies das erste Mal als Prostituierte für mich ist – zu groß ist meine Angst, er könnte meine Unerfahrenheit ausnutzen. Da ich keine Ahnung von den üblichen Preisen habe, schlage ich 70 Euro für zwei Stunden vor. Und nur mit Kondom. Als er fragt, wie genau der Sex vonstattengehen wird und was er alles mit mir machen darf, verspüre ich einen Anflug von Übelkeit, den ich aber schnell unterdrücke. Los jetzt, dränge ich mich, mach das. Wenn du das kannst, weißt du, dass du zumindest irgendwie überleben wirst. Für mich ist das eine Lebensversicherung. Wenn alle Stricke reißen, und danach sieht es aus, kann ich immer noch das. Das hier ist mein doppelter Boden. Bahir sagt, er habe das noch nie gemacht, aber er finde mich schön, und wenn ich nicht anders zu haben sei, dann eben so.

Fünf Tage später ruft er mich an und ich gehe zu ihm in die Wohnung. Mir graust davor, aber ich zwinge mich, hinzugehen – sogar pünktlich. Vor der Tür atme ich noch einmal ganz tief durch. Los jetzt, sage ich mir. Es geht um was. Den Wirrwarr in meinem Kopf ersetze ich durch zwei Mantren: Ich werde gut schauspielern und ich werde die Kontrolle behalten.

Es ist merkwürdig, das jetzt zu schreiben, aber im Grunde war es gar nichts Besonderes. Wäre es nicht um Geld gegangen, hätte ich wohl vorher nicht so sehr gezweifelt. Ich komme also in die Wohnung rein, gehe erst mal ins Bad, dann rauche ich eine und wir unterhalten uns auf der Couch. Er hat schon diesen komischen Blick drauf und seine Hände sind verdächtig in Schrittnähe. Ich erwische mich natürlich bei dem Gedanken, mich drücken zu wollen, aber diese Situation jetzt abzubrechen, kommt überhaupt nicht infrage. Er fragt, ob die Zeit schon laufe, und ich sage, natürlich tue sie das. „Warum bist du dann noch angezogen?“ Ich schlage die Beine übereinander, grinse ihn rotzfrech an und sage: „Weil: erst die Kohle.“ Woraufhin er brav Folge leistet. Er zahlt mir erst mal das Geld für eine Stunde, und dann wird es ernst. Couch oder Bett? Bett. Fernseher anlassen? Ja, bitte.

Ich stehe also vor seinem Bett, ziehe mich aus und empfinde nichts dabei. Und davon bin ich nicht einmal sonderlich überrascht. Wenn ich ehrlich bin, ist es vielleicht sogar so was Ähnliches wie „Demütigung und stolz darauf“. Was solls, was Besseres ist für mich eh nicht drin, also soll er doch machen und ich mache sogar noch mit, irgendwie eiskalt und distanziert und ironisch zwar, aber so ist es eben jetzt. Ich hatte mir das ganz anders vorgestellt: mit ganz und gar widerwärtigem heißem Atem und ekelhafter körperlicher Nähe. Vielleicht auch den Versuchen, mich zu küssen oder mir in die Haare zu gehen. Ich hatte mir vorgestellt, meinen Ekel verbergen zu müssen. Muss ich alles gar nicht. Es geht echt nur ums Ficken. In meiner Vorstellung war alles dunkel und heiß und erdrückend, aber hier ist es hell und irgendwie sehr fern und auch angenehm kühl – ich fühle nichts. Am Anfang tut es irre weh und ich zucke bei jedem Stoß weg, Bahir merkt das und bewegt sich anders. Entweder ich dissoziiere zu sehr oder es tut jetzt wirklich nicht mehr weh. Da ich auch sonst überhaupt nichts merke, gehe ich davon aus, dass ich einfach aus meinem Körper ausgestiegen bin, und bin froh drum. Ich hatte mir das auch alles viel, viel ekliger vorgestellt, aber so absolviere ich eiskalt und souverän mein Pflichtprogramm. Im Endeffekt liege ich einfach nur da und lasse mich ficken und schaue dabei ab und an heimlich auf die Uhr, während ich mich wundere, dass die Zeit so elend langsam vergeht. Missionar und blasen und Löffelchen und aus die Maus. Dann setzen wir uns wieder auf die Couch und trinken Kaffee, und er besteht darauf, die letzten zehn Minuten noch „effizient zu nutzen“, also muss ich noch mal ran. Kurz schnauzen wir uns an, weil unsere Uhren ein paar Minuten Unterschied aufweisen, und er will mich überreden, auch noch die zweite Stunde zu bleiben, aber ich will nicht. Er sieht meine aufgeschnittenen Arme und ist der festen Überzeugung, ich würde fixen, egal wie sehr ich dagegenrede. „Was ist eigentlich los mit dir? Wo zur Hölle sind eigentlich deine Eltern?“, fragt er – wohlgemerkt, nachdem er mich gefickt hat. Ich zucke nur die Schultern. Geht ihn das was an? Ich finde nicht.

Ich glaube, ich bin eher schockiert von mir selbst, davon, was ich hier mitmache und mit mir machen lasse, als davon, wie er mit mir umgeht. Denn das finde ich durchaus noch ganz annehmbar, die Messlatte liegt da bei mir betrüblich weit unten.

Ich gehe also wieder, nachdem ich nicht mal mehr mitgekriegt habe, was er so murmelt von wegen Wiedersehen und so weiter. Ich glaub eher nicht, dass das passiert. Nichts von dem, was ich erwartet hatte, tritt ein: Ich bin weder verwirrt noch traurig noch aufgelöst oder fertig. Ich laufe zurück in die Mädchenzuflucht und bin einfach nur müde. Und ich frage mich, warum mir nicht die Oberschenkel schmerzen und warum ich auch sonst überhaupt kein Gefühl in meinem Körper und keinen Gedanken in meinem Kopf habe. Ich gehe einfach heim, dusche und mummel mich ins Bett. Ich hab noch nicht mal geweint. Da bin ich richtig stolz drauf.

Auch am nächsten Tag empfinde ich nichts. Nur Leere, aber die schmerzt ja nicht. Irgendwie ist es, als wäre das alles gar nicht wirklich passiert, und ich gehe weiter zu meinem Praktikum im Jugendclub der Stadt. Ich sage keiner der Betreuerinnen etwas davon. Kurz habe ich das Bedürfnis, es der Psychologin im Mädchenhaus zu sagen. Die dreht gerade völlig durch und ist am Rudern, kommt sie mit zu den Jugendamtsgesprächen, wird es regelmäßig laut. Aber das Amt hat die Nachbetreuung für Jugendliche, die in andere Städte ziehen, seit diesem Jahr gestrichen, und noch niemand hat einen Alternativplan für das, was stattdessen angeboten werden könnte. Ich bin ein Zwischenfall – eine, die überall dazwischenfällt. Und so sage ich nichts von meinem ersten Freier – es würde ja sowieso nichts ändern. „Es geht nicht, dass diese Jugendliche hier mit dem Gefühl rausgeht, sie könnte auf der Straße landen“, streitet Frau Schneider. Es nutzt nichts. Es wird überhaupt nichts genehmigt. Keine Übernahme der Kaution, keine Übernahme der Miete für drei Monate, bis das BAföG kommt, keine Erstausstattung Möbel, keine sozialarbeiterische Betreuung, und zum Schluss streichen sie auch noch die Therapie bei ihr, ich stehe buchstäblich mit nichts da. Wobei, nein, das stimmt eigentlich nicht. Gute Ratschläge bekomme ich nämlich noch vom Jugendamt: „Es nutzt ja nichts, wir unterstützen dich nicht mehr, aber mir ist da noch was eingefallen“, sagt Frau Schulze und ich horche auf. „Der Gedanke ist mir gestern Abend gekommen. Du kannst doch einfach wieder bei deinen Eltern einziehen! Die sind nämlich für dich verantwortlich!“ Ich sitze da und glaube gerade an gar nichts mehr.

Noch am selben Nachmittag ruft Bahir mich wieder an und ich gehe zu ihm. Diesmal bin ich so verzweifelt und aufgelöst von der Gesamtsituation, dass ich meine Tränen mit Schmerz- und Beruhigungsmitteln unterdrücke und mich ordentlich zuknalle, noch bevor ich bei ihm klingel. Schwer zu beschreiben, was diesmal in Bahirs Wohnung und in seinem Bett abgeht. Ich fühle mich nicht gut, die Tabletten schlagen durch, allerdings nicht so, wie ich es will. Ich fühle meinen Körper und finde nicht raus, andererseits bin ich völlig breit, alles, was Bahir sagt, höre ich wie hinter einem Schleier, einem Vorhang, der alles dämpft. Kaum bin ich also in seiner Wohnung, macht er sich über mich her, und ich packe es nicht, aus mir auszusteigen – meine Gefühlslage ist an diesem Tag viel zu desolat. Ich bin verwirrt, weil ich es nicht schaffe, aus mir rauszugehen, und fühle mich immer hilfloser und ängstlicher. Ich kann meine Fassade nicht aufrechterhalten und trotz der Schmerzmittel tut es verdammt weh. Ich beiße die Zähne zusammen, aber es nutzt nichts, er merkt es. „Tut weh?“, fragt er, und als ich nicke, zischt er hämisch: „Kannste mal sehn, du kleine Schlampe!“, grinst schmierig und hämmert weiter in mich rein, während ich in meine Faust beiße.

Als er fertig ist, kocht er Kaffee. Ich sitze auf der Couch und mir kommen die Tränen, ich weiß gar nicht, was ich tun soll. Wieso zum Teufel fühle ich was?! Wieso ist mir das hier nicht egal?! Beim ersten Mal war das doch auch nicht so – wieso bricht das alles ausgerechnet jetzt durch, wo ist mein Selbstschutz hin? Ich empfinde eine derartige Abscheu und Traurigkeit, dass ich mir nicht vorstellen kann, mich hier auf eine zweite Runde einzulassen, obwohl das ja eigentlich so ausgemacht war. Also verkrümel ich mich ins Bad, um eine zu rauchen. Verzweifelt versuche ich dort, mich wieder zu fangen, aber irgendetwas läuft heute ganz gewaltig schief. Ich kann mir im Spiegel kaum mehr in die Augen sehen – es ist, als stünde dort eine Fremde, an die ich aber eben leider gekettet bin.

Wir sitzen dann auf der Couch und trinken Kaffee, und ich versuche, Bahir in ein Gespräch zu verwickeln, um Zeit zu schinden, aber er wird viel zu persönlich, und ich erschrecke zutiefst, als er mir mitteilt, dass er herausgefunden hat, wo ich wohne – in der Mädchenzuflucht.

Er will mich dann noch mal in die Kiste schleifen, aber ich weiß genau, dass ich jetzt nicht mehr kann. Das geht nicht. Jetzt nicht und vielleicht überhaupt nicht mehr. Ich sage Nein, und da fängt er an, mich zu betexten, ich sei viel zu jung, um zu wissen, wie das geht, und ich sei doch total drauf und dass das so nicht gehe. Und dann geht es ums Geld. Ich weigere mich, ihm so viel zurückzuzahlen, wie er möchte, schmeiße ihm dann aber schlussendlich einen Schein hin, denn die ausgemachte Zeit ist ja wirklich noch nicht um, und verlasse fluchtartig die Wohnung. Er ruft mir noch irgendwas von „Beim nächsten Mal geht das hier anders!!!“ ins Treppenhaus hinterher, aber das höre ich schon kaum mehr. Ich bin nur noch angewidert und will unbedingt hier weg.

Draußen verschwinde ich erst mal um die Ecke und zünde mir eine an. Unglaublich, dass das alles nur eine Dreiviertelstunde gedauert hat, es hat sich gezogen wie Leim, unfassbar, dass Albträume so lange dauern. Ich fühle mich ganz und gar komisch. Nicht leer. Falls da eine Leere ist, wird sie überlagert von Wut. Ganz viel Wut. Und ganz viel Trauer und Kummer und Hilflosigkeit. Und Scham. Eine unfassbare Abscheu wohnt jeder meiner Zellen inne und vielleicht bleibt sie für immer. Am liebsten würde ich irgendwas zertrümmern. Am liebsten würde ich weinen. Ich tue nichts davon. Weil ich doch weiß, dass da keine Hände sind, die mich auffangen, nicht jetzt und auch nicht später. Also reiße ich mich zusammen. Hilft auch nichts, ich muss mir selbst helfen und dabei sollte ich mich nicht mehr so anstellen. Am nächsten Tag habe ich wahnsinnige Schmerzen im Unterleib. Ich sage niemandem etwas davon.

Ein paar Wochen später ziehe ich aus.

Dass ich nirgendwo hingehöre, stimmt allerdings so doch nicht. In einige bestimmte Statistiken gehöre ich nämlich – und zwar als Durchschnittswert. In der deutschen Prostitution sind 6 Prozent der Frauen zwischen 18 und 20 Jahre alt – so wie ich zu diesem Zeitpunkt. 76 Prozent sind zwischen 21 und 44 Jahre alt, 17 Prozent älter als 45 Jahre. Im Schnitt ist eine Frau, die in Deutschland anschafft, 26 Jahre alt. Im Rahmen einer Studie gaben von 54 Hamburger Prostituierten immerhin 22 an, bei ihrem Eintritt in die Prostitution noch minderjährig gewesen zu sein – das sind 41 Prozent.9

Auch in eine andere Statistik passe ich gut: Während der Durchschnittsanteil der Menschen in der Bevölkerung, der mit nur einem Elternteil oder aber in Pflege-, Adoptivfamilien oder Heimen aufwächst, bei 19 Prozent liegt, sind es bei Frauen in der Prostitution 53 Prozent.10

Traumata, das Herausgerissensein aus familiären Bindungen, ein zerstörtes Sicherheitsgefühl und die Abhängigkeit vom Jugendhilfesystem sind also Risikofaktoren, die zum Einstieg in die Prostitution beitragen. Und das wundert nicht – jede und jeder, der oder die sich schon mal mit Ämtern und Behörden, den Formularen und dem Papierkrieg herumschlagen musste, weiß, dass es unter Umständen schwer sein kann, etwas zu beantragen. Für traumatisierte Jugendliche, die Probleme haben, ihren Alltag auf die Reihe zu kriegen, die mit den Dämonen der Vergangenheit kämpfen und an einem beschädigten Selbstwertgefühl leiden, ist es noch hundertmal schwerer, sich berechtigt zu fühlen, etwas zu beantragen, sich durch den Formulardschungel zu kämpfen und standhaft auf die eigenen Rechte zu bestehen. Das alles kostet nämlich Kraft, Zeit und Nerven. Und die brauchen Menschen, die in einer solchen Situation sind, schon für andere Dinge.

Wem das noch nie so ging, der oder die schätze sich glücklich. Wie oft habe ich schon gehört: „Wir leben in einem Rechtsstaat, was die da getan haben, war rechtswidrig“ – aber was nutzt einem das, wenn man in dieser Situation steckt? Rechte muss man manchmal durchsetzen und das kostet Zeit und man benötigt meistens Beistand. Menschen, die keinen Beistand haben, können ihre Rechte oft nicht wahrnehmen. Deutschland hat ein Sozialsystem, ja. Aber das hat große Löcher. Zu oft wird gesagt: „Wir sind nicht zuständig“, obwohl das nicht stimmt. Zu oft wird zu wenig gezahlt oder gar nichts und es folgt ein monatelanger Papierkrieg. Gerade bei solch existenziellen Dingen wie der Grundsicherung sollte so etwas nicht vorkommen.

Ich stehe nicht sofort auf der Straße. Im August habe ich in der Stadt, in der ich mich für das Studium eingeschrieben habe, eine WG gefunden, in der ich ohne Einkommensnachweise wohnen kann. Ich habe also etwas, wo ich hinkann, nachdem die Jugendhilfe endet. Eine Mädchenhausmitarbeiterin fährt mich und meine Sachen dorthin. Möbel habe ich keine. In meinem Zimmer stehen jetzt eine Matratze und sehr viele Pappkartons, in denen sich meine Habe befindet. Es gibt keine Glühbirne, denn nicht mal für die habe ich Geld.

Meine Eltern sind unterhaltspflichtig, aber sie zahlen nicht, und ich habe nicht die Kraft, sie zu verklagen. Ich weiß auch gar nicht, wie das geht. Alles, was ich dahingehend gerade noch hinkriege, ist, meiner Mutter einen Brief zu schreiben, in dem ich sie auf die Unterhaltspflicht aufmerksam mache. Es braucht lange, bis sie zurückschreibt, und der Brief ist sehr kurz. Es steht eigentlich nur drin, dass sie keinen Unterhalt zahlen kann. Der Brief ist nicht mal unterschrieben, kein „Mutti“ oder Ähnliches. Ich verstehe, was das heißen soll: Ich bin nicht mehr ihr Kind. Außerdem lässt sie mir ausrichten, dass sie „sehr enttäuscht“ davon sei, dass ich jetzt „rechtliche Schritte“ einleite, wo ich doch jahrelang keinen Kontakt wollte. Das stimmt so allerdings nicht – ich wollte nur keinen Kontakt zu meinem Stiefvater, vor dem ich immer noch Angst habe. Und es waren schließlich meine Eltern, die mehrfach ihre Telefonnummer geändert haben – und nicht rangehen, wenn ich anrufe. Es geht mir schlecht damit, und den Brief zu schreiben, hat mich viel Kraft gekostet. Denn die rechtliche Sache ist immer die eine. Meine Nerven aber sind so runter, dass ich mich frage, ob ich von meinen Eltern überhaupt irgendwas verlangen darf, wo sie doch sozusagen gar nichts mehr von mir haben. Egal wie oft die Psychologin Frau Schneider mir sagt, dass ich ein Recht auf die Unterstützung meiner Eltern habe und sie jedem Kind normalerweise zuteilwird – es fühlt sich nicht so an.

Meine Eltern zahlen aber nicht nur keinen Unterhalt, sie füllen auch monatelang ihren Teil des BAföG-Antrags nicht aus. Bei meinem Auszug aus dem Mädchenwohnheim war mit Frau Schulze vom Jugendamt ausgemacht worden, das Kindergeld, das meine Eltern jetzt schon seit zwei Jahren zu Unrecht beziehen, endlich auf mich umzuleiten und die Unterschriften für den BAföG-Antrag einzuholen. Aber Frau Schulze tut nichts, also stehe ich Mitte Oktober ohne BAföG da, obwohl das Studium bereits angefangen hat. Für den September hat das Sozialamt mir nach heftigem Gerangel mit Frau Schneider 290 Euro gezahlt. Das reicht, um im September die Miete zu zahlen, aber für sonst nichts. Alle Seiten gehen davon aus, dass ich Kindergeld und Unterhalt bekomme, aber dem ist nicht so. Das Geld vom Sozialamt ist zudem nur ein Darlehen, und ich habe keine Ahnung, wovon ich es zurückzahlen soll – und wann. Wäre Frau Schneider nicht gewesen, hätte ich nicht mal das bekommen. Sämtliche Ämter melden mir zurück, ich würde sowieso nichts bekommen, es sei viel zu kompliziert und ich möge es doch besser gleich lassen. Ich suche nach Nebenjobs, aber der Verdienst ist viel zu gering, als dass er mir helfen würde, ich müsste Vollzeit arbeiten, damit ich es hinkriege, und niemand möchte eine Studentin auf Vollzeit einstellen. Mit all dem Ämterkram, meinem Trauma, den Existenzängsten, dem Studium bin ich völlig überfordert.

Ab Oktober kann ich also die Miete nicht mehr zahlen. Den ganzen Oktober tauche ich zweimal wöchentlich auf dem BAföG-Amt auf und versuche, meine Lage zu schildern und den BearbeiterInnen klarzumachen, dass meine Eltern den Antrag nicht ausfüllen und unterschreiben werden. Ich erhoffe mir Hilfe und konkrete Lösungsvorschläge. Aber meine Eltern bekommen noch eine achtwöchige Frist; und dann noch mal eine und noch mal eine; und noch mal eine. Als ich einmal anfange zu weinen und den Abteilungsleiter sprechen will, meint der, man könne da gar nichts machen und das sei mein Problem und meins allein. Auf meine Frage, ob es so etwas wie eine BAföG-Vorauskasse gebe, teilt er mir mit, dafür müsse ich einen gültigen Unterhaltstitel oder ein Gerichtsurteil vorlegen. So was habe ich nicht und kann ich auch kräftemäßig nicht mehr erkämpfen. Ich habe nichts, gar nichts, keine Dokumente, nicht mal mehr eine Geburtsurkunde. Der Abteilungsleiter entlässt mich aus der Audienz bei ihm mit den Worten: „Wenn Eltern und Kinder keinen Kontakt mehr miteinander haben, sind meistens die Kinder schuld. Ich kenne so was: jugendlicher Leichtsinn und adoleszente Rechthaberei. Vielleicht gehen Sie noch mal tief in sich und entschuldigen sich, ich bin mir ganz sicher, Sie haben da einen sehr großen Anteil daran. Und verklagen Sie Ihre Familie bloß nicht, das macht den Zwist nicht besser. Außerdem dauert so ein Prozess Jahre, bis dahin sind Sie eh verhungert, lassen Sie es einfach.“ Als ich rausgehe, bin ich völlig verzweifelt und fühle mich fast wie eine Täterin – schuldig und unfähig. Vielleicht hat er recht? Vielleicht tue ich meinen Eltern hier etwas an? Warum verschwinde ich nicht einfach, lautlos und ohne einen Pieps?

Was jedenfalls verschwindet, sind meine Lebensmittelvorräte. Denn ich habe zu diesem Zeitpunkt noch genau einen halben Sack Kartoffeln, eine Scheibe Brot, ein Glas Marmelade und 2 Euro – und mein erstes Proseminar an der Uni. Es fällt mir wahnsinnig schwer, zur Uni zu gehen. Ich habe das Gefühl, dort nicht hinzugehören, ich fühle mich, als wäre ich zu Unrecht dort – wie eine Hochstaplerin. Wenn ich mir das so schwer erkämpfen muss, sollte ich vielleicht gar nicht hier sein? Da muss doch was faul sein – wenn es nicht mal meine Eltern interessiert, ob ich verhungere oder auf der Straße lande, muss doch was mit mir nicht stimmen? Vielleicht bin ich ja wirklich so eine Ballastexistenz, die nicht da sein sollte – so, wie es mir von meinen Eltern und von den Ämtern rückgemeldet wird?

Meine Kommilitoninnen haben im ersten Semester auch sichtlich zu kämpfen, um durchzublicken. Allein den Stundenplan zu basteln, ist eine Kunst für sich. Für mich kommen noch mehr Fragen dazu: Bin ich jetzt eigentlich krankenversichert? Wie läuft das? Wie kann ich das mit meinen Eltern klären, die nicht mit mir sprechen wollen? Wovon soll ich diesen Monat die Miete zahlen? Und nächsten? Und was werde ich morgen essen? Wie soll ich in den Veranstaltungen mitkommen, wenn ich die Bücher und die Reader nicht bezahlen kann?

Irgendwann im November, als sich die Lage weiter zuspitzt, taucht die Mädchenhaustherapeutin Frau Schneider bei mir in der WG auf. Sie steht in meinem Zimmer, zwischen den Kisten und der Matratze, und schaut sich um. „Ich kann nicht mehr“, platzt es aus mir heraus und ich breche völlig zusammen. Sie schüttelt den Kopf und meint: „Das Einzige, was mich wundert, ist, wie du das so lange durchgehalten hast.“ Dann fährt sie mich in eine Klinik.

Bei der Aufnahmeuntersuchung stellt die Ärztin fest, dass ich massiv unterernährt bin. Mit dem Essen werde ich auch weiterhin Probleme haben. Denn wenn ich meinen Eltern nicht wert bin, mich zu ernähren, wieso sollte ich es mir dann selbst wert sein? Und ist es nicht besser, ich verhunger einfach, mach mich vom Acker, und zwar möglichst leise? Dann störe ich auch keinen mehr und stelle keine Ansprüche, die mir augenscheinlich nicht zustehen. Die Ärztin beim Aufnahmegespräch ist sehr nett. Sie fragt, warum ich hier bin und was zu Hause los war. Frau Schneider antwortet für mich: „Missbrauch und emotionale Vernachlässigung, aktuell kulminierend in Verhungernlassen“ – als ich sie frage, ob das wirklich so ist, schließlich bin ich ja die, die in der Klinik ist und damit hochoffizell einen an der Klatsche hat, sagt sie: „Du sitzt hier, weil du eine inkompetente Sachbearbeiterin und Scheißeltern hast, und nicht, weil etwas mit dir nicht stimmt.“ Ihre Worte dringen leider nicht zu mir durch – ich fühle sie nicht. Gefühlt bin ich draußen. Ganz weit draußen aus der Gesellschaft.

In der Klinik bleibe ich lange, ein halbes Jahr. Wir kommen gar nicht dazu, mein Trauma aufzuarbeiten. Es ist zu viel zu tun, mich irgendwie stabil zu halten. Dafür aber gibt das Personal alles. Wenn ich nachts Wutanfälle auf meine Eltern kriege, weil sie nicht mal mit mir reden, kommt der Arzt sofort und brüllt mit mir im Klinikpark Mauern an. Am nächsten Tag ist er heiser, aber „das wars wert“. Die Schwestern überzeugen mich davon, dass Sachen kaputtgehen dürfen, ich allerdings nicht. Bisher hatte ich immer gedacht, es wäre andersrum. Wenn sie merken, dass ich unter so einem Druck und so einer Anspannung stehe, dass ich kurz davor bin, mir wieder die Arme aufzuschneiden, geben sie mir Tassen aus dem Geschirrschrank („Die sind eh hässlich.“) und schicken mich in ein nahe gelegenes Abrisshaus, wo ich sie an die Wände werfe. Manchmal trete ich dort ein paar Türen ein, irgendwo muss ich mit meiner Wut ja hin.

Es geht mir sehr schlecht zu diesem Zeitpunkt, ich habe immer wieder richtige Abstürze. Schlafen kann ich vor lauter Anspannung und Angst kaum. Ich fühle mich wertlos und hege Suizidgedanken, am liebsten möchte ich nicht mehr aufstehen.

Manchmal meldet sich meine Oma. Sie ruft entweder die Schwestern an und versucht, sie davon zu überzeugen, dass ich lüge, oder sie schreibt mir Postkarten, auf denen sie mir mitteilt, wenn ich nicht abgehauen wäre, wäre ich jetzt auch nicht in der Klinik, und alle seien „sehr traurig“ über mein „egoistisches Verhalten“. Mein richtiger Vater, mein Erzeuger, von dessen Existenz ich seit dem ersten Jugendamtstermin weiß, den ich aber noch nie getroffen habe, hat eine Unterhaltszahlung ebenfalls abgelehnt.

Manchmal meldet sich mein Stiefvater, um weiterhin ein paar Sachen zu verdrehen oder mir Vorwürfe zu machen.

Immer wieder höre ich, „so einen schlimmen Fall“ habe man noch nie erlebt, aber helfen kann mir scheinbar niemand. Die Einzige, die mir noch beisteht, ist die Therapeutin aus dem Mädchenhaus – und das völlig umsonst. Sie sorgt dafür, dass ein Termin auf dem Jugendamt stattfindet, bei dem auch der Allgemeine Soziale Dienst da ist. Dort kracht es richtig, erzählt sie mir. Der ASD befindet, es sei eine „Masse an unfassbaren Fehlern“ gemacht worden, aber was bringt es mir zu wissen, wer schuld ist? Ausbaden muss ja eh ich es. Aber endlich nimmt das Jugendamt zur Kenntnis, dass meine Eltern alles abblocken, was mit mir zu tun hat. Es wird noch einmal versprochen, mit ihnen darüber zu reden, dass der BAföG-Antrag ausgefüllt und das Kindergeld auf mich umgeleitet werden muss.

Ich fühle mich schwach und schuldig, wie eine Drückebergerin, die sich in der Klinik verkriecht, um andere machen zu lassen. Bis Anfang Januar lebe ich komplett ohne Geld und damit meine ich: komplett ohne. Ich habe nicht mal die 2,50 Euro, die man braucht, um in der Klinik Wäsche zu waschen, ich wasche sie immer im Waschbecken. Vor der Ergotherapie drücke ich mich oft, denn manchmal muss man dort ein paar Euro für die Materialien zahlen, und die habe ich nicht. Im Winter bin ich stark erkältet, habe aber nicht mal das Geld für Taschentücher oder Hustenbonbons. Und wäre ich nicht in der Klinik, hätte ich nicht mal was zu essen. In die WG traue ich mich nicht zurück, weil ich die Miete nicht zahlen kann. Als das Jugendamt meiner Heimatstadt mich im Winter zu einem Gespräch einlädt, um mit mir „zu reden“, kann ich nur noch hämisch lachen. Denn ich habe natürlich auch kein Zuggeld, um dort hinzufahren.

So geht das die ganze Zeit. Und es macht mich richtig fertig. Hinzu kommt, dass die Vermieterin natürlich irgendwann die Kündigung schickt, und damit stehe ich am Rand der Obdachlosigkeit.

Als ich im Januar endlich das erste Mal Kindergeld und BAföG bekomme, zahle ich sofort alle Mietschulden zurück. Übrig bleibt nichts. Raus muss ich trotzdem, und einen Nachweis über Mietschuldenfreiheit beziehungsweise darüber, dass ich immer Miete gezahlt habe, kann ich mir natürlich abschminken. Jetzt wird es noch schwerer, eine Bleibe zu finden. Hinzu kommt, dass ich nicht den BAföG-Höchstsatz bekomme. Das, was zum Unterhalt fehlt, soll ich von meinen Eltern eintreiben. Und dann bleibt das BAföG wieder ganz aus – „wegen Krankheit“. Ich soll es neu beantragen. Damit stehe ich direkt nach der ersten BAföG-Zahlung wieder vor dem Nichts. Die Sozialberatung in der Klinik drückt mir einen Sozialhilfeantrag in die Hand. Das wars. „Die müssen“, sagen sie.

Aber das alles kenne ich schon. Und noch mal schaffe ich es nicht, das durchzukämpfen. Ich kann nicht mehr. Und das Studium kann ich mir anscheinend auch abschminken, wie soll ich im zweiten Semester nachholen, was ich im ersten verpasst habe, wenn ich zugleich arbeiten und weiter mit meinen Eltern und Ämtern kämpfen muss? Das wars, ich muss handeln.

Als ich im kostenlosen Stadtmagazin eine Annonce sehe, in der ein Mann „eine Partnerin für einen seriösen Escortservice und für erotische Filme“ sucht, überlege ich nicht lange und schreibe ihm eine SMS. Denn handlungsunfähig zu sein, zu warten, mich rumzustreiten, mir blöde Sprüche anzuhören, allen so egal zu sein und abgespeist zu werden mit den „Nicht zuständig“-Stempelchen auf meinen Anträgen, das schaffe ich nicht noch ein zweites Mal. Mein Leben besteht nur noch aus Notfallplänen. Und es gibt so viele Sachen, um die ich mich kümmern muss. Das mit dem nachträglichen Urlaubssemester klären, eine Wohnung finden, einrichten, die Versicherungssache klären, die Übernahme einer Therapie durchsetzen, Möbel besorgen, einen Job, eine Sozialarbeiterin finden. Ich kann aber nicht mehr. Armut laugt unglaublich aus.

Armut ist nach einer sexuellen Traumatisierung und dem Gefühl der Abwertung aufgrund des weiblichen Geschlechts ein wesentlicher Faktor beim Einstieg in die Prostitution. Und das ganz unabhängig von der Nationalität – in Deutschlands Medien kursiert gerne eine Zweiteilung zwischen „armen Prostituierten aus Südosteuropa“ und „Studentinnen, die sich als freiwillige Sexarbeiterin was hinzuverdienen“. Diese Dichotomie kann ich aus meiner Erfahrung heraus nicht bestätigen. Auch in Deutschland gibt es Armut, und auch in Deutschland versagen Ämter und Behörden allzu oft, wenn es darum geht, Menschen aufzufangen, die kein soziales Netz haben.

Die meisten Einstiege in die Prostitution geschehen nicht freiwillig. Zwangsprostitution ist nicht nur dann Zwang, wenn ein Mensch einen anderen dazu bringt, anschaffen zu gehen. Auch äußere Umstände können einen Zwang darstellen.

Es wird oft davon gesprochen, jemand habe sich „dafür entschieden, sich zu prostituieren“. Diese Wortwahl suggeriert, die betroffenen Frauen hätten dabei vor einer Entscheidung gestanden, ergo eine Wahl gehabt. Eine Entscheidung ist aber die Wahl zwischen einer Option und mindestens einer Alternative. Sehr viele Frauen, die in die Prostitution gehen, haben aber keine Alternative, sehen diese nicht oder können sie nicht durchsetzen. Für sie wie für mich ist Prostitution die letzte und einzige Option.

Damit, ob man in einem „reichen“ Land lebt oder nicht, hat das oftmals nicht viel zu tun. Nicht nur wegen der Frage, ob der Reichtum gerecht verteilt ist. Sondern es steht ja auch die Frage im Raum, ob es nicht immer eine Art unterstes Drittel gibt, das am weitesten vom Durchschnittsvermögen der Gesellschaft entfernt ist, in der es lebt. Aus genau dieser Schicht rekrutiert sich das Angebot für Prostitution. Armut ist ein Einstiegsgrund. Frauen, die in die Prostitution gehen, sind alleinerziehende Mütter, die ihre Kinder nicht über die Runden kriegen, junge Mädchen, die „aus dem Nest“ gefallen sind und keine Unterstützung bekommen, Menschen, die ihre Rechte nicht kennen oder sie nicht durchsetzen können, Menschen, denen Ämter rechtswidrig Hilfe verweigern, und ja, auch in Deutschland gibt es einige Rentnerinnen, die auf den Strich gehen, weil sie sonst nicht über den Monat kommen.

Wirtschaftliche Not und fehlende finanzielle Mittel sind der häufigste Grund für den Einstieg in die Prostitution. Bei einer Studie, in der Prostituierte aus neun Ländern (Deutschland, Kanada, Kolumbien, Mexiko, Thailand, Südafrika, Türkei, USA, Sambia) befragt wurden, sagten 89 Prozent aller Frauen, die in der Prostitution sind, dass sie sofort aussteigen würden, aber nicht können, weil es für sie die einzige Option ist, Geld zu verdienen. 75 Prozent waren schon einmal obdachlos.11

Und ich bin es auch bald.

Entmenschlicht

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